Menschen am Fluss - Joan Didion - E-Book

Menschen am Fluss E-Book

Joan Didion

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Beschreibung

Alles beginnt mit einem Schuss. Als Everett McClelland den heimlichen Liebhaber seiner Frau Lily erschießt, ist das nicht nur der hilflose Versuch, seine Ehe vor dem endgültigen Zerfall zu retten. Es ist auch der Höhepunkt einer seit Jahrzehnten schwelenden Rivalität zwischen mächtigen Farmerdynastien im fruchtbaren Sacramento Valley. Joan Didion erzählt in ihrem ersten Roman eine Familiengeschichte, so archaisch und voll rauer Schönheit wie die Landschaft Kaliforniens, die Didions Heimat ist.

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Das Buch

Seit Generationen herrschen die mächtigen Rancherfamilien Knight und McClellan über die Ländereien des Sacramento Valley. Mit der Heirat von Lily Knight und Everett McClellan scheint die glanzvolle Zusammenfügung beider Dynastien besiegelt zu sein, doch dann bestimmt eine Reihe von tragischen Ereignissen das Schicksal der alten Familien.

Mit der archaischen Geschichte zweier rivalisierender Familien hat Joan Didion ihrer kalifornischen Heimat ein literarisches Denkmal gesetzt.

Die Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen der USA. Sie arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war u. a. Redakteurin der Vogue. Ihr Debütroman Menschen am Fluss erschien erstmals 1963. Sie hat seitdem vier weitere Romane und zahlreiche Sachbücher veröffentlicht, zuletzt Das Jahr magischen Denkens und Blaue Stunden. Im Jahre 2005 wurde ihr der National Book Award verliehen. Joan Didion lebt in New York City.

Von Joan Didion sind in unserem Hause bereits erschienen:

Im Land Gottes

Das Jahr magischen Denkens

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben

Blaue Stunden

Joan Didion

Menschen am Fluss

Aus dem Amerikanischen vonGesine Strempel

List

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-0667-4

© für die deutsche Neuausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.© 1963 by Joan DidionAll rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part or in any form.Titel der amerikanischen Originalausgabe: Run River (Obolensky, New York)Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Lemmler, plainpicture

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Meiner Familie gewidmet.Und N.

»… das wahre Eldorado liegt noch weiter weg.«– Peck’s 1837 New Guide to the West

»Die ganze Nacht lang hielt ich deine Handals hättest duein viertes Mal dem Königreich desWahns –dem grobenWort, dem mörderischen Blick –die Stirn geboten und mich lebend heimgezerrt …«Robert Lowell

August 1959

1

Als Lily den Schuss hörte, war es siebzehn Minuten vor eins. Sie wusste es so genau, weil sie, ohne aus dem Fenster in die Dunkelheit hinauszublicken, in der der Schuss widerhallte, die Spange der Diamantarmbanduhr schloss, die Everett ihr vor zwei Jahren zu ihrem siebzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie betrachtete die Uhr lange an ihrem Handgelenk, dann setzte sie sich auf die Bettkante und zog sie auf.

Als sich die Uhr nicht weiter aufziehen ließ, stand sie, nach dem Duschen noch barfuß, auf, nahm eine Flasche Joy, schüttete sich einen Schwall davon in die Hand und griff in den Ausschnitt ihres Kleides, um das Nass wie ein schützendes Zaubermittel über ihre kleinen nackten Brüste zu verteilen: Auf den sorgenfreien Seiten der Zeitschriften, in denen Joy regelmäßig zum kostbarsten Parfüm der Welt erklärt wurde, saß nie eine Frau im Schlafzimmer und hörte Schüsse auf ihrem Bootssteg.

Ihr Blick war nicht auf die Fenster gerichtet, sondern auf die gerahmten Fotografien von den Kindern, die über ihrer Frisierkommode hingen (Knight mit acht, der in seiner Pfadfinderuniform strammstand; Julie mit sieben, in demselben Sommer). Lily verweilte mit der Hand unter ihrem Kleid, bis das Joy verdunstet war, bis nichts mehr zu tun war, als die Schublade aufzuziehen, in der sich der .38er befand, seit Everett damals die Klapperschlange auf dem Rasen getötet hatte: die Schublade, wo der .38er immer noch hätte liegen müssen, und wo er nicht mehr lag. Sie hatte gewusst, dass er nicht da sein würde.

Neun Stunden zuvor, um vier Uhr, hatte Lily beschlossen, dass sie nun doch nicht zu der Party der Templetons gehen würde. Es war einfach zu heiß. Den ganzen Nachmittag hatte sie oben verbracht und bei geschlossenen Fensterläden und mit angestelltem Ventilator im Slip auf dem Bett gelegen. Everett war draußen auf den Hopfenfeldern und zeigte einem Farmer, der weiter unten am Fluss lebte, das neue Bewässerungssystem; Knight war in die Stadt gefahren; Julie war vermutlich irgendwo mit einem der Templeton-Zwillinge unterwegs. Sie wusste es nicht genau.

Die Nachmittage verliefen eigentlich immer so. Ende Juni, nach all den Scherereien, hatte sie angefangen darauf zu bestehen, dass sich alle nach dem Lunch hinlegten. An drei Nachmittagen waren auch alle nach oben gegangen, aber am vierten hatte sie Julie unten am Telefon sprechen hören. (»Das kann nicht dein Ernst sein. Er hat geschworen, dass sie vor Monaten Schluss gemacht haben.«) Und am fünften war sie, wie gewöhnlich, allein im Haus. Everett und die Kinder hatten ihren Vorschlag dennoch außerordentlich liebenswürdig aufgenommen: Wenn es ein Wort gab, das beschrieb, wie sich seit Juni jeder zu jedem verhielt, dann war es das Wort liebenswürdig. So war es den Sommer über gewesen, als ob eine einzige Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen alles wieder zerreißen, als ob ein einziges unbedachtes Wort das Gebäude, das sie umgab, endgültig zum Einsturz bringen könnte.

Sie stand auf und öffnete einen Fensterladen. Noch immer flimmerte die Hitze in der Luft, so konzentriert, als könnte sie sich jeden Moment wie eine Brandbombe entzünden. Nach dem Abendessen würde sie noch einmal unter die Dusche gehen, die Fenster aufreißen und eins von Knights Büchern lesen. Der Fußboden seines Zimmers war vollgestapelt mit Büchern. Es kam ihr so vor, als ob Knight den ganzen Sommer damit zugebracht hätte, die Sachen, die er nach Princeton mitnehmen wollte, einzupacken, auszupacken, zu ordnen und neu zu ordnen. Er hatte bereits so viele Bücher eingepackt, die an die Ostküste geschickt werden sollten, dass Everett ihn schließlich fragte, ob er glaube, dass die Bibliothek von Princeton für Erstsemester verboten sei. »Warum soll ich sie hier lassen«, hatte Knight mit einem Achselzucken erwidert, und einen Moment lang hatte Lily ihn dafür gehasst; sie hatte Boshaftigkeit in seine sanfte Stimme hineingehört, während sie beobachtete, wie Everetts Gesicht den Ausdruck betonter Sorglosigkeit annahm.

Wie auch immer, sie wollte versuchen, heute Abend zu lesen, obwohl sie es immer schwieriger fand, sich zu konzentrieren; in letzter Zeit hatte sie nur Bücher über Chicagoer Gangster oder Schriften von Meereskundlern lesen können. Das Massaker am Valentinstag und die Abgrundtiefe des Mindanao-Meeres waren gleich weit weg und interessierten sie brennend. Als Knight letzte Woche nach Berkeley fuhr, hatte sie ihn gebeten, ihr aus einem der Taschenbuchläden in der Telegraph Avenue ein paar Neuerscheinungen mitzubringen. Die Bücher, hatte Knight sie daraufhin belehrt, würden sich mit Sicherheit auch in Sacramento auftreiben lassen. Offenbar habe sie noch nicht registriert, dass es in Sacramento inzwischen Taschenbuchläden gebe. Sie und sein Vater bekämen wohl nie mehr in ihre Köpfe, dass sich in Sacramento alles verändert habe, dass Aerojet General und Douglas Aircraft und sogar das State College eine völlig neue Klasse von Menschen in die Gegend gebracht hätten, Menschen von der Ostküste, Menschen, die Bücher läsen. Sie und sein Vater würden überrascht sein – vorausgesetzt, dass sie überhaupt mal aufwachten –, feststellen zu müssen, dass in Sacramento niemand mehr die McClellans kannte. Oder die Knights. Obwohl er nicht glaube, dass sie jemals aufwachen würden. Sie würden einfach fortfahren, ihre gottverdammten verwahrlosten Kamelienbäume im Capitol Park nach ihren gottverdammten Pionieren zu nennen.

Zwar hatte sie wenig Hoffnung, dass Knight ihr überhaupt neue Bücher über Columbus Iselin oder Mad Dog Coll mitbringen würde, doch war es immer noch besser, einfach im Dunkeln zu sitzen und die Scheinwerfer auf der Uferstraße zu verfolgen, als zu Francie Templeton zu gehen, wo alle schwitzten und jemand zu viel trinken und zu vertraulich werden würde. Der Besuch der Partys am Fluss war inzwischen genauso unerfreulich wie das Betrachten unscharfer Amateurfilme, die, Rolle für Rolle, durch zu häufiges Vorführen ein bisschen zerschrammt waren. Das ist die Küche, und das da ist Joe Templeton, der versucht, Francies Glas in den Ausguss zu schütten; da, Francie, sie stampft mit dem Fuß auf, dabei ist es noch nicht einmal Mitternacht; pass auf, jetzt kommt die kleine Jennie Mason, sie sucht im Garten nach Bud Mason; diese Szene muss man sich merken; denn gleich kann man sehen, wie Jennie Mason (die in einer Sequenz, die aus dieser Rolle herausgeschnitten worden ist, bedauerlicherweise, aber nachvollziehbar, Bud Masons Aufenthalt im Garten mit Lily McClellan falsch auffasst) von Everett McClellan getröstet wird; das da ist Everett, der da, der mit der Leidensmiene. Das verstand man sogar ohne Ton. Auf die kleinen Jennies Soundso war Verlass, auf die immer gleichen Gesichter, die immer gleichen Spiele; im vergangenen Jahr, als Ryder Channing auf einer von Francies Partys provozierend feststellte, dass er fünf von den zehn anwesenden Männern Geld schuldete, musste Lily daran denken, dass sie mit sieben von den zehn im Bett gewesen war und dass sie sich bei vier von ihnen nicht mehr genau an das Wann und Wo erinnern konnte. Und jeden empfand sie jetzt als Geschmacksverirrung. Obwohl sie seit Juni keine Party am Fluss mehr besucht hatte, konnte sie sich mit derselben entstellenden Klarheit, die über dem ganzen Juni hing, daran erinnern, was nach der Party geschehen war: Es war zwar nicht die erste Party, die sie verließ, um in ein Hotelzimmer zu gehen, doch zum ersten Mal ging sie ins Senator-Hotel, das für sie immer noch das Hotel ihres Vaters war. Ihr Vater hatte die Bar im Senator geliebt, und als sie klein war, hatte er sie öfter mitgenommen und ihr eine Limonade mit Grenadine spendiert. (Am Morgen nach der Party presste sie sich Everetts Kopfkissen auf den Bauch und grub die Fingernägel tief in ihre Arme, bis sie blaue Flecken bekam, aber mittags, als sie ganz allein zum See fuhr, war sie so weit, Everett die Schuld an allem zu geben. Es wäre nicht passiert, wenn Everett auf der Party gewesen wäre, statt zu Hause zu bleiben und über seine Schwester nachzugrübeln, nichts von alledem wäre jemals passiert, wenn Everett da gewesen wäre.)

Besser, du lässt es sein, hatte Ryder Channing an jenem Junitag am See, der Teil der Scherereien war, gesagt, und obwohl Ryder der Letzte war, der ihr diesen Rat geben durfte, hatte er recht. Auf einer Party konnte alles wieder losgehen – zwei Drinks, jemand, der nicht aus der Stadt war, Everett, der sich nicht um sie kümmerte, mehr brauchte sie nicht – und als Everett um halb fünf nach oben gekommen war, hatte sie ihm gesagt, dass sie nicht zu Francie Templeton gehen würde.

»Es ist zu heiß. Geh du, wenn du willst.«

Sie bürstete ihr Haar, zog es vor ihr Gesicht und versuchte, die grauen Haare zu finden, die Julie im Dunkelblond entdeckt haben wollte. Lily konnte sich nicht vorstellen, graues Haar zu haben: Erstens war sie noch nicht siebenunddreißig, und außerdem gehörte zu ihrem Stil eine verführerische Zerbrechlichkeit. Mit grauen Haaren würde sie nicht mehr verführerisch zerbrechlich aussehen, sondern nur noch zerbrechlich.

»Knight und Julie gehen auch hin«, fügte sie hinzu.

Everett setzte sich ans Fenster. Sein Gesicht und sein Khakihemd waren fleckig vor Staub und Schweiß. »Ich finde, du solltest hingehen. Sie rechnen mit dir.«

»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie sanft. »Dafür kann ich nichts, nicht wahr? Das würde jeder als höhere Gewalt akzeptieren. Sogar Francie Templeton. Ich erkälte mich, wenn ich mit nassem Hemd neben einem Ventilator sitze.«

»Du und deine Mutter.«

»Das ist angeboren. Das habe ich in Readers Digest gelesen. Von fünf New Yorker Ärzten. Wie man Kopfschmerzen für sich einsetzen kann. Egal. Geh du hin.«

»Gut«, sagte er müde. »Einverstanden.«

Everett pfiff kaum hörbar durch die Zähne. Das und das Surren des Ventilators waren die einzigen Geräusche, die die Stille unterbrachen. Lily spürte, dass er die Augen nicht von ihren nackten Armen wandte, während sie sich das Haar bürstete.

»Wir könnten diesen Winter wegfahren«, sagte er unvermittelt.

»Wegfahren«, wiederholte sie. »Wegfahren, wohin?«

»Wir könnten verreisen. Wir könnten mit einem dieser Schiffe fahren, die einundvierzig Tage oder so unterwegs sind. Oder wir könnten nach Alaska fahren, oder nach Australien, nach Europa oder sonst wo hin.«

»Aber doch nicht nach Alaska, Baby, ich meine, im Winter ist es dort bestimmt nicht lustig.«

»Irgendwohin«, beharrte er.

»Australien. Stell dir das vor.«

»Hör mal«, sagte Everett. »Das würde mir gefallen. Das haben wir noch nie gemacht. Wir sind noch nie zusammen weggefahren. Eine lange Reise. Das würde dir guttun.«

Es war nicht Everetts Art, wegfahren zu wollen. Seit dem Krieg hatte er die Ranch nur gelegentlich an Wochenenden verlassen, zu Versammlungen der Farmer oder zu Beerdigungen im Tal unten; man hätte ihn auch für einen bäuerlichen Ivar Kreuger halten können, den Wächter eines gefährdeten Reiches, das ständig kontrolliert und in Bruchteilen von Sekunden in den Griff bekommen werden musste. Obwohl sie ihn angefleht hatte, mit ihr und den Kindern zu kommen, als sie im Sommer 1957 nach Europa fuhren (Bitte, Everett. Es macht keinen Sinn, wenn du nicht mitkommst, Baby, es ist zwecklos, mich allein irgendwo hinzuschicken, es wird nur genau wie immer sein, wenn ich wiederkomme, bitte, Everett), hatte er sich geweigert.

»Könntest du denn weg?«, fragte sie jetzt.

»Ich glaube schon.« Er stand auf und öffnete einen Fensterladen. »Jedenfalls«, fügte er hinzu, »du und Julie, ihr könntet fahren.«

»Sie kann nicht einfach die Schule schwänzen. Sie muss sich auf das College vorbereiten, und außerdem meint sie, dass sie verliebt ist. Sie glaubt, dass sie sich in diesen Studenten aus Berkeley verliebt hat. Ich bezweifle, dass sie sich lange genug von ihm losreißen können wird, um uns zum Schiff zu bringen.«

»Du meinst doch nicht etwa den Jungen, den sie mitgebracht hat.«

»Doch, genau den.«

»Den konnte ich nicht ausstehen. Das weißt du.« Everett hielt inne. »In dem Jackett sah er wie ein kleiner Itaker aus.«

Lily sagte nichts. Der Junge war eins neunzig, zehn Zentimeter größer als Everett; fast so blond, wie Everett in dem Alter gewesen und Knight jetzt war; und er hatte, als er an einem Julitag hochgefahren war, um Julie zu treffen, ein Madrasjackett getragen, das haarscharf genauso aussah wie das, welches in Knights Kleiderschrank hing. Everett fand ihn unsympathisch, weil er sich einen Drink gemacht und Julie auch einen angeboten hatte.

»Jedenfalls«, sagte Lily schließlich, »geht es doch wohl nicht darum, dass ich mit Julie wegfahre. Oder doch?«

»Eine Reise würde dir guttun«, wiederholte Everett, ohne sie anzusehen.

»Das würde nichts ändern.«

»Abwarten«, sagte er. »Lange Ferien.«

Sie lehnte sich an das Kopfende des Nussholzbetts, bis die geschnitzten Blätter in ihren Rücken schnitten. Lange Ferien.

Everett setzte sich neben sie, nahm ihr die Bürste aus der Hand und bürstete ihr Haar. Als sie den Kopf an seinen Arm schmiegte, legte er die Bürste weg und massierte ihre Schultern.

»Julie sagt, sie hätte Grau gesehen«, sagte Lily.

»Das ist doch nicht so schlimm, oder?«

»Sie findet das elegant. Sie findet, es sieht sehr elegant aus, dass du grau wirst. Sehr elegant und an der Zeit. Ich habe ihr gesagt, dass man im Allgemeinen mit vierzig noch nicht jenseits von Gut und Böse ist, aber sie hat mich nur angesehen.«

Everett massierte Lilys Nackenmuskeln. »Julie ist ganz in Ordnung.«

»Das finde ich auch. Das lindert meine Kopfschmerzen.«

»Leg dich hin«, sagte er, die Hände immer noch auf ihren Schultern.

Sie schlug mit einer Hand die Decke zurück, streifte mit der anderen ihren Slip hinunter und kickte die Strohsandalen weg. Sie lag auf dem Laken und sah zu, wie Everett die Fensterläden wieder schloss und sich auszog. Sie hatte immer bewundert, wie feingliedrig er ohne seine Kleider aussah. Er war der einzige Mann, dessen Körperbau ihr genau richtig vorkam.

»O Gott«, flüsterte sie, als sie nach ihm griff. »Everett, Baby, wir sind so müde.«

Er war noch nicht fertig, als sie zu weinen anfing, ein tränenloses Schluchzen, das sich aus Lust zusammensetzte und aus Müdigkeit, und noch lange nachdem es vorbei war, klammerte sie sich an ihn, ihre Schultern bebten unter ihrem leisen, stoßweisen Schluchzen, ihre Beine umschlangen ihn. (Sie konnten jetzt nur noch am Nachmittag oder mitten in der Nacht zusammen liegen, wenn sie beide schon etwas geschlafen hatten; bis auf eine kurze Zeit in den ersten Jahren nach ihrer Heirat konnten sie nicht einfach das Licht ausknipsen und sich einander zuwenden. Stattdessen überkam sie so etwas wie Stolz, Zurückhaltung, Widerwillen. Im Lauf der Jahre hatten beide viel gelesen.) Ermattet hörte Lily den Ventilator, die Mücken, Knights Auto vor dem Haus; ohne sich zu bewegen, hörte sie das penetrante Klingeln des Telefons und schließlich ein Klopfen an der Schlafzimmertür.

»Knight, deine Ma schläft«, rief China Mary aus der Küche. »Sag ihm, er soll noch mal anrufen.«

»Von wegen noch mal anrufen«, murmelte Everett im Halbschlaf. »Warum sind sie überhaupt rangegangen? Warum stellen sie es nicht leiser, damit sie es gar nicht erst klingeln hören.«

»Warum schläfst du nicht einfach ein«, flüsterte Lily und küsste ihn auf die Wange. Everetts Widerwillen, das Telefon abzunehmen, hatte sie zu Beginn ihrer Ehe als großes Kompliment empfunden: We won’t have it known, dear, that we own a tel-epho-own. Es dauerte fast zwei Jahre, ehe ihr bewusst wurde, dass das nichts mit ihr zu tun hatte, dass Everett das Telefon genauso behandelte wie seine Post: so vorsichtig, als ob er einem nächtlichen Geräusch an der Kellertür auf den Grund gehen müsste.

»Bleib du einfach mal einen Moment ruhig liegen«, fügte sie hinzu, »und ich werde dir einen Drink holen.«

Obwohl sie gern noch eine weitere Stunde mit Everett auf dem Bett gesessen und mit ihm geflüstert und Bourbon getrunken hätte (wieder klingelte zweimal das Telefon), gingen sie schließlich nach unten, zum Abendessen. Julie verspätete sich, sie kam einige Zeit nach den Artischocken, mit erhitztem Gesicht, strahlenden Augen, in einem Baumwollhemd, das sie sich über den Badeanzug gezogen hatte, das nasse blonde Haar mit einem ausgebleichten rosa Ripsband zusammengebunden (sie hatte Mrs Templetons Thunderbird gefahren und redete über die Beschleunigung im ersten Gang – keine Automatik, ein Thunderbird mit Knüppelschaltung, wenn ihr euch das vorstellen könnt), und irgendwann zwischen den Artischocken und Julies Erscheinen ging Lily ans Telefon, sagte Ryder Channing, dass sie abends zu Hause sein würde, was eigentlich eine einfache Übung war, aber natürlich lief bei ihr nichts einfach. Everett fragte nicht, wer angerufen hatte (er wusste es, er wusste es immer), und als sie sah, dass die Hitze und die Anspannung die Ader auf seiner Stirn anschwellen ließen, wusste sie, dass sie irgendetwas sagen musste. Was sie bemüht beiläufig in einem wirren Ansturm von Schuld und Liebe sagte, war, dass sie vielleicht doch zu den Templetons gehen würde. Bei ihr lief eben nichts einfach. Die Anspannung in Everetts Gesicht löste sich etwas, und alles würde gutgehen. Sie konnte mit ihrem Auto fahren, früh wieder gehen (sie hatte, wie Everett wusste, Kopfschmerzen), sich mit Ryder auf dem Bootssteg treffen, aber nur für einen Moment; später dann würde sie sich irgendetwas ausdenken, um alles wieder auszubügeln, alle glücklich zu machen. Das Abendessen wenigstens war gerettet. Trotzdem wünschte sie sich jetzt, dass sie gar nicht ans Telefon gegangen wäre. Sie wünschte sich, dass sie und Everett im Bett geblieben wären, während die Sonne langsam aus dem Zimmer wanderte, das Zirpen der Grillen begann und der Abendwind über dem Fluss aufkam (im ersten Ehejahr hatten sie das manchmal gemacht, waren in der anbrechenden Dunkelheit im Bett geblieben, hatten hin und wieder einen Schluck aus der Flasche Bourbon getrunken, die Everett immer neben dem Bett stehen hatte); jetzt bedauerte sie, dass sie nicht von fünf Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen unerreichbar auf dem Nussholzbett liegen bleiben konnten.

2

Everett saß fünfzehn Minuten auf dem Bootssteg, bis Lily kam. Er hörte sie, lange bevor er sie sah, weil der Mond um diese Zeit, um eins, vollständig untergegangen war. Obwohl die Lichter der weiter flussabwärts gelegenen Häuser auf dem Wasser glitzerten, wurden die eineinhalb Meilen Flussufer, die den McClellans gehörten, nur durch das gleichmäßige Blitzen der Bojen der Küstenwache beleuchtet; die Lampe am Steg funktionierte nicht. Durchgebrannt. Seit wann, wusste er nicht. Liggett erinnern, dachte er. Die Stegbeleuchtung beunruhigte ihn auf einmal. (Erst die Stegbeleuchtung, als Nächstes ein schadhafter Zaun, dann womöglich Macken an der Pumpe, und schon wäre sie hinüber. Und bald würde das ganze Anwesen zerfallen, es würde vor seinen Augen verschwinden, sich zurückverwandeln in was immer es gewesen sein mochte, als sein Urgroßvater zum ersten Mal das Tal betrat.) Durch das Eichen- und Pappelwäldchen konnte Everett ein einsames Licht im zweiten Stock des Hauses erkennen; die unteren Stockwerke verdeckte der Deich.

In diesen fünfzehn Minuten dachte Everett nur an die Stegbeleuchtung und die Hopfenfelder. Obwohl er immer noch den .er Revolver seines Vaters in der Hand hielt, dachte er darüber ebenso wenig nach wie über Ryder Channings Taschenlampe, die immer noch brannte. Ihr schwacher Schein sickerte durch das trübe, fünf Zentimeter tiefe Wasser, wo sie sich im Gewirr der Wurzeln verfangen hatte. Nächste Woche würden sie den Hopfen ernten, die Hopfenreben von den Schnüren schneiden. Jedes Jahr im August, unmittelbar vor der Ernte, wurde Everett von einer einzigen Furcht durchströmt, einer intensiven Angst, intensiv wie ein quälender Alptraum: Er war fest davon überzeugt, dass der Darrofen, in dem der Hopfen trocknete, explodieren würde. Manchmal ging er nach unten und saß die ganze Nacht in der Küche, weil er vom Küchenfenster aus den Darrofen sehen konnte. Nicht, dass der Verlust der Ernte ihn in diesem oder irgendeinem anderen Jahr ruinieren könnte: diesen Sommer hatte er weniger Morgen Hopfen als vor fünfzehn Jahren, als sein Vater starb. Mit Hopfen ließ sich kein Geld mehr machen: Alle Farmer am Fluss gaben allmählich den Anbau auf.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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