Denn alle Sicherheit ist trügerisch - Susan Sloan - E-Book
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Denn alle Sicherheit ist trügerisch E-Book

Susan Sloan

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Beschreibung

Unerbittlich frisst sich der Hass in die Herzen der Menschen: »Denn alle Sicherheit ist trügerisch« von Susan Sloan jetzt als eBook bei dotbooks. Seward Island ist eine Idylle, wie es sie heute kaum noch gibt – und doch nur einen Schritt vom Abgrund entfernt … Als der engagierte junge Lehrer Jerry Frankel auf der vor Seattle gelegenen Insel seine neue Stelle antritt, fühlt er sich herzlich aufgenommen – bis eines Tages ein brutales Verbrechen die kleine Gemeinde erschüttert: Eine fünfzehnjährige Schülerin aus seiner Klasse wird ermordet. Innerhalb kürzester Zeit kippt die Stimmung auf Seward Island. Jeder fragt sich, ob der Mörder noch auf der Insel sein könnte, und einige beginnen sogar, ihre Nachbarn zu verdächtigen. So gerät auch Jerry unter Verdacht – der Neuankömmling, der Außenseiter, der hier nie richtig hingehört hat. Als die Polizei tatsächlich beginnt, gegen ihn zu ermittelt, droht die einst friedliche Stimmung auf der Insel endgültig in offenen Hass und hemmungslose Gewalt umzuschlagen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Denn alle Sicherheit ist trügerisch« von Susan Sloan. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Seward Island ist eine Idylle, wie es sie heute kaum noch gibt – und doch nur einen Schritt vom Abgrund entfernt … Als der engagierte junge Lehrer Jerry Frankel auf der vor Seattle gelegenen Insel seine neue Stelle antritt, fühlt er sich herzlich aufgenommen – bis eines Tages ein brutales Verbrechen die kleine Gemeinde erschüttert: Eine fünfzehnjährige Schülerin aus seiner Klasse wird ermordet. Innerhalb kürzester Zeit kippt die Stimmung auf Seward Island. Jeder fragt sich, ob der Mörder noch auf der Insel sein könnte, und einige beginnen sogar, ihre Nachbarn zu verdächtigen. So gerät auch Jerry unter Verdacht – der Neuankömmling, der Außenseiter, der hier nie richtig hingehört hat. Als die Polizei tatsächlich beginnt, gegen ihn zu ermittelt, droht die einst friedliche Stimmung auf der Insel endgültig in offenen Hass und hemmungslose Gewalt umzuschlagen …

Über die Autorin:

Susan Sloan wurde in New York geboren und lebt heute im Nordwesten der USA, auf einer kleinen Insel vor Seattle. Neben ihrer Karriere als Romanautorin kümmert sich Susan Sloan in ihrer Freizeit um in Stich gelassene Haustiere. Ihre Spannungstitel wurden in mehrere Sprachen übersetzt und feierten weltweit Erfolge.

Bei dotbooks veröffentlichte Susan Sloan ihre Romane »Schuldlos schuldig«, »Was keiner wissen konnte« und »Eine Frage der Gerechtigkeit«

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eBook-Neuausgabe April 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Originaltitel »An Isolated Incident« bei Warner Books, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1998 by Susan Sloan

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Michal Balada / Anna Kraynova / Mihai Stanciu

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-420-6

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Susan Sloan

Denn alle Sicherheit ist trügerisch

Roman

Aus dem Amerikanischen von Angela Stein

dotbooks.

Für Jack Fields,einen großartigen Lehrer,der mich vor allem gelehrt hat,über die Dinge, die ich weiß,zu schreiben

Teil IDIE TAT

Denn Mord,hat er schon keine Zunge,spricht

William Shakespeare

Kapitel 1

Der Tod kam ohne Vorwarnung. Sie sah das Messer in seiner Hand im Mondlicht, doch sie glaubte, er wolle ihr nur drohen. Dann zerfetzte es ihren Rock. Das dachte sie in jenem kurzen Moment, in dem sie noch denken konnte – daß ihr Rock zerrissen war. Sie begriff nicht, daß er ihr das Messer in den Leib gestoßen hatte.

Verblüfft blickte sie an sich herunter. Sie betastete die Stelle, an der das Messer sie berührt hatte, und spürte etwas Feuchtes und Klebriges. Ungläubig schaute sie auf.

Doch sie verstand noch immer nicht, was er im Sinn hatte, bis er wieder auf sie einstach und sie den starren, gnadenlosen Blick in seinen Augen sah. Nun begriff sie, und es erfüllte sie nacktes Grauen.

Ihr erster Impuls war natürlich, wegzulaufen. Doch das mußte er geahnt haben, denn er packte sie an den Haaren und hielt sie von sich weg. Dann spürte sie, wie das Messer zum dritten Mal zustieß, eine neue Wunde riß, und dann zum vierten, fünften und sechsten Mal. Danach konnte sie nicht mehr zählen.

Ihre Knie gaben nach, und ihr wurde schwindlig. Er hielt sie aufrecht und stach weiter auf sie ein. Ihr Kopf dröhnte, doch sie verstand deutlich seine Worte.

»Tut mir leid«, sagte er, und seine Stimme war so ausdruckslos wie seine Augen, »aber ich kann es nicht zulassen. Ich kann es nicht zulassen, daß du mein Leben zerstörst.«

Sie dachte an ihr eigenes kurzes Leben, an all die Dinge, die sie geplant hatte. Die Orte, an die sie reisen, die Menschen, denen sie begegnen wollte. Weit weg von hier, in einem sonnigen, barmherzigen Land. Sie hatte ein guter Mensch sein und Gutes tun wollen. Es war so ungerecht

Die warme Flüssigkeit rann nun aus zu vielen Öffnungen. Sie wußte, daß sie verloren war. Alles Blut würde aus ihr herausströmen, und dann würde sie sterben. Doch sie wehrte sich nicht. Sie schien ihr Schicksal als Gottes Willen hinzunehmen.

Schon als kleines Mädchen hatte sie hingebungsvoll den Worten von Pater Paul gelauscht, wenn er in der Kirche von dem schöneren Leben im Jenseits sprach, das den Gläubigen verheißen war, von der Erlösung der Seele, von den Segnungen des Himmels. Er hatte immer so mitreißend gepredigt, und sie hatte ihm glauben wollen. Doch in ihren letzten Momenten fragte sie sich, wie der Tod denn wirklich sein würde.

Als sie einen weißglühenden Schmerz in der Brust spürte, wußte sie, daß ihr Herz aufgab. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und schrie. Sie glaubte nicht, daß jemand sie hören und retten würde. Der Schrei war ihr einziger Widerspruch – ein grauenhafter Laut, um so entsetzlicher, weil nicht Schmerz seine Ursache war, sondern gemeiner Verrat.

Kapitel 2

Der Nordwesten des Landes bewahrte sich den milden Sommer gern lange und sträubte sich nach Kräften gegen den schroffen Herbst. Manchmal vernahm man erst spät im Jahr das Knistern brennenden Laubs und das Pfeifen der kühlen Winde vom Meer; dann zog an frostigen Abenden der Duft von Holzfeuern heran, die langen Regen kamen, und das Licht wurde matt.

Auch in diesem Jahr waren die Nächte Mitte Oktober noch sternenklar und die Tage sonnig und mild, selbst wenn sie merklich kürzer wurden.

Am zweiten Sonntag des Monats fuhr Tom Hildress frühmorgens um halb sieben mit seinem Dodge-Pick-up durch die Einfahrt des Madrona Point Parks, bog nach rechts ab und steuerte auf den blauen Müllcontainer zu, der am Rande eines großen Schotterparkplatzes stand. Es war noch dunkel.

An diesem Wochenende konnte man auf Seward Island im Zuge des Herbstreinemachens seinen Sperrmüll loswerden, und zu diesem Zweck waren an mehreren Stellen auf der Halbinsel zusätzliche Container aufgestellt worden. Madrona Point, die dicht bewaldete Gegend an der Nordwestküste der Insel, war zwar der entlegenste Standpunkt, doch für die Hildresses war er der günstigste, da sie nur anderthalb Kilometer entfernt wohnten.

Tom hatte am Vortag die Garage entrümpelt und war so früh auf den Beinen, weil er noch zwei weitere Fuhren abladen wollte und seiner Frau versprochen hatte, daß er rechtzeitig fertig sein würde, um gewaschen und anständig angezogen mit der Familie in die Kirche zu gehen.

Er hielt drei Meter vor dem Container und stellte den Motor ab. »Du kletterst hoch, und ich reiche dir die Sachen rauf«, wies er den strohblonden neunjährigen Jungen an, der neben ihm saß. »Okay«, erwiderte Billy Hildress, sprang aus dem Wagen und hüpfte die behelfsmäßige Treppe an dem Container hoch. »Igitt«, sagte er und rümpfte die Nase, als er oben angelangt war. »Irgendwas stinkt hier gräßlich.«

Er spähte über den Rand des großen Behälters. Es wurde erst in einer Stunde richtig hell, doch die Dämmerung kündigte sich an, und er sah, daß der Container schon halb voll war. Er konnte alte Autoreifen, Kühlschränke, ein ramponiertes Sofa und zwei zusammengerollte Teppiche erkennen.

»Mann, Dad«, rief er, »ich glaube, mit dem Krempel hier könntest du ein ganzes Haus einrichten.«

Tom Hildress war dafür bekannt, daß er ein Händchen dafür hatte, im Sperrmüll Schätze zu entdecken und sie mit viel Liebe wieder zu altem Glanz zu erwecken. Der Weihnachtsbasar der Eagle-Rock-Methodisten-Kirche war dank seines Geschicks immer ein Riesenerfolg. Normalerweise wäre er sofort zu Billy hinaufgeklettert, um die ausrangierten Sachen zu begutachten.

»Keine Zeit«, entgegnete er seufzend und reichte dem Jungen einen Stapel zusammengelegter Kartons. »Mom hat klare Befehle erteilt.«

Billy ließ die Kartons in den Behälter fallen. Als er die nächste Ladung hineinwerfen wollte, erstarrte er plötzlich mitten in der Bewegung.

Der erste Stapel Kartons hatte den zusammengerollten Teppich gestreift. Der war aufgeklappt, und blonde Locken und eine Schulter hingen heraus, eine Schulter, die viel zu groß war für eine kaputte Puppe.

»Hör mal, Dad«, sagte Billy mit gepreßter Stimme, »ich glaub, hier oben ist jemand.«

»Wer soll denn das sein?« fragte Tom, der sich mit dem dritten Stoß Kartons befaßte.

»Ein Mensch«, antwortete der Neunjährige. »Ein richtiger Mensch.«

Tom blickte seinen Sohn stirnrunzelnd an. »Wie meinst du das? Sucht jemand im Müll nach Sachen?«

Billy schüttelte den Kopf. »Schau mal selbst«, sagte er und stieg langsam rückwärts die Treppe hinunter.

Tom zügelte seine Ungeduld, ging die Treppe hoch und sah in den Container. Sofort stieg ihm der Gestank in die Nase, der schon Billy aufgefallen war Er betrachtete das Gerümpel und entdeckte schließlich den Teppich.

»O mein Gott«, keuchte er.

Er sprang in den Container und watete durch den Müll. Tom war ein großer, sportlicher Mann, doch er kam nur langsam vorwärts, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Als er sich dem Teppich näherte, sagte er sich, daß es schließlich auch lebensgroße Puppen gab, doch der Gestank wurde immer schlimmer, und er wußte ebenso gut wie Billy, daß er eine Leiche finden würde.

Als erstes sah er das Blut. Der Teppich war förmlich durchtränkt davon. Dann nahm er das Mädchen wahr. Sie war jung, ein Teenager noch. Tom wurde schlagartig übel, und er wandte sich ab und erbrach sich heftig.

»Was ist es, Dad?« rief Billy von unten.

»Bleib weg, Junge«, rief Tom, sobald er wieder Luft bekam. »Warte im Wagen auf mich. Ich komme sofort.«

Er schluckte mühsam, beugte sich vor und schlug den Teppich auf. Die Leiche rollte heraus. Fetzen von Jeansstoff, einem Rock vielleicht, klebten an der Haut; der Stoff mochte einmal blau gewesen sein, jetzt war er dunkelrot verfärbt. Auch das durchlöcherte T-Shirt war blutgetränkt. Man mußte kein Fachmann sein, um zu erkennen, daß das Mädchen erstochen worden war. Tom glaubte beinahe, die besinnungslose Wut des Mörders zu spüren, und er fragte sich, wo auf Seward Island sich ein Wahnsinniger aufhalten mochte, der zu solch einer Tat imstande war.

Er beugte sich vor und zwang sich, eine der Wunden zu berühren. Das Blut war noch klebrig, und er schloß daraus, daß sie erst seit wenigen Stunden tot war. Er sah, daß sie eine Kette mit einem kleinen goldenen Kreuz trug. Er fühlte nach ihrem Puls am Hals und fand bestätigt, was er schon wußte: Das Mädchen war tot.

Ihm wurde wieder übel. Er wollte sie nicht anfassen und Spuren zerstören – er war in Gedanken schon mit seinem Anruf bei der Polizei beschäftigt. Doch dann atmete er noch ein paarmal tief durch und schob die blonden Locken beiseite.

Ein Auge starrte zu ihm empor, weit aufgerissen, glasig und so voller Grauen, daß Tom unwillkürlich zurückwich. Der Mund klaffte auf, verzerrt und grotesk, in stummer Anklage.

Kapitel 3

Ginger Earley war als Dreijährige nach Seward Island gekommen. Am Tag nach ihrem dritten Geburtstag war ihre Familie von Pomeroy, einem Städtchen im Südosten des Bundesstaats Washington, auf die Insel gezogen, damit ihr Vater im Gericht von Puget County eine Stelle als Gerichtsdiener antreten konnte. Gingers Mutter war – entweder aus Unsicherheit oder aufgrund eines untrüglichen Instinkts – von Anfang an der Überzeugung gewesen, daß die Einheimischen sie insgeheim verachteten. Deshalb bemühte sie sich geradezu besessen darum, daß ihre Kinder die manierlichsten, saubersten, höflichsten und anständigsten der ganzen Insel waren.

Was die drei Jungen betraf, war ihr einigermaßen Erfolg beschieden, nicht so jedoch bei Ginger. Sie war das jüngste und eigensinnigste der vier Kinder und bereitete ihrer Mutter seit jeher Schwierigkeiten.

Schon als kleines Mädchen lehnte Ginger ihren eigentlichen Vornamen, Virginia, ab und reagierte nur auf den Kosenamen, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Sie weigerte sich, Kleider und Lackschühchen zu tragen, und lief statt dessen barfuß und in Jeans herum. Sie schwänzte die Tanzstunde und ging zum Touchfootball-Spielen, und sie kletterte lieber auf Bäume, statt Klavier zu üben. Sie konnte nicht gepflegt Tee eingießen, verstand sich aber darauf, ein Pferd zu zähmen. Sie hielt es keine zehn Minuten bei den geschwätzigen Freundinnen ihrer Mutter aus, verbrachte jedoch Stunden in den Wäldern, wo Rehe und Backenhörnchen ihr aus der Hand fraßen.

Mit zwölf Jahren war Ginger bereits einen Meter fünfundsiebzig groß und überragte ihre Altersgenossen. Sie hatte einen wilden roten Haarschopf, von dem ihre Mutter behauptete, er müsse von der väterlichen Familie ererbt sein, ein Gesicht voller Sommersprossen und große Augen, die braun, golden und grün zugleich schimmerten. Sie war keine Schönheit, wenngleich sie einmal jemand als »atemberaubend« bezeichnete, was sie später sehr amüsant fand, und sie war viel zu sportlich, um während ihrer Jugend das Interesse des anderen Geschlechts zu erwecken. Doch das schien ihr einerlei zu sein. Sie war das einzige Mädchen, das in der Fußball- wie in der Softballmannschaft der Schule zugelassen war, und sie behauptete sich in beiden Sportarten. Sie überrundete noch den Besten beim Drachensteigen, war die talentierteste Reiterin der Insel und schaffte drei Jahre nacheinander den Rekord im 500- und 1000-Meter-Lauf.

Irgendwann schlug ihre Mutter verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen. »Dann sei eben eine wilde Range und blamiere uns», schrie sie, als Ginger sechzehn wurde und lieber zum Basketball als ins Ballett gehen wollte.

»Mach mir keine Vorwürfe deswegen, wie ich hin«, gab der temperamentvolle Rotschopf zurück. »Eure Gene haben mich schließlich so werden lassen.« Damit war das Thema ein für allemal erledigt.

Ginger liebte Seward Island trotz der Vorbehalte ihrer Mutter. In ihrer Kindheit wohnten kaum viertausend Menschen auf diesem 55 Quadratkilometer großen Eiland mit seinen sanften Hügeln, lieblichen Tälern, dichten Wäldern und sandigen Stränden. Dort konnte man ungehindert umherschweifen. Ginger war unabhängig und eigenwillig. Ihren Freunden hielt sie die Treue, von Gleichaltrigen wurde sie bewundert. und einem gerechten Kampf ging sie nicht aus dem Wege. Sie war groß und kräftig und konnte die meisten Jungen ihres Alters vertrimmen. Falls es ihr einmal nicht gelang, holte sie ihre großen Brüder, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen.

Mit einer Geschichte erregte sie mächtig Aufsehen. Als der Nachbarssohn, ein Tunichtgut, die Katze der Earleys mit Benzin übergoß und anzündete, übergoß Ginger kurzerhand den Nachbarssohn mit Benzin und setzte ihn ebenfalls in Brand. Der Junge kam zwar mit dem Schrecken davon, doch die Sache sorgte für große Aufregung.

»Warum hast du ihn nicht einfach verhauen?« fragte Gingers Vater, ein gütiger, stattlicher Mann, verzweifelt, als die Eltern des Jungen drohten, Ginger zu verklagen.

»Weil er merken sollte, wie Mittens sich gefühlt hat, als er das mit ihr gemacht hat«, sagte sie. »Jetzt weiß er's, und ich wette, er tut's nie wieder.«

Die Polizei führte Ermittlungen durch. Die Bewohner der Insel waren sich uneins über das richtige Vorgehen. Nach einigem Hin und Her wurde die Sache fallengelassen.

Ginger gefiel es, als wilde Range zu gelten. Das hatte den Vorteil, daß man sie in Ruhe ließ und sie ihren Ehrgeiz mühelos kaschieren konnte. Sie wußte schon früh, daß sie sich nicht damit zufriedengeben wollte, so gut zu sein wie ihre Brüder – um so ernst genommen zu werden wie sie, mußte sie sie überrunden. Sie war das intelligenteste der vier Kinder und der Liebling ihres Vaters, doch wenn er etwas Wichtiges besprechen wollte, wandte er sich an ihre Brüder. Deren Standpunkte und Ansichten interessierten ihn, nicht die seiner Tochter. Ginger ärgerte sich darüber, doch auch sie selbst suchte mit ihren Problemen und Fragen den Rat des Vaters, nicht den der Mutter. Sie kam zu dem Schluß, daß es ihr gelingen mußte, von Männern als ebenbürtig anerkannt und dennoch als Frau geachtet zu werden.

Als sie mit Bravour ihren High-School-Abschluß machte, erwarteten Freunde und Familie, daß sie studieren würde, um Tierärztin oder Anwältin zu werden. Sie verblüffte alle.

Sie entschied sich nicht aufgrund ihres burschikosen Wesens dafür, auf die Polizeiakademie zu gehen und Polizistin zu werden, sondern weil sie aufrecht und klug war, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte und darauf hoffte, dort gleichberechtigt behandelt zu werden. Und weil sie stolz auf ihren Vater war, der dem Staate diente.

»Sag mir, was du davon hältst, Dad«, sagte sie. »Ganz ehrlich.«

»Ich glaube, daß du alles schaffen kannst, was du dir vornimmst«, antwortete Jack Earley, weil er seiner Tochter zum einen nichts ausschlagen konnte, zum anderen aber keiner seiner Söhne sich für seine Laufbahn entschieden hatte. »Aber wenn du zur Polizei gehst – tja, ich wüßte nichts, worauf ich stolzer wäre.«

»Ich dachte, du wolltest Anwältin werden«, sagte ihre Mutter, die Wert darauf gelegt hätte, einen Akademiker in der Familie zu haben. Ihre drei Jungen hatten sich alle gut entwickelt, doch der eine war zur Marine gegangen, der zweite arbeitete für Boeing, und der dritte hatte mit zwanzig schon Frau und Kind und eine Stelle bei einer Telefongesellschaft.

»Du wolltest, daß ich Anwältin werde», hielt Ginger ihrer Mutter vor. »Ich nicht.«

Seltsamerweise bekam sie ihre erste Stelle nach der Ausbildung in einer kleinen Stadt im Osten von Washington, knapp dreißig Kilometer von ihrem Geburtsort Pomeroy entfernt. Sie wohnte dort bei Onkel und Tante. Sie machten sie mit einem attraktiven jungen Mann bekannt, der im Betrieb seines Vaters für Agrarbedarf arbeitete, und Ginger verliebte sich Hals über Kopf in ihn. Anderthalb Jahre waren die beiden unzertrennlich, doch er konnte sich offenbar nicht vorstellen, mit einer Polizistin verheiratet zu sein. Ginger war am Boden zerstört, als er ein halbes Jahr später eine andere heiratete.

Ihre zweite Anstellung bekam sie im Westen von Washington. Von dort aus konnte sie über die Wochenenden nach Hause fahren. Fünfjahre lang arbeitete sie hart, lernte viel und wurde schließlich zum Detective befördert. Ab und zu hatte sie eine Verabredung, doch es entwickelte sich nie etwas Ernsthaftes daraus.

Als die Stelle auf Seward Island ausgeschrieben wurde, traf ihre Bewerbung als erste ein. Sie hatte immer vorgehabt, eines Tages zurückzukehren. Außer ihr bewarben sich sechzehn Männer für den Posten, die allesamt erfahrener waren und teilweise schon höhere Positionen innegehabt hatten. Doch Ginger zweifelte keine Sekunde daran, daß sie die Stelle bekommen würde; nicht, weil sie schlauer oder findiger war als die anderen, sondern weil sie über einen großen Trumpf verfügte – sie war dort aufgewachsen, und sie wußte mehr über die Insel und ihre Bewohner als die anderen sechzehn Bewerber zusammen.

Deshalb war ihr auch Minuten nach ihrem Eintreffen am Madrona Point klar, daß der Fund, den Tom und Billy Hildress in dem blauen Container gemacht hatten, ihre Heimat zerstören würde.

Kapitel 4

Seward Island schimmerte auf der samtig blauen Fläche des Puget Sound wie ein kostbarer Diamant.

Die Insel war Ende des 18. Jahrhunderts von Commodore Nathaniel Seward entdeckt worden, den es im Gefolge von George Vancouver in diese Ecke der Welt verschlagen hatte. Er war von der Schönheit des Eilands so entzückt, daß er sofort an Land ging, sein Schiff zurück nach Portsmouth schickte und bis ins hohe Alter auf der Insel lebte.

Seward Island stand den tropischen Paradiesen, die der Commodore auf seinen Reisen gesehen hatte, in nichts nach. Überall boten sich dem Auge des Betrachters immergrüne Hügel, üppig mit Gras und Klee bewachsene Täler und eine atemberaubende Aussicht auf die zerklüfteten Olympic Mountains im Westen, die sanften Cascades im Osten, den harschen Mount Baker im Norden und den gen Himmel strebenden Mount Rainier im Süden. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurden jedoch viele Nachfahren des abgeschiedenen, wenngleich idyllischen Insellebens überdrüssig, verkauften ihr Land und zogen fort.

Engländer aus den Fabriken von Manchester und den Minen von Newcastle versuchten hier einen Neuanfang. Norweger, die sich auf Fischerei und Schiffbau verstanden, kamen zuhauf. Deutsche verließen aus Angst vor den drohenden Kriegen ihre Höfe in Elsaß-Lothringen und Schleswig-Holstein und siedelten sich auf Seward Island an. Und Iren, die zu Hause einer schlimmen Hungersnot entkommen waren, wollten sich hier eine neue Existenz aufbauen.

Warme Sonne im Sommer. milder Regen im Winter und fruchtbare Erde verwöhnten die Pflanzen. Blumen blühten üppig, und Obst und Gemüse gedieh bestens. Man holte sich Hühner vom Festland, so daß auf den Märkten frische Eier verkauft werden konnten. Auf den Wiesen im Cedar Valley grasten Pferde, und Kuhherden trotteten über die Hänge am Eagle Rock. Die Netze waren voll von Lachsen, die Strände mit Muscheln übersät, und es gab Krebse im Überfluß. Die Siedler gründeten Gewerbe, um mit allem versorgt zu sein, und eine kleine Werft entstand.

Schließlich wurde Seward zur eigenständigen Gemeinde und zur Hauptstadt von Puget County erklärt, einer Reihe kleiner Inseln, die man zusammengefaßt hatte. Die Anwohner wählten einen Bürgermeister und einen Stadtrat. Kurz darauf wurden Steuern erhoben, die Straßen gepflastert und Stromkabel gelegt. Man gründete Polizei und Feuerwehr, baute ein Krankenhaus und ermunterte kleine Industriebetriebe, sich dort niederzulassen.

Dennoch konnte sich die Insel im Nordwestpazifik ihren ländlichen Charme bewahren, weil sie nur auf dem Wasserweg zu erreichen war. Im Yachthafen an der Südseite von Grill Harbor lagen bis zu hundertfünfzig Schiffe, und einmal am Tag kam die Fähre.

Im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wohnten in diesem friedlichen Paradies zwölftausend Menschen. und die Stadt oberhalb des Hafens wurde liebevoll in der Gestalt erhalten, in der sie der Commodore lind seine Nachfahren einst erbaut hatten.

Ein Drittel der Inselbewohner pendelte täglich mit der Fähre nach Seattle, und am Wochenende kamen die Touristen. Der Andrang war nicht ganz so heftig wie auf den benachbarten Inseln Bainbridge und Whidbey, doch die malerischen Läden auf der Commodore Street, die bezaubernden Tearooms am Seward Way, die kleinen Geschäfte, in denen man einheimische Marmeladen, Gelees und Limonenpaste erstehen konnte, und die Winzergenossenschaft hatten gute Einkünfte.

»Willkommen auf Seward Island« stand auf dem Holzschild, das die Besucher als erstes erblickten, wenn sie vom Schiff kamen. »Schön für einen Abstecher – ideal für Familien«.

Die Lokalzeitung hatte einmal angemerkt, daß mit diesem Spruch alles Wesentliche über die Insel gesagt sei. Man hatte hier die sauberste Luft der Region, eine der niedrigsten Verbrechensraten des gesamten Landes und eine Bevölkerung, die zu dreiundneunzig Prozent angelsächsischer, keltischer, deutscher und skandinavischer Herkunft war und sich nur zu sieben Prozent aus anderen Europäern, einer Handvoll Orientalen und einer kleinen Gruppe Asiaten zusammensetzte.

Ruben Martinez, der Polizeichef, fiel deshalb eindeutig aus dem Rahmen. Als zwei Monate altes Baby war er über die mexikanische Grenze geschmuggelt worden, dann schleiften ihn seine Eltern, die sich als Lohnarbeiter auf Farmen verdingten, quer durch Kalifornien, bis er schließlich mit zwölf zu einem Onkel nach Los Angeles geschickt wurde. Ruben hatte Glück, daß er seine Kindheit und Jugend überlebte. Er war vertraut mit Hunger und Entbehrungen aller Art.

Sein eiserner Wille und der Glaube daran, daß seine Eltern nicht wollten, daß er ein so erbärmliches Leben führte wie sie, ließen ihn den Barrios entkommen. Er besuchte die Polizeiakademie in Los Angeles und machte kraft seines scharfen Verstandes, seiner präzisen Auffassungsgabe und seiner Erfahrung mit dem Leben auf der Straße den drittbesten Abschluß seines Jahrgangs.

Ruben wollte in Südkalifornien bleiben und mit den Gangs aus dem Barrio arbeiten, die er so genau kannte, doch eine verirrte Kugel, die zu nahe bei seiner Wirbelsäule steckenblieb, machte seinem Einsatz auf der Straße ein Ende.

»Sie spielen Russisches Roulette, Sergeant«, teilte ihm der Arzt ohne Umschweife mit. »Wenn wir die Kugel nicht antasten, werden Sie Schmerzen haben und in Ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sein. Wenn wir versuchen, sie zu entfernen, stehen die Chancen fünfzig zu fünfzig, daß Sie querschnittsgelähmt sind.«

Die Kugel blieb unberührt. Ruben bekam ein Stützkorsett und Schmerzmittel, die ihn benommen machten. Nach einer Woche spülte er die Pillen ins Klo.

Eine Zeitlang arbeitete er im Büro, aber seinem Rücken bekam das lange Sitzen nicht, und er wurde rastlos. Er zog in eine kleine kalifornische Stadt, wo es geruhsamer zuging. Danach sammelte er in anderen kleinen Städten Erfahrung und bildete sich weiter. Er heiratete. Seine Frau gebar ihm eine Tochter, bevor sie starb. Danach suchte er die Städte eher nach Lebensqualität und dem Ruf der Schulen aus denn nach der Größe des Polizeiapparats.

Ruben Martinez gelangte auf Umwegen nach Seward Island, doch er brachte erstklassige Referenzen mit und galt als ehrlich und tüchtig. Der Bürgermeister und der Stadtrat waren fast einhellig der Meinung, daß sie keinen besseren Polizeichef hätten finden können.

»Seine Laufbahn ist mustergültig«, sagte einer.

»Schon fast zu perfekt«, stimmte ein anderer zu.

»Er wird Eindruck machen«, meinte ein Dritter.

»Aber er ist keiner von uns«, wandte ein Vierter ein.

»Er ist genau der Richtige«, verkündete Albert Hoch, der wohlbeleibte, birnenförmige Bürgermeister.

Man stellte Ruben ein adrettes Holzhäuschen am Stadtrand zur Verfügung, von dem aus das Polizeirevier und die Seward-High-School, die seine Tochter seit zwei Jahren besuchte, leicht zu erreichen waren.

Die fünfzehnjährige Stacey Martinez stand im Mittelpunkt von Rubens Leben – ein zartes Mädchen, das von seiner Mutter das helle Haar und die feinen Gesichtszüge und von seinem Vater die olivbraune Haut und die dunklen Augen geerbt hatte. Er hatte allein für sie gesorgt, bis sie zehn wurde; danach hatte sie angefangen, für ihn zu sorgen. Ihre Lebensform war vermutlich der Grund dafür, warum er nie wieder geheiratet hatte. Er sah Stacey und sich als Team, sie brauchten niemand anderen.

Er wußte natürlich, daß dieser Zustand nicht ewig anhalten konnte. Nicht mehr lange, dann würde sie ihn verlassen, und er würde seine Situation überdenken müssen. Doch darüber wollte er sich nicht vorzeitig den Kopf zerbrechen.

In seinen drei Jahren als Polizeichef auf Seward Island hatte Ruben es mit diversen Fällen von Sachbeschädigung, einer beunruhigenden Zunahme von Drogenkriminalität, ab und zu einem Fall von Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses, mehreren Einbrüchen, einem bewaffneten Raubüberfall, zwei Vergewaltigungen und drei Unfällen mit Todesfolge zu tun gehabt. Niemand konnte sich erinnern, daß es je einen Mord auf der Insel gegeben hätte.

Ruben mußte zwar offiziell immer erreichbar sein, doch meist arbeitete er Montag bis Freitag, blieb samstags in Rufweite für Notfälle und verbrachte seine Sonntage ungestört mit Stacey. Deshalb war er ziemlich überrascht, als am zweiten Sonntag im Oktober um Viertel vor acht das Telefon klingelte und Detective Ginger Earley sich meldete.

»Tut mir leid, daß ich in deinen Sonntag platzen muß«, sagte sie. Ihre Stimme klang merkwürdig gepreßt. »Aber ich bin am Madrona Point, und ich denke, du solltest sofort herkommen.«

Sie wirkte so angespannt, daß Ruben sogar auf die Dusche verzichtete. Er zog sich an, trank drei Schluck Orangensaft aus einem Glas, das Stacey ihm eingegossen hatte, und stürzte zur Garage.

Eine Viertelstunde später hielt er mit seinem Dienstwagen. einem schwarzen Blazer, neben Gingers Streifenwagen auf dem Parkplatz am Madrona Point.

»Was ist los?« fragte er, als er ausstieg.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte die Achtundzwanzigjährige, die in neun Jahren Polizeiarbeit einige Leichen in gräßlichem Zustand zu Gesicht bekommen hatte, mit einem Schaudern. »Es ist grauenhaft, sage ich dir.«

Ihr sonst rosiges, sommersprossiges Gesicht hatte einen grünlichen Farbton angenommen, der Ruben aus seinen Einsätzen in Los Angeles wohlvertraut war. Sie geleitete ihn zu dem Container und ging vor ihm die Treppe hinauf. Es war inzwischen hell geworden, und es gab keinen Zweifel mehr daran, was dort auf dem blutdurchtränkten Teppich lag. Ruben näherte sich der Leiche und bückte sich, um sie genauer zu betrachten.

Er schätzte, daß sie etwa zwölf Einstiche aufwies. Er sah sich die Farbe des Bluts an, berührte es dann mit dem kleinen Finger, um zu testen, wie trocken es war. Der bläuliche Ton der Haut war angesichts des warmen Wetters wohl eher auf den Blutverlust als auf Unterkühlung zurückzuführen. Schließlich hob er einen Arm der Leiche an, um festzustellen, wie weit die Totenstarre fortgeschritten war. Aus seinen Beobachtungen schloß er, daß das Mädchen seit mindestens sechs Stunden tot war.

»Hast du sie angefaßt?« fragte er seine Kollegin.

»Nein, war nicht nötig – Dirksen war hier«, sagte sie. Sie meinte den jungen Polizisten, der den Anruf von Tom Hildress angenommen und sie dann verständigt hatte. »Er sagte, er sei reingegangen und hätte sie angefaßt, aber nur, um festzustellen, ob sie wirklich tot ist.«

»Hat jemand irgend etwas verändert?«

Ginger zuckte die Achseln. »Ich war sehr vorsichtig, aber ein Mann, der mit seinem Sohn Sperrmüll ablud, hat sie gefunden. Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, weiß also nicht, wie er sich verhalten hat.«

»Okay, dann leg mal los«, wies Ruben sie fast mechanisch an. »Der gesamte Park muß abgesperrt werden. Im Umkreis von hundert Metern wird keiner mehr reingelassen, bevor wir hier fertig sind. Und jemand soll die Fähre im Auge behalten. Hol von mir aus das ganze Revier aus dem Bett, wenn's sein muß. Ich will, daß es nur so wimmelt hier von Uniformierten, die in jeden Winkel schauen und alles befragen, was sich bewegt. Und dann solltest du natürlich Doc Coop anrufen und Charlie herbestellen.«

Damit waren Magnus Coop, der ortsansässige Arzt, der auch als Gerichtsmediziner fungierte, und Charlie Pricker, der zweite Detective im Stab, der für die Spurensicherung zuständig war, gemeint.

»Dirksen sichert den Tatort«, erwiderte Ginger. »Zwei Uniformierte sind schon bei der Fähre, und mindestens sechs Mann sind unterwegs. Magnus mußte ich eine Nachricht hinterlassen; er entbindet gerade Zwillinge. Und Charlie müßte gleich kommen.«

»Gut«, sagte Ruben und gestattete sich ein kleines Lächeln, weil sie ihm, wie immer, um mehr als eine Nasenlänge voraus war.

»Du weißt, wer das ist, oder?« fragte sie ihn.

Der Polizeichef betrachtete das junge Mädchen. »Sie kommt mir bekannt vor«, murmelte er, doch er konnte sie nicht einordnen.

»Tara Breckenridge«, sagte Ginger.

Jetzt wußte er, wer sie war. Er blickte auf den entstellten Körper hinunter.

»O Gott«, murmelte er.

Sie war so alt wie Stacey, teilweise hatten die beiden sogar die gleiche Schulklasse besucht. Ihm wurde klar, daß genausogut seine eigene Tochter hier liegen könnte.

»Auf der Insel wird die Hölle los sein«, sagte Ginger.

Ruben richtete sich auf und stieg aus dem Container. Er spürte einen stechenden Schmerz im Rücken, weil er in der Hast vergessen hatte, sein Stützkorsett anzulegen. Er hatte mindestens seit zehn Jahren keinen Mordfall mehr bearbeitet. In einem Monat wurde er sechsundvierzig, aber in diesem Augenblick fühlte er sich wie sechsundsechzig.

Er seufzte unglücklich. »Wahrscheinlich mußte es eines Tages passieren«, sagte er.

»Was?« fragte Ginger.

»Daß es einen Mord gibt auf Seward Island.«

Kapitel 5

Kaum hatten die Gottesdienste begonnen, wußte man schon im letzten Winkel der Insel Bescheid über den Mord. Die Einwohner waren verstört. Niemals zuvor war etwas Derartiges in der friedlichen Gemeinde vorgekommen. Fast jeder kannte das Opfer oder seine Familie, doch auch diejenigen, die keinen der Betroffenen kannten, waren erschüttert über diesen brutalen, sinnlosen Mord. Die Leute fühlten sich, als sei ihnen allen Gewalt angetan worden.

»Wenn so etwas Tara zustoßen konnte«, flüsterten sie einander am Telefon, über den Gartenzaun oder an der Straßenecke zu, »dann kann es jedem passieren.«

Doch Tara war nicht »jeder«. Sie war die Tochter der angesehensten Familie der Insel. Ihr Vater, Kyle Breckenridge, war Präsident der ortsansässigen Bank, und der Mädchenname ihrer Mutter war Mary Seward; sie stammte noch vom alten Commodore ab.

Außerdem war Kyle im Vorstand der Handelskammer, Diakon der Episkopalkirche, stand der Eltern-Lehrer-Vereinigung vor und war Mitglied der Rotarier, des Wohltätigkeitsverbands und des Jagd-Clubs. Jeder wußte, daß er die Hypotheken für mindestens die Hälfte aller Eigenheime der Insel verwaltete und es noch nie für notwendig befunden hatte, eine zu kündigen. Mary gehörte dem Garden Club an, arbeitete unermüdlich für »Kinder in Not«, eine christliche Wohltätigkeitsorganisation, und war erst jüngst maßgeblich an der Gründung der ersten Zufluchtsstätte für mißhandelte Frauen beteiligt gewesen.

Die fünfzehnjährige Tara war die älteste Tochter der Breckenridges. Die zweite Tochter, Toni, war gerade zwölf geworden. Blond und blauäugig, kam Tara ganz nach ihrem Vater, und sie galt als eines der hübschesten Mädchen der Insel. Sie war nicht nur entzückend anzusehen, sondern hatte auch eine zurückhaltende, reizende Art. Sie hatte ein Herz für alle. denen e weniger gut ging, eine Eigenschaft, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und die ihr viele Sympathien eintrug. Vor drei Tagen war sie mit überwältigender Mehrheit zur Erntekönigin gewählt worden.

Die Haushälterin öffnete die schwere Tür von Southwynd, der ehemaligen Villa der Sewards, das man jetzt als Anwesen der Familie Breckenridge kannte. Das Haus war 1830 vorn einzigen Sohn des Commodore aus Stein und Zedernholz erbaut worden, und jede Generation hatte etwas hinzugefügt, was in einem Mischmasch verschiedener Stile resultierte.

Southwynd war von einem großen Park umgeben, und von einer mit Fichten und Ahornbäumen bewachsenen Anhöhe hatte man einen wunderbaren Blick auf den Puget Sound, Seattle und den Mount Rainier. Angesichts solcher Anwesen fühlte Ruben sich immer noch bemüßigt, nach dem Dienstboteneingang zu suchen, trotz der gesellschaftlichen Position, die er nunmehr innehatte.

»Mr. und Mrs. Breckenridge sind nicht zu Hause«, antwortete Irma Poole auf die Frage des Polizeichefs. »Sie sind zu einer Taufe nach Seattle gefahren.

»Und die Mädchen?« fragte Ginger.

»Die sind natürlich hier«, sagte sie, fügte dann aber hinzu: »Nein, warten Sie mal. Nur Miss Toni ist hier. Ich glaube, Miss Tara ist noch nicht zurück«

»Wo ist sie hingegangen?« erkundigte sich Ruben.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie besucht eine Freundin.«

»Hat sie bei dieser Freundin auch übernachtet?«

»O nein, sie übernachtet nie auswärts.«

»Sie meinen, sie ist heute morgen zu einer Freundin gegangen?« hakte Ginger nach.

»Ich nehme es an. Ziemlich früh, denn sie war zum Frühstück nicht da, und ich hatte Apfelpfannkuchen gemacht.«

»Warum glauben Sie, daß sie bei einer Freundin ist?« fragte Ruben.

Die Haushälterin zuckte die Achseln.

»Weil ihr Vater das gesagt hat, als sie nicht erschien«, sagte sie.

Ginger warf Ruben einen Blick zu. »Wann erwarten Sie die beiden, Mrs. Poole?«

Die Frau zuckte wieder die Achseln. »Sie haben nichts gesagt.«

»Hat Mr. Breckenridge ein Mobiltelefon?« fragte Ruben.

»Ja«, antwortete die Haushälterin.

»Würden Sie uns bitte die Nummer geben?«

»Das darf ich nicht«, erwiderte die Frau. »Hat es nicht Zeit, bis sie nach Hause kommen?«

»Nein«, sagte der Polizeichef ruhig, »ich fürchte nicht.«

Kyle Breckenridge sah mehr nach einem Filmstar als nach einem Bankdirektor aus. Er ging auf die Fünfzig zu, war über eins achtzig, hatte eisblaue Augen und blonde Haare, die begannen, an den richtigen Stellen grau zu werden. Er hielt sich extrem fit und war zu jeder Jahreszeit braungebrannt, im Winter mit Hilfe des Sonnenstudios. Seine Frau Mary dagegen war blaß und unscheinbar und trug unvorteilhafte Brauntöne. Kyle bewegte sich immer sehr entschlossen. Das hatte er sich in seiner Jugend angewöhnt, weil er glaubte, damit bedeutungsvoll zu wirken. Als er am Sonntag um zwei Uhr mittags in das weiße Holzhaus marschierte, in dem das Medical Center von Puget County untergebracht war, waren seine Schritte besonders entschieden. Seine Frau, die hinter ihm hereilte, glich dagegen eher einem Schatten.

Die Klinik war ansprechend eingerichtet. Die bequemen Möbel und geblümten Tapeten in Pastelltönen erinnerten eher an das gemütliche Heim, das die Villa früher gewesen war, als an eine Klinik. Magnus Coop, der die Familie Seward seit annähernd vierzig Jahren ärztlich betreute, wartete mit Ruben Martinez im Vorraum.

»Also, worum geht es?« fragte Kyle sofort. »Sie verlangen, daß wir die nächste Fähre nehmen sollen, ohne uns den Grund zu sagen.«

»Ich fürchte, wir haben schlimme Nachrichten für Sie, Mr. Breckenridge«, antwortete Ruben. »Ich ging davon aus, daß Sie nicht am Telefon davon erfahren wollten.«

Mary Breckenridge riß entsetzt die Augen auf. »Ist etwas mit Tara?« flüsterte sie. »Ist Tara etwas zugestoßen?«

»Wie kommen Sie darauf, Mary?« fragte Coop. Der Arzt war kaum größer als sie und wirkte gnomenhaft. Er hatte dichtes weißes Haar und spähte durch eine Nickelbrille. Seinen kleinen braunen Augen entging kaum etwas.

»Weil sie«, antwortete Mary und warf ihrem Mann einen raschen Blick zu, »heute morgen nicht zu Hause war.«

»Wissen Sie, wo sie war, Mrs. Breckenridge?« fragte Ruben.

»Wir nahmen an, daß sie vielleicht eine Freundin besucht hat«, antwortete Kyle anstelle seiner Frau.

»Dachten Sie an jemand Bestimmten?«

»Irgendeine ihrer Freundinnen«, sagte er. »Aber lassen wir das. Bitte sagen Sie uns, worum es geht.«

Coop räusperte sich. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Es fällt mir nicht leicht, Ihnen das zu sagen ... Tara ist tot.«

Mary Breckenridge stieß einen lauten Klagelaut aus, der, als sie nacheinander ihren Mann, Ruben und den Arzt anblickte, in einem unheimlichen, schrillen Schrei endete. »Tara ... tot? Haben Sie gesagt, sie sei tot?«

Ihr Mann führte sie zu einem Sessel, und Coop gab ihr rasch eine Spritze, die er in weiser Voraussicht für diesen Moment vorbereitet hatte.

»Was soll das heißen?« herrschte Kyle den Polizeichef an. Er war kreidebleich geworden. »Woher wissen Sie, daß sie tot ist?«

»Sie wurde heute früh gefunden«, sagte der Polizeichef.

»Gefunden?« wiederholte Kyle verständnislos. »Wovon reden Sie?«

»Einer der Anwohner hat ihre Leiche am Madrona Point entdeckt«, sagte Ruben. »Es hat den Anschein, als sei sie erstochen worden.«

»Wir wissen noch nicht genug«, ergänzte der Arzt. »Sie ist gerade erst hergebracht worden.«

»Erstochen?« sagte Kyle langsam, als höre er das Wort zum ersten Mal. »Sie meinen, es war kein Unfall? Sie ist nicht von einem Auto angefahren worden, gestürzt oder ertrunken? Sie wollen damit sagen, daß jemand sie ... ermordet hat?«

Ruben nickte. »Ich fürchte, ja«, murmelte er.

»Es hat ganz den Anschein«, bestätigte Coop.

Der Bankdirektor schien in sich zusammenzusinken. Er umklammerte die Sessellehne, um sich aufrecht zu halten. »Wie konnte das geschehen?« rief er aus. »Warum?«

»Wir wissen es noch nicht«, antwortete Ruben mit einem tiefen Seufzer.

»Aber wir werden es herausfinden«, verkündete Magnus. Er blickte auf Mary hinunter. Das Beruhigungsmittel tat rasch seine Wirkung. Sie saß zusammengesunken im Sessel und jammerte vor sich hin, verfolgte das Gespräch nicht mehr. »Sie müssen einige Formulare unterzeichnen, Kyle.«

»Formulare?«

»Für die Autopsie.«

Breckenridge starrte den Arzt schockiert an. »Autopsie?« krächzte er. »Nein – keine Autopsie. Ich lasse nicht zu, daß Sie an ihr herumschneiden.« Er sah auf seine Frau hinunter. »Was haben Sie vor – wollen Sie Mary auch noch umbringen?«

»Ich fürchte, das ist unumgänglich, Sir«, sagte Ruben. »Wir brauchen den Befund für die Ermittlungen. Ein Verbrechen ist geschehen, ob uns das nun gefällt oder nicht. Um herauszufinden, wer diese grauenvolle Tat begangen hat, müssen wir sämtliche Beweismittel in Betracht ziehen.«

»Ich verstehe Ihren Standpunkt, Chief Martinez«, erwiderte Kyle, »aber ich gehe davon aus, daß Sie keine wertvollen Erkenntnisse gewinnen, indem Sie meine Tochter ausnehmen.«

Ruben war dem Banker bisher selten begegnet, doch Magnus Coop kannte Kyle Breckenridge, seit dieser vor zwanzig Jahren nach Seward Island gekommen und die reichste junge Frau der Insel geheiratet hatte.

»Tja, es verhält sich so, daß wir Ihr Einverständnis nicht benötigen«, sagte der Arzt freundlich, aber bestimmt. »Das Unterschreiben der Papiere ist eine reine Formalität. Bei Mordfällen ist eine Autopsie vorgeschrieben.«

Breckenridge funkelte ihn zornig an. »Dann tun Sie, was Sie nicht lassen können«, erwiderte er barsch.

»Ich will meine Kleine sehen«, schluchzte Mary plötzlich. »Ich will sie sehen. Vielleicht ist es gar nicht Tara. Vielleicht haben Sie sich geirrt.«

Coop sah Kyle an und schüttelte den Kopf. Er dachte an den verunstalteten Körper, den er vor knapp einer Stunde vom Madrona Point in die Klinik gebracht hatte, wo er nun mit einem Tuch bedeckt in dem Hinterzimmer, das als Leichenhalle fungierte, auf einem Tisch lag.

»Wenn Magnus sagt, es sei Tara«, sagte Kyle mit schmerzverzerrtem Gesicht, »dann kannst du ihm das glauben. Meinst du, er würde uns das antun, wenn er nicht sicher wäre?«

»Ich muß sie zuerst untersuchen, Mary«, sagte Coop sanft. »Und herausfinden, was passiert ist. Danach können Sie sie selbstverständlich sehen.«

»Das sagen Sie auch immer, wenn sie krank ist«, murmelte Mary.

»Ja, das stimmt.«

»In Ordnung, Magnus«, sagte sie mit einem kläglichen Lächeln. »Dann untersuchen Sie sie gründlich, und machen Sie sie wieder gesund.«

Deborah Frankel erledigte die Wäsche immer sonntags. Sie hatte so viel zu tun, daß ihr nur dieser Tag dafür blieb. An den Wochentagen fuhr sie mit der Fähre nach Seattle, wo sie als stellvertretende Leiterin einer Firma für Anlageberatung tätig war. Samstag vormittags kaufte sie ein, und die Samstagnachmittage verbrachte sie mit ihrem Mann Jerry und dem gemeinsamen achtjährigen Sohn Matthew.

An diesem Samstag hatten sie mit dem Fahrrad den Madrona Point umrundet, und Matthew hatte wie immer versucht, so schnell zu fahren wie sein Vater, und war dabei gestürzt. Er hatte sich die Knie aufgeschürft, und seine neue Jeans war blutverschmiert. Kaum waren sie zu Hause, hatte Deborah ihm die Hose weggenommen, wobei sie sich mehr über den Vorfall ereiferte, als notwendig war, und sie über Nacht im Waschbecken eingeweicht.

Deshalb war sie ziemlich verblüfft, als sie die sauberen Handtücher und Laken zusammenlegte, die Kleider zum Waschen sortierte und dabei auf das hellgraue Sweatshirt mit dem Seward-Island-Logo stieß, das Jerry gestern getragen hatte. Es war blutverschmiert.

Sie stöberte ihn in der Bibliothek auf, die eigentlich nur aus einem Alkoven im Wohnzimmer des aus Zedernholz und Glas erbauten Hauses bestand, wo sie seine Bücher, Akten und seinen alten Rollschreibtisch untergebracht hatten, damit Deborah sich in dem zweiten Schlafzimmer ein hochmodernes Büro einrichten konnte. Er lag auf einer Lederliege, die sie gerade noch zwischen Fenster und Tisch gequetscht hatten, und grübelte mit gerunzelter Stirn über dem Kreuzworträtsel der Sunday Times. Sie waren schon seit neun Monaten auf der Insel, aber er weigerte sich nach wie vor, sein Abo der New Yorker Zeitung zu kündigen.

»Wieso ist dein Sweatshirt so blutig?« fragte sie ihn und hielt es hoch.

Jerry Frankel blickte überrascht auf. Er hatte ein ansprechendes, ebenmäßiges Gesicht, das besonders einnehmend war, wenn er lächelte. Die dunklen Haare fielen ihm in die Stirn, was ihn jungenhaft wirken ließ. Seine warmen braunen Augen starrten auf einen Punkt hinter ihr.

»Ich hab mich geschnitten«, erwiderte er nach einem Moment und hielt seinen verbundenen Daumen hoch.

»Soviel Blut von so einem kleinen Schnitt?«

Er zuckte die Achseln. »Er war ziemlich tief.«

»Warum hast du nichts davon gesagt?« hakte sie verärgert nach.

»Es ist gestern abend passiert, in der Werkstatt«, antwortete ihr Mann. »Du warst schon im Bett. Ich wollte dich nicht wecken.«

»Hättest du das Sweatshirt nicht auswaschen können? Oder es zumindest zu Matthews Jeans ins Waschbecken legen?«

Er zuckte wieder die Achseln. »Hab ich nicht dran gedacht«, sagte er. »Macht doch nichts, oder? Ich wußte ja, daß du heute wäschst.«

Deborah seufzte und ging mit dem Sweatshirt in den Keller. Sie nahm Matthews Jeans aus dem Waschbecken, ließ frisches Wasser ein und gab Fleckenmittel dazu. Wenn die Blutflecken nicht ganz eingetrocknet sind, dachte sie, gehen sie vielleicht noch raus.

Kapitel 6

Gail Browns Großeltern und Eltern hatten auf Seward Island gelebt, doch sie selbst war nach Massachusetts gezogen, um dort am Wellesley College ihren Abschluß in Englisch zu machen. Dann hatte sie an der Columbia University in New York Journalismus studiert und bei diversen Zeitungen an der Ostküste gearbeitet, bevor sie nach Hause zurückkehrte, um den Seward Sentinel als Chefredakteurin zu übernehmen.

Seit Jahrzehnten war die Zeitung für das Gesellschaftsleben der Insel zuständig gewesen. Gail machte sich als erstes bemerkbar, indem sie kräftig Sand ins Getriebe streute.

»Es genügt nicht mehr, daß wir über das Jahrestreffen des Garden Club berichten«, verkündete die hagere Brünette mit dem buschigen Pferdeschwanz und der dicken Brille ihren Angestellten, »oder über das Mittagessen, das Susie Sweetpea anläßlich ihres sechzehnten Geburtstags im Gull House gegeben hat. Damit ist die Bevölkerung hier nicht mehr zufrieden – und die Anzeigenkunden auch nicht, falls das noch niemand bemerkt haben sollte.«

Einige der Angestellten, die sich im Büro der Chefredakteurin drängten, nickten, andere zuckten die Achseln oder seufzten. »Wenn wir unsere üppigen Gehälter behalten wollen«, fuhr Gail fort und wartete einen Moment, um das Gelächter abklingen zu lassen, mit dem sie gerechnet hatte, »müssen wir den Umsatz steigern. Dazu brauchen wir höhere Auflagen. Deshalb wird der Seward Sentinel von nun an die Realität dokumentieren. Wir werden uns mit den wahren Themen befassen, den Themen, die uns alle betreffen, hier auf der Insel und überall im Land – Politik, Religion, Erziehung, Steuern, Korruption –, all jene Dinge, über die man die Bürger informieren muß, damit sie verantwortungsvolle Entscheidungen über ihre Zukunft treffen können. Niemand wird unserer Aufmerksamkeit entgehen, und Tabuthemen gibt es nicht.«

»Laufen wir damit nicht Gefahr, die Abonnenten zu verlieren, die ihre Zeitung so schätzen, wie sie jetzt ist?« erkundigte sich jemand.

»Wem das neue Konzept nicht paßt, der soll uns schreiben«, schlug die Chefredakteurin mit einem durchtriebenen Grinsen vor. »Wir drucken die Kommentare gerne ab.«

Innerhalb von sechs Monaten hatte sich die Auflage verdreifacht. Innerhalb eines Jahres war das Werbeaufkommen um vierzig Prozent gestiegen. Und nach zwei Jahren unter Gails Führung hatte sich die Rubrik »Leserbriefe« von einer wenig beachteten Spalte zu vollen zwei Seiten ausgewachsen, auf denen heftig debattiert wurde.

»Wenn man wirklich erfahren will, was auf Seward Island los ist«, hieß es allgemein, »muß man sich nur die Leserbriefe anschauen.«

Die Leute hatten recht.

»Der Charakter einer Gemeinschaft läßt sich nicht anhand der Ereignisse bestimmen«, äußerte Gail, »sondern anhand der Reaktionen der Bürger auf diese Ereignisse.«

Am Tag nach dem Tod von Tara Breckenridge saß die Chefredakteurin schon im Morgengrauen an ihrem Schreibtisch und verfaßte einen angemessen mitfühlenden und dennoch markanten Leitartikel. Sie arbeitete konzentriert, doch es entging ihr nicht, daß der Strom der Einwohner, die an dem Tresen unterhalb ihres Büros Briefe abgaben, nicht abriß.

Der Sentinel war in einem schönen alleinstehenden grauen Haus mit verschnörkeltem Schnitzwerk an der Johansen Street am südlichen Stadtrand untergebracht. Angeblich war dieses Haus, das sogenannte Curtis House, 1915 von Adelaide Curtis, der berühmtesten Bordellbesitzerin der Stadt, erbaut worden. Sie hatte die Kühnheit besessen, es genau an der Kreuzung von Commodore Street und Seward Way im Zentrum errichten zu lassen. Die Empörung der Stadtväter war groß, wenngleich eher aufgrund der Tatsache, daß sie nicht beim Verlassen des Etablissements beobachtet werden wollten, denn aus moralischer Entrüstung. Sie ließen es kurzerhand auf Kosten des Steuerzahlers an seinen jetzigen, weniger exponierten Standort versetzen. Gail war es nicht gelungen, diese Legende zu belegen, doch allein die Vorstellung verlieh dem kleinen Haus ein gewisses Flair.

Um zehn nach acht steckte Iris Tanaka, die winzige Redaktionsassistentin des Sentinel, den Kopf durch die Tür von Gails Büro. »Es ist unglaublich!« rief sie aus. »Wir haben schon über zweihundert Briefe zum Tod von Tara Breckenridge, und es kommen immer noch mehr.«

»Jeder will sich in seinen fünfzehn Zeilen verewigen«, sagte die Chefredakteurin seufzend, nahm ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken.

»Was sollen wir damit machen?«

»Aussortieren«, wies Gail sie an. »Schmeiß die raus, die sich nur bei der Familie Breckenridge einschmeicheln wollen. Such sechs gutgeschriebene aus, die aus den richtigen Gründen um Tara trauern, und zwei oder drei, die es sogar angesichts dieser Tragödie nicht lassen können, dem Opfer die Schuld zu geben.«

Iris rümpfte angewidert die Nase. »Du willst wirklich zu diesem Zeitpunkt die Büchse der Pandora öffnen?«

Gail setzte ihre Brille wieder auf. »Kontroverse ist immer gut«, erwiderte sie und wandte sich aufs neue dem Computer zu. »Außerdem bringt sie Auflage.«

Jerry Frankel parkte seinen rostbraunen Taurus-Kombi auf seinem Platz an der Seward-High-School. Er stieg aus, knöpfte das braune Tweed-Sakko zu, zu dem er ein sandfarbenes kariertes Hemd trug, strich sich die Haare aus den Augen, schnappte sich seinen Aktenkoffer und hastete den überdachten Weg zum Nordeingang des Gebäudes entlang, das zur Zeit seiner Erbauung 1865 aus einem einzigen Raum bestanden und sich im Laufe der Zeit zu einem weitläufigen Ziegelkomplex ausgewachsen hatte, in dem eine Turnhalle, ein Hallenbad, ein Theater und ein Labor Platz fanden. Um diese großzügige Anlage, an der sich zeigte, wie spendabel die Bürger von Seward Island waren, wenn es um das Wohl ihrer Kinder ging, wurde die Schule in der gesamten Region beneidet.

Es war zwanzig nach acht. Deborah hatte die frühe Fähre nach Seattle genommen und es Jerry überlassen, Matthew zu wecken, darauf zu achten, daß er sich anständig anzog und frühstückte, und ihn an seiner Grundschule abzuliefern. Jetzt mußte sich der Geschichtslehrer beeilen, damit er noch rechtzeitig zum Unterricht kam.

Er war nicht nur wegen Deborah in Zeitdruck. Er hatte verschlafen, weil er seit Sonntag nachmittag an bohrenden Zahnschmerzen litt, die ihn die halbe Nacht gequält hatten, bis Deborah schließlich aufgestanden war und ihm eine Schlaftablette verabreicht hatte.

Jerry stürzte zwei Minuten vor dem Gong ins Klassenzimmer. Er packte Bücher und Papiere aus und sann darüber nach, daß Matthew zum Glück die Zähne seiner Mutter geerbt hatte.

Sein Unterkiefer pochte schmerzhaft. Jerry nahm ein Stück Kreide, schrieb die Lektion für diese Stunde an die Tafel und überlegte, wie lange er noch warten mußte, bevor er sich unbeschadet die nächste Dosis Aspirin zuführen konnte. Er war so beschäftigt mit seiner Lage, daß er erst fünf Minuten nach dem Gong merkte, daß höchstens die Hälfte der Schüler anwesend war.

»Was ist hier los?« fragte er. »Wo stecken die alle?«

»Stehen unter Schock«, antwortete Hank Kriedler, ein blonder Junge mit akkuratem Haarschnitt, aus den hinteren Reihen.

»Haben Sie es denn nicht gehört?« sagte Jennie Gemmetta, die in der ersten Reihe saß, mit Tränen in den Augen. »Gott, ich dachte, inzwischen wüßte es jeder. Tara ist tot.«

»Tot?« Der Lehrer starrte die pausbäckige Schülerin verblüfft an. »Was soll das heißen, Tara ist tot?«

»Sie ist Samstag nacht ermordet worden.«

»Ermordet?« Jerry hielt sich an der Ecke seines Pults fest. Er war nicht beim wöchentlichen Kollegiumskaffee gewesen und hatte keine Zeit mehr gehabt, im Sekretariat vorbeizuschauen oder die Anschläge am schwarzen Brett zu lesen. Er blickte auf das leere Pult in der Mitte der dritten Reihe, und ihm war flau. »Das tut mir leid«, sagte er in den Raum. »Weiß jemand, was passiert ist?«

»Sie wurde erstochen«, sagte Jack Tannauer.

»Mit mindestens zwanzig Stichen«, ergänzte Melissa Senn, eine schwarzhaarige Schönheit, die an der Tür saß und bei der Wahl der Ernteprinzessin den zweiten Platz gemacht hatte.

»Und dann in einen Müllcontainer geworfen«, fügte Jeannie hinzu und stellte fest, daß der Geschichtslehrer sehr blaß geworden war.

Jerry schluckte. »Gibt es irgendeinen Hinweis auf den Täter?« fragte er mit gepreßter Stimme.

Die Schüler schauten alle zu Stacey Martinez hinüber, die am Fenster saß.

Die Tochter des Polizeichefs mochte es nicht, wenn man sie an ihre Sonderstellung erinnerte. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Aber ich weiß auch nichts darüber.«

Die Polizeidienststelle von Seward Island war in einem quadratischen Gebäude am östlichen Ende der Commodore Street untergebracht. Im Volksmund wurde es liebevoll »Graham Hall« genannt, nach dem hochgeschätzten ersten Polizeichef der Insel.

Das Haus war 1946 erbaut worden, als die Insel gerade dreitausend Einwohner zählte und man nur sechs Polizisten beschäftigte, und war kaum geeignet für ein Team von nunmehr siebzehn Personen. Die Farbe an den Wänden blätterte ab, die grauen Metalltische sahen schwer mitgenommen aus, und die Polizisten saßen so dicht aufeinander wie in einer Sardinendose. Seit fünf Jahren stimmte die Bevölkerung in Volksentscheiden gegen die Renovierung und den Ausbau des Gebäudes.

Punkt neun Uhr morgens stürmte Albert Hoch, der korpulente Bürgermeister der Stadt, der wegen seiner markanten Nase und seinem Glatzkopf den Spitznamen »der kahle Adler« trug, unangemeldet in das winzige Kabuff, das als Büro des Polizeichefs fungierte.

»Äußern Sie sich, Ruben«, polterte er so laut, daß man ihn im ganzen Haus hören konnte. »Auf dieser Insel gab es bislang keine Gewaltverbrechen. Hier ist noch nie jemand ermordet worden.«

»Nun, jetzt ist es passiert«, erwiderte der Polizeichef gelassen.

»Ich bin eng befreundet mit Kyle Breckenridge«, fauchte ihn der Bürgermeister an. »Die Tote war mein Patenkind, um Himmels willen. Ich will wissen, was Sie bis jetzt in Erfahrung gebracht haben, und ich möchte täglich auf den neuesten Stand gebracht werden, bis der Fall abgeschlossen ist.«

Ruben seufzte. Nicht weil er das Gehabe des Stadtoberhaupts verabscheute, sondern weil Albert Hochs Verständnis für die Arbeit der Polizei ausgesprochen gering war.

»Bis jetzt wissen wir nur, daß sie irgendwann Samstag nacht oder Sonntag früh erstochen und in einen Container am Madrona Point geworfen wurde«, legte Ruben dar. »Die Autopsie und die Untersuchung des Tatorts werden sicher weitere Hinweise erbringen.«

»Haben Sie irgendwelche Spuren?« wollte Hoch wissen. »Irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«

»Im Moment nicht«, sagte Ruben. »Aber wir stehen auch erst am Anfang.«

Dem Stadtoberhaupt mangelte es nicht nur an Fachkenntnissen, sondern auch an Diskretion. Ruben wußte seit langem, daß es sich nicht empfahl, dem Bürgermeister etwas mitzuteilen, was nicht im Handumdrehen die ganze Insel wissen sollte. »Wer wird den Fall leiten?« erkundigte sich Hoch.

»Ich«, antwortete der Polizeichef. »Ginger Earley führt die Ermittlungen durch. Charlie Pricker ist für die Spurensicherung verantwortlich. Ich gehe davon aus, daß wir jeden unserer Leute einsetzen müssen.«

So klein wie ihr Team war, lag das nur nahe. Es kam Ruben absurd vor, dem Bürgermeister vorzubeten, was er bereits wußte. Schließlich gab es bei der Polizei von Seward Island nur zwei Detectives: Ginger, die er selbst vor knapp zwei Jahren eingestellt hatte, und Charlie, den er übernommen und im letzten Jahr zum Zivilfahnder befördert hatte.

»Herr im Himmel«, keuchte Hoch und schüttelte ratlos den Kopf. »Was hatte Tara um diese Uhrzeit dort draußen zu suchen? Wie kam sie zum Madrona Point? Und wie, Herrgott, landete sie in diesem Container? Warum, zum Teufel, sollte jemand so etwas tun?«

Lauter berechtigte Fragen, dachte Ruben. Bis jetzt konnte er keine von ihnen beantworten.

»Mr. Frankel schien echt erschüttert zu sein«, sagte Melissa Senn in der Mittagspause.

»Kam mir auch so vor«, stimmte Jeannie Gemmetta ihr zu. »Hast du sein Gesicht gesehen? Er war so blaß, daß ich gedacht habe, er fällt gleich in Ohnmacht oder so.«

»Genau«, sagte Melissa. »Er war völlig betroffen – als sei sie seine beste Freundin gewesen.«

»Tja, Tara sah Spitze aus«, äußerte Jack Tannauer. »Wer weiß – vielleicht haben sie's miteinander getrieben.«

»So was Dämliches«, höhnte Jeannie. Jacks Vater gehörte das Kino der Insel, und manchmal schien Jack sich zu viele Hollywood-Streifen angesehen zu haben. »Er ist einfach so. Ein einfühlsamer Mensch, der sich über andere Gedanken macht.« Ein Lächeln trat auf ihr rundes, mütterliches Gesicht. »Ich hätte auch nichts dagegen, wenn er sich über mich Gedanken machte«, gestand sie kühn. »Du mußt zugeben, er ist wirklich süß.«

»Findest du?« fragte Melissa.

»Ja klar«, erwiderte Jeannie. »Diese verträumten Augen – wenn er mich anschaut, habe ich immer das Gefühl, er schaut in meine Seele.«

»Hör mal, der könnte dein Vater sein«, mischte sich Bill Graham ein, ein dürrer Sechzehnjähriger mit ungesunder Gesichtsfarbe, die, wie seine Freunde beschlossen hatten, aus der Tatsache resultierte, daß er zuviel Zeit im Hinterraum der Leichenhalle verbrachte, in der sein Vater tätig war.

»Na und?« gab Jeannie zurück. »Man sieht es ihm nicht an. Ich finde sogar, er hat ein bißchen Ähnlichkeit mit Brad Pitt.«

»Jetzt, wo du's sagst: Ich glaube, er ist wirklich ziemlich süß«, äußerte Melissa und kicherte.

»Wenn man mal von seiner Nase absieht«, warf Hank Kriedler ein.

»Was ist mit seiner Nase?«

»Ziemlich groß, findest du nicht?« sagte der bullige blonde Teenager mit höhnischem Grinsen.

»Ist mir noch nie aufgefallen«, gab Jeannie zu.

»Die hat er, weil er Jude ist«, sagte Hank.

»Ach ja?« rief Jeannie aus. »Das wußte ich nicht. Woher hast du das?«

Hank zuckte die Achseln. »In welcher Welt lebst du denn? Ich dachte, das wüßte jeder.«

»Es gibt noch nichts Konkretes«, berichtete Albert Hoch, der sich gegen Abend in Kyle Breckenridges geräumigem Büro an der Ecke von Commodore Street und Seward Way einfand. Der Bankdirektor saß hinter einem eleganten Schreibtisch aus Rosenholz, der förmlich auf dem flauschigen, leuchtend blauen Teppichboden zu schweben schien, und durchbohrte den beleibten Bürgermeister mit Blicken.

»Ich will alles bis ins Detail wissen«, sagte er.

»Nun, Ruben hat natürlich alle Hebel in Bewegung gesetzt. Alles andere ist jetzt zweitrangig. Die Autopsie ist im Gange, und die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Magnus wird seinen Bericht in wenigen Tagen fertig haben, und Charlie Pricker hat die Spurenermittlung am Tatort sicher morgen abgeschlossen. Doch du weißt sicherlich, daß es Wochen, ja sogar Monate dauern kann, bevor die Ergebnisse der Laboruntersuchungen feststehen. Ginger Earley ist unterwegs und spricht mit den Leuten – mit denen, die Tara kannten.«

»Ich nehme an, daß dann auch jemand in Southwynd erscheinen wird«, sagte Breckenridge mit einem tiefen Seufzer. »Um ehrlich zu sein, Albert, ich weiß nicht, wie lange Mary das noch durchsteht.«

Hoch nickte. Mary Breckenridge war kein starker Mensch. »Wenn Phoebe und ich was für euch tun können ...« murmelte er.

»Ja, natürlich, besten Dank«, sagte Kyle, dem bewußt war, daß Phoebe Hoch mindestens so schwatzhaft war wie ihr Mann. »Ihr beide wart schon so hilfreich.« Er blinzelte mehrfach und richtete sich dann auf. »Weißt du, ob es schon brauchbare Verdächtige gibt?« fragte er. »Kann Martinez ein Motiv nennen? Oder hat er zumindest eine Theorie?«

Hoch rutschte unbehaglich hin und her. Der Polizeichef war ziemlich wortkarg gewesen und behielt seine Erwägungen offenbar für sich. Hoch hatte ihn nicht unter Druck gesetzt.

»Ich denke nicht«, sagte er. »Ich weiß, daß es Fälle gibt, in denen die Beweislage so offensichtlich und das Motiv so klar ist, daß der Mörder sofort überführt werden kann. Doch das scheint hier anders zu sein. Es wimmelt nicht gerade von Verdächtigen. Ruben muß losziehen und den Dreckskerl aufspüren. Aber dafür haben wir ihn schließlich auch eingestellt, oder?«

»Eine meiner Schülerinnen ist am Wochenende umgekommen«, berichtete Jerry Frankel seiner Frau am Montag abend beim Essen.

»Das ist ja schlimm«, murmelte Deborah, die sowohl mit einem Teller Linguine als auch mit einem ausführlichen Bericht befaßt war, den sie bis zum nächsten Morgen gelesen haben mußte.

»Nein, ich meine, sie wurde ermordet.«

Deborah blickte auf. »Jemand ist ermordet worden – hier auf Seward Island?« Ihr Mann nickte. »Das ist ja schockierend«, sagte sie. »Ich dachte immer, die Leute machen hier nichts anderes, als den Zedern beim Wachsen zuzuschauen.«

Sie waren allein in dem hellgrauen Eßzimmer. Jerry machte Matthew immer um sechs sein Abendessen, dann ließ er ihm sein Bad ein und brachte ihn ins Bett. Deborah kam selten vor acht Uhr nach Hause, doch sie schaffte es meist noch, ihrem Sohn einen Gutenachtkuß zu geben. Wenn sie wieder herunterkam, stand das Essen auf dem Tisch – Jerry war ein recht passabler Koch geworden –, und falls es irgend etwas zu besprechen gab, unterhielten sie sich beim Essen darüber. Das fiel allerdings aus, wenn Deborah noch zu arbeiten hatte. Sie hatten sich auf diese Regelung geeinigt, als sie beschlossen, daß Deborah sich zu dem Ableger ihrer Firma in Seattle versetzen lassen würde und Jerry mitten im Schuljahr nur eine Stelle auf einer Insel mit unregelmäßigem Fährverkehr finden konnte.

»Alle Schüler haben nur davon geredet«, sagte er. »Sogar Matthew wußte schon davon, als er heimkam.«

»Kanntest du das Mädchen gut?«

»Eigentlich nicht«, sagte er beiläufig und wickelte seine Linguine auf die Gabel. »Sie hieß Tara Breckenridge. Sie war im Sommer in der Ferienschule und in diesem Schuljahr auch in einer meiner Klassen.«

Deborahs helle Augen verdunkelten sich. »Was ist ihr zugestoßen?« fragte sie.

Jerry betrachtete stirnrunzelnd die Pasta auf seiner Gabel, als sei er nicht sicher, ob er sie essen wollte. »Angeblich ist sie erstochen worden und dann irgendwie in einem Müllcontainer am Madrona Point gelandet.«

Deborah hatte noch nie von Tara Breckenridge gehört, aber sie waren vor zwei Tagen am Madrona Point gewesen. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

»Das ist ja gräßlich«, murmelte sie, widmete sich wieder ihren Linguine und blätterte den Bericht um.

»Alle sind furchtbar aufgeregt wegen Tara«, berichtete Stacey abends ihrem Vater. »Sie reden über nichts anderes. In jeder Pause fragen sie mich, ob ich irgendwas wüßte. Ich hasse das. Als würde ich irgend etwas ausplaudern, was ich von dir erfahren hätte.«

»Du weißt wahrscheinlich auch nichts über sie, oder?« fragte Ruben und seufzte.