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Im Mittelpunkt dieses unerschöpflichen und unbeschreiblichen Romans steht die Stadt Baku. Beginnend in den 70 er Jahren und durchwirkt von autobiografischen Elementen, knüpft Goldstein um diese faszinierende Stadt am Kaspischen Meer ein uferloses Netz an Geschichten, das sich bis hin zu seinen Erfahrungen als Immigrant in Israel zu Beginn dieses Jahrtausends spannt. Er erzählt das jüdische Schicksal in der Levante und in Europa sowie die Verflechtung von Juden, Muslimen und Christen, die mal friedlich Seite an Seite leben, mal sich in Raub- und Mordorgien rauschhaft bekämpfen. Abenteurer, Dichter, Mönche, Mörder, Stierkämpfer, Gladiatoren, Frauen, Freundinnen und Flittchen bilden ein grandioses arabeskes Mosaik, das den Leser schon nach wenigen Seiten in seinen Bann des höchst eigenwilligen, sprachmächtigen und hypnotischen Tons aus Pathos, Sarkasmus, Hymne und nüchternem Bericht zieht. Denk an Famagusta ist das literarische Großwerk eines der bedeutendsten Autoren der postsowjetischen Moderne, ein Werk, das scheinbar aus dem Nichts auftaucht, und in das die Gedächtnisfülle Europas und der Levante in bisher unbekannter Weise eingewoben sind.
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Seitenzahl: 800
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Alexander Goldstein
Denk an Famagusta
Roman
Aus dem Russischen und mit Anmerkungen von Regine Kühn
Mit einem Nachwort von Irina Prochorowa
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Anmerkungen
Nachwort Irina Prochorowa
Biografien
Impressum
Ja, ein Zeichen hab ich empfangen,
der die Toten begleitet: Hermes
kam zu mir herein.
Ich sprach: O Herr, willkommen bist du mir.
Denn bei der seligen Göttin: jede Freude
ist mir geschwunden, ich leide zu sehr.
Eine Sehnsucht fasst mich: tot zu sein,
die lotosgrünen Ufer zu sehen des Acheron,
schimmernd im Tau,
hinabzugehen in des Hades Haus.
(…)
Sappho »Gongyla« (in der Übertragung von Albert von Schirnding)
Im Jahre 1974 ist auf der Insel Zypern der Versuch eines von der Junta in Athen unterstützten Staatsstreichs unternommen worden.
Die Athener setzten auf die Enosis, den Anschluss Zyperns an Griechenland.
Die Türkei nahm das zum Vorwand und landete zum Schutz ihrer zyprischen Stammes- und Glaubensgenossen Truppen auf der Insel, die mehr als 40 Prozent des Territoriums besetzten.
Unter türkische Herrschaft kam auch der Hafen und Badeort Famagusta, Stolz der griechischen Inselbewohner.
In der Sprache tauchte die Wendung auf Denk an Famagusta, ein Appell, sich nicht mit den Besatzern zu versöhnen und so zu tun, als sei in der Kampfesruhe, die sich in dem gewaltsam geteilten Land einstellte, Okkupation keine Okkupation mehr.
Denk an Famagusta ist eine außerordentlich wichtige Idee.
Für die Literatur ist sie unerlässlich.
Schriftsteller denken, wenn sie schreiben, normalerweise nicht an Famagusta.
Sie meinen, wenn man eine Sache nicht benennt, löst sie sich von selbst auf.
Das stimmt nicht. Sie löst sich nicht von selbst auf. Man muss sie treffender benennen und beschreiben, als sie es verdient.
Noch weniger denken die Kritiker an Famagusta.
Sie kranken am Vergessen.
Deshalb wächst in den meisten Menschen eine Feindseligkeit gegenüber Kritikern.
Denk an Famagusta ist ein Erzählmotto.
Die Erzählung will etwas, der Mensch aber hört nicht darauf.
Die Erzählung rüttelt an der Klinke, läutet die Glocke.
Nein, kein Einbrecher, keine losgerissene verirrte Kuh.
Nur die Töne sind ähnlich.
Erst ein gereizter Ausruf. Wütendes Zurückweisen. Ein Schrei. Zwei Schreie kurz nacheinander, in ein paar Honigwaben des Herbstes. Noch lebten die Bienen des Imperiums. Summten von Süd nach West, von Ost nach Süd, von Nord nach West, Süd und Ost. Aber sie hatten nicht lange, hatten so gut wie gar keine Zeit, zehn Jahre. Rechnen Sie, wann das war.
* * *
Ich will nicht, ich will keine Kritik schreiben, schrie der Dichter, auch Übersetzer, in seiner hoffnungslosen kleinen Bude, meine Anwesenheit machte ihm nichts aus, im Gegenteil, Publikum, sogar in jämmerlichster Einzahl, animierte ihn und er donnerte ein, zwei, drei Mal mit der Faust auf den Tisch mit der Decke darauf, so viel Ablehnung war in dem Mann. Das war nicht an dem Tag, als er mir seine Rezension gezeigt hatte, zu einem Teil in dem dicken Hauptstadtjournal abgedruckt, der andere Teil sollte erst noch, und so weiter. Von ihm wird später die Rede sein, ich rufe den in der Ferne Lebenden erinnernd herbei. Scheißkerl, ich geh nicht ran, flüsterte Sascha Saturow in Richtung Telefon, Scheißkerl, ich geh nicht ran, wiederholte er lauter beim zweiten Klingeln, Scheißkerl, ich geh nicht ran, brüllte er aus vollem Hals beim fünften Mal, schlug auch auf den Tisch, hochrot, erregt, und hob nicht ab; erlaubte es auch den anderen nicht, die dabei waren. Seit ewigen Zeiten markieren wir mit dieser ungefähren Wendung das gelöschte Datum, Sascha Saturow, platte Nase, runde Augen, pausbäckig, Hilfsrechercheur der Redaktion, dessen elaborierte Elaborate – er selbst bezeichnete sie so – über Barren, Battuten, Spagate und ob Fackel es in die Höherste Liga schafft (seinen Leuten gegenüber drückte er es gerne so aus – Höherste Liga, nicht Oberliga, er hatte das aus einem anderen slawischen Sprachgefüge, er schrieb sogar so in seinen kleinen Artikeln, damit diese Steigerungsform in der russischen Sprache, dieser Konservatorin par excellence, Wurzeln schlage und die bestehende verdränge, die Korrektoren redigierten es jedoch) – nicht schlechter waren als die übrigen Texte der Redaktion, in der ich ein Jahr in Gesellschaft verwaister, stumpfer, indifferenter Leute wie ich selbst herumgebracht hatte, – Saturow, der gutmütige, gesellige Saturow, wurde seit einiger Zeit als naiver Psychopath geführt. Er endete schlimm: ein Monat Nervenklinik, um sich etwas zu kurieren, wie es hieß, dann wieder an die Freiheit gewöhnt, kleine Artikel, nicht schlechter als vorher, und plötzlich strudelte er durch die Rinne in den gierigen Trichter, verdünnisierte sich, aufgesaugt von der Medizin. Zufällig ertappte ich Sascha früher als die anderen Kollegen und Zeugen auf dem Höhepunkt selbstgerechten Handelns, als er, sich schweigend die Schlinge aus einer abgeschnittenen Telefonschnur um den Hals legend, schon fast auf das Gesims geklettert war, doch drei auf mein Schreien herzueilende Männer fällten ihm ein anderes Urteil.
Manchmal höre ich sagen, Saturows Name sei eigentlich Astwazaturow gewesen.
Es lag in der Familie, der Sohn ist auch verrückt geworden, noch vor dem Vater, ein scharfsichtiger Beobachter hätte darauf kommen können, was die beiden auf den luftigen Pfaden ihres verwandtschaftlichen Eigengeruchs erwartet. Saturow war stolz auf seinen Sohn, in den Wachstuchheften des jungen Mannes, die der Vater zur Lesung im Kreise Vertrauter mitbrachte, blitzten zwei Motive auf, zwei Themen – die dumpfe Angst, von der Luftsäule erdrückt zu werden (in vierzehn oder fünfzehn Jahren hat sich die Luft verdichtet, die Wirbelsäule droht jeden Moment zusammenzubrechen, deshalb muss man auf dem Rücken schlafen, sie wenigstens nachts durch Matratze und Zudecke schützen), und, angeregt durch Literatur, ein gedankliches Schweifen in den modrigen Schlössern des Zentralstaates – die mit nicht unbedingt erforderlicher taxonomischer Pedanterie entwickelt wurden. Inmitten dieses pubertären Blumengartens lagen als Zeichen vorschneller Reife Tagebuchaufzeichnungen, rührend durch die scheinbare Rationalität, die man bei absolut unpraktischen Menschen findet. Die flüchtigen Skizzen fingen den Sowjetalltag in der Provinz ein, zum Beispiel: die Zuteilung kleiner Wohltaten des Lebens (die Feder des Zeitzeugen skizzierte für die Nachkommen die Standard-Patience von Gutscheinen für Lebensmittel, einer war sogar in Originalgröße abgezeichnet), das heimlich beobachtete Zuschieben von Schmiergeld an einen Angestellten des Amts für Wohnraumbewirtschaftung, das Fahnden nach defizitären Büchern, nicht etwa verbotenen, sondern einfach solchen, die unterm Ladentisch lagen, den wenig überzeugenden Kauf eines tschechischen Anzugs, na usw., wie der Philologe nach lateinischem Beispiel zusammenfassend abkürzt.
Kurz vor diesem Selbstmordversuch hatte mir Sascha Saturow Koljas, seines Sohnes, Hefte gegeben. Zwei davon, die ich vom Vorlesen kannte, bezauberten mich auch beim eigenen Lesen durch ihren Willen zur Aufzählung von Ereignissen und die still-sanfte Begabung, sich in diesem Fahrwasser zu baden. Papa in der Redaktion. Schäle Kartoffeln. Erinnerungen an N. S. stimmen traurig. Im Fernsehen Monte Christo. Draußen kalt wie im Winter, und nicht wie im Herbst, Heizung für den 20. Oktober angekündigt. Bei der Metro ›28. April‹ gab es zu meinen Turnschuhen passende Wollsocken. Das Flugticket nach Moskau 43 Rubel plus die Ausgaben dort, das spare ich zusammen und fliege hin. In der Bibliothek das Altslawisch-Lehrbuch, nur Aoriste und wieder Aoriste. Den halben Vormittag nach Mehl angestanden, Papa bäckt Kartoffeltaschen. Die Zeitungen schreiben von unser aller Verantwortung, Fußball ist so blöd. Das dritte Heft, verziert mit Blättern und Stängeln, dem Herbarium des Druckereikorrektors, enthielt romantische Auszüge aus Geschichtswerken (ihn fesselten die Schiffe der Legenda aurea, Fregatten und Galeonen, Mitteilungen über Vorgänge in Yucatán, ein besonderes slawisches Kloster-Alphabet, die Früchte von Samarkand, Simurghen in den Gärten der Omayyaden: Wie ich ihn jetzt verstehe, wenn ich in Lod an den turmartigen Villen der arabischen Oberklasse, der Haschisch-Sultane, entlangspaziere, – hinter jedem Zaun schnauben Hengste, schweifen Pfauen, fiederfüßige Papageien entstellen von der Höhe ihrer himbeerfarbenen, grünen, kobaltblauen Federkleider die Rufnamen der Meerkatzen), einen Katalog der Familienüberlieferungen und eine Version vom Weggang Chatchatur Abowjans, die zu verwickelt und träumerisch ist, um sie hier zu diskutieren. Von anderen Aufzeichnungen in dem Heft wird später die Rede sein, viel später, ich weiß selbst noch nicht, wann. Kolja Saturow, den Sohn von Sascha Astwazaturow, hat man auch gleich von der Arbeit in die Klinik gebracht, von seiner Stelle als Korrektor in der Korrekturabteilung der Druckerei, wo er mit einem Dutzend Frauen saß, Türkinnen, Armenierinnen, Russinnen, Jüdinnen, unverheirateten, in geschlechtlicher Hinsicht zaghaft zagenden, zagend verzagenden, ich habe selbst ein Jahr in diesem Zimmer verbracht und war keinen Nötigungen ausgesetzt, höchstens von kinderlosen Geschiedenen, die einen vielleicht mal bei der Hand nahmen, aber ohne erotische Annäherung, dass sie einem an den Knopf oder tiefer, das gab es in unseren Breiten nicht; er fantasierte von morgens an verworren und blumig, niedergeschlagen von hypochondrischer Nostalgie nach jenen Zeiten, als die Wirbelsäule noch dem Druck der Luftsäule standhalten konnte, wenn auch mit Störungen, Kolja hat man sechs Monate vor seinem Vater weggebracht.
Nett war es in der Korrekturabteilung der Druckerei, ob Spätherbst oder Winter. Das Öfchen wurde glühend heiß, Essen brutzelte auf der Platte, ein bisschen zu fett für meinen, des Korrekturlesers, Magen, aber Güte weist man nicht zurück, und statt der delikaten belegten Brote von zu Hause aß ich islamisches, im Öl zischendes Grünzeug mit Ei, am Tisch mit Lana Bykowa (Betonung auf der betonten, der zweiten Silbe), Korrektor im Gynaikeion, wo man sich vor mir, dem Krauskopf, wie eine Zigeunerin mich vertraulich angeredet hatte, so wenig in freundschaftlicher Familiarität genierte, dass man, die Kleider über die Knie hochschiebend, die Unterröcke hinsichtlich der Spitzen verglich, und du guck nicht her, Lana aber, Lanotschka Bykowa, eine kleine Dicke von laut Ausweis dreiundvierzig Jahren, meine Chefin beim Kollationieren der Papiere des Parteiaktivs, die dem Auge mit dem kleinen Finger lesen half, hatte der Beteiligung daran abgeschworen. Die Mutter hatte ihr die Ehe verwehrt, damit sie beide, watschelnd, jüdisch familiär, bis zu ihrem, Mutter Markownas Tod, mit der Emailleschüssel in die Banja Fantasija zu den gemeinsamen Waschungen gehen könnten – unter den Fresken von Samwel Martirossow, eines Kneipenmalers aus Tbilisi, der für fünfhundert Rubel in Assignaten, Schaschlyk und eine Flasche Roten täglich, im Frührot des gehörnten Jahres dreizehn, im schneelosen, windigen transkaukasischen Winter, eingeladen von dem Millionär Tagijew, die Kacheln mit der Eleganz der Caracalla-Thermen geschmückt hatte. Er hat mit Wein umrankte Hirsche gemalt, romanische Villen neben italienischen Bächen, Vögel, die den Süden überfliegen, Marat, Seneca, üppige Ernte, die Fruchtbarkeit des Viehs, das Maß menschlicher Zufriedenheit, während ich las – die Eltern hatten mich mit in die Banja genommen –, war die Schlange vor mir unmerklich kürzer geworden, und ich sah bei der Bykowa die verschämte Lust, als sie zu den heißen Kabinen ging. Sie zahlte den Obulus an die Badefrau und betrat mit ihrer Mutter den Baderaum. Sie schrubbte ihr den Rücken, Berta Moissejewna stöhnte ächzend. Sie nötigte die gewaschene, mit dem Frottiertuch abgeriebene Mutter hinaus, länger ist nicht gut für dich, Mamotschka. Zwanzig Minuten, gegen die die Alte nichts einzuwenden hatte, wenn es länger wurde, zeterte sie aufgebracht, zwanzig Minuten dauerte Lanas Rendezvous mit dem feuchten Dampf. Mit ihrem behaglichen Allerwertesten setzte sie sich auf die Bank aus Erebunimarmor – der Ölfabrikant Tagijew hatte nicht gegeizt –, auf das flauschige Handtuch setzte sie sich. Sie schloss die Augen, wurde ganz schlaff, atmete, der geliebte Dampf umfing sie. Mit Kinderseife streichelte sie ihren Körper auf verschiedene Weise, die verstopften Poren erwachten. Sie strich über die Haut, ohne sie abzuspülen, seifte, massierte sich mäßig stark. So richtig entfaltete sich ihre Einbildungskraft dank Banja Fantasija in der achten oder neunten Minute, länger hatte sie nicht die Zeit sich einzustimmen, während sie mit der Hand die lebhafte Empfänglichkeit für Wahrnehmungen stimulierte, die hinter ihren Augenlidern vorbeizogen. Deshalb hatte sie beizeiten, noch zu Hause, schnell wirkende Gestalten, gewagte Bilder vorbereitet und mit hierhergebracht, Bilder, die schon beim Vorgefühl der feuchten Hitze voll erblühten – ungestüme, scharfe, wenn auch nicht immer die heftig erwünschten, für diese reichen die einfachen Reize der Umgebung, des Schmucks an den Wänden nicht, sie gehorchen eigenwilligen Launen, dulden weder Drängen noch Antreiben. Die Wolke war da und umhüllte sie in ihrer ausschweifenden Lust. Leicht stöhnend – aber nur ich wusste, dass sie stöhnte, jemand Fremdes hätte eine Reizung der Atemwege, der luftleitenden Trakte und kurzatmigen Zwischenstationen diagnostiziert – legte sie sich, soweit der Marmor des Erebunibänkchens das erlaubte, auf die Seite, die Beine fest am Bauch, die eingeseifte Körperregion im Handtuch, und schaukelte sich so, wand sich leise, aber das wusste wiederum nur ich, dass sie sich absichtsvoll wand, sich wiegte, ein Fremder würde vermelden – sie hätte sich gewälzt, wäre hin und her gerutscht, hätte, wie man sagt, keine Ruhe gefunden. Das Chronometer im Herzen zeigte ihr an, wann sie unter die ernüchternde Dusche, wann sie das zweite, saubere, nicht mit Seife verschmierte Handtuch, Objekt mütterlichen Befremdens und Vorwurfs, herausholen musste – Berta Moissejewna konnte nicht begreifen, warum es seifenverschmiert war – und wann sie unter den Augen der rosagesichtigen Hirsche, Pterodaktylen, Edisons mit dem Phonographen, hinausgehen musste, ich habe die Fresken schon aufgezählt, sie recht und schlecht beschrieben, ich sah, mich von meinem Buch losreißend, wie sie, wenn sie herauskam, an der entwürdigten Freude zu tragen hatte, aber das drang erst später zu mir durch, in der Korrekturabteilung der Druckerei – dort lag Bykowas ganzes Leben klar vor mir. Einmal hatte sie eine Dienstsünde von mir gedeckt, das kostete sie eine Verwarnung, ich wäre rausgeschmissen worden, Lanotschka. Sie las mit Hilfe von Brille und einem Lesezeichen, einem trockenen Stängel aus der Kräutergemeinschaft des Herbariums, einem Stängel, den ihr Kolja Saturow geschenkt hatte, Sascha Astwazaturows Sohn. Kolja hatten sie schon drei Monate vor dem Vater weggebracht und mit Beruhigungschemie vollgestopft, sie hatten ihm Spritzen gegeben, es war kein Zufall, dass Sascha Saturow das Telefon vom Tisch fegte und darauf herumtrampelte, nachdem er den Sohn im Bedlam besucht hatte, und dass er dann mit der Schlinge aus der abgeschnittenen Schnur auf das Gesims kletterte.
Ich habe etwas verwechselt, das Vergangene zerbröselt. Kolja Astwazaturow war der Sohn von Lewon Ter-Grigorjanz, eines kleinen alten Mannes mit großem Adamsapfel, – die Vorsilbe »Ter« vergeben die Armenier im Alter, für langjährige Dienste, und bei Weitem nicht an alle, sondern nur an ehrwürdige Menschen, die sich durch die Integrität ihres Beitrages zum Gemeinwesen auszeichnen, es entspricht dem jüdischen »Rab« oder, in der jemenitischen Aussprache »Rawwi«. Lewon Artaschessowitsch Ter-Grigorjanz hatte unsere Redaktion besucht, um die Aufmerksamkeit von Kollegen (in seiner Jugend war auch er Zeitungsmann gewesen) auf die elende Situation seines Sohnes zu lenken, der wegen empörender, aus seinen privaten Heften gestohlener Passagen über Reisen durch die Korridore des Zentralstaates in die städtische Geistheilanstalt eingewiesen worden war. Und nun hören Sie, was da wirklich stand, geiferte der Alte, – Vignetten, Ornamente, Initiale schwimmen auf kirchlichen, auf klösterlichen Meeren wie die Fregatten der Legenden, gnädig gegenüber den selbstverliebten Pfauen, die auf die Buchara-Grammatik einhacken, deren Rollen eine Beurteilung des Diego de Landa im Lichte von Abowjans Gewissen beinhalten, dessen geheimnisvoller Gang durch die armenische Frage – im Herbst 1848, vorbei an Apfelbäumen im Regen – wie ein Rubin im Garten leuchtet (welch ein Garten!), und wen, frage ich Sie, konnte die Beschreibung der Banja Fantasija mit ihrer Heldin und Diva, ihrem Sinnbild und zärtlich geseiften Prima, Lana Awigdorowna Bykowa stören? Wir trösteten den Alten, wir verstanden die Ausweglosigkeit des Kasus. Ich ahnte, was vor sich gegangen war. Ein Mitschüler von Kolja, der sich als sein Freund ausgegeben hatte, las, den Bleistift in den schmutzigen Fingern eines Lügners, die Aufzeichnungen des jungen Mannes und denunzierte ihn bei den Leuten, denen das Gericht unterstand. Die Diagnose seiner Psyche (die Existenz der Seele, von den Richtern öffentlich negiert, wurde hier dennoch berücksichtigt, aber in negativem Sinne) zeigte die ungesunde Poesie seiner Natur und einen Hang zur Gerechtigkeit, in der Sprache der Ärzte war das Streitsucht. Auf die Frage, wie das Gefasel von Yucatán, verstärkt durch die Loblieder auf Diego de Landa, mit der These vom Obst- und Beerenreichtum des Emirats Buchara zu verbinden sei, und die höchste Bewertung der Jesuiten in Paraguay mit der verleumderischen Alltagsbeschreibung und der Oase darin – der mitten im Satz unterbrochenen anrüchigen Schilderung der Banja, wurde zur Antwort gegeben, dass dieser Zusammenhang sich dem ehrlichen Blick erschließe, dass er, Nikolai Ter-Grigorjanz, jede Wendung des Schicksals annehme und einverstanden sei, sich allen Prüfungen zu unterziehen, wenn man ihm Feder und Papier nicht wegnähme – »diese« Bedingung, unterstrich er, dürfte nicht übertrieben sein. Wenn der Expertenrat jedoch wissen möchte, welche Bedeutung er, Nikolai Ter-Grigorjanz der Pronominalbestimmung »dies« beimesse, dann sei er genötigt, wie Nikolai Bucharin, der ein analoges Interesse bei Andrej Wyschinskij befriedigte (siehe das Stenogramm des Prozesses in Sachen »Rechts-trotzkistischer Block«, gefunden auf einer Makulaturhalde in der Nähe des Eisenbahnknotenpunkts Sabrat II an der Baladsharsker Eisenbahnstrecke), sich auf die Feststellung zu beschränken: die Kategorie »dies« gehöre zu den kompliziertesten in der Wissenschaft derLogik.
Jetzt wusste man, was man ihm wegnehmen musste – Feder und Papier, die Hefte. Er bekam Spritzen, Tabletten, Gurte, Faustschläge. Nach anderthalb Wochen medikamentösen Niederhaltens wurde Kolja wieder kämpferisch, er verfasste ein Poem und bewahrte es dank bestimmter Kniffe der Mnemonik vor dem Absturz ins Vergessen, ein Poem, dessen syllabische Verse vom Zusammenstoß mit den Allegorien der Präparate erzählten, den puritanischen Figuren des Bösen, die ihre Abstammung aus Pilgrim’s Progress herleiteten, – mich verwunderte, dass im Verlauf Hunderter Zeilen, die der Alte auswendig gelernt hatte, die Bedingungen, Merkzeichen, Details des Krankenhausalltags nicht ein einziges Mal vorkamen, als hätte es keine Ärzte, Sanitäter, Pritschen, Kittel, überhaupt kein Reglement gegeben, nur Bunyans sich ins Hirn krallende Ungeheuer. Alles verschluckte der chemisch reine Pol der Elixiere, und beim Alltag der Injektionen tummelte sich ein anonymes, an keiner Stelle in den Versen genauer skizziertes Personal, genauso blieb auch das stoffliche Milieu des Etablissements eisern ausgeklammert. Lewon Artaschessowitsch weinte und ließ niemandem Ruhe, er warb um Anteilnahme, als könnten Gesuche von uns an die Instanzen – wir haben sie gar nicht geschrieben, um uns nicht verrückt zu machen, ohnehin schmerzten die Wunden, die der hartnäckige Vater uns beibrachte, – als könnten solche blöden Papiere Sanitäter, Spritzen, Aminasin verhindern. Kolja widerstand bis November, als in den parasyllabischen Versen ein syllabotonischer Wesenszug auftauchte. Eine nur teilweise angedeutete Ausweglosigkeit, dunkel auch für Jägerohren, umso mehr für ein Tier im Käfig, aber ich bekam mit, dass das Chaos mit kleinem Hämmerchen den Zaun abklopfte, die schwache Stelle suchte – und gab dem Alten davon Nachricht. Ter-Grigorjanz war inzwischen zu müde, an das Schlimmste zu denken, das, allen Prognosen zum Trotz, nicht einzutreffen eilte, sodass er dieses Mal aus Selbsterhaltungstrieb abwehrte. Ich bestand darauf, verschmähte tröstliche Fakten zugunsten von verdächtigen Indizien (in zwei neuen, vom Standpunkt der Metrik her tadellosen Satiren rührte sich kaum merklich der Wurm der Kapitulation), aber der gebrochene Alte wies die unangenehmen Argumente zurück, überzeugt, sein Sohn würde die zwei Wochen durchhalten, bis eine Antwort auf unser nie geschriebenes Gesuch käme. Umso stärker war für Lewon Artaschessowitsch die Erschütterung, als ihn am folgenden Tag schon der reinste betonte Vers der Fortsetzung erschlug. Kolja saß still und fügsam auf dem Bett, im Profil und en face, aus seinem halbgeöffneten, auf die Brust gesunkenen Mund rann ein Speichelfaden. Der Vater wischte ihn mit dem Taschentuch weg, der Sohn ließ den Faden weiterrinnen. Weder in seinem verödeten Haus noch sonst wo außer in unserer Redaktion kümmerte sich jemand um den alten Ter-Grigorjanz.
Vor dem Fenster blaute der November, zwei weit ausholende, aus kleinen Wölkchen bestehende, nach links und rechts zielende Krummsäbel schienen – wie gespreizte Beine – aus einer gemeinsamen Wurzel zu kommen; weder Beine noch Flügel – jemand Mächtiges stieß sich aus der Schwerelosigkeit ab, stürmte heftig reaktiv nach beiden Seiten und jagte, zweigeteilt, in kalter Glückseligkeit davon. Ich stand am Fenster und verschlang diese tiefe Bläue, ohne Angst um meine Kehle, die vom Schleim einer Erkältung belegt war wie der Teekessel von Wasserstein. Geht alle raus, sagte Lewon Artaschessowitsch. Sein armenischer Akzent war vom Bevorstehenden gelöscht. Wir gehorchten, wir vergingen vor Ungeduld auf die Lösung. Er stand starr in der Ecke, sein Kopf fest in der Haltung stummen Selbstgesprächs. Er verschränkte die Arme vor der Brust, öffnete sie wieder und breitete sie aus, und so – sie verschränkend, sie ausbreitend, dann wieder das Teure an sich drückend, denn der Charakter der Gesten teilte mit: es gab nichts, was teurer war als dieser sinnbildliche, visuell nicht greifbare Leib der Umarmungen, nichts konnte in seinem, Ter-Grigorjanz’ zu Staub gewordenem Leben wichtiger sein, – er entließ das Umarmte ins Blau des Novembers, aus dem es, kurz entflogen, vertrauensvoll wieder zu ihm zurückkehrte, – so durchmaß er das Zimmer zwischen den Stühlen und Tischen der Büromöblierung, fing an sich zu bewegen, zu spielen. Dann verlor sich die Regelmäßigkeit der Bewegungen, sie wurden komplizierter, schwankten in verworrenen Rhythmen. Ich konnte die Magie schlecht entschlüsseln. Die Handlung entsprach nicht den Erwartungen an das Fest eines Geistesgestörten, es war offenbar ein Gesetz, das Ter-Grigorjanz dieses Gleiten, Verbeugen, Wegtauchen und – unter rezitativischen Formeln – die scheuen beflissenen Gänge, abnötigte. Den Schaulustigen wurde es langweilig, sie entfernten sich in die Raucherecke und ließen mich allein in dieser Tanzstunde zurück, der ermattete Greis machte weiter. Dann blieb ihm endgültig der Atem weg, da erklärte ich, wie mir schien, überzeugend, scheinbar ohne die Absicht, mich einzumischen, in Wirklichkeit hatte ich Angst, den Wahnsinnigen aufzuregen, der wild in den Regionen schwebte, wo sich sein leidvoller Sohn in Stille gehüllt hatte, die Vorteile einer kurzen Erholung, eines Intervalls zwischen den Akten, nach welchem, wenn Lewon Artaschessowitsch darauf hört, seine Erzählung wohlgestalter und energischer würde … so verloschen und schmolzen wir, zwei Kerzenstummel, einer in erschöpfendem Tanz und Gesten, der andere in fruchtlosem Mahnen, Mitleiden, ich mochte den Alten.
Das Schwächezittern erwischte ihn in der Mitte des Raums. Ter-Grigorjanz ging in die Knie, fiel erschöpft lang hin, auf den Bauch. Aber was erstaunlich war: er hatte die äußerste Grenze nicht in einem zufälligen Moment erreicht, sondern im passendsten, wie im Voraus berechneten, nicht weil sein Organismus das brauchte, nein, er brachte den Organismus in Übereinstimmung zu der Forderung, deren Unerbittlichkeit ich vorläufig nicht zu deuten verstand. Der Vorhang lüftete sich eine halbe Minute später. Die Hände fuhren hoch, fingen an sich zu bewegen, das undeutliche Zucken der ersten Augenblicke – auch das vorsätzlich, wie ich jetzt weiß, was heißt: den Regeln entsprechend, wie sie der Kodex vorschrieb, dem Ter-Grigorjanz gehorchte, – wich zeremoniellem Fluss, der die Geste zu Ende führte. Er streckte die Hände nach vorn, riss sie vom Linoleum, stieß die Finger in lockere Erde, die frische Aufschüttung auf dem Friedhof. Er erhob die schwarzen Fäuste, öffnete sie halb, Erde verstreuend. Vier Steinchen fielen schwerer als Gewichte. Der Eifer der Steine beim Tricktrack-Spiel auf der Straße, die sofort verstummen, sobald ein Motorrad mit Beiwagen heranholpert, dessen Besitzer vom Wirt liebedienerisch Bier nachgeschenkt bekommt, sobald der Schaum vergangen ist, war in diesem Licht besonders ekelhaft. Er wiederholte die Geste, und sieben Steinchen fielen wie Würfel. Wieder wühlte er sie durcheinander, hob sie hoch und ließ sie fallen, sie legten sich in eine Linie, neun und neunzehn an der Zahl, eine Soldatenkette, die in den Tod zog. Die Erde brannte, Spaten verbissen sich darin, die Kraft versagte. Es roch nach Feldthymian, Steppenwinde wehten, das ätzende Winseln einer Flöte wurde vom Getöse der Trommel übertönt. Schwüle Wellen von Süd nach Süd. Drückende Hitze, Luftstau. Und das im Oktober. Und die Gerbereiche, die langnadelige Pinie, die kilikische Tanne? Immergrünes Gesträuch nur im Unterholz. Ein Brauch der türkischen Armenier, Abschied von dem Toten, dem armen Kolja. Die mit dem Rezitativ beweinte Pantomime war archaisch, unerforscht, die außer Gebrauch gekommene Einleitung eines Rituals.
Der dürre Körper von Ter-Grigorjanz wurde von mir auf einen Stuhl gesetzt, geben Sie die Schlinge her, Lewon Artaschessowitsch, bat ich, er gab die abgeschnittene Telefonschnur zurück. Sie brauchen sie nicht mehr, lächelte ich beruhigend, ich brauche sie nicht, flüsterte er, wie der Halm vor der Klinge des Schnitters. Wie sich die verstreuten Schicksale von Armeniern und Juden ähneln, Spryuk und Galut, so ähneln sich ihre Bestattungsriten, die Bewegungen des Greises erinnerten den Assimilierten an die alte Einheit, die Wurzel der Begräbniskultur zweier Stämme. In Haifa und Gyumrī, in Be’er-Scheva und Edschmiadsin geleitet man in gleicher Weise in die Grube, nur ist der jüdische vorgreifende Tanz gemäßigter, der Rabbi schlitzt dem Sohn am Grab des Vaters das Hemd, eine Woche Zurückgezogenheit, häuslichen Buß-Arrest schreibt der Babylonische Talmud der Familie des Verstorbenen vor, und die Juden begraben im Leichenhemd, nicht im Sarg, sie begraben mit offenen Augen, die eingewickelte Puppe auf den trockenen Boden legend, alles Übrige ist gleich bei Juden und monophysitischen Armeniern, die Finger sind dunkel von der Erde, wie von schwarzen Johannisbeeren, dreimal fallen die Steinchen: vier wie harte Gewichte; sieben wie Würfel; als gleichmäßige Reihe wie Soldaten – neun und neunzehn. Jenseits des Todes sind Armenien und Judäa Schwestern, das Leben hat sie getrennt, es gibt keine Konzessionen, wenn man um die Spitzenposition bei den Katastrophen streitet, jemand sagt, teilen wir uns den Untergang, er reicht für alle – nein, er reicht nicht, der Sieger nimmt alles, und die Gerichtshöfe rechnen, wessen Millionen blutiger, wessen Schrei gellender, wessen Leiden stummer ist; so muss es auch sein, man muss um das Maximum kämpfen, die letzte Unteilbarkeit der Zahlen, man muss die eigene Nacht über die fremde Nacht heben, sogar wenn sie einem verwandt ist, nur so, im stumpfen Egoismus des Kampfs, in der Prahlerei des Irokesen, dem Stolz des Wilden auf das Unglück (das Pfahldorf ist ja stolz darauf, dass es jahraus, jahrein von Krokodilen gefressen wird, die am Nachbardorf gleichgültig vorbeigezogen waren), – nur so, sich selbst überhebend und dreist, behauptet sich eine Nation.
Kein Wort, das machtvoller wäre, als das Wort ›Nation‹. Es schwillt, wird stark, wo es tönt, werden andere Wörter zu Staub. In der Nation schäumen die Säfte der Welt (im Sinne von ›world‹, im Sinne von ›мір‹), schweifen Quecksilbergeister, ›Nation‹ ist dunkel beredsame Destillierküche, Wiege geheimer Runen, Schrein wohlriechender Reliquien. Sie füllte die Adern mit Blut, ist Samen für den Hodensack, Augapfel für die Augenhöhle, ich bin ihrer Freigebigkeit ungehinderter Schuldner. Aber davor war reuelose Sünde, ich träumte davon, heimatlos als Tramp in irgendeinem pax-atlantic-Städtchen, vom Bahnhof kommend, die zweitürmige Kirche, die plüschige Konditorei zu passieren (die Heimstatt von Schlagsahne auf dem Kaffee, Rauchringe von Pachitos versilbern den Fakultätsklatsch), da taucht, das Bild zerschneidend, eine Brücke auf, wie aus Spitze, von Stieren getragen, – sagen wir es leichter, luftiger: eine durchbrochene, bogige Brücke, unten im Wind auf dem gekräuselten Wasser fliegen Boote, anfeuernde Schreie, Achterregatta (Studenten, Ruder, Flaggen, weit ausholend die Skulls, die Ufermädchen schlagen ihre Zähnchen in Zuckerbrot), den Atem aus eifrigen Kehlen lasse ich vor der Hoteltür, eile, dem Concierge meinen heimatlosen Namen zu nennen, fange sein Nicken, den zweideutigen Blick auf, der Liftboy setzt die knisternde Elektrizität des Lifts in Gang, den Koffer bringt ein grauhaariger Boy. Ein halbes Jahrhundert wollte ich von Hotel zu Hotel treiben, auf die Frage nach den Wurzeln mit einer sauren kleinen Grimasse antworten, das sei längst von der Tagesordnung gestrichen, ein Mensch ohne Heimat, ohne Muttermal, ein Niemand ohne Lieder, ich zahle mit Euro, es gibt keine Nationen nach Golgatha, meine schon gar nicht – ich bereue, es war Sünde, oh, Nation, Nation, alles, was ich bin, ist von dir, ich bin ein Tropfen vom Regen aus deiner Wolke.
»Liebst du deine Nation?« – fragte die Großmutter, einzeln gefangen in ihrem Starkasten. Knabberte gebrannte Nüsse, Schokolade und schmauchte mit Vorliebe Belomor, die ich für sie bei Ismail-Efendi kaufte – er trieb sie für Stammkunden auf. In seiner Jugend hatte er an der Tabriz-Revolte teilgenommen, später war er geißelnder Karikaturist bei Molla Nasreddin, der berühmten Satire-Zeitschrift unter der Leitung von Djalil-Muallim, des Redakteurs, ein Karl Kraus aller Türken der türkischen Oikumene. Ismail-Efendi, glatzköpfig, ein empfänglicher Mensch mit komplizierten Bedürfnissen, nach dem Scheitern seines misanthropischen Chefs überall verjagt, schnüffelte Äther, rauchte doppelt starkes Oguz-Haschisch, zeichnete heimlich für private Auftraggeber aufreizende Bildchen für den Sieg über die Schwanzschwäche, als Satiriker und Pornograf malte er die Gesäßbacken der NKWD-Büffet-Mädchen, die hängenden Schwengel der Parteikommissare, für besondere Bezahlung bediente er, bleich vor Angst – sie würden nachts die Tür einschlagen, ihm die Nägel ausreißen – die Homosexuellen mit seinen Bildern im Stil der Schule von Herat, ein neuer Kemaleddin Behzad, statt Schädlinge und Bluthunde mit Klecksen zu besudeln. Er blieb in einem Tabaklädchen hängen, verteilte heimlich, aus einem Kasten, himmelblaue, der Farbe der Wellen des Belomor(Weißmeer)kanals, in winziger Auflage abgepackte Papirossen, di trikene zigarkes, die ich meinem Großmütterlein brachte.
Nach ihren Jugendfotos zu urteilen, sah sie jung sehr passabel aus. Kuhäugig, eine erdbeerreife, von Bremsen verschonte Färse, nicht erweckt zur Zügellosigkeit – der Großvater hütete sich, in ihr den Geschmack daran zu entwickeln, zu tief in ihrem rosa Fruchtfleisch zu graben, ringsherum Lackaffen, Konzessionsbanditen, Neureiche wie Heuschrecken. Er wehrte sich schlagkräftig: wenn jemand aus der Saalecke Champagner schickte (er war aufgehalten, weil er im blauen Bassin des Europa eine Forelle auswählte), kippte er denen den Tisch um – die Kreaturen verzogen sich, niemand nahm es mit dem Rasenden auf; seine Frau warf in der Nacht der trunkenen Magnolien Bonbons vom Balkon, der johlenden Promenadenmeute in den Rachen, mit einem Blumenstrauß schlug er sie deshalb kreuzweise, ein Zigeuner-Orchester heizte mit Csardas ein. Sie arbeitete nie für Lohn, keinen Tag, im ehelichen Kokon, überlebte den Mann um ein Vierteljahrhundert, um ihre Bedeutung zu erhöhen, wurde sie zur professionellen Kranken, Patientin der semitischen Ärzte der Transkaukasus-Föderation, ihres goldbeschnittenen Khaganats, aus eingebildeter Kränklichkeit schöpfte sie ihr Selbst und ihre Anima, das Loch im Kringel ausfüllend. Bella macht es nicht mehr lange, knirschten die Freundinnen – aber sie verscharrte sie alle, einzeln oder mehrere auf einmal. Der Großvater, vierzehnter Sprössling seiner Familie, verschwand an einem Morgen des Jahres achtzehn, schlüpfte wie eine Nadel durch die ganze Ukraine der Direktorien, Hetmane, Pogrome, holte Luft durch ein Schilfrohr, als er, verfolgt von einer Bande, im Liman untertauchen musste, und weiter findet der Leser den Helden im Botanischen Garten von Batumi, wo er mit zwei Spießgesellen (soll ich ihre Schnurrbärte, Kavaliertücher, Spazierstöcke, Knöpfstiefel beschreiben) bei den Eukalyptusbäumen fotografisch festgehalten wurde, Anlass war der illegale Transport, das aufregende Enjambement von Fil-de-Perse-Strümpfen, Präservativen und Parfums Meine Justine aus Konstantinopel in das oben erwähnte Batumi. Die Fotografie war eine von anderthalb Dutzend, die den Zyklus der Jahresringe ihrer Triumphe bildeten, – das Dreigespann hatte sich aus irgendeinem dunklen Grunde angewöhnt, die Konterbande vor einer lackierten Plattenkamera auf dreibeinigem Stativ inmitten der Flora des Gartens von Batumi zu feiern. Aber unabhängig von Saison und Großmannssucht, die das Dekor diktierten (Eukalyptusbäume, die für besonderen Erfolg stehen, erhoben sich über anderen Anpflanzungen wie die Grabmale der Zaren über den Grüften des Gesindes und der frauenähnlichen Eunuchen, denn Eunuchen gibt es ja von zweierlei Art), die Unersättlichkeit der Subtropen, die die Gesichter der Kompagnons und folglich all ihr Sinnen und Trachten beherrschte, bildete den einzigen Inhalt der Fotografien. Von den bräunlich gewordenen Karten tröpfelte Schwüle und Feuchte, Lianen raschelten im Blattwerk der Assignaten.
Die maritimen Abenteuer, verewigt in botanischer Statik, brachten ein kleines Kapital für respektableren Handel, Erfolg mit Täschnerwaren führte die Familie in geräumige Gemächer, deren vorheriger Hausherr, gerade wegen Goldschmuggel verhaftet, kurz vorher den Stuck ausgebessert und die dicken Engelchen auf Wolkenkissen erneuert hatte. Der als Mosaik gelegte Willkommensgruß des Vestibüls, wegen der Fremdheit der Buchstaben ohne Adressaten, versprach aus demselben Grund die Wohlfahrt des alten Herrschaftssystems – Salve. Im Herbst, berauscht von knisternden Ballettröckchen, beschmiert vom schwarzen Saft der Weintrauben, unterwegs noch mit der Zahnbürste die Fasern vom Hammelfleisch aus den Zähnen kratzend, riskierte er, bei einem Tschekisten, mit dem zusammen er die Cheder geschwänzt hatte, einen silbrigen offenen Renault zu kaufen. Dem Tschekisten wurden neun Jahre später im Keller auf der Olginskaja-Straße die Knochen gebrochen, aber das Automobil, das an den Sonnabenden vom Straußenfederbusch seiner Frau gekrönt wurde, landete weit früher auf der Müllhalde, damit es die Piranhas, das barfüßige Gelichter, benagen konnten.
Sein ganzes Leben lang hat mein Großvater Issaj Gleser ein einziges Buch gelesen. Es war ein unentbehrliches Buch. Die Sache verhielt sich so. Im September fuhren sie mit dem Zug aus Kislowodsk zurück. Der Mann zog den Schlafanzug an. Ein Seidenkimono umhüllte die Glieder der Frau, die zweieinhalb Kurortkilo zugelegt hatte. Der Tee in den mit Neusilber untersetzten Gläsern duftete gar nicht eisenbahnmäßig. Zum hauchzarten Teig des Lawaschbrots, frisch aus dem Tendyrofen, waren Brynsa, Butterstückchen und Imkerhonig sehr passend. Abends sollten der Speisewagen und ein für zwei Personen gedecktes Tischchen prickeln wie Sekt. Alles gestaltete sich denkbar gut. Gegen sieben, als sie sich die Nase puderte und er die Krawatte zurechtzog und sich die Wangen mit Eau de Cologne abtupfte, wurde an die Tür des Coupés geklopft. Auf der Schwelle lächelte munter ein Bürger im Anzug des Stammgasts – Stammgasts wovon, ist nicht ganz leicht zu definieren. Oh, Entschuldigung! kleiner Irrtum, mein schlechtes Gedächtnis, sagte der ungeladene Gast verlegen, aber die Verlegenheit war gespielt, ein Tribut an die Form, die ihrem Wesen nach überhaupt nicht schüchtern war. Aber da ich nun schon mal hier bin, der Besucher strahlte noch mehr als zuvor, gestatten Sie, mich vorzustellen: Schnejderman. Und noch bevor die Dame ihr Erstaunen überwand, küsste er ihr mit einer hurtigen Verbeugung, als ob das kräftige Stuckern der Schienenstöße ihn nicht beträfe, das Händchen und umfasste, während er sich wieder aufrichtete, die Schulter des Gatten. Schlagen Sie’s mir nicht aus, meine Teuren, nur ein Gläschen auf unsere Bekanntschaft, und zog aus der plötzlich vorhandenen Aktentasche eine Flasche Massandra, Gläser, Servietten, gruppierte das alles mit kleinen Törtchen zu einem schönen Stillleben und schwatzte weiter mit zärtlicher, Widerspruch paralysierender Stimme ins Blaue hinein, – die Ehegatten fühlten sich plötzlich so hoffnungslos ausgeliefert, fügsam wie Kaninchen einer Sinnestäuschung ausgesetzt, dass man sie ohne Gegenwehr hätte erdrosseln können.
Er redete eine Stunde oder einen Tag lang auf sie ein, die Zifferblätter zeigten Unterschiedliches an. Dann evakuierte er die geleerte Mukusani-Flasche, die Gläser mit Resten von Abrau-Djurso wie ein Trickser wieder in seine Tasche, entfernte die Krümel mit einem Bürstchen in einen Stoffbeutel und zog sich rückwärts, im Krebsgang, zurück, den brachliegenden, viel zu buchstäblich funktionierenden Verstand der Frau mit einem Kompliment verwirrend. Warmer Wind drang zusammen mit dem Kohlengeruch der Lokomotive donnernd in das Abteil, dann der Hauch vom stehenden Wasser, einem nächtlichen Spiegel, der für einen Augenblick den Zug aufsaugte. Wetterleuchten erschöpfte die Welt bis zum Geschmack von blauer Milch und Asche. Das Restaurant wurde abgesagt. Sie entfernte mit einem Wattebäuschchen Rouge und Puder, bat ihren Mann, die Haken des Kleides zu öffnen, und entschlummerte in Strümpfen und Morgenmantel, eingelullt von Schläfrigkeit und Geschaukel. Im Gang draußen sog er an seiner Papirossa, warf die Kippe aus dem Fenster und fand, als er zurückkam, auf der Bettbank, auf der eingedrückten Matratze, wo gerade noch der Unbekannte das Gelage regiert hatte, ein beige-stahlgraues Buch und begann es, ohne das Jackett auszuziehen, gierig zu verschlingen. Es war das erste ernsthafte Buch in seiner Lebensgeschichte, weil nicht nur der Gegenstand (der XVI. Parteitag der KPdSU(B), stenografischer Bericht), sondern auch das Lesen selbst ihm schwerfielen, aber Schnejderman leitete ihn in der Art eines christlichen Engels irgendwie von der Seite her und transfigurierte die Erstarrung in eine durchlässige Bereitschaft, sich dem Verstehen zu unterziehen. Den maschinellen Strömen seines Bewusstseins fehlte die ungestüme Prägnanz, um das Ziel der Parteipolitik scharf und freudig zu erfassen, das Ornament der Kräfte auf ihrem Teppich, die Anzahl der Knoten pro Quadratzoll war größer als auf den Shiras-Teppichen, die der Großvater kannte, die Argumente der Streithähne zu klassifizieren, sogar in Worte wie »rechte Abweichung« einzudringen, die sich mal als abstrakt darstellten, unvereinbar mit der quälenden Konkretheit der von ihnen bezeichneten Häresie, mal im Gegenteil, zu sinnlich, sodass sich der Körper beim Lesen sozusagen physisch nach rechts neigte. Völlig unbegreiflich war ihm die unaufschiebbare, geradezu flammende und kohlenglutheiße Notwendigkeit der Vergesellschaftung der Einzelbauern. Trotz all dieser Hindernisse erfasste er die Hauptsache an dem Buch, seine Seele, sein rückhaltloses Banner. Wenn er seine Empfindungen zu Papier gebracht hätte, hätte er geschrieben, dass sich hier die hinreißende Klarheit des Stalin’schen Verstandes vollständig und präzise ausdrückte und dass dieser Verstand sich zumindest in drei Beziehungen vom Verstand derer unterschied, die ihm ihre Enge entgegensetzten.
Erstens hauste der Stalin’sche Verstand nicht in einem einzelnen Gouvernement des Kopfes, er war über den ganzen Körper ausgegossen und im Prozess des Denkens – eines bei Tag und bei Nacht nie unterbrochenen, nie vollendeten Denkens, das mit ständig wachsender Macht vor sich ging, welche die Grenzen und Grenzfestungen mit den sich beugenden Garnisonen verzweifelt zurückzuhalten versuchten, – erwarb er zusätzliche Festigkeit und Elastizität der Hände, Füße, Nieren, des Herzens, der leidenschaftlichen Extremitäten, die ihrerseits siegesgewiss waren. Der Zusammenprall des Stalin’schen Verstandes mit dem anderer war also kein Kampf unter Gleichen. Der Stalin’sche Verstand konnte einen fremden Kopf mit den Händen packen, auf die Erde legen und ihm mit dem Stiefel das Gesicht zertreten. Der Verstand der Rivalen hatte sogar auch im Kopf unproduktive Auswüchse und dahinvegetierende Zonen, der Stalin’sche bestand gänzlich aus der nackten Wahrhaftigkeit von Kraft und Reinheit. Zweitens dachte der Stalin’sche Verstand nicht einfach an einen Gegenstand, wie andere Köpfe das taten, die sich fälschlich ihrer kämpferischen Kraft rühmten, sondern er bearbeitete ihn noch während des Denkens auf der Drehbank und Fräsmaschine politischer Notwendigkeit, zersägte ihn mit dem Fuchsschwanz, glättete mit dem Hobel Holzteile, polierte mit Schmirgel; dieser Verstand bearbeitete den Gegenstand, indem er Ruhe, Unbeweglichkeit, Übereinstimmung mit sich selbst aus seinen täglichen Notwendigkeiten ausschloss, und in den für den Gegenstand schicksalhaft gewordenen Veränderungen, über die außer dem Stalin’schen Verstand nur er, der Zersägte, Polierte, etwas wissen konnte, – bestand das Geschäft des fortschrittlichen Denkens. Für die Rivalen wurde es zur großen Erschütterung zu entdecken, dass der Gegenstand, den ihre Köpfe in Diskussionen hin und her gewendet hatten, derselbe, vorige, alte geblieben war (manche von ihnen rühmten sich dessen, wie früher üblich), aber all sein Blut hatte sich im Tiegel der Stalin’schen Alchemie verwandelt. Drittens wusste der Stalin’sche Verstand nicht vom Tod, sondern kannte ihn. Viele andere Köpfe rühmten sich dieses Wissens, führten zum Beweis Bilder des Untergangs von Menschen, Tieren, Lokomotiven an, die sie selbst in den Jahren der Bürger-Zwietracht herbeigeführt hatten. Sie übersahen, dies war äußeres Wissen, es hatte die Erfahrung des eigenen Todes nicht gemacht. Der Stalin’sche Verstand trug den Tod in sich, wie man Messer oder Löffel im Stiefelschaft trägt, er dachte wie gleichsam schon tot, wenn er den Ausgang bis zu qualvollen, über den Horizont hinausreichenden Endpunkten erwog. Der Tod hat vor ihm keine Geheimnisse, flüsterte der überwältigte Leser, als er das Buch zuklappte.
Das Nachtlämpchen erlosch bei Einbrechen des Frührots. Der Zug donnerte und schwankte über die kahlen Flächen des Apscheron. Rostige Ölpumpen stöhnten, Hirtenhunde trieben Schafe zusammen, an einer Müllkippe stand verloren und starr ein Kamel. Besonnter Verfall und Zugluft wie Zahnschmerz nach einer durchzechten Nacht. Im Vergleich mit der mörderischen Schwere dieses Verstandes, des Herrn über Versklavung und Freiheit, war alles andere leichter als Stroh und verlor sich. Das Ägäische Meer, Wind, Lied, salzige Segel. Das Ultramarin der Alleen, genetzt von den Tränen der Schiiten. Auch die Druckereien von Dubrovnik, wirklich? Ja, auch sie. Die Sabbatkerzen in den Fenstern des Bauhauses von Palästina. Die Hanukkatiere auf den chassidischen Leuchtern von Uman, oder nicht? Die Venezianischen Aldinen mit Anker und Delphin. Bougainvilleen, Oliven auf den Hochebenen, Vögel auf einer Sandbank. Sogar die Brust der Frau, mit den Lippen die linke weiche Frucht. Derjenigen, die sich beim scheppernden Rattern zum Vergnügen des Körpers räkelt, die zum Vergnügen des Körpers überhaupt nicht wach werden kann, in Strümpfen und Morgenrock für die ungebräunte weiche Haut, die Verzärtelung und die Faulheit. Aber es war nicht zu spät sich zu retten. Kaum angekommen, machte er das Auto zu Geld, löschte er die restlichen glühenden Kohlen seines halblegalen Gewerbes, verdingte sich als Rechnungsführer in einer Genossenschaft, verbot seiner Frau, Brokat, Federschmuck, Brillanten zu tragen und hieß sie, das Erworbene still auszugeben und die Zeiten abzuwarten. Er sprach mit matter Stimme, wie sie sie noch nie gehört hatte. Sie stimmte allem lustlos zu, außer der Anordnung, ihren Zobelpelz einzumotten, der einen Monat im Jahr klimatisch angebracht war, plus einen Monat um des Effekts willen. Du kannst damit auf dem Dach herumgehen, so viel du willst, sagte er knapp, und sie stieg aufs Dach und ging dort allein in ihrem Pelz umher, im Sommer, im geschmolzenen Himmel, nackt unter den Fellen. An diesem Tag und eine Woche länger als kalendarisch nötig ließ sie ihn nicht an sich heran, ertrug ihn aber trotzdem, auch ohne Liebe.
Auf die Frage der Großmutter, ob ich meine Nation liebe, antworte ich mit einer Frage: was habe ich noch, was habe ich noch in mir? Denen der Zutritt zum Geld verwehrt ist, also zu Freiheit, gesellschaftlicher Stellung, Liebe, Gerechtigkeit – diese Geldproduzierenden verbreiten eine Geldordnung auf der ganzen Welt, und wenn einer mir beweisen will, das wäre gut und richtig, dann ist er nicht mein Bruder, sondern nur ein Cousin, – die Leute ohne Zutritt zum Geld sind prädestiniert, in sich die Nation zu pflegen. Ich sagte das zu Lewon Ter-Grigorjanz, als wir einander gegenüber im dämmernden Brei des Novembers saßen und einmütig zu dem Kasus schwiegen: die unsere Völker verzehrende Gier, den Vorrang im Scheitern zu beanspruchen, vernichtet den Bund zwischen uns auf ewig, die Gier weckt das Tier, Streit zwingt den heißen Wind Judäas, sich mit dem Wind der armenischen Hochebenen zu peitschen, Stein und Wind von beiden Seiten im gegenläufigen Rhythmus.
In seinem berückenden Buch, in feingliedriger Schrift, in Vorkommnissen, Abschweifungen, Rückgriffen, verteidigt das Akademiemitglied widerborstig natürlich nicht das Recht, er hat keine Rechte außer dem einen, hungers zu sterben, aber die seiner Herkunft geschuldete Pflicht, ungläubig zu sein. Glauben, als Zugabe dazu Philosophie, ehrgeiziger Eigensinn der Abstraktion, die halb künstlerischen Fantasien von Theorien – das ist unmöglicher Luxus für Vaterlosigkeit, für den in der Schule geschlagenen Stotterer, den Ziegenbock aus der Parabel, den beengt lebende Menschen ins Haus nehmen, um ihn dann rauszuschmeißen und sich der Freiheit zu freuen. Er ist ein Soldat zu beweisender Beschreibungen, ein bedingter Determinist, ein Stoiker (ich verwende das Wort in der abgemilderten Bedeutung, die ihm heute zugeschrieben wird, aber auch mit seiner antiken, nicht ausgerotteten Genealogie), ein überzeugter Positivist – das ist er, Positivismus ist ja doch eine ermüdende Sisyphustätigkeit, ständig wartet man darauf, dass der Fakt ins Ausgedachte abstürzt und der Stein trügt. Er wiederholt in allen Tonarten, dass er taub ist für den Geist der Musik, sich immer als Untermensch gefühlt hat, kaum etwas zu verstehen in der Lage ist, so hoch seien die Schranken zwischen ihm und dem Sinn wovon auch immer, und er sei ein unschöpferischer Mensch – so schreibt er über sich: Schöpfertum verwandelt das Objekt, lehrt Selbstausdruck und Selbstbestätigung, auch wenn er durch ein Missverständnis sich hinreißen lassen wollte, es würde nicht gelingen bei einem, der auf der Kreuzung heller Lichtblitze am Nachthimmel, auf dem Kreuzweg der gesellschaftlichen Verhältnisse geboren wurde. Im winzigen Punkt des Visiers findet er sein abhängiges »Ich«. Alles ist nah, alles ist teuer in dieser Askese, ich bin auch nicht gläubig, ich eingefleischter Behaviorist. Das Schicksal, das weiße Ratten in ein Labyrinth treibt, übertrage ich fast korrekturlos auf mich, mit einer winzigen, bei der Generalabrechnung zu vernachlässigenden Einschränkung, Theorien sind für mich wie schlummernder Urwald, ich habe Angst, ich halte sie mir lieber vom Leibe. Aber gestatten Sie, mich mit einer winzigen Bemerkung einzumischen. Wenn man in meinem Beisein knapp und dunkel schreibt, Persönlichkeit sei der Schnittpunkt gesellschaftlicher Beziehungen, dann rufe ich: wie nett, sich im Schnittpunkt gesellschaftlicher Beziehungen zu befinden! Auf Missgeschicke lässt sich das nicht reduzieren, es gibt da auch Freude, einfach nach dem Gesetz der Zahlen. Es wird Bibliotheken geben, eine Abteilung Antike, Entgelt für Talent, für mehr als normale Ergebenheit und für Arbeitseinheiten eines Wundertäters, was wühle ich in fremden Taschen. Dann kommentieren Sie das mit allen Mitteln, die Sie zur Verfügung haben.
Als Backfisch, als junges Mädchen, nährte sich Lana Bykowa mit ernsthaftester Lektüre in riesigen Mengen, sie träumte von einem Studium an der Fakultät für klassisches Altertum an der Universität der Hauptstadt. Die Repetitoren genierten sich, Geld von Mutter und Vater zu nehmen, tut uns leid um Ihr Geld, nicht sie lernt bei uns, wir lernen bei ihr, leicht gesagt, als Schülerin Basiswissen Latein und Griechisch, und sogar die Eltern, die beim Abraten vom Studium die letzten Nerven vergeudeten (das Mädchen konnte nicht erwarten, an den Toren der eisigen Hauptstadt zu zerschellen, und Gott behüte, dass sie den Durchbruch schafft, aber wird sie den jüdischen rundlichen kleinen Körper im Tempel der Unzucht von Zugereisten, in der Räuberhöhle der auswärtigen Studenten bewahren), sogar die Eltern ergaben sich dem Wahnsinn der Tochter. Der Vater, Ernährer der Familie, starb einen plötzlichen Tod dreißig Tage vor den Prüfungen; er hatte einen Schwächeanfall in der Wanne, kam noch, sich recht und schlecht abreibend, ins Trockene und brach vor den von Krampfadern gezeichneten Beinen seiner Frau zusammen, die schrie: »Dodja, Nitroglyzerin!« Damit zerfiel die heißbegehrte Fakultät in Moleküle – der Familienrat delegierte die Waise mit Stimmenmehrheit – die Mutter hatte von nun an zwei Stimmen – in die Druckerei (du wirst verdienen müssen, Töchterchen) und befahl, die abendliche Unterdruckkammer der peripheren am Wohnort befindlichen Hochschule als außerdienstliche Belohnung zu nehmen. Im Lerneifer vergingen neun versessene Jahre, im Frühling des zehnten brachte der Maschineningenieur eines Kaspischen Handelsunternehmens, ein breitschultriger Seemann, mit seiner Schiffsschraube ihr schläfriges Wasser in Aufruhr, entmutigte und zermalmte sie. Sich auf die Eheschließung vorbereitend, kaufte sie sechs Nachthemden, ein Dutzend BHs, Strumpfhosen, Schlüpfer und flüsterte das dem Erwählten ins Ohr; der stattliche Küstenschifffahrtssemit mittleren Alters schätzte Wohnraum und Abendbrot mehr als die Neuigkeiten mit der Reizwäsche, verhielt sich jedoch auch zu dem Wäscheereignis wohlwollend, da er keine speziellen Mängel im Körperbau der Bykowa fand. Die Mutter erkrankte im letzten Moment, am Rubikon der Etikette, eine halbe Woche später wäre die Rückgabe der Ringe, die Lösung der Verlobung gegen den Anstand gewesen. Es gibt eine Krankheit, Niestalgie oder so, das ist Sehnsucht nach einer Heimat, erläuterte die Großmutter. Berta Moissejewnas voraussetzungslose ›Niestalgie‹ erlaubte ihr nicht, auf die Sorge der Tochter zu verzichten – auch ein Blinder konnte nicht übersehen, dass die Tochter, wenn sie sich mit dem Ingenieur und Mechaniker in dem hinteren, leer stehenden Zimmer einschloss, das von dem Schlafgemach der Mutter, wo auch Lana häufig geschlafen hatte, erbarmungslos abgeschnitten war, ihre Aufmerksamkeit zwischen den beiden Menschen ihres Planeten teilen wird, aber Liebe kennt keine Demarkation. Der Organismus ist stabil, die Psyche erschüttert, murmelte Doktor Dwojris und schob das mit einer Manschette versehene Manometer in seine Hülle zurück; Manschette-Manometer? – flüsterte Lana, plötzlich fröstelnd. Ich sterbe, das ist klar, hörte man vom Bett her, es gehört nicht zu meinen Grundsätzen, mir Umstände aufzuhalsen, die mich krank machen, ich habe Angst um dich, ich fürchte, du wirst hartherzig werden, und das wird wie ein böser Zauber auf Boris übergehen – Dreck beschmutzt alles, womit er in Berührung kommt. Euer Pfirsichnest, zu dem ich keinen Zutritt habe (sie lachte giftig auf, amüsiert vom eigenen Sarkasmus), wird kälter als der Eisschrank sein, ihr könnt dort Fleischklopse, Fisch-Fertiggerichte, Wologda-Butter, seine pickligen dicken Würstchen aufbewahren, die auch du, mein zartes Töchterchen, herunterschlingst – dies alles wird euch nicht vergammeln. Die Lebensmittelvorräte in dem kleinen Zimmerchen wurden von Lana gedanklich-figural abgehakt, ihr Gedanke zu diesen Worten war: Fertigprodukte, die keiner kulinarischen Bearbeitung bedurften, wie Käse, über Beziehungen erstandene Wurst, Semmeln, Sahne, Mandeltörtchen, zu danken der Cafeteria am Zentralpark, konnten Boris und sie im Bett verspeisen, mit Tee dazu oder Kaffeeaufguss, Wein aus den nie benutzten Familiengläsern aus deutschem, auf dreikantigen Stielen stehendem veilchenfarbenem Glas, dazu konnte man aus den bei Ismail-Efendi gekauften Papirossa sachtes Schwindelgefühl einsaugen, einer Papirossa, die man mit Astrachaner Gras versetzt hatte, oder einer, die von selbst berauschte, so stark, dass man nicht unbedingt reden muss, aber sie sagt, Mama, du stirbst nicht, Boris und ich werden nicht zusammen essen.
Was hat das mit gesellschaftlichen Beziehungen zu tun? Das ist böses Schicksal. Wenn gesellschaftliche Beziehungen sie flüchtig, ja indirekt und schwach mit ihrem bunten Tuch gestreift hätten, das auch die Fäden der Barmherzigkeit so durcheinanderbringt, dass Unheil entsteht, hätte sie nicht die Schere in die rechte Hand nehmen müssen. Mit der Schere in der rechten Hand zerschnippelte sie in der lichten Kemenate sechs Nachthemden, ein Dutzend BHs und Schlüpfer, das ganze Zimmer voller Fetzchen, was machst du, Lanotschka – aaaaaahhh; beruhige dich, Tochter, komm zu dir, welche Unordnung bei dir, mein Herz – aaaaaahhh; und sie ging zum Dienst nach ein paar Tagen Krankschreibung, – aaaaaaahhh, nun schon im Stillen, für sich. Sascha Saturow, Lewon Artaschessowitsch, Kolja Ter-Grigorjanz wären glücklich gewesen über eine Prise gesellschaftlicher Beziehungen, eine kleine Dosis Schnupftabak; Sascha hätte nicht die Telefonschnur abgeschnitten, Lewon Artaschessowitsch hätte nicht in der dunklen Erde gewühlt, die in Koljas Tagebuch verewigte Lana Bykowa aus der Banja Fantasija – denn Kolja kann man den Chronisten ihrer Waschungen nennen, er träumte davon, sie auch weiter zu beschreiben, – wäre in Sepiabraun umgeschlagen, ägyptische Terrakotta, eine Fayum-Daguerreotypie am letzten Morgen des Chatschatur Abowjan.
Er ging hinaus in den gelben Garten. Die geschwollenen Glieder, die schwere Schlaffheit, alles wie geronnen in der winterlichen Karwoche – es war vorbei, verschwunden, jemand hatte eine Zange genommen und den Stöpsel gezogen. Die Gräser waren erwacht und wehten ihm entgegen. Lächelnd hob er den mit Spucke benetzten Finger, die Windrichtung festzustellen. Literarische Geste französisch anrührender Romane, oh: silbriges Gleiten von Pirogen auf dem Fluss, feuchtes Moos, die Begegnung mit dem Tier im Morgengrauen; blaue Rauchfäden über Wigwams – rückwärts rieselnd der Sand im doppelt bauchigen Kolben, was macht, dass die Zeit rückwärts rinnt, der Specht, Metronom der Wälder, ins Stocken geraten, konnte gerade noch sein »weg vom Weg« hämmern – ein Pfeil, der den Stamm durch die Rinde hindurch trifft, wütend, aufgebracht, weil es danebenging, brauner Staub setzt sich auf die Nadeln. Könnte er mit Worten fragen, auf welcher Seite sich der Wind zusammenbraut, hätte der geantwortet – im Osten und Süden, im Nordwesten, ist nicht entschieden. Das Maultier schmatzt apathisch vor dem Wagen, der Fuhrmann flucht vor sich hin, dicke Spritzer von Hufen und Rädern, wie sauber und frisch der Dreck von Hufen und Rädern fliegt. Eine trächtige Hündin schnupperte an den Stiefeln, rieb sich daran, man solle ihr das Fell hinterm Ohr kratzen, schon strotzten die Zitzen für den saugenden Nachwuchs. Oben hatte man die Klappe für die Lerche geöffnet, wer schreibt mit Tinte, mit klösterlicher Feder auf, ob das Vögelein zu dieser Stunde zu trällern begann; in fahler Höhe, unter der Kuppel des Himmelsauges, tränen Habichtsfilamente. Der Apfelbaum ist arglos reich geworden – an Säure, die den Mund zusammenzieht, danke, genug Geruch und Feuchte und Mühe der Wurzeln, er riss ein festes grünes Kügelchen ab, nicht größer als eine Walnuss, warf es hoch, kickte nach, lachte. Das Herz strahlte, befreit vom Schreiben, der Predigt nach Büchern. Das Lied war nicht in der Kehle zu halten, die Hymne für das Opfer spannte sich bis zum Habicht, bis zur Lerche. Die religiösen Klänge des Grabar, des Altarmenischen, lehrten die Vögel die alte Sprache des Blutvergießens – der schwächste von ihnen musste durch Krallen und Schnabel eines anderen zugrunde gehen, jedoch mit der Bedeutung, die das menschliche Wort ihnen auftrug, nicht wie in der Natur; das kunstlose Aschcharabar, die Umgangssprache, gab ihrer Jagd und ihrer Angst Kontur. Er war der frühere, der rührige, zwanzigjährige, frevlerische Edschmiadsiner Mönch, der den Ararat bestiegen hatte, – er hatte Lachgas gekostet, Versuchung probiert. Die armenisch-gregorianische Kirche untersagte den Aufstieg auf Berge, das Erklimmen von Gipfeln. Der Ararat führte im Schwarzbuch die Liste der Berge an. Einmal hatte er den Gehorsam verweigert, hatte sich den Weg gebahnt in den Äther, und die Kirche, die ihn liebte, verstieß ihn – um ihn enger zu binden: nur wer das Verbot übertrat, besitzt die Kraft des Tabus. Das verordnete Leiden – die Unbändigkeit des Lichts zu bemänteln, zu kürettieren das weiße unbetretne Land, die Kälteschauer der mit nichts zu vergleichenden Schneeprophezeiungen, vor denen die Orakelsprüche von Delphi klein wurden, – war umso feiner gesponnen, als es die Maske von Ehre und Nutzen trug, die der freiwilligen Sklaverei den Stachel nahm. Freiwillig, ja. Die schlauen Epitimien diktierten ja nicht, wie man die Erinnerung an den Aufstieg und besonders die an den Abstieg effektiv aus dem Gedächtnis verdrängt, womit man das Leben im Tal nach dem Höhenleuchten rechtfertigt. Als man ihm vorschlug, seine Schuld »durch das Wirken auf dem Felde« des Schreibens und der Pädagogik zu sühnen, freute ihn die Strafe, weil er gar nicht gehofft hatte, seiner Seele den durch den Aufstieg und vor allem durch die schändliche Rückkehr in die Niederungen geraubten Frieden zurückzugeben. Die Kirche strafte nicht, die Kirche traf eine Abmachung mit ihm, die beide nötig hatten, und er ließ sich in die monophysitische Schläue seines Richters und Verteidigers einspannen.
Er schrieb Erbauungsbüchlein, dann mit Leidenschaft einen Roman in der Sprache des Volkes, aus Beobachtungen wuchsen Abhandlungen zu Volksglauben und Alltag, Schullehrer zu sein, war wichtig, Lehrer fehlten. Er hatte Mitleid mit den Jungen in den abgetragenen Sachen, mit den dunklen Augenringen, den abgeknabberten Fingernägeln, in den Pausen zwischen Geschichte und Geografie, Französisch und Deutsch stellte er den Samowar auf, ohne die Bedienerin zu rufen, verteilte auf zwei großen Tellern Semmeln, Kringel, Süßigkeiten aus Rachat-Lukum, türkische kandierte Früchte, die auf dem Basar lautstark von einem sympathischen Mann verkauft wurden. Sogar die, die nicht nur wegen des Essens kamen, verbargen ihren Appetit weder vor noch während des Essens, und auch nicht die Mattigkeit danach; sich ihrer Aufmerksamkeit anpassend, die davon abhing, wie gefüllt der Bauch war, ließ er Arbeit und Spaß, Übung und Fabel aufeinander folgen. Die Jungen wurden erwachsener. Bei den Unwissenden zeigte sich unter der dörflichen Schale der bebende Muskel des »Ich«, die Gescheiten stürmten, von der Weisheit des Meisters angespornt, vorwärts. Eine Eigenart pflegte der Lehrer: in den Geografie-, Literatur- und den Weltgeschichtsstunden benannte er in seinen Darstellungen, als sei ihm die Zunge von einem Bann erstarrt, nie Berge als Berge, auch nicht die bedeutendsten, nicht einmal Felsen, Klippen, Erhebungen; die euphemistische Findigkeit, mit der er beispielsweise schilderte, wie die Elefanten des Karthagers, durch Beistand des Heiligen Geists vielleicht, über ein geheimnisvolles Etwas übergesetzt wurden (im Ernst, wie mögen die wärmeliebenden Ungeheuer das vereiste Gebirge erklommen haben), war unter Umständen mühsamer als der Übergang selbst, aber der Lehrer, der drei Viertel des Heeres in weiß der Kuckuck welchen höllischen, dem Wort nicht anvertrauten Felsspalten begrub, ging noch einen Schritt weiter im Krater des Verschweigens, der die Verbindung zwischen Charybdis und Scylla, das mythische Wort vom Tarpejischen Felsen, die sieben Hügel von Rom, ausnahmslos alle vom weißen Laken des Chomolungma bedeckten Sherpa verschlang, – auch für die Bergpredigt fand sich ein ersetzendes Wort. Den Jungen wurde vermittelt, dass das Festland sich nirgends hügelt, nirgends bäumt, sie sahen ihm diese Verschrobenheit nach, nur Wasgen, ein fähiger neuer Schüler aus einer Vorstadt von Erivan (nur die Stadt, wo soll die sein, hatte er gespöttelt, als er den Ortsnamen erwähnte), er hatte von der Eigenart des Lehrers noch nichts mitbekommen. Zu Mittag erhob sich der Knabe von der schartigen Bank: »Herr Lehrer, die Leute behaupten, unser armenischer Berg Ararat wäre ein Wunder an Großartigkeit unter dem Mond. Was meinen Sie dazu, Herr Lehrer?« Das weiche Antlitz Abowjans verdüsterte sich, wurde drohend; im nächsten Moment verdüsterte es der Schatten des Leidens. »Sprich für dich selbst«, brachte Chatschatur hervor, zerbrach mit unvermuteter Kraft den Zeigestock über dem Knie und verließ das kleine Schulgebäude im Sturzbach der Frühlingsstrahlen. Am folgenden Tag reichte er seinen Abschied ein, Fieber schüttelte ihn. Drei Tage fastete er und dachte nach. Am vierten Tag brach er das Fasten. Am Morgen des fünften erwachte seine Heiterkeit wieder. Und der Garten begrüßte ihn. Kurze Zeit später wurde Chatschatur Abowjan eine Audienz beim Bischof gewährt.
Die Kennzeichen der Macht sind dieselben; der Rektor von Dorpat hatte, wenn er kein Okular trug, auch diese sehr kurzsichtigen, stechenden, kleinen Augen, sie waren wie ein Fangnetz, ein Tranchiermesser: das Fischlein mit dem erstaunten, mit dem merkwürdig fischig atmenden Maul und dem nervösen Schwanz, festgehalten von einem weiteren Händepaar, quasi einem Hilfsinstrument, wir säubern es auf dem nassen Steintisch bei lebendigem Leibe von der schuppigen Hülle, säubern es von Kokolores, befreien das aufgeschnittene Bäuchlein von den Innereien, von schlierigem Schleim – und bitte sehr, schon ist es zum Kochen geeignet, Lorbeerblatt und Pfeffer nicht vergessen. Für den Greisenmagen waren die Tafeln der Vergangenheit jedoch ungeeignet. Der Bischof aß zu Klümpchen geronnenes Mazoni mit kleinem Silberlöffelchen aus einem Fayencenapf, wischte mit der Serviette die unansehnlichen Lippen (früher leuchteten sie rot aus dem Bart), vertilgte Ingwergebäck. Zwei riesige rotwangige Mönche standen starr am Tisch und hatten den wohlerzogenen Gepard auf dem Federkissen in der Ecke im Blick, die Augenlider des schlummernden Tiers bewegten sich hin und wieder, es seufzte im Traum. An derselben Stelle hatte vorher stolz eine ägyptische Kobra geraschelt; man goss ihr Milch auf ein Tellerchen, damit sie einen Tag lang besänftigt war, aber vor drei Wintern hatte der Bischof aus dem Magnesiumglanz ihrer Haut geschlossen, was in der Schlange vor sich ging und mit welchem Gedanken in der angeschwollenen Kapuze sie gereizt aufwachen würde, er befahl, die Kobra mittendurch zu hacken. Ob die herangezogene Katze lange leben würde oder ob man ihrer auf Fleischerart mit dem Beil Herr werden müsste, würde der Augenblick entscheiden: ein Zuruf, scharf wie ein Schuss, vom Schusswaffen verachtenden Bischof, und die beiden in Schwarz gehüllten Riesen, die heute vom strammen Wohlbehagen des Fleischs, das den kalten Stahl an der Hüfte wärmt, rote Wangen haben, – ich denke, ich täusche mich nicht, in den Mönchskutten der kräftigen jungen Männer ist ein Schlitz für das blitzschnelle Ziehen der Klinge am Griff, – die Hünen werden zeigen, wer sie sind.