2,99 €
,,Manchmal ist die Angst vor dem Schmerz schlimmer als der Schmerz selbst."
Nach ihrem gescheiterten Selbstmordversuch wird die junge Ex-Pianistin Davina Whiteley von ihrer Tante gebeten, einen ehemaligen Fan zu treffen. Dort trifft sie auf dessen Bruder, zu dem sie sich bald hingezogen fühlt. Denn auch er trägt tiefschürfende Narben aus der Vergangenheit und hat ebenfalls versucht, sich das Leben zu nehmen. Gemeinsam verbringen sie Nachmittage im Park, an denen sie den wüsten Aufruhr in ihrem Herzen miteinander teilen, und sie lernen sich und das Leben neu kennen. Und in dieser Zeit keimt in ihnen die Hoffnung auf, dass sie möglicherweise falsch lagen und mehr vom Leben erwarten können...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2015
Die Idee zur Geschichte entstand zu einer dunklen Zeit, in der ich feststeckte. Ich war ein wütendes und unglückliches Kind. Ich trieb eine Zeit lang orientierungslos auf dem Meer, so fühlte es sich in mir an, bis ich auf die Person traf, die mein Leben veränderte. Meine Oma, die ich erst nach Jahren kennenlernte, trat in mein Leben ein. Ohne sie wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Vielleicht klingt es übertrieben, aber sie hat mir sprichwörtlich das Leben gerettet, indem sie mich mit ihren Geschichten vor dem Ertrinken bewahrte.
Meine Oma lebte in einem anderen Land, das Herkunftsland meiner Eltern und Vorfahren, und als ich als kleines Mädchen das erste Mal hinflog, kreisten meine Gedanken darum, dass ich wieder nach Hause wollte. Das Land und die Menschen dort waren anders. Fremd. Laut. Es machte mir Angst. Ich verhielt mich unheimlich zickig und heulte herum, um meinen Willen zu bekommen. Wie ich nun mal war, nutzte ich Tränen und die Unschuldsaugen eines Kindes zu meinem Vorteil, aber natürlich gab es nur eine Rüge von meinen Eltern. Das war ihnen sicher unangenehm vor ihrer Familie und Freunden, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen haben, diesen Theater mit mir durchzumachen. Es war klar, dass wir nicht einfach so umkehren und zurückfliegen konnten. Ich verstand erst später, dass ich mich respektlos und selbstsüchtig verhalten habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich dankbar für diese Erfahrung bin.
Gegen Abend nach unserer Ankunft kamen wir am Haus meiner Oma an. Sie stand bereits an der Tür und wartete auf uns. Wir wuchsen in zwei verschiedenen Kontinenten und Kulturen auf, aber der Moment, in dem ich zum ersten Mal vor ihr stand und sie mich in ihre Arme nahm, rüttelte etwas in mir wach. Ich brach in Tränen aus, wusste nicht, warum ich plötzlich weinen musste, aber ich fühlte mich erleichtert und gelöst. Vielleicht hatten Omas automatisch diese Wirkung, als könnten sie alles wieder in Ordnung bringen, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich geliebt fühlte. Ein Teil in mir dachte, dass mir vergeben wurde. Komisch, oder? Ich habe nichts verbrochen, zumindest nichts, wovon meine Oma wissen konnte, und dennoch spürte ich, während ich in ihren Armen lag, dass alles wieder gut werden würde. Sie wurde zu einem wichtigen Teil meines Lebens und ich habe mich nie so geborgen gefühlt wie bei ihr. Ich konnte bei ihr so sein wie ich bin und sie akzeptierte mich. Es kam nichts wie ,,Schneid dir eine Scheibe davon ab", ,,Warum kannst du nicht so sein wie andere" oder ähnliches, so wie ich es mein ganzes Leben lang hörte. Sie liebte mich für die Person, die ich bin, und das machte mich glücklich. Ich hatte endlich das Gefühl, dass ich angekommen bin.
Meine Oma las gerne und viel. Wenn ich mittags und nachts bei ihr im Bett schlief, erzählte sie immer Geschichten. Sie gingen ihr nie aus und ich hörte ihr gespannt zu. Ich konnte nie genug von ihnen bekommen. Die Geschichten erschufen eine andere Welt, in der ich mit meiner Oma eintauchte. Selbst als ich zurück in der Heimat war, hielt ich mich an unseren Geschichten fest. Ich las die Bücher, die sie las, und fing irgendwann an, meine eigenen zu schreiben. Anfangs war es ein Hobby, weil es mich auf andere Gedanken brachte und es mir Spaß machte. Ich zeigte sie meiner Oma und offen gestanden, erwartete ich, ausgelacht zu werden. Ich habe so einige negative Sachen erlebt, weshalb ich mir wenig Hoffnung machte, aber sie reagierte anders. Sie lächelte und ermutigte mich. Da musste ich wieder weinen und sie nahm mich in den Arm. Sie glaubte an mich und deshalb fing ich auch an, an mich zu glauben.
Leider starb meine Oma vor paar Jahren. Ich konnte es nicht glauben, es kam mir unreal vor, dass sie für immer weg war. Als wurde sie mir aus den Händen gerissen, wie eine Puppe oder ein Spielzeug, an das ich mich geklammert habe und die Trauer warf ich mich in ein bodenloses Loch, das ich zu verarbeiten versuchte. Jetzt war das Schreiben nicht nur irgendein Hobby, sondern wurde zu etwas viel Wichtigerem. Es ist etwas, das mich mit meiner Oma verbindet, das ich schätze und brauche, um meine Gefühle und Gedanken zu kompensieren. Wenn immer ich traurig, wütend oder glücklich war, wenn immer ich mich danach fühlte, schrieb ich. Und zwar über alles mögliche.
Irgendwann stieß ich auf ein Buch, das mich zu dieser Geschichte inspirierte. Es bildete die Grundlage. Ich habe unglücklicherweise den Titel und den Namen des Autors vergessen, aber ich möchte mich bei dieser Person bedanken, dass sie mich auf dieses Buch brachte. Auch der Person, die für das Coverbild verantwortlich ist, möchte ich für dieses wunderbare Bild danken. Ich habe es durch Zufall im Internet entdeckt und finde, dass es dazu passt.
Der andere Teil, der zum Buch beitrug, ist meine Oma und unsere gemeinsame Zeit und die Erinnerung daraus, die mich lehrte und weiterentwickelte. Ihre Worte, ihre Liebe, ich werde sie immer in mir tragen. Aus dem Grund widme ich dieses Buch meiner Oma, meinem größten Fan, die immer an mich geglaubt hat, mich getröstet hat, die mir schrecklich fehlt und den Mut gegeben hat, dieses Buch zu schreiben. Ohne sie würde ich wohlmöglich noch im Meer der Dunkelheit schwimmen.
Wer auch immer du bist, ob wir uns je über den Weg laufen werden oder nicht, ich hoffe, dass dieses Buch dir gefallen wird. Kann sein, dass mein Schreibstil nicht klar und eigenartig ist, aber das Buch ist für mich ein Stück Herz, ein Teil von mir, das ich mit dir teilen will. Ob du es lesen willst, liegt bei dir. Doch glaub mir, wenn ich dir sage, dass du gut bist, auf die Art und Weise wie du bist. Und auch wenn ich dich wahrscheinlich nicht kenne und es vielleicht scheinheilig klingt, weiß ich das. Ich weiß es. Auf deine Art, die nur du sein kannst. Versteck sie nicht, sondern nehme sie mit Freude an.
H. N.
Lieber Leser,
was ist Glück? Kann man es anhand Ereignissen messen? Man liest so viel darüber, aber wenn du jemanden fragst, was das Glück eigentlich ist, kriegst du entweder phrasenweise Vorträge, die du sowieso nicht verstehst und die der Typ bestimmt irgendwoher aufgegriffen hat, oder ein Achselzucken. Dennoch streben wir alle nach dem großen Glück.
Ich kann mich nicht genau erinnern, wann ich das letzte Mal glücklich war. Ich war es sicher einmal, aber wann es auch gewesen sein mag, vielleicht als Kind, dieses Gefühl ist weg und ich werde diese Zeit nicht zurückbekommen. Dieses warme, wohlige Gefühl von Wärme, wildes Herzklopfen, als würde etwas in dir explodieren und tausend kleine Schmetterlinge durch den Körper schießen, dieses überwältigende Gefühl, das dir Tränen in die Augen treibt, obwohl du doch gar nicht traurig bist. Wo sind diese Gefühle, von denen ich gehört habe?
Ich bin kein Künstler, noch ein Poet. Deshalb erhoffe dir bitte keine philosophischen Sichten oder Ratschläge über das Leben. Ich möchte lediglich eine Geschichte erzählen, meine Geschichte, und ich weiß nicht, ob sie dir gefallen wird. Also, überlege es dir gut, ob du weiterlesen willst. Sie ist dunkel und verkorkst, so wie der Erzähler selbst.
Falls du diesen Brief noch nicht zerrissen hast, bedeutet es, dass du dich auf meine Geschichte eingelassen hast. Und die werde ich dir nun erzählen, so ehrlich und gut es geht.
Ich bin das dritte Kind einer berühmten Tänzerin und eines Chirurgen, geboren im tiefsten Winter und aufgewachsen in einem Palast. Jedenfalls kam mir unser Haus als Kind unglaublich riesig und märchenhaft vor. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, blickte ich nach draußen und fühlte mich wie eine Prinzessin. Doch das änderte sich, als ich älter wurde. Aus meinem Märchenschloss wurde ein Gefängnis und ich war gefangen, sowohl physisch als auch seelisch.
Wenn man wie ich in einer angesehenen Familie geboren wird, ist es seit der Geburt vorrausgesetzt, dass man nach den Eltern kommt. Meine beiden älteren Geschwister sind sehr begabt. Mein Bruder ist Kongressabgeordeneter und meine Schwester studiert Medizin an einer renommierten Universität, um danach im Krankenhaus, das von Generation zu Generation im Besitz der Familie meines Vaters liegt, zu arbeiten. Freunde und Bekannte sagen, dass ihnen eine strahlende Zukunft bevorsteht.
Meine Geschwister stehen sich ziemlich nahe und ich bin mir sicher, dass sie mich auch lieb haben, aber wir haben keine enge Bindung zueinander, die Geschwister beim Heranwachsen aufbauen. Dafür ist nämlich der Altersunterschied einfach zu groß. Als ich vier wurde, fingen meine älteren Geschwister gerade an, sich für das andere Geschlecht zu interessieren und auf Partys zu gehen. Da blieb keine Zeit mit der Jüngsten zu spielen.
Es wurde nie offiziell laut ausgesprochen, aber ich weiß, dass ich kein Wunschkind bin. Meine Eltern haben nicht mit mir geplant, als die Ärztin meine Mutter gewarnt hat, in dem hohen Alter noch schwanger zu sein. Trotzdem hat sie mich bekommen und mein Vater war der Einzige, der sich über meine Geburt gefreut hat. Er ist ein herzensguter Mensch gewesen, der liebste auf Erden, und er ist viel zu früh von uns gegangen. Er fehlt mir, mein Vater und bester Freund.
Nach seinem Tod schien meine Mutter mich endgültig abgeschrieben zu haben. Sie sah mich keinmal an, kam nie zu einen meiner Auftritte und das Schlimmste: Sie verabscheut mich. Wegen mir musste sie ihre Karriere frühzeitig beenden, was sie in ein inhaltloses Leben warf.
Auch wenn ich kein Wunschkind bin und nicht so talentiert wie meine Geschwister, habe ich das wirklich verdient? Habe ich keine Liebe verdient? Habe ich dieses Leben verdient? Bin ich so schlimm? Etwa so schlimm, dass ich nicht geboren werden sollen hätte?
Früher habe ich nie darüber nachgedacht, vielmehr habe ich in den Tag gelebt und alles getan, was man von mir verlangt hat, sprich Ballett- und Klavierstunden. Es hat mich Blut und Schweiß gekostet und letzendlich ist alles umsonst gewesen, weil sie mir nie zugesehen hat. Warum bemühe ich mich noch? Warum bin ich hier? Denn letzten Endes wird jede vergossene Träne, jeder Schrei nach Hilfe, jeder Schmerz, jede Wut... stumm und unerhört bleiben.
Ich ertrage es nicht. Ich ertrage dieses Leben nicht. Ich ertrage mich nicht. Und ich ertrage es nicht, mich so zu fühlen. Natürlich gibt es Menschen, die es viel schlimmer haben, aber das ändert nichts an meinen Gedanken und Gefühlen und die sind ziemlich verkorkst. Ich weiß nicht, wann sie angefangen haben. Vielleicht bin ich schon verkorkst auf die Welt gekommen. Was auch immer in mir zerbrochen ist, es hat eine tiefe Leere in mir hinterlassen.
Oh, aber ich mache keinem Vorwürfe. Ich verlange nicht, dass man zu retten versucht, was aus dem Scherbenhaufen meines Lebens noch zu retten ist.
Wenn du jetzt verwirrt bist, tut es mir leid, da ich nicht länger deine Zeit verschwenden möchte. Ich danke dir, dass du mir bis zum Schluss zugehört hast. Danke, dass es noch solche Menschen wie dich da draußen gibt. Danke für nichts und doch für so viel.
Nun, das ist meine Geschichte. Das ist das Leben, das ich geführt habe, bis ich im November herum, kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag, den Tod herausfordern will. Sobald sie meinen Körper gefunden haben, zeig ihnen bitte diesen Brief. Sag ihnen, es tut mir leid, dass sie das meinetwegen mitansehen müssen.
Danke und Lebwohl.
Ich stelle mich schlafend, als die Krankenschwester nach mir sehen. Doris blonder Kopf guckt durch die Tür und ich kann den fruchtigen Duft ihres Haarsprays riechen. Sie steht am Gang und unterhält sich mit einer anderen Krankenschwester. Sie reden leise, aber ich kann sie hören.
,,Wer liegt da?"
,,Davina Whiteley. Es sieht so aus, als hätte sie es wieder getan."
,,Du meinst, die Davina Whiteley? Aus der berühmten Whiteley-Familie? Ist es wahr?"
Doris antwortet nicht, deshalb entnehme ich, dass sie entweder flüstert oder mit dem Kopf nickt.
,,Und sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen?"
,,Nach dem, was ich gehört habe, war das wohl nicht ihr erster Versuch."
Ich höre ein Luftschnappen. Das muss die Neue gewesen sein. Ihre leise Stimme sagt zögerlich: ,,Das verstehe ich nicht. Ich meine, Davina Whiteley... Sie war mein Idol, als ich ein kleines Mädchen war. Sie hatte doch alles, wovon man träumt. Warum würde sie so etwas tun?"
,,Es gibt das Gerücht, dass sie trotz des Ruhmes in einer sehr kalten Familie aufgewachsen ist und das Verhältnis zu ihrer Mutter soll ganz besonders angespannt sein", flüstert-brüllt Doris. Sie liebt Tratsch, je skandalöser, desto besser.
,,Tja, diese Reichen. Ich verstehe sie einfach nicht."
Auf einmal werden sie unterbrochen und ich höre nichts mehr. Dann das vertraute Klackern von Absätzen auf dem Boden. Ohne aufzuschauen, weiß ich, dass sie mich besuchen kommt. Sie sieht mich nicht richtig an, sondern arrangiert die Blumen, die sie mitgebracht hat, in einer Glasvase neben mir am Nachttisch. Obwohl sie sieht, dass ich wach bin und sie beobachte, schweigt sie. Ihr Gesicht ist unglaublich alt, müde und ausdruckslos. Dabei ist sie nicht mal 60. Viele sagen, dass ich meinem Vater ähnlich sehe, aber die grünen Augen von meiner Mutter habe. Jedoch erkenne ich mich in ihr nicht wieder. Wir sehen uns nicht ähnlich. Wir haben keine Verbindung. Wir sind gar nichts. Zwei Menschen, die sich lediglich dasselbe Blut teilen. Zwei Fremde.
Ich bin daran gewöhnt, ignoriert zu werden, aber irgendetwas muss ich sagen, sonst gewinnt sie. Es klingt absurd, aber ich will, dass sie weiß, dass es ihr nicht gelungen ist, mich in irgendeiner Weise zu brechen. Und dann sind die Worte auch schon ausgesprochen: ,,Merkwürdig. Obwohl ich dem Tod knapp entkommen bin, möchte ich erneut sterben, sobald ich dein Gesicht sehe, Mutter."
,,Denkst du, du könntest mich provozieren?"
Ihre Worte sind kühl und sie sieht mich nicht an. Sie schaut auf ihre hochkarätige Goldarmbanduhr und seufzt, so als wäre das eine Qual und die reinste Zeitverschwendung nach der jüngsten Tochter, die sich das Leben nehmen wollte, im Krankenhaus zu sehen. Sie schultert ihre Ledertasche, bereit zu gehen, und steht mit einem Fuß schon an der Türschwelle. Abermals will sie mich verlassen, mich wieder im Stich lassen.
,,Ich habe mit den Ärzten gesprochen. Es scheint so, als könntest du morgen schon nach Hause. Ich habe dem Fahrer bereits gesagt, dass er dich mittags abholen soll, also sei da abfahrbereit. Wenn nichts weiter ist, werde ich jetzt gehen. Ich habe noch wichtige Termine."
Wenigstens einmal hätte sie mich ansehen können. Ich werde ihr nie näher kommen und ich werde nie gut genug sein, niemals. Natürlich hätte ich auch etwas tun können, aber ich weiß nicht, wie. Ich bin unfähig zu lieben. Ich weiß nicht, wie das ist. Können Eltern ihre eigenen Kinder hassen? Ich meine, wozu wird man Eltern, wenn sie sie nicht beschützen wollen? Hat sie mich jemals als ihre Tocher gesehen?
,,Du hättest dir nicht die Mühe machen sollen, mich zu besuchen. Das nächste Mal hast du vielleicht sogar Glück und ich bin nicht mehr länger hier."
Vor der Tür bleibt sie stehen und dreht sich um. Endlich begegnen sich unsere Blicke. In ihrem strengen Gesicht spiegelt sich nur eins wider: Enttäuschung. Sie verengt ihre Augen zu schmalen Schlitzen, die sie dadurch wie eine giftige Schlange aussehen lässt, kurz vor einem Angriff.
,,Hast du bei deinen sinnlosen Aktionen mal an deine Mitmenschen gedacht, was du ihnen antust?"
Sie mustert mich kühl und geringschätzig. ,,Du verhältst dich wie ein kleines, törrichtes Kind, das nicht genug Aufmerksamkeit von seinen Eltern bekommt. Du bist mitleiderregend."
Dann passiert es schnell, als hätte man den Schalter umgelegt, und mit einem Sprung stehe ich auf den Beinen und werfe die Glasvase nach ihr. Sie verfehlt sie nur um einen halben Meter. Die Vase zerspringt in tausend winzige Teile, aber ich fühle mich dadurch nicht besser. Ich kann die aufsteigende Wut nicht länger unterdrücken, sie ist überall und droht mir die Luft abzuschnüren.
,,Was sagst du? Ich bin mitleiderregend?", brülle ich.
Sie ist viel zu verblüfft, um zu antworten, und ich höre bereits Schritte durch den Flur schreiten.
,,Du hast ja keine Ahnung! Ich entschied mich für den Tod, weil selbst da du keinen Funken Mutterliebe zeigen würdest. Ich wünschte, du würdest an meiner Stelle tot umfallen!"
Ich schreie immer weiter, ich tobe, schleudere ihr die fiesen Anschuldigungen an den Kopf, die sie nicht rühren, nicht einmal jetzt, wo ich sie beinahe umbringen wollte.
Und sie sagt diese Worte, ernst und wahr, die Antwort, nach der ich lange gesucht habe, den Gnadenstoß: ,,Es wäre besser gewesen, wenn du niemals geboren wärst."
Und alles ist zerrissen, zerbrochen und tot.
Die Schwestern haben Mühe, mich festzuhalten, weil ich um mich schlage. Ich koche vor Wut, ich will mich gar nicht mehr einkriegen und dann spüre ich, wie eine Nadel in meinen Arm gebohrt wird, und bevor ich einschlafe, werfe ich einen letzten Blick zu ihr. Ich schreie innerlich vor Hass.
,,Ich habe nie darum gebeten, in diese verrottete Welt geboren zu werden!"
Ich hätte gern dabei mein Gesicht gesehen, als ich es ausgesprochen habe. Ich weiß nicht, ob es mir gefallen hätte. Aber letzendlich spielt es keine Rolle mehr. Alles verliert seine Bedeutung.
Die Dunkelheit bricht über mich hinein, bevor der Boden sich unter mir auflöst und ich in die Tiefe stürze. Tiefer und tiefer und immer tiefer, bis ich mich frage, wann ich auf Grund stoße. Doch ich pralle nirgendwo auf, sondern falle und falle. Ich falle endlos.
Als ich meine Augen öffne, blicke ich in das herzliche, warme Gesicht meiner Tante Aurora.
,,Die Prinzessin ist aufgewacht", sagt sie lächelnd.
Sie muss von meinem Selbstmordversuch gehört haben und ich schäme mich, dass sie meinetwegen hergekommen ist. Aber in ihrem Gesicht liegt ein freundlicher und offener Ausdruck, sodass ich mich auf Anhieb besser fühle und ich merke, wie ich mich zum ersten Mal, seit ich hier bin, entspanne.
Tante Aurora ist die ältere Schwester meines Vaters und der einzige Mensch, der sich nach seinem Tod für mich interessiert hat. Seit dem Tod ihres Mannes arbeitet sie ehrenamtlich und ist viel herumgereist, hauptsächlich in den Entwicklungsländern, weshalb ich sie etliche Jahre nicht gesehen habe.
Ich kann nicht anders als Liebe für meine Tante zu empfinden, die mir trotz meiner Verschrobenheit liebevoll zulächelt und meine Hand hält. Sie ist eine, die hofft, die niemanden verurteilt, sobald er einen Fehler macht. Eine, die Verständnis hat und auch verzeihen kann. Sie ist ein guter Mensch, ein besserer als ich je sein werde. Und so ein Mensch ist für jemanden kleines wie mich hergekommen.
,,Du bist groß geworden, Vina. Wie viele Jahre sind es her? Als wir uns zuletzt gesehen haben, war es kurz vor deinem Schulabschluss. Wie schnell die Zeit vergeht."
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Das Sonnenlicht ist viel zu grell. Damals gab es eine Zeit, wo ich das Tageslicht scheute. Denn in der Dunkelheit, so dachte ich, konnte ich ungerührt in Selbsthass versinken. Niemand würde mein hässliches Ich sehen. Ich bekäme nicht die Hypokriten, die ich einst liebevoll Familie nannte, zu Gesicht, die gekünstelt auf heile Welt taten.
,,Du hast recht. Ende dieses Jahres werde ich schon einundzwanzig."
,,Immer noch nicht alt genug, um zu sterben", sagt Tante Aurora sanft.
Ich sehe sie trotzig an und schweige. Sie gesellt sich zu mir an die Fensterbank und ich sehe weg, weil ich weiß, dass sie etwas sagen wird, das mir nicht gefallen wird. Begreift sie nicht, dass es keinen Sinn hat?
,,Du willst sterben, aber deine Augen strahlen Leben aus. Sie erinnern mich an das Meer. Mal sanft und im anderen Moment lodern sie, als bräche ein Sturm auf", sagt Tante Aurora und blickt nachdenklich aus dem Fenster. ,,Menschen werden mit der Zeit älter und selbst wenn du es hinausverzögerst, stirbst du eines Tages. Niemand weiß den genauen Zeitpunkt."
,,Ich warte nicht auf diesen Zeitpunkt. Für mich ist jeder Tag wie Schmerz. Vergeudete Zeit, die ich am liebsten auslöschen möchte", sage ich schroff.
,,Vina, was passiert ist...", fährt Tante Aurora fort, aber ich will nichts hören und blocke ungeduldig ab.
,,Lass uns lieber nicht darüber reden. Viel wichtiger ist, was du in all den Jahren gemacht hast. Erzähl, wo bist du überall gewesen? Besuchst du immer noch die kranken Kinder auf der Kinderstation?"
Doch Tante Aurora sieht mich lange und ernst an. Ich kenne diesen Blick. Diesen Blick hatte sie damals, als sie mir erzählt hat, dass mein Vater gestorben ist. Sie will mir etwas Schlimmes mitteilen und ich weiß nicht, ob ich dafür bereit bin. Ich meide den Blickkontakt und sehe wieder nervös aus dem Fenster.
,,Deine Mutter sagte mir, sie möchte, dass du für die nächsten Monate eine Klinik besuchst."
Ich lache trocken. Ja, das sieht ihr ähnlich. Wenn immer es ihr zu belastend erscheint oder den Anschein hat, reine Zeitverschwendung zu sein, schiebt sie die Probleme an andere weiter.
,,Natürlich will sie das... Und wenn ich mich weigere, Tante Aurora? Am Ende ist es ihr egal, was ich mache, solange sie nicht hineingezogen wird."
,,Du könntest mir helfen."
,,Was?"
Ich folge ihrem Blick aus dem Fenster zu dem kleinen Garten, wo die Krankenschwestern ältere Menschen im Rollstuhl herumschieben und Patienten ihre Besucher in den Arm schließen.
,,Sein Name ist Elias. Ich besuche ihn gelegentlich im Krankenhaus und er hat mir erzählt, wie sehr er deine Musik mag. Es würde ihn glücklich machen, wenn du ihn besuchst und mit ihm redest. Wegen seiner Krankheit hat er nicht besonders viele Freunde, weshalb es schön wäre, wenn er wieder etwas vom Leben hat."
Ich springe empört auf. ,,Das ist doch wohl ein schlechter Scherz! Ich bekomme mein eigenes Leben nicht mal auf die Reihe und soll nun jemandem Ratschläge über das Leben geben?"
Tante Aurora bleibt ruhig und fährt fort: ,,Nur, wenn du möchtest. Ich dachte, das würde dir besser gefallen als einen Monat lang in einem stickigen Raum zu sitzen und über deine Kindheit zu reden."
Da hat sie einen wunden Punkt getroffen. Jetzt, wo ich doch nicht tot bin, habe ich gar keine andere Wahl, als an den nächsten Tag zu denken und weiter zu leben. Es gibt viel unausgefüllte Zeit zum Nachdenken, aber ich will nicht denken, denn das macht alles nur schlimmer, egal, was die Leute einem sagen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich geschlagen zu geben und Tante Auroras Bitte nachzukommen. Jedoch werde ich diesem Elias auf keinen Fall etwas vorspielen, nie im Leben.
Eine Weile betrachten wir schweigend weiter den Garten. Die Luft ist still und riecht sauber, der Himmel ist von einem blassen, wässrigen Blau. Die Blätter haben die Farbe von Feuer und segeln leise auf die Erde herunter. Vom Weiten leuchtet der mit Blätter übersäumte Rasen golden. Es ist so schön, dass es schon weh tut.
,,Was hat er?"
Tante Auroras Gesicht ändert sich plötzlich zu einem ernsten, harten Ausdruck, der mir fremd ist und mich unbehaglich fühlen lässt.
,,Das hat nichts zur Sache zu tun, Vina, gar nichts..."
Am nächsten Morgen warte ich auf einer Bank vor dem Krankenhaus auf Tante Aurora. Ich bin eine halbe Stunde zu spät und rechne schon damit, dass ich mir gleich eine Standpauke von ihr anhören kann. Ich seufze laut. Heute ist der Himmel von einem perfekten Blau und kühl.
Aus der Ferne sehe ich, wie kleine Kinder im Laub herumtoben, das mich an meine eigene Kindheit erinnert und zurückversetzen lässt. Als Kind liebte ich den Winter. Wenn meine Eltern auswärts waren und mein Tutor im Urlaub war, spielte und tobte ich den ganzen Tag draußen mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft im Schnee. Wir bauten Schneemänner, machten Schneeengel und Schneeballschlachten. Wie ganz normale Kinder eben. Und obwohl ich wusste, dass die anderen Kinder mich komisch ansahen und deren Mütter über mich tuschelten, fühlte ich mich in dem Moment frei. Frei im Kopf und im Herzen. Selbst als es spät wurde und sie nach Hause gingen, habe ich alleine weiter gespielt. In diesen stillen, seltenen Momenten fühlte ich mich glücklich.
Jetzt, wo ich älter bin, empfinde ich den Winter wie alle Jahreszeiten als überflüssig und einfach bloß lästig.
Ich bin zu sehr in meinen Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerke, wie jemand sich neben mich auf den freien Platz plumpsen lässt. Ich sehe auf und blicke in das hübsche Gesicht eines Jungen. Ich schätze ihn höchstens dreizehn. Er lächelt mir zu und hält mir einen Donut hin.
,,Möchtest du? Der ist mit Marmelade gefüllt."
Ich nehme ihm das klebrige Ding ab, doch ich beachte es gar nicht. Mich interessiert der Junge weit mehr. Wegen seinen starren Augen. Weil er kein Augenlicht hat. Ich habe einen Kloß im Hals, frage zaghaft: ,,Elias?"
Er horcht auf. ,,Ja, woher weißt du das?" Er springt auf und tastet nach meinen Händen.
,,Ich bin Davina Whiteley. Meine Tante hat mir erzählt, dass du mich treffen möchtest."
Ich presse diese Worte beinahe heraus. Tante Aurora hat mir verschwiegen, dass Elias blind ist. Hat sie mir das absichtlich verschwiegen, weil sie befürchtet hat, ich würde kneifen? Sie muss mich für einen schrecklich unsensiblen Menschen halten. Ich denke über ihre gestrigen Worte nach.
Das hat nichts zur Sache zu tun.
Natürlich tut es das. Elias kann nicht sehen, vielleicht nie mehr.
,,Oh, ich freue mich so! Dann hat Tantchen ihr Versprechen gehalten!"
Elias hüpft auf und ab. Er hält immer noch meine Hand. Seine Hand ist klein und warm und irgendwie lässt das mich unbeholfen fühlen. Elias hingegen scheint völlig aus dem Häuschen zu sein. Sein Lachen strahlt regelrecht.
,,Ich kann es nicht glauben! Du bist tatsächlich hier. Das muss River sehen. Komm mit!"
Er zieht mich und seine überschwingliche Art und Lachen lassen mir keine andere Wahl, als mitzugehen. Wir gehen in den Innenhof, wo der Garten ist, und da begegne ich ihn das erste Mal. Er sitzt mit Tante Aurora auf einer Bank und selbst im Sitzen erkenne ich, dass er groß ist. Was mir sofort auffällt, sind seine Augen. Diese taubenblauen Augen. So kalt und klar, die mich an leisen Regen erinnern. Augen, die einen in den Bann ziehen und aufsaugen, und darunter liegen dunkle Schatten. Tante Aurora macht den ersten Schritt.
,,Da bist du ja." Ihre Stimme ist tadelnd, aber freundlich. ,,Ich habe mich gerade mit River unterhalten. Er ist Elias' Bruder." Sie dreht sich zu ihn um. ,,Das ist meine wunderschöne Nichte Davina."
River nickt mir kaum merklich zu. Er sieht mich nicht an, während Elias begeistert meine Hand fest umklammert hält, als könnte ich jeden Moment abhauen, worüber ich ernsthaft nachdenke. Ich sollte nicht hier sein. Ich hätte woanders sein sollen. Egal wo, irgendwo, aber nicht hier.
Dann höre ich seine tiefe Stimme. Sie klingt kalt und distanziert, wie das Auftreten ihres Besitzers selbst.
,,Es ist Zeit. Wir sollten gehen. Sag auf Wiedersehen, Elias."
Dieser River steht auf und geht schon, als Tante Aurora ihm nachläuft. ,,Nun warte doch, River."
Sie will nach seiner Hand greifen, aber er zuckt unsicher zurück und schlägt sie weg. Er blickt sie kühl und misstrauisch an. Tante Aurora lässt sich aber nicht zurückschrecken und lächelt nach wie vor.
,,Ich dachte, wir könnten uns noch ein wenig unterhalten. Ich habe Donuts mitgebracht."
Sein Mund biegt sich zu einem Lächeln, das aber seine Augen nicht erreicht. Es ist kalt und spöttisch. Er blickt herablassend zu ihr herunter.
,,Wenn Sie mich danach fragen wollen, ob ich aufgegeben habe, mich selbst umbringen zu wollen, da kann ich Sie beruhigen. Ich habe es aufgegeben. Ich werde einfach warten, bis es so weit ist. Solange bleibe ich brav."
Er wendet sich von ihr ab und kommt auf mich zu. Sein rauer Tonfall hat mich vor Schreck erstarren lassen. Ich halte die Luft an, als er nah vor mir steht und Elias an die Hand nimmt.
,,Sag deiner Tante, sie braucht nicht mehr herzukommen. Sie verschwendet ihre Zeit."
Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Er kennt sie nicht. Er weiß nicht, was sie alles tut, um den anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Was sie alles verloren hat und trotzdessen nicht aufgeben hat, im Gegensatz zu mir. Tante Aurora sieht traurig aus, so wie sie da steht, ihr warmer Blick ist voller Sorge. So hat sie mich angesehen, als ich mir zum ersten Mal das Leben nehmen wollte. Es hat sie als Einzige gekümmert. Einer wie River versteht so was nicht.
,,Ich finde jemand wie du sollte dankbar sein, dass es Menschen wie Tante Aurora gibt, die sich um dich sorgen. Es ist schön, gewollt zu werden. Wenn wir alle aufhören würden, zu sorgen, wäre das Leben trist und die Welt würde vor die Hunde gehen. Behaupte also nicht, dass es Zeitverschwendung wäre, denn solche kleinen Dinge machen unser Leben erst wertvoll!"
In diesem Moment hasse ich die Menschheit, die mehr nimmt als gibt. Warum denn nicht gleich kapitulieren, wenn die Welt grausam und gemein zu einem ist und sich rücksichtslos alles von einem nimmt, was einem einst so viel bedeutet hat? Die Menschen, die man geliebt hat. Die Welt hat mich durchgekaut und wieder ausgespuckt. Und das, was von mir übrig geblieben ist, ist eine leblose Hülle, eine blutende Wunde.
Wie passend fängt es genau jetzt gerade an zu regnen. Na, toll. Ich wende mich zum Gehen, als jemand mich am Arm festhält. Ich drehe mich um. Er sieht mich nur intensiv an und sagt nichts. Ich kann sehen, wie sein Kiefer zuckt. Seine Augen sind düster und voll von etwas, aber ich weiß nicht, was. Er sieht aus, als würde er in mir nach etwas suchen, nach einer Antwort, und auf einmal hellt sich sein Gesicht auf, als hätte er etwas erkannt. Schließlich lässt er mich wortlos los und geht mit Elias weg. Was für ein komischer Kerl.
,,Dieser junge Mann hat ebenfalls versucht, Suizid zu begehen. Einige Male schon", sagt Tante Aurora, die mit einem Mal neben mir steht. ,,So wie du."
,,Das ist nicht mein Problem", sage ich leise. Warum erzählt sie mir das? Ich will es nicht wissen. Ich habe genug Probleme. Ich muss nicht unbedingt mehr Ballast in meinem Leben herumtragen.
,,Warum kümmert es dich, wenn es nichts mit dir zu tun hat?"
,,Wenn es niemand tut, würde die Welt den Bach runtergehen", antwortet sie lächelnd. ,,Dasselbe hast du vorhin gesagt, nicht wahr? Es geht nicht darum, was wir wollen, sondern was wir können."
Mittlerweile hat es stärker zu regnen begonnen und wir gehen zurück zum Parkplatz. Ich steige in mein Auto ein und schalte den Motor an, bis Tante Aurora an der Fensterscheibe klopft.
,,Wir sehen uns nächste Woche wieder. Zur selben Uhrzeit."
,,Glaub mir, sie wollen mich nicht wiedersehen. Und ehrlich gesagt, will ich es auch nicht."
,,Du hast es mir versprochen, Vina."
Tante Aurora sieht mich erwartungsvoll an. Ich senke meinen Blick und starre auf das Lenkrad.
,,Hör einfach auf. Hör auf, nach deiner kleinen Nichte Davina zu suchen. Hör auf, darauf zu warten, dass sie irgendwann nach Hause kommt. Gib's auf. Sie ist fort, tot und begraben. Sie wird nicht zurückkommen, denn sie ist vor langer Zeit gegangen."
,,Dann willst du aufgeben und dich von ihm abwenden, Vina? Mein Kind, merkst du denn nicht, dass du dadurch nicht besser als deine Mutter bist? Es stellt dich in die gleiche Position wie diese Person, die du am meisten verabscheust."
Das kann nicht ihr ernst sein. Sie kann mich unmöglich mit dieser Person vergleichen. Ich blicke verärgert drein, aber Tante Aurora bleibt hartnäckig. Sie schüttelt leicht den Kopf und seufzt.
,,Entweder bist du nächste Woche anwesend oder ich weise dich in die Klinik ein. Es bleibt dir überlassen, für welchen Weg du dich entscheidest. Aber du kannst dich nicht ewig verkriechen."
Und mit diesen Worten entlässt sie mich mit meinen wirren Gefühlen.
,,Elias, es ist Zeit ins Bett zu gehen."
Elias Stimme meldet sich nicht zurück. Ich befürchte schon, dass etwas passiert sein könnte, deshalb sprinte ich die Treppe herunter und zu seinem Zimmer. Mein kleiner Bruder hockt in der Ecke und ist damit beschäftigt, im Schrank herumzukramen. Ich hocke mich erleichtert neben ihn.
,,Wonach suchst du?"
,,Ich suche nach der CD...", sagt er und schleudert eine Actionfigur achtlos hinter sich.
,,Warte, ich helfe dir."
Elias lehnt sich zurück und lässt mich machen. Ich hole die große Kiste mit den CD's und Vinyl-Platten heraus, die wir von unseren Großeltern geerbt haben.
,,Welche CD suchst du?"
,,Die von Davina Whiteley. Als ich sie heute getroffen habe, hat mich das erinnert, wie gern ich sie immer gehört habe. Ihre Musik ist wunderschön, findest du nicht auch?"
Mir fällt beinahe die CD aus der Hand. ,,Das war Davina?", frage ich erstaunt.
Dann habe ich richtig gelegen, dass sie es gewesen ist, die mit Aurora zu Besuch gekommen ist. Ich wusste, dass sie mir bekannt vorkam. Ich hätte aber nicht erwartet, dass es ausgerechnet Davina Whiteley war.
Ich stecke die CD in die Stereoanlage und drücke auf Play. Sofort umschmeichelt ein schönes Klavierspiel das Zimmer. Elias Gesicht strahlt glücklich und selbst ich muss dabei schmunzeln. Ich nehme die CD-Hülle in die Hand, das ihr Gesicht schmückt. Davina Whiteley, soso. Ich schaue sie an und denke, dass das Foto auf dem Cover, das Elias mir gezeigt hat, ihr nicht gerecht wird. Auf dem Bild ist sie deutlich jünger und hübsch, das leicht wellige, erdbeerblonde Haar ist elegant hochgesteckt und sie hat ein strahlendes Lächeln. Eigentlich ist es das schönste Lächeln, das ich je gesehen habe. Es ist ein Lächeln, das einen aufheitert, das einen wissen lässt, man kann auf den nächsten Morgen hoffen, weil es immer einen nächsten geben wird.
Natürlich weiß ich, dass es nicht echt ist. Aber nichts dergleichen habe ich heute gesehen. Kein Wunder, dass ich sie erst fast nicht wiedererkannt habe. Ich werde nie vergessen, wie ich sie zum ersten Mal gesehen habe, und ich weiß, dass ich diese Erinnerung nie loswerde...
Es war zu der schlimmsten Zeit, als ich ihr begegnet bin. Ich war davor von zu Hause ausgerissen und der dumpfe Schmerz von Einsamkeit, den ich nicht abschütteln konnte, ließ mich unruhig werden. Tagsüber schwänzte ich die Schule und wanderte durch die Stadt, beobachtete die Leute, die durch die Straßen streiften, die mich mit ihrer aufgesetzten Freundlichkeit und Reichtum ankotzten, und nachts suchte ich nach ahnungslosen Opfern, meistens ältere, hilflose Männer, die ich in Kneipen ansprach und hinter Gassen zusammenschlug. Ich dachte innerlich, dass sie es verdienten, wenn sie so blöd waren und sich von einem Minderjährigen ansprechen ließen. Um an Geld heranzukommen, stahl ich und es dauerte nicht lange und ich traf auf eine Gruppe jugendlicher Delinquenten. Mit ihnen mischte ich andere Leute auf, denn es war mir letzendlich egal, was mit den Menschen passierte, solange ich meine Genugtuung bekam. Für mich waren sie Gegenstände, mit denen ich machen konnte, was ich wollte. Ich dachte, hier gehörte ich hin. Umgeben von Zigarettenqualm und hoffnungslosem Abschaum. Die blutenden Wunden, die blauen Flecke, die gebrochenen Rippen, all das formte mich allmählich zu einem völlig anderen Menschen.