Eine Frage der Gerechtigkeit - Susan Sloan - E-Book
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Eine Frage der Gerechtigkeit E-Book

Susan Sloan

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Beschreibung

Hochbrisant und atemberaubend spannend: Der fesselnde Justiz-Thriller »Eine Frage der Gerechtigkeit« von Susan Sloan jetzt als eBook bei dotbooks. Um ihre Karriere zu retten, muss sie diesen Fall übernehmen – doch jetzt will sie ihn für die Gerechtigkeit gewinnen … Als eine Bombe die Abtreibungsklinik von Seattle zerfetzt, folgt auf den Schock bald die Wut – die Bevölkerung der Stadt will Blut sehen! Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: Leutnant Corey Latham von der US Navy ist tiefgläubig, überzeugter Abtreibungsgegner und wurde am Tatort gesichtet … aber ist der angeklagte Marineoffizier wirklich ein eiskalter Terrorist? Die junge aufstrebende Anwältin Dana McAuliffe nimmt sich des Falls an und je mehr sie über Corey erfährt, desto mehr glaubt sie an seine Unschuld. Um ihn vor dem elektrischen Stuhl zu retten, muss Dana die wahren Schuldigen finden – und gerät damit selbst ins Fadenkreuz der eiskalten Hintermänner … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Thriller »Eine Frage der Gerechtigkeit« von Susan Sloan. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Um ihre Karriere zu retten, muss sie diesen Fall übernehmen – doch jetzt will sie ihn für die Gerechtigkeit gewinnen … Als eine Bombe die Abtreibungsklinik von Seattle zerfetzt, folgt auf den Schock bald die Wut – die Bevölkerung der Stadt will Blut sehen! Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: Leutnant Corey Latham von der US Navy ist tiefgläubig, überzeugter Abtreibungsgegner und wurde am Tatort gesichtet … aber ist der angeklagte Marineoffizier wirklich ein eiskalter Terrorist? Die junge aufstrebende Anwältin Dana McAuliffe nimmt sich des Falls an und je mehr sie über Corey erfährt, desto mehr glaubt sie an seine Unschuld. Um ihn vor dem elektrischen Stuhl zu retten, muss Dana die wahren Schuldigen finden – und gerät damit selbst ins Fadenkreuz der eiskalten Hintermänner …

Über die Autorin:

Susan Sloan wurde in New York geboren und lebt heute im Nordwesten der USA, auf einer kleinen Insel vor Seattle. Neben ihrer Karriere als Romanautorin kümmert sich Susan Sloan in ihrer Freizeit um in Stich gelassene Haustiere. Ihre Spannungstitel wurden in mehrere Sprachen übersetzt und feierten weltweit Erfolge.

Bei dotbooks veröffentlichte Susan Sloan ihre Romane »Schuldlos schuldig«, »Was keiner wissen konnte« und »Denn alle Sicherheit ist trügerisch«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2020

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »Act of God« bei Warner Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Mein Wille geschehe« bei Knaur.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2002 by Susan R. Sloan

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co.KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Checubus / halilerdi87 / Mihai Stanciu

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-443-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Susan Sloan

Eine Frage der Gerechtigkeit

Roman

Aus dem Amerikanischen von Angela Stein

dotbooks.

Wir sollten nur die gerechten Taten vollbringen,die wir nicht unterlassen können.

Simone Weil

Für Howard,meinen größten Fan,und für Bear,meinen besten Freund.

Teil I

Kapitel 1

Er arbeitete schnell, aber mit äußerster Vorsicht, denn er wusste, dass eine einzige falsche Bewegung verheerende Folgen haben würde.

Sein Mund war von einer Schutzmaske bedeckt, wie sie Chirurgen zur Operation anlegen, seine Hände steckten in Latexhandschuhen, von denen er mehrere übereinander trug. Er pulverisierte die richtige Anzahl Aspirintabletten mit einem Mörser, gab die entsprechende Menge Methylalkohol hinzu und rührte dann heftig, damit sich die Körnchen auflösten.

Sein Vorgehen hatte er sorgfältig geplant. Er hatte zwei Wochen gebraucht, um eine entlegene Tankstelle zu finden, bei der man nicht auf Gesichter achtete, an der es eine Methanolzapfsäule gab und wo man die notwendige Menge reines Aspirin zu einem günstigen Preis einkaufen konnte. In jedem Drugstore, Supermarkt oder Reisebedarfsladen, den er im Umkreis von dreißig Kilometern außerhalb von Seattle aufsuchte, kaufte er nur jeweils eine Packung. Den Dünger besorgte er sich weit außerhalb der Stadt. Für die Batterien fuhr er bis nach Bellingham im Norden und Olympia im Süden, und er erstand in jedem Laden für Autozubehör nur jeweils eine.

Bei den Einkäufen bezahlte er bar, damit man ihn nicht über seine Kreditkarte finden konnte. Und dann benötigte er nur noch genügend Geduld – Geduld, um den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, zu dem er sich in die Garage schleichen und ungestört arbeiten konnte.

Als das Aspirin sich weitgehend aufgelöst hatte, filterte er die Flüssigkeit so lange, bis sie ganz klar war. Dann gab er sie in eine Schale aus Hartglas und stellte sie beiseite.

Die in der Batterie enthaltene Schwefelsäure fing er in einem Becherglas auf. Er hätte sie zwar einfach im Laden besorgen können, doch er nahm lieber den zusätzlichen Arbeitsschritt in Kauf, um nicht aufzufallen.

In einer alten elektrischen Bratpfanne, die er eigens zu diesem Zweck bei einem Trödler erstanden hatte, erhitzte er Speiseöl auf hundertfünfzig Grad. Als der Alkohol in der Schale verdampft war, gab er die Acetylsäurekristalle, die sich dort gebildet hatten, zu der Schwefelsäure, stellte die Schale in das heiße Öl und wartete, bis sich die Kristalle aufgelöst hatten. Dann nahm er die Schale heraus und gab Natriumnitrat hinzu, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass nichts überschäumte.

Die Prozedur konnte üble Folgen haben, wenn man Fehler machte, doch im Prinzip war sie äußerst simpel. Er musste sich lediglich an das Rezept halten, das sich jeder besorgen konnte, der einen Internet-Zugang hatte. Es war zwar gespickt mit Verweisen darauf, dass es streng verboten sei, es anzuwenden, doch die musste man eben übersehen. Schließlich heiligte der Zweck die Mittel.

Nachdem die Substanz etwas abgekühlt war, stellte er sie in ein Gemisch aus Wasser und zerstoßenem Eis und sah zu, wie sich leuchtend gelbe Kristalle formten. Er bearbeitete die Kristalle wie vorgeschrieben und zerrieb sie dann, bis sie so fein waren wie Gesichtspuder. Zuletzt vermischte er den Puder mit der angegebenen Menge Wachs und Vaseline und gab die plastikartige Masse in einen Glasbehälter.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Die ganze Prozedur hatte etwa drei Stunden gedauert, wie jedes Mal, wenn er einen dieser Behälter füllte, die nun alle in einem verschlossenen Schrank ganz hinten in der Garage verstaut waren.

Er steckte die Bratpfanne, die Glasschale, das Becherglas, den Rührbesen und die restlichen Chemikalien in einen Müllsack, den er im Puget Sound versenken wollte. Danach säuberte er die Garage so gründlich, als sei sie ein Operationssaal.

Dieser Teil seiner Arbeit war beendet. Nun ging es darum, die Masse aus den Glasbehältern zu holen, sie in die Matchbeutel zu stecken, den Zünder daran zu befestigen, den er aus einer Glühbirne hergestellt hatte, und den Zeitzünder anzubringen, den er vor zwei Tagen auf dem Vordersitz seines Wagens gefunden hatte.

Es gab eine unausgesprochene Regel zwischen ihm und den Leuten, mit denen er in Kontakt gekommen war: Niemals etwas zugeben und niemanden mit hineinziehen. Dennoch hatte man ihm den Zeitzünder zur Verfügung gestellt – vielleicht, um ihm zu zeigen, dass man mit seiner Arbeit zufrieden war.

Schließlich verstaute er das Produkt seiner Arbeit in seinem Fahrzeug, legte eine Decke darüber, ging ins Haus und setzte sich in seinen Sessel vor dem Fernseher, als habe er sich dort schon den ganzen Abend aufgehalten. Wie immer, wenn er am nächsten Tag arbeitete, sah er sich die Nachrichten an und ging dann zu Bett.

Doch er schlief nicht. Er wartete, bis die Atemzüge neben ihm ruhig und regelmäßig geworden waren. Kurz vor Mitternacht stand er auf, zog sich lautlos an und ging aus dem Haus.

Es war kalt und feucht draußen, wie häufig im Februar. Er stieg in sein Auto, schaltete in den Leerlauf und ließ den Wagen von der Auffahrt auf die Straße rollen. Erst dann startete er den Motor. In den letzten Wochen hatte er mehrere Probefahrten gemacht. Er hatte unterschiedliche Routen zu seinem Ziel ausprobiert, die Zeit genommen und den Verkehr beobachtet, bis er zu einer Einschätzung gelangt war. Nun schlug er den Weg ein, für den er sich entschieden hatte, um den Queen Anne Hill herum zum Denny Way, dann rechts ab auf die Boren Avenue und den First Hill hinauf. Auf der Spring Street kürzte er ab, indem er die Minor überquerte, dann bog er auf die Madison ein und parkte dort.

Um diese Zeit waren die Läden und Restaurants geschlossen, und niemand war in dieser Gegend unterwegs. Sie trug seit einigen Jahren durchaus berechtigt den Spitznamen »Pillenberg«, da sich hier die großen Kliniken von Seattle niedergelassen hatten. Vor einer Stunde hatte die Spätschicht begonnen; diesen Zeitpunkt hatte er natürlich mit Bedacht gewählt.

An der Madison Street, Ecke Boren Avenue, befand sich eine prachtvolle Villa aus der viktorianischen Zeit, umgeben von gepflegten Rasenflächen. Erleichtert stellte er fest, dass sich nichts rührte in dem Gebäude und nirgendwo ein Fenster erleuchtet war. Das Wachpersonal, das sich während der Öffnungszeiten auf dem Grundstück aufhielt, war nach Hause gegangen. Keine Nachtaufsicht hatte sich eingefunden, es gab also keine unvorhergesehenen Ereignisse, die seinen Plan hätten vereiteln können.

Beide Flügel des Tores in dem hohen schmiedeeisernen Zaun wurden leichtfertigerweise nachts nicht abgeschlossen, was er bereits erkundet hatte. Doch auch ein verschlossenes Tor hätte ihn nicht aufgehalten, nur die Durchführung seines Plans erschwert und ihn etwas mehr gefährdet.

Er stieg aus seinem Wagen und überprüfte, dass er nicht beobachtet wurde. Dann packte er die Matchbeutel mit der Plastikmasse und trat durch das Tor. Innerhalb des Zauns verbarg ihn eine hohe Lorbeerhecke, aber er verlor dennoch keine Zeit. Er eilte den Weg zu dem Kellereingang entlang, den er bei seinen Streifzügen entdeckt hatte, zog die Falltür auf, stieg die Betontreppe hinunter und platzierte die Beutel an der Stelle, an der sie ihre Wirkung am besten entfalten konnten. Dann überprüfte er noch einmal, ob der Zünder richtig angebracht war.

Zuletzt kontrollierte er, dass der Zeitzünder auf zwei eingestellt war und das kleine grüne Licht leuchtete, das bestätigte, dass es sich um zwei Uhr nachts handelte. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr davon.

Kapitel 2

Dana McAuliffe hätte man eher für eine Cheerleaderin von der Highschool als für eine erfolgreiche Juristin Ende dreißig halten können. Sie hatte üppiges honigblondes Haar, das weich um ihre Schultern schwang und an der Stirn zu einem fransigen Pony gekämmt war. Für ihre nussbraunen Augen benötigte sie nur einen Hauch Mascara, ihre Wangen waren von Natur aus rosig, und ihre Nase war mit Sommersprossen übersät und wurde nie gepudert. Hätte sie nicht ein graues Kostüm und Pumps getragen, hätte man durchaus erwarten können, dass sie die Beine in die Höhe warf und lautstark »go-team-go« schrie.

Doch sie lehnte sich stattdessen in ihren Sessel zurück und lächelte gelassen den nervösen Gynäkologen an, der ihr am Schreibtisch gegenübersaß.

»Sie können ganz beruhigt sein«, erklärte sie. »Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte: Ein solcher Fall kommt äußerst selten vor Gericht. Und nach Durchsicht Ihrer Unterlagen bin ich der Ansicht, dass wir selbst dann ziemlich gute Chancen hätten.«

Dr. Joseph Heradia stand der Schweiß auf der Stirn, obwohl es der erste Dienstag im Februar war, als er sich in Danas Büro einfand, in dem es aufgrund der veralteten Heizung selten mehr als zwanzig Grad hatte.

»Sie müssen wissen, dass ich noch nie verklagt worden bin«, sagte er unglücklich. »In zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal. Es gibt wahrscheinlich Leute, die sagen würden, ich hätte bloß Glück gehabt. Aber ich habe in mich hineingehorcht, und ich habe mich nach bestem Wissen und Gewissen für diese armen Menschen eingesetzt.«

»Das weiß ich«, versicherte ihm Dana. »Aber ich verstehe auch deren Reaktion. Und ich glaube, wenn sie sich beruhigt haben, werden sie merken, dass sie Ihnen nicht die Schuld geben können.«

»Ich habe ihnen gleich zu Anfang gesagt, dass man bei einer künstlichen Befruchtung für nichts garantieren kann«, betonte er. »Das stelle ich immer vorab klar. Manchmal kann man Mutter Natur überlisten, doch es gelingt nicht immer.« Er wirkte hilflos.

Dana seufzte. »Die Jensens wünschten sich wahrscheinlich mehr als alles andere auf der Welt ein Kind, und Sie waren ihre letzte Hoffnung. Hoffnung aufzugeben, das kann sehr schwer sein.«

Der Gynäkologe nickte. »Ich habe ihnen gesagt, dass sie eine Adoption in Erwägung ziehen sollen.«

Die Welt war sonderbar, dachte Dana. Da gab es Menschen, die sich Kinder wünschten und keine haben konnten, und andere hatten Kinder und wollten sie nicht. Sie hatte Heradia die Wahrheit gesagt, wie sie es bei all ihren Mandanten tat. Es war ein Fall ohne Hand und Fuß.

»Vielleicht überlegen sie sich das«, bemerkte sie.

Der kleine untersetzte Sohn guatemaltekischer Einwanderer schien in sich zusammenzusinken. »Sie tun mir nur so Leid«, sagte er.

Er ist ein anständiger Bursche, dachte Dana, wie schon häufig. »Ich werde mal mit ihrem Anwalt reden«, schlug sie vor, ohne zu erwähnen, dass dieser gegen eine entsprechende Summe jeden Fall annehmen würde. »Vielleicht sehen sie ein, dass hier niemand Schuld hat – weder Sie, weil Sie keine Wunder bewirken können, noch die Jensens selbst, weil sie keine Kinder bekommen. Dann gelingt es uns vielleicht, das Ganze vom Tisch zu bekommen.«

»Da wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte er erleichtert, weil er das Gefühl hatte, sich mit seinem Problem an die richtige Person gewandt zu haben. »Und vielen Dank auch, dass Sie mich so kurzfristig empfangen haben.«

Dana lächelte. »Keine Ursache.«

Heradia erhob sich. »Ich würde Sie wirklich gern zum Lunch einladen oder so«, sagte er, »aber ich muss zurück in die Klinik. Können wir das bei Gelegenheit nachholen?«

»Na klar.«

Dana begleitete ihn zum Ausgang und nickte ihm an der Tür noch einmal aufmunternd zu.

Als sich die schwere Eichentür hinter ihm geschlossen hatte, beugte sich Angeline Wilder, Rezeptionistin der Anwaltskanzlei Cotter, Boland und Grace, über ihren Tisch. »Ist das nicht einer der Abtreibungsärzte vom Hill House?«, raunte sie. »Ach ja?«, antwortete Dana ausdruckslos. »Ich dachte, er sei Gynäkologe.«

»Wäre beides möglich«, gab Angeline zu. »Aber irgendwas in der Art.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, erkundigte sich Dana. »Tragen die Ansteckschilder, oder kennen Sie sie alle persönlich?«

»Meine Güte, nein«, antwortete Angeline. »Kürzlich kam ein Beitrag über die Klinik in den Nachrichten. Da haben sie berichtet, wie viele Abtreibungen die jährlich durchführen, und er war einer von den Ärzten, die sie gezeigt haben.«

»Aha.«

»Ist er etwa ein Mandant von uns?«

»Vielleicht«, sagte Dana. »Sie sollten also lieber ganz höflich zu ihm sein, falls er noch mal kommt. Man weiß nie, ob er nicht im nächsten Moment eine Kürette zückt.«

»Was ist denn das?«, fragte die Einundzwanzigjährige.

»Das muss man nur wissen, wenn man schwanger ist«, erwiderte Dana.

Die junge Frau errötete heftig, was bei ihren roten Haaren recht sonderbar aussah. »Na, also das bin ich jedenfalls nicht. Ich bin ja nicht mal verheiratet.«

»Dann brauchen Sie auch nicht mehr darüber nachzudenken.«

Die Anwältin ging zu ihrem Büro zurück und schüttelte den Kopf. Joseph Heradia war seit zwölf Jahren ihr Gynäkologe, und sie konnte sich keinen gütigeren, liebenswürdigeren, achtbareren Mann vorstellen.

Sie dachte an das Paar mit dem Kinderwunsch. Auch das mochten anständige Leute sein, die eben einfach verzweifelt waren. Und wer verzweifelt war, verhielt sich manchmal unberechenbar. Sie schlug in ihrem Rolodex deren Telefonnummer nach und griff gerade nach dem Hörer, als die Gegensprechanlage summte.

»Ja, was gibt's, Angeline?«

»Ms Purcell ist hier«, meldete sich die junge Frau. »Sie meint, es sei schon halb zwei, und entschuldigt sich, weil sie sich verspätet hat.«

»Sagen Sie ihr, ich komme sofort runter.«

Dana und Judith Purcell trafen sich zum Mittagessen, seit man sie zu Beginn der zweiten Klasse in der Schule zusammengesetzt hatte. Früher hatte dieses Ereignis täglich stattgefunden; doch seit sie beide in Seattle arbeiteten, trafen sie sich meist ein Mal in der Woche. Die beiden waren schon so lange eng befreundet und kannten sich so gut, dass sie kaum etwas voreinander verbergen konnten.

»Du hast den Auftrag nicht gekriegt, wie?«, fragte Dana, als sie sich an ihrem gewohnten Fenstertisch im »Al Boccolino«, ihrem bevorzugten Lunch-Treffpunkt, niedergelassen hatten.

»Nein«, bestätigte Judith. »Das Konzept fanden sie toll, aber den Preis nicht. Sie wären wohl eingestiegen, wenn ich runtergegangen wäre, aber ich hatte es schon ganz knapp kalkuliert.«

Judith war eine begabte Bildhauerin, die aber noch keinen Namen hatte. Sie hatte sich bei einer Ausschreibung für die Gestaltung der Eingangshalle des neuesten Bürohauses am Hafen beworben und dafür eine Skulptur entworfen, die aus Glas, Stahl und Keramik bestand und graue Wale darstellte. Bei ihrer Kalkulation hätte sie für achtzehn Monate ihre Grundkosten decken, aber nichts beiseite legen können. Als Judith noch verheiratet war, hatte sie ihren kreativen Impulsen nachgeben können, ohne sich um Geld kümmern zu müssen. Doch ihr erster Mann war überraschend an einem Herzinfarkt gestorben, und von ihrem zweiten ließ sie sich nach recht kurzer Zeit scheiden. Nun musste sie selbst den Lebensunterhalt für sich und ihren zwölfjährigen Sohn Andy verdienen, und mit der Kunst schien das schwer machbar zu sein.

»Das tut mir aber Leid«, sagte Dana. »Ich dachte, den hättest du in der Tasche.«

»Tja, das dachte ich auch«, sagte Judith und zuckte die Achseln. »Aber ich bin einfach selbst schuld. Statt einen anständigen Beruf zu erlernen wie du, hab ich eben geglaubt, ich könnte mich von Männern ernähren lassen.«

Judith und Dana waren nicht nur äußerlich sehr gegensätzlich –Judith war klein und dunkelhaarig, Dana hochgewachsen und blond –, sie unterschieden sich auch charakterlich in einem wesentlichen Punkt. Judith war großgezogen worden mit der Vorstellung, dass der Mann an ihrer Seite ihre Persönlichkeit ausmache, Dana hingegen hatte man beigebracht, auf eigenen Füßen zu stehen.

»Ich finde immer noch, dass es eine gute Idee wäre, eine Galerie aufzumachen«, sagte Dana. Seit zwei Jahren bemühte sie sich, der Freundin finanziell auf die Beine zu helfen. Judith konnte sich immer einmal wieder Geld von ihrer Mutter borgen, damit sie etwas zu essen hatten, und Dana hatte ihr mehrere Bilder abgekauft und dafür gesorgt, dass die Miete bezahlt werden konnte. Doch so konnte es nicht weitergehen.

Seit einiger Zeit hatte Dana die Vorstellung von einer Galerie, die sie mitfinanzieren würde, ohne an der Organisation beteiligt zu sein, da sie von Kunst so gut wie nichts verstand. »Das wäre mein Traum«, erwiderte Judith. »Aber woher soll ich das Kapital nehmen? Und ich bezweifle, dass irgendjemand bereit wäre, mit mir so ein Wagnis einzugehen.«

»Wer weiß«, sagte Dana, als die Pasta serviert wurde. »Vielleicht hat das Schicksal ja ein Einsehen.«

»Das wäre echt schön«, sagte Judith und seufzte.

Kapitel 3

Den Sommer mochte Joshua Clune am liebsten. Dann war es nicht mehr kalt, die Nächte wurden mild, und es gab viele gute Plätze, an denen man schlafen konnte. Und wenn die Touristen kamen, gab es auch mehr Geld. Mühsam war die Zeit von Oktober bis April, weil die Plätze unter den Fußgängerbrücken und im Busbahnhof dann oft besetzt und die Missionen überlaufen waren.

Im Sommer tat ihm auch die große Narbe nicht so weh, die von seiner Schläfe zum Kinn verlief. Er hoffte, dass sie nicht so sehr auffiel unter seinem langen braunen Haar und den rötlichen Bartstoppeln, aber er selbst konnte sie nicht vergessen – sie würde ihn immer daran erinnern, wie vor Jahren ein Auto in die Toreinfahrt geschlittert war, in der er schlief.

Doch im Winter litt Joshua.

Er kam aus Wisconsin und war nach Westen gewandert. Er war zu Fuß gegangen oder hatte sich mitnehmen lassen, wenn jemand anhielt. In Seattle, am Ende des Kontinents, angelangt, war er geblieben. Jemand hatte ihm geraten, weiter nach Süden zu ziehen, nach Kalifornien, wo die Leute reich waren und das Wetter schön und wo er sich in der Sonne bräunen lassen und ein bisschen Fleisch auf die Knochen bekommen konnte. Doch er war des Reisens müde, und Seattle sagte ihm zu.

Er lernte Menschen wie Big Dug kennen, einen riesigen Burschen mit schwarzem Vollbart, der ihm die Kniffe und Tricks erklärte und ihm den Einstieg erleichterte. Big Dug misstraute den Obdachlosenheimen der Stadt. Er meinte, man höre zu viele üble Geschichten, was da alles passieren würde, weil sie zu wenig Aufpasser hätten. Mit Hilfe von Big Dug legte sich Joshua einen geräumigen Karton zu, der zuvor einen Schreibtisch enthalten hatte. Dann suchte er sich auf einer Müllkippe eine Plastikplane, die er auseinander schnitt. Eine Hälfte legte er unter den Karton, damit er von unten trocken blieb, die andere benutzte er als Dach, damit Wind, Regen und Kälte nicht in seine Behausung drangen. Für ein paar Dollar erstand er schließlich bei einem Trödler eine Decke.

»Ein behagliches Zuhause«, erzählte er jedem mit frohem Grinsen.

Big Dug zeigte ihm, wo es Toiletten gab und wo er baden konnte, wenn ihm der Sinn danach stand, und er zeigte ihm Hill House. Sie gingen die Madison Street bis zur Boren Avenue entlang, und der große Mann wies auf eine prachtvolle graue Villa an der Ecke.

»Ist eine Art Klinik, aber nicht nur das«, erklärte Big Dug. »Am Hafen stellen die eine Suppenküche auf, da gibt's jeden Abend was Warmes zu essen, und zwar was Gutes, keine Pampe. Wenn du's mit Drogen hast, helfen sie dir, davon runterzukommen. Wenn du arbeiten willst, helfen sie dir bei der Jobsuche. Und wenn du krank bist, kümmern sie sich um dich. Und es kostet dich nix, wenn du keine Kohle hast. Bloß dass wir da schlafen, das wollen sie nicht. Das ist 'ne feste Regel, die kennen wir alle, und wir halten uns dran.«

»Warum ist das die Regel?«

»Hat wohl was mit Versicherung zu tun«, sagte Big Dug. »Für den Fall, dass es 'n Feuer gibt oder so und einem was passiert.«

»Kann ich deshalb nicht da rein?«, fragte Joshua und sah einem elegant gekleideten Paar nach, das durch das Tor schritt. »Weil ich 'n Feuer machen könnte?«

»Na klar kannst du da rein. Gleich morgens, wenn du willst, und den ganzen Tag. Du kannst bloß nicht dort schlafen, weil sie sauer werden, wenn sie's merken, und dann wäre es für uns alle zappenduster. Verstehst du?«

Joshua zog mit der Schuhspitze einen Riss im Pflaster nach. »Hm«, antwortete er.

»Dann ist gut«, sagte Big Dug.

Als Joshua sechs Jahre alt war, hatten Ärzte in Wisconsin ihn für geistig zurückgeblieben erklärt, woraufhin seine Mutter, die noch vier andere Kinder von drei verschiedenen Männern großziehen musste, ihn dem Staat überantwortete.

»Ich hab's schon schwer genug«, sagte sie. »Hab keine Zeit für Trottel.«

Der Staat zog Joshua auf, so gut es ging. Man bemühte sich, einen anständigen Bürger und guten Christen aus ihm zu machen, brachte ihm bei, sich alleine über Wasser zu halten, und entließ ihn mit einundzwanzig Jahren ins Leben, wie es der Gesetzgeber vorschrieb. Er war selbstständig und konnte einfache Anweisungen ausführen.

Er arbeitete als Tellerwäscher in Restaurants oder wischte in Bürogebäuden die Böden und reinigte die Toiletten. Doch wenn ihn keiner dazu anhielt, vergaß er manchmal, zur Arbeit zu gehen, und dann regte sich sein Chef auf und feuerte ihn, und Joshua musste sich nach einem anderen Restaurant oder Bürohaus umschauen. Wenn er nicht genug Geld für eine Unterkunft hatte, schlief er auf der Straße.

Eines Tages verließ er Wisconsin, ohne es zu merken. Er stieg einfach zu einem Mann in den Wagen, der ihm anbot, ihn mitzunehmen, und landete in Minnesota. Er merkte den Unterschied gar nicht. Schließlich gab es auch in Minnesota Restaurants und Bürohäuser.

Als er nach Seattle kam, war Joshua zweiunddreißig Jahre alt. Er hatte noch nie im Leben ein für ihn liebevoll zubereitetes Essen verspeist, in einem weichen Bett geschlafen oder den warmen Körper eines anderen Menschen gespürt. Aber er konnte Recht und Unrecht unterscheiden, und er wusste, dass er nicht im Hill House schlafen durfte.

Kapitel 4

Auf dem kleinen Messingschild an der Tür stand der offizielle Name: »Familienzentrum Seattle«. Doch seit fast fünfzig Jahren kannte man die Institution in der Stadt nur als »Hill House«. Die dreistöckige prachtvolle Villa aus viktorianischer Zeit hatte als einziges der wenigen Gebäude dieser Art auf dem First Hill den Vormarsch des Fortschritts überlebt. Die meisten anderen waren den Forderungen der modernen Medizin nach funktionaleren Gebäuden aus Stahl und Beton zum Opfer gefallen.

Anfang der fünfziger Jahre war das Gebäude ziemlich heruntergekommen. Ein Wohltäter, der anonym bleiben wollte, erwarb es, ließ die verschnörkelte Fassade wieder herrichten und das Dach neu decken. Rasen wurde gesät, kleine Steinbänke im vorderen Garten aufgestellt und im hinteren ein Spielplatz eingerichtet, und das Innere das Hauses wurde zu einer modernen Klinik umgestaltet.

Hill House befand sich an der Ecke von Boren Avenue und Madison Street. Ein hoher schmiedeeiserner Zaun und dichte Lorbeerbüsche, die ein halbes Jahrhundert alt waren, schützten es vor neugierigen Blicken. Zwar hatten weder die Menschen, die hier arbeiteten, noch diejenigen, die es aufsuchten, die Absicht, sich zu verbergen. Doch sie hatten die dichte Hecke schätzen gelernt, die für einen gewissen Abstand zu den Demonstranten sorgte, von denen sie auf dem Gehsteig regelmäßig angepöbelt wurden.

Vor Jahren schon hatte sich diese Horde eingefunden. Sie drängelten und schubsten, schrien und lärmten und versuchten, Menschen, die ins Hill House gingen, einzuschüchtern oder sogar zu bedrohen. Im Laufe der Zeit war die Gruppe kleiner geworden, und neue Gesetze verhinderten einige ihrer extremeren Aktionen. Doch an ihren Zielen hatte sich nichts geändert.

Im Hill House wurden umfassende Beratungen, gynäkologische Untersuchungen, Geburtshilfe und Kinderbetreuung angeboten. Doch die Marschierer – wie die Leute auf dem Gehsteig von den Angestellten genannt wurden – interessierten sich nur für die ihrer Ansicht nach zutiefst unmoralische Praxis der Schwangerschaftsabbrüche. Seit fast zwei Jahrzehnten wurden die Mitarbeiter des Hill House wechselweise angebetet und verdammt, angefleht und geschmäht.

»Ich selbst würde niemals einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, und ich beteilige mich auch nicht daran«, sagte Shelly Weld, eine Schwester aus der Klinik, eines Tages zu den Marschierern. »Aber ich würde mir niemals anmaßen, einem anderen Menschen vorzuschreiben, was er tun soll.«

Woraufhin sie lediglich zur Antwort erhielt: »Wenn Sie weiter im Haus des Teufels weilen, wird Ihre Seele bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren.«

Insgesamt waren neunzig Menschen in dem Gebäude tätig, das eine Fläche von etwas mehr als achthundert Quadratmetern umfasste – vier Ärzte, die auf Gynäkologie und Geburtshilfe spezialisiert waren, drei Familienberater, zwei Radiologen, zwei Anästhesisten, ein Apotheker mit seinem Assistenten, neun Krankenschwestern, elf Schwesternhelferinnen und sieben Laboranten. Ferner waren dort zwei Sozialarbeiter, drei Psychiater, acht Psychologen, sechzehn Kindergärtnerinnen, drei Rezeptionisten, ein Verwalter mit zwei Assistenten, zwei Sekretärinnen, ein kaufmännischer Leiter, zwei Buchhalter, zwei Hausmeister, zwei Wachleute und sechs Reinigungskräfte im Einsatz.

Tagtäglich kamen überdies mindestens dreihundert Leute in das Gebäude, um die Dienste des Hill House in Anspruch zu nehmen.

Die Verwaltung war im Parterre unweit des Eingangs untergebracht, Labors, Apotheke und Beratungsräume befanden sich im hinteren Teil des Hauses. Die mit modernster Technik ausgestatteten Behandlungsräume nahmen die erste Etage ein.

Und jeden Morgen wurden über siebzig Kinder, die zwischen zwei Monaten und fünf Jahren alt waren, in die Kindertagesstätte im zweiten Stock gebracht. Meist handelte es sich dabei um den Nachwuchs des Personals aus der Klinik selbst und aus den anderen Krankenhäusern in der Gegend. Die Eltern waren stolz, dass ihre Kinder die beste Betreuung der Stadt bekamen, und wussten, dass sie froh darüber sein konnten. Auf der Warteliste standen grundsätzlich mindestens fünfzig weitere Namen.

Um zwei Uhr mittags am ersten Dienstag im Februar war der Himmel bedeckt, und es hatte nicht mehr als zehn Grad. Zankende Krähen lärmten in der Lorbeerhecke, und aus einer Bäckerei in der Nähe wehte der Duft von Zimt heran.

Sechs Paare und fünf Frauen hatten sich zu einer Beratung im Haus eingefunden. Sieben Frauen ließen Untersuchungen vornehmen. Drei Mütter hielten sich mit ihren Neugeborenen und Familienmitgliedern in Zimmern im ersten Stock auf. Eine Frau wurde für einen Schwangerschaftsabbruch vorbereitet, zwei Frauen lagen in den Wehen, ein Vater und eine Großmutter liefen unruhig in der Entbindungsstation auf und ab, und neunzehn Personen warteten in der Eingangshalle auf ihren Termin. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa zweihundertdreißig Menschen im Hill House. Frances Stocker, eine patente sechzigjährige Psychologin, hatte um diese Uhrzeit in ihrem Zimmer im ersten Stock bereits Gespräche mit Eltern eines autistischen Jungen, einer Frau, die erwog, sich scheiden zu lassen, und einem fünfzehnjährigen schwangeren Mädchen geführt. Ihre nächste Klientin war Grace Pauley, eine zarte nervöse Frau, die endlich professionelle Hilfe suchte, weil ihr Mann sie seit Jahren misshandelte. Wenn Frances manchmal an ihrem Beruf zu zweifeln begann, wurde ihr nach einem Tag wie diesem immer wieder bewusst, wie wichtig ihre Arbeit war und wie leer ihr Leben ohne ihren Beruf sein würde.

In einem Behandlungsraum auf demselben Flur überwachte die Röntgenärztin Claire Callahan den Ultraschall bei einer schwangeren Frau, bei der wohl ein Kaiserschnitt vonnöten sein würde, da sich das Kind in Steißlage befand. Claire, selbst allein erziehende Mutter, hatte noch kurz zuvor mit ihrer dreijährigen Tochter Chelsea in der Kindertagesstätte zu Mittag gegessen, wie sie es jeden Tag zu tun pflegte.

Im ersten Stock hatte sich der Geburtshelfer Jeffrey Korba, ein großer Mann, dem mit seinen zweiundvierzig Jahren zusehends die Haare ausgingen, in sein Büro zurückgezogen, wo er ein Sandwich mit Huhn verspeiste, es mit Mineralwasser hinunterspülte und dabei überlegte, ob ihm vor seiner zweiten Geburt an diesem Tag wohl noch genügend Zeit blieb, seine Frau anzurufen. Sie hatten sich morgens wegen einer Waschmaschine gestritten, und das tat ihm nun furchtbar Leid.

In einem der vier Kreißsäle überwachte Shelly Weld die Wehen von Denise Romanidis und kam zu dem Schluss, dass sie Korba noch fünf Minuten Zeit zum Essen lassen konnte, bevor er sich um die siebzehnten Drillinge des Hill House kümmern musste.

In einem anderen Raum oben hatte Betsy Toth die Patientin Joyce O'Mara gerade für einen Abbruch vorbereitet und wartete nun auf Joseph Heradia, der eine Verabredung außer Haus gehabt hatte. Die einundzwanzigjährige Schwesternhelferin dachte, wie häufig in den letzten zwei Wochen, mit freudiger Erregung darüber nach, ob sie vielleicht schwanger war, und hoffte, dass ihr Verlobter Andy über das verfrühte Ereignis nicht ungehalten sein würde. In einigen Monaten wollten sie heiraten.

In der zweiten Etage, in der man erst unlängst neue Tapeten mit einem fröhlichen Muster aus bunten Streifen und Teddybären angebracht hatte, war es Ruth Zelkin, der lebhaften dreiundfünfzigjährigen Leiterin der Kindertagesstätte, endlich gelungen, auch noch das letzte Kind, den strohblonden Jason Holman, zum Mittagsschlaf zu überreden, und nun freute sie sich auf ihre redlich verdiente Kaffeepause.

Auf der anderen Seite des Flurs war Brenda Kiley damit beschäftigt, die niedlichen vier Monate alten Gamble-Zwillinge zu füttern, Christopher und Jennifer. Die beiden waren zwar keine eineiigen Zwillinge, hatten aber dennoch beide dieselben hellblauen Augen und blonden Löckchen und dasselbe strahlende Lächeln.

Jesse Montero, der zweiundvierzigjährige Hausmeister des Hill House, hatte gerade im Werkzeugschuppen hinter dem Gebäude mehrere Kisten mit Glühbirnen verstaut. Er hatte soeben ein paar Mal verbotenerweise an einer Zigarette gezogen und dabei darauf geachtet, dass ihn niemand sah. Jetzt war er dabei, das Vorhängeschloss an der Tür des Schuppens wieder anzubringen.

Carl Gentry, einer der Wachleute, stand auf seinem Posten auf der Veranda. Er war sechsundvierzig und vor kurzem geschieden worden, und er dachte an die Frau, die er am Vorabend kennen gelernt hatte und von der er sich erst heute Morgen nach dem Frühstück verabschiedet hatte. Er hoffte, dass ihr die Nacht so gut gefallen hatte wie ihm, und überlegte, wann er sie wohl wieder anrufen konnte.

Was dann passierte, geschah so unvermittelt, dass hinterher jeder Augenzeuge etwas anderes berichtete. Eine oder auch mehrere heftige Erschütterungen ließen die Erde erzittern. Wände und Fenster benachbarter Gebäude zersplitterten. Hill House schien zunächst zu erbeben und brach dann in sich zusammen. Einige Zeugen berichteten auch, es sei sofort zusammengebrochen. Teile der Wände flogen in alle Richtungen. Andere Augenzeugen sagten, das Haus sei bei der Explosion zunächst nach oben gestiegen und dann in sich zusammengefallen. Gleich danach begann es an mehreren Stellen zu brennen.

In einem Operationssaal des Swedish Hospital zwei Straßen weiter östlich hörte Janet Holman einen Knall und dachte zunächst, irgendwo sei etwas Schweres heruntergefallen. Dann schwankte der Boden unter ihren Füßen.

»Was war denn das?«, fragte die Orthopädin durch ihren Mundschutz. »Ein Erdbeben?«

»So hat es sich angefühlt«, antwortete eine der Schwestern.

»Übernehmen Sie bitte mal«, wies Janet den Assistenzarzt an. »Ich möchte nur nachsehen, ob mit Jason alles in Ordnung ist.«

Im Madison Medical Tower gegenüber zersprang die Glasscheibe in Helen Gambles Kabine, und es regnete Scherben auf den Arbeitsplatz der Kassiererin. Obwohl sie aus mehreren Schnitten am Hals und am Kopf blutete, sprang Helen auf, um sich zu versichern, dass den Zwillingen im Hill House nichts geschehen war. Als sie durch die Reste der Scheibe nach draußen blickte, bot sich ihr ein Anblick des Grauens.

»Was war denn das?«, fragte Judith Purcell, die gerade im Begriff war, sich ein Stück Brot in den Mund zu stecken. »Um diese Jahreszeit gibt es doch keine Gewitter.«

Das Restaurant war etwa anderthalb Kilometer vom Hill House entfernt, doch jeder hatte das dumpfe Grollen gehört und die Erschütterung gespürt.

Dana McAuliffe dachte an die Eisenbahnstrecke am Hafen. »Vielleicht ein Zugunglück«, mutmaßte sie und hoffte, dass niemand verletzt worden war.

Die Anwältin konnte in diesem Augenblick noch nicht ahnen, was geschehen war und welche Auswirkungen dieses Ereignis auf ihr eigenes Leben haben würde.

Das hundert Jahre alte Gebäude hatte sich binnen Sekunden in einen brennenden Schutthaufen verwandelt.

Frances Stocker wurde durch die Wucht der Explosion zu Boden geschleudert. Ihr schwerer Metalltisch stürzte auf sie und zertrümmerte ihre Beine, rettete ihr aber das Leben.

Ihre Klientin Grace Pauley hatte weniger Glück. Sie flog zur Seite wie eine Lumpenpuppe, und als sie zu Boden fiel, war ihr Kopf beinahe abgerissen.

Das Behandlungszimmer, in dem Claire Callahan den Ultraschall überwachte, existierte nicht mehr, ebenso wenig wie Dr. Callahan selbst.

Jeffrey Korba hatte keine rechte Seite mehr. Er lag in einer Blutlache und wurde beinahe leblos von Sanitätern aus den Trümmern geborgen.

Weder Shelly Weld noch Denise Romanidis konnten von Kollegen identifiziert werden. Ihre Leichen mussten zusammengestückelt werden, und man konnte sie nur zuordnen, nachdem man alle anderen Opfer identifiziert hatte.

Der zehn Wochen alte Fötus, der bei Joyce O'Mara abgetrieben werden sollte, überlebte nicht, und auch Joyce' Leben hing am seidenen Faden. Betsy Toth war nach einer Wirbelsäulenfraktur von der Hüfte abwärts gelähmt.

Unter diesen Umständen war es erstaunlich, dass Ruth Zelkin durch die Explosion lediglich erblindete. Sie verlor zehn ihrer Mitarbeiter und sechsundfünfzig der ihr anvertrauten Kinder – auch den zweijährigen Jason Holman.

Brenda Kiley rettete den Gamble-Zwillingen das Leben, indem sie sich über sie warf und so die Wucht der Explosion abfing. Doch leider konnte sich niemand über sie werfen.

Jesse Montero kam zunächst mit Schnitten im Gesicht und an den Armen davon, die durch umherfliegende Glassplitter verursacht wurden, zog sich jedoch später schwere Verbrennungen an Händen und Armen zu, als er versuchte, noch lebende Opfer aus den Trümmern des Hauses zu retten.

Carl Gentry, der fünfundneunzig Kilo wog, wurde von der Veranda geschleudert wie ein Mehlsack und prallte mit dem Kopf auf eine der Steinbänke. Er war noch bei Bewusstsein, konnte sich aber nicht mehr rühren, da sein Genick gebrochen war und er schwere Schädelfrakturen hatte.

Joseph Heradia kehrte nur wenige Sekunden nach der Explosion von dem Treffen mit seiner Anwältin zum Hill House zurück. »O mein Gott«, rief er. »Was ist hier passiert?«

Auf dem Grundstück lagen über zweihundert Erwachsene und Kinder, die verletzt waren, an ihren Verletzungen starben oder schon tot waren. Später stellte man fest, dass ein paar wundersamerweise überlebt hatten, auch die dreijährige Chelsea Callahan.

Feuerwehr und Sanitäter trafen Minuten später ein, gefolgt von der Polizei. Ärzte und Schwestern und andere Mitarbeiter aus den umliegenden Krankenhäusern waren bereits im Einsatz. Man versuchte die Verletzten aus dem brennenden Gebäude zu bergen und transportierte sie je nach Schwere ihrer Verletzungen in entsprechende Kliniken. Später verlautete von offizieller Seite, dass es dem raschen Einsatz der Hilfskräfte zu verdanken war, dass doch noch einige Menschen überlebten.

Carl Gentry gehörte zu den Ersten, die auf einer Trage abtransportiert wurden. Trotz seines schlimmen Zustands ging ihm etwas durch den Kopf, eine Beobachtung, die ihm erst jetzt wichtig erschien. Er arbeitete seit acht Jahren im Hill House, und dieser erste Dienstag des Februar war der erste Tag, an dem die Marschierer sich nicht draußen auf dem Gehsteig versammelt hatten.

Kapitel 5

Der Bombenanschlag auf Hill House erschütterte Seattle in seinen Grundfesten. Nicht nur der Boden geriet ins Wanken, sondern auch die innere Ruhe der Menschen, die in dieser Stadt lebten.

In irgendeiner Form waren die meisten Einwohner irgendwann in ihrem Leben mit Hill House in Berührung gekommen. Wenn sie nicht selbst dort arbeiteten oder behandelt worden waren, dann kannten sie vielleicht jemanden, bei dem dies der Fall war, oder hatten Kontakt zu einem der Kinder, die dort so liebevoll betreut worden waren. Oder die Verbindung war durch eine der externen Initiativen des Zentrums entstanden: die Neonatal- und Kinderpflegekliniken, Betreuung von Obdachlosen, Drogenabhängigen, Jugendlichen in Not.

Als die Nachricht die Runde machte, reagierten die Menschen fassungslos und ungläubig und konnten nicht begreifen, was sie hörten.

»Wie kann so etwas geschehen?«, fragten sie sich. »Und warum?«

Reporter von den beiden Tageszeitungen der Stadt rasten zum Ort des Geschehens. Kameraleute von den Fernsehsendern schalteten ihre Minicams bereits ein, als sie noch mehrere Straßenzüge entfernt waren. Ihnen bot sich ein Anblick totaler Verwüstung. Zwischen den Rettungsfahrzeugen hindurch wurden die Kameras auf Leichenteile gerichtet, die zwischen qualmenden Resten von Mobiliar und medizinischen Geräten lagen. Die Mikrofone hielten das grauenvolle Stöhnen der Sterbenden, das Wimmern von Kindern und die Schreie von Erwachsenen fest. Über allem hing der entsetzliche Geruch von verbranntem Fleisch. Das alte Gebäude war dem Erdboden gleichgemacht.

»Binnen Minuten«, gab der Einsatzleiter der Feuerwehr mit rauer Stimme bekannt. »Wir konnten nichts mehr tun, außer die Verletzten und Toten zu bergen.«

»Wie viele Opfer hat es Ihrer Einschätzung nach gegeben?«, wollte ein Reporter wissen.

Der Einsatzleiter seufzte. »Wir wissen es noch nicht«, sagte er. »Wir müssen zunächst die ... Teile zuordnen. Es kann Tage oder sogar Wochen dauern, bis eine eindeutige Identifizierung möglich ist.«

Ein Fotograf von der Seattle Times schoss das Bild, das man später immer mit diesem Geschehnis in Verbindung bringen würde. Darauf war die dreißigjährige Janet Holman in ihrem Arztkittel zu sehen. Sie stand inmitten der Trümmer und hielt einen kleinen Arm in der Hand, der noch in einem blau gestreiften Ärmel steckte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck namenlosen Grauens und absoluter Fassungslosigkeit.

»Wir haben soeben eine Nachricht erhalten«, sagte Nachrichtensprecherin Joyce Taylor Minuten später im Fernsehen. »Im Hill House kam es zu einer schweren Explosion, deren Ursachen noch nicht bekannt sind. Bislang wissen wir nur, dass das Gebäude vollständig zerstört wurde und es zahlreiche Tote und Verletzte gibt.«

Auch Dana McAuliffe hatte einen persönlichen Bezug zum Hill House. Sie ging seit über zehn Jahren dorthin, wenn sie gynäkologische Betreuung brauchte, und hatte erst vor einem Monat dort ihre alljährliche Untersuchung machen lassen.

»Das gibt es doch einfach nicht«, rief sie aus, als sie nach ihrer Mittagspause in die Kanzlei zurückkehrte. »Und ich dachte, es sei ein Zugunglück gewesen.«

»Es stimmt aber«, versicherte ihr Angeline Wilder. »Ich hab es im Radio gehört. Irgendwie auch unheimlich, dass der Arzt gerade hier war.«

»Großer Gott, natürlich«, rief Dana erschrocken. »Er wollte dorthin zurück.«

Angeline schüttelte den Kopf. »Sie hätten diesen Bericht neulich nicht bringen sollen. Der war bestimmt daran schuld. Ich wette, da hat einer 'ne Bombe gelegt.«

»Ich will Erklärungen, und zwar sofort«, brüllte der Gouverneur von Washington in seinem Büro in Olympia etwa hundert Kilometer entfernt.

»Wir wissen noch gar nichts«, erwiderte sein Stabschef.

»So was will ich nicht hören«, lautete die Antwort. »Irgendjemand muss etwas wissen, die wollen bloß nicht reden. Ich bin der Gouverneur dieses Staates, und ich verlange Erklärungen, verdammt noch mal. Besorgen Sie mir gefälligst welche. Und solange es keine gibt, halten Sie mir die Medien vom Hals.«

»Sie müssen aber in Kürze ein Statement abgeben«, sagte sein persönlicher Berater.

»Das werd ich auch tun«, erwiderte der Gouverneur. »Deshalb sind Sie doch gleich unterwegs, nicht wahr? Ich beabsichtige, dieses Jahr wieder gewählt zu werden, und ich werde mich nicht zum Narren machen, indem ich jetzt etwas Falsches sage.«

Die Ermittler brauchten nicht lange, um die Ursache der Katastrophe zu finden. Als es der Feuerwehr gelungen war, den Brand zu löschen, machten sich die Sprengstoffspezialisten des King County sowie mehrere Einheiten des FBI ans Werk. Das Gelände war von der Polizei abgesperrt worden und wurde nun sorgfältig untersucht, wobei die Ermittler binnen kurzem auf Stofffetzen, Spuren von Dünger und Chemikalien und Teile eines kleinen Zeitzünders stießen.

»Ursache der Explosion war zweifellos eine Bombe«, erklärte der Leiter der Spezialeinheit. »Und wer sie platziert hat, kannte sich gut damit aus. Sie war auf maximale Wirkung angelegt.«

»Wird Ihnen diese Spur dabei helfen, den Dreckskerl zu schnappen?«, fragte jemand.

»Es ist zumindest ein Anhaltspunkt.«

Bei einer hastig einberufenen Pressekonferenz bemühte sich ein Sprecher des Bürgermeisters von Seattle, der bestürzten und besorgten Öffentlichkeit zu versichern, dass man alle Hebel in Bewegung setzen würde, um weiteren Anschlägen dieser Art vorzubeugen und rasch für eine Aufklärung des Verbrechens zu sorgen.

»Eines möchte ich betonen«, sagte er entschieden. »Hier handelt es sich nicht um einen Angriff auf ein einzelnes Gebäude, sondern auf die gesamte Stadt. Wir nehmen diesen Anschlag nicht auf die leichte Schulter und tun unser Möglichstes, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Was wissen Sie bislang?«, wollte ein Reporter vom Post-Intelligencer wissen.

»Das würde ich Ihnen gerne mitteilen«, lautete die Antwort, »doch die Ermittlung hat Vorrang. Es tut mir Leid, aber in diesem Fall können wir keine Informationen an die Öffentlichkeit geben, bevor ein Ergebnis vorliegt. Wir bitten um Ihr Verständnis.«

»Sie meinen, Sie melden sich dann wieder bei uns?«, fragte ein Reporter sarkastisch.

Der Sprecher zuckte die Achseln. »Lassen Sie uns nun der Opfer und ihrer Familien gedenken«, sagte er. »Die Trauer verlangt nach ihrem Recht. Wir wollen für diese Menschen beten und ihnen Trost spenden und uns einige Tage Zeit dafür lassen.«

»In Seattle im Bundesstaat Washington sind beim schlimmsten Terroranschlag in diesem Land seit Oklahoma City«, sagte Tom Brokaw in den Abendnachrichten auf NBC, »über zweihundert Menschen, darunter circa siebzig Kleinkinder, getötet oder schwer verletzt worden, als in einer Abtreibungsklinik eine Bombe explodierte.«

Kathi Goertzen, Sprecherin des Senders KOMO, äußerte: »Das Familienzentrum Seattle war weit mehr als nur eine Klinik für Schwangerschaftsabbrüche. Es war eine Institution, die über die Jahre Tausenden von Menschen geholfen hat. Sie bot Zuflucht und Unterstützung, die nun vielen von uns fehlen wird.«

»Die Coalition for Conservative Causes ist eine friedfertige und gesetzestreue Organisation, die Gewaltakte im Allgemeinen ablehnt«, verlas der Verbandsvorsitzende Roger Roark eine hastig aufgesetzte Stellungnahme. »Wir bedauern den Verlust von Menschenleben im Familienzentrum Seattle zutiefst. Auch sind wir nicht verantwortlich für Menschen, die einen heiligen Krieg führen, aus Überzeugung, dass Ungeborene ein Recht auf Leben haben. Dennoch ist es in solchen Kriegen immer wieder vorgekommen, dass Unschuldige ihr Leben zu Gunsten des größeren Ganzen opfern mussten.«

»Wir sind zutiefst erschüttert über die Zerstörung von Hill House und den Tod so vieler unschuldiger Menschen«, erklärte Priscilla Wales, Vorsitzende von FOCUS, einer Gemeinschaft, die sich für das Recht von Frauen auf Schwangerschaftsabbruch einsetzte, in einem Telefoninterview, das sie von ihrem Büro in San Francisco aus gab. »Wenn man jedoch das gegenwärtige politische Klima und die Kampagnen der CCC und anderer derartiger Organisationen in Betracht zieht, die der Öffentlichkeit vermitteln wollen, dass aus doppeltem Unrecht Recht werden kann, werden Sie verstehen, dass wir nicht sehr überrascht sind über einen derartigen Terrorakt. Eine Tat dieser Art war zu erwarten, im Grunde nur eine Frage der Zeit. Die Frage ist nun – wie lange wollen wir die bestehenden Zustände erhalten? Wie viele Menschenleben wird es noch kosten, bevor wir Politiker wählen, die sich in diesem Land für die Rechte von Frauen einsetzen?«

»So etwas geschieht, wenn unsere Gesetzgeber die Ermordung hilfloser Säuglinge tolerieren und auch ihre Mörder schützen«, erklärte die sanfte Prudence Chaffey, Pro-Life-Aktivistin und Mitbegründerin von AIM, einer Organisation, die Abtreibung als Mord betrachtete, in Houston. »Und solche Verzweiflungstaten werden sich wiederholen, bis die Menschen in diesem Land sich zusammentun und gegen jegliche Form des Tötens antreten.«

»Damit die Opfer des Anschlags möglichst rasch identifiziert werden können, wurde eine Hotline eingerichtet«, gab Jean Enersen, Fernsehjournalist bei KING, bekannt. »Die Polizei bittet um Ihre Unterstützung. Wer jemanden kennt, der sich zum Zeitpunkt des Anschlags im Hill House aufgehalten haben könnte, möchte sich bitte unter folgender Nummer melden.«

»Meine Mutter ist nicht nach Hause gekommen«, sagte die achtjährige Justine Pauley zu der Frau, die sich unter der Hotline-Nummer meldete. »Vielleicht ist sie heute im Hill House gewesen.«

»Wieso glaubst du das, Schätzchen?«, fragte die Telefonistin.

»Weil sie mir gesagt hat, ich solle mir keine Sorgen machen, falls sie nicht zu Hause ist, wenn ich von der Schule komme.«

»Kannst du sie mir beschreiben?«, fragte die Frau von der Hotline freundlich.

»Sie ist ganz dünn.«

»Wie alt ist sie?«

»Weiß ich nicht genau. Ziemlich alt, glaube ich.«

»Wie sieht sie aus? Welche Haarfarbe hat sie und welche Augenfarbe?«

»Braun«, antwortete Justine.

»Schätzchen, ist dein Papa zu Hause? Kann ich ihn mal sprechen?«

»Nein, der ist nicht da«, sagte das Mädchen. »Um den mache ich mir aber keine Sorgen, der kommt oft erst ganz spät nach Hause.«

»Bist du ganz alleine zu Hause?«

»Nein, nein«, versicherte ihr Justine. »Mein Bruder ist auch noch da.«

»Das ist gut«, sagte die Telefonistin erleichtert. »Wie alt ist er?«

»Sechs.«

Joshua Clune wollte nicht aus seinem Karton kommen. Big Dug redete auf ihn ein, doch sein Freund rührte sich nicht von der Stelle.

»Ich hab dich überall gesucht«, erklärte der bärtige Hüne.

»Weißt du schon das Neuste?«

»Nein«, murmelte Joshua.

»Jemand hat heute Nachmittag Hill House in die Luft gesprengt, und es ist völlig abgebrannt.«

Joshua schwieg.

»Ich hab gehört, dass fast alle tot sind.«

Immer noch Schweigen.

»Geht's dir schlechter?«, erkundigte sich Big Dug. Joshua hatte seit einer Woche eine schwere Erkältung. Gestern hatte er Blut gehustet, und Big Dug hatte ihn zu einem Arzt im Hill House gebracht, der ihn untersuchte und ihm sagte, er solle an diesem Tag wiederkommen. »Warst du heute bei dem Arzt, wie er's dir gesagt hat? Hat er dir noch Medizin gegeben?«

»Geh weg«, lautete die Antwort.

»Ich würd dir ja eine Suppe holen, aber ich weiß nicht, wo wir heute Abend was zu essen kriegen, und ich hab kein Geld.«

»Ich will keine Suppe.«

Big Dug kniete sich mühsam hin und spähte in den Karton. Joshua hatte sich in seine Decke gerollt wie ein Baby.

»He, was ist 'n los?«, fragte Big Dug. »Du zitterst ja.«

»Geh weg«, sagte Joshua erneut. »Ich will jetzt nicht mit dir reden. Ich hab nichts zu sagen. Ich will schlafen.«

»Na gut«, sagte der große Mann seufzend und rappelte sich wieder auf. »Ich komm später noch mal vorbei und schau nach dir.«

Als Joshua hörte, wie sich die schweren Schritte entfernten, stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Er war an allem schuld, und das konnte er Big Dug nicht sagen. Niemandem konnte er das sagen. Sonst würden ihm alle die Schuld geben, und Big Dug wäre nicht mehr sein Freund.

Er hatte es nicht tun wollen. Aber er hatte diesen Termin bei dem Arzt, und der hatte ihm gesagt, er solle unbedingt wiederkommen. Joshua hatte Angst gehabt, dass er es vergessen würde. Aber er hatte gewusst, dass man nicht im Hill House schlafen durfte.

»Gewiss dürfen wir nicht dulden, was heute in Seattle geschehen ist«, sagte Reverend Jonathan Heal in seiner allabendlichen Gebetsstunde zu seiner Gemeinde vor den Fernsehern. »Doch man kann verstehen, wie es dazu kommen konnte. Mir selbst sind der Zorn und die Verzweiflung vertraut, die ich fühle, weil in diesem Land Jahr um Jahr Millionen unschuldiger Babys getötet und wie Unrat behandelt werden. Wir müssen also die Trauer, die wir aufrechte Christen angesichts des Todes vieler unschuldiger Menschen empfinden, verbinden mit dem Wissen, dass es Unrecht ist, Leben zu nehmen – auch das ungeborene.«

Überall im Land murmelten Menschen: »Amen.«

»Ich weiß nicht, was jene gequälte Seele getrieben hat, solch eine Tat zu begehen, doch ich werde für sie beten«, fuhr der Reverend fort, der zusehends in Schwung kam und zu schwitzen begann in seinem weißen Anzug und weißen Rüschenhemd. »Denn ich glaube, dass der Täter im Grunde seines Herzens nicht nur von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war, sondern dass er auch glaubte, nicht anders handeln zu können. Er meinte wohl, dass er auf höchster Ebene im Sinne des Herrn handelte.«

An diesem Nachmittag und Abend wurde in den regionalen und überregionalen Sendern über nichts anderes berichtet als über den Anschlag auf Hill House.

Dabei war dieser erste Dienstag im Februar kein gewöhnlicher Dienstag. In New Hampshire fanden an diesem Tag wie alle vier Jahre die Vorwahlen statt, und die Wähler in diesem Bundesstaat hatten sich zu den Wahlurnen begeben, um sich für die Kandidaten der Demokratischen oder der Republikanischen Partei zu entscheiden. An jedem anderen Abend wäre dieses Ereignis, das zugleich den Beginn des Wahlkampfs bedeutete, in aller Munde gewesen und wäre auch von den Komikern abgehandelt worden. Doch an diesem Abend war es den Sendern nur eine kurze Meldung wert, und Leno und Letterman machten keine Witze.

Kapitel 6

Von offizieller Seite hielt man Wort. Täglich erschienen neue Meldungen über die Opfer, doch über die Ermittlungen wurde nicht ein Sterbenswörtchen verlautbart.

Die Medien suchten nach kleinsten Details, mit denen sie Leser und Zuschauer beschäftigen konnten. Die Gerichtsmedizin, über die der Ansturm der Reporter hereinbrach, bestätigte, dass es bislang einhundertdreiundsechzig Opfer gab, von denen die meisten am Ort des Geschehens zu Tode gekommen waren. Vierzig schwer Verletzte befanden sich noch in Krankenhäusern, dreißig waren nach der Behandlung entlassen worden, und etwa sechs Menschen galten als vermisst.

Die Reporter lungerten auf dem Gelände des Hill House herum, beobachteten die Rettungsmannschaften, die sich durch die Trümmer arbeiteten, und warteten auf neue Meldungen von Vermissten. Sie lungerten vor den Häusern von Angehörigen der Opfer herum und bettelten um Interviews. Sie lauerten vor den Krankenhäusern, um Verlautbarungen über neuerliche Todesfälle nicht zu versäumen.

Am Samstag gab es die ersten Beisetzungen und Gedenkfeiern. Besonders ergreifend war die Initiative von Obdachlosen, die in der Suppenküche des Hill House am Hafen täglich ihre warme Mahlzeit bekommen hatten. Fünfhundert Menschen standen am Alaskan Way unweit der Anlegestelle der Fähre, hielten Kerzen, die ein Laden am Pioneer Square gestiftet hatte, und beteten die ganze Nacht. Kirchen, die von der Lichterkette hörten, sorgten rasch dafür, dass den Teilnehmern etwas Warmes zu essen gebracht wurde.

Der Gouverneur und der Bürgermeister nahmen an möglichst vielen Veranstaltungen teil, verfolgt von den Journalisten. Die Politik war vorerst zweitrangig. Die Ergebnisse der Vorwahlen in New Hampshire und Spekulationen über den Ausgang der nächsten Vorwahlen in South Carolina gingen beinahe unter in der Berichterstattung über Seattle.

Die beiden Präsidentschaftskandidaten witterten die Chance für einmalige Publicity, und da sie in South Carolina gewinnen wollten, taten beide ihre Absicht kund, nach Washington zu fliegen und sich mit den Familien von Opfern zu treffen. Als dies dem Bürgermeister zu Ohren kam, wurde sofort ein großer Gedenkgottesdienst im Memorial Stadium im Seattle Center geplant.

Aus der Region und aus dem ganzen Land trafen Beileidsbezeugungen ein, und die Familien der Opfer erhielten Geldscheine, die zu Karten und Briefen in Umschläge gesteckt waren. An der Boren Avenue wurden am Zaun Blumen und Andenken niedergelegt; zunächst nur vereinzelt, doch bald bedeckten sie den ganzen Gehsteig.

Joseph Heradia gehörte zu den Glücklichen, die unversehrt davonkamen. Und für die Ermittler war er ein wichtiger Augenzeuge.

»Ich ging gerade über die Boren«, berichtete er Dana, wie zuvor der Polizei. »Wegen der Lorbeerhecke sah ich das Gebäude nicht, aber was ich hörte, klang wie ein Überschallknall – wahnsinnig laut. Dann bebte die Erde unter meinen Füßen so heftig, dass ich fast gestürzt wäre. Ich hatte den Zaun erreicht und hielt mich daran fest, und dann flogen irgendwelche Teile durch die Luft. Ich betrat das Gelände, und da herrschte diese entsetzliche Verwüstung.«

»Kaum vorstellbar«, sagte Dana und dachte, dass ihr Treffen, das etwas länger ausgefallen war, ihm vermutlich das Leben gerettet hatte.

»Die Polizei hat mich gefragt, ob ich jemanden gesehen hätte, der verdächtig aussah, der nicht zur Klinik gehörte, oder der das Gelände verließ, aber ich konnte mich an nichts Derartiges erinnern. Auf so was habe ich in dem Moment nicht geachtet.«

»Vielleicht fällt Ihnen in ein paar Tagen etwas ein«, bemerkte sie.

Er sah sie mit leerem Blick an. »Welche Wahnsinnigen jagen einen Haufen unschuldiger Kinder und Mütter mit Neugeborenen in die Luft? In was für einer Welt leben wir eigentlich? Und wenn sie wirklich so ist, warum setzt dann noch jemand Kinder in diese Welt?«

»Das frage ich mich manchmal auch«, murmelte Dana.

»Die Polizei wollte auch wissen, ob mir jemand einfiele, der etwas gegen mich oder gegen das Hill House hätte. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass die Jensens etwas damit zu tun haben, aber ich musste der Polizei von der Sache berichten.«

»Natürlich«, sagte sie. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn die Jensens nichts damit zu tun haben, geschieht ihnen ja nichts.«

»Das sind anständige Leute«, erwiderte er. »Ich will nicht, dass ihnen wegen meiner Aussage Nachteile entstehen.«

»Ich rede mit ihrem Anwalt«, versprach Dana. »Er ist auf Zack. Er wird den Jensens erklären, dass Ihnen keine andere Wahl blieb. Das geht schon in Ordnung.«

Marilyn Korba saß in sich zusammengesunken in dem kleinen Wartezimmer vor der Intensivstation im Harborview Medical Center, das mit einem abgewetzten Sofa, drei Stühlen mit rissigen Plastikbezügen und einem Fernseher ausgestattet war, der nur einen Sender empfing. Hier hielt sie sich seit zweiundsiebzig Stunden auf, seit man ihr am Telefon gesagt hatte, dass ihr Mann bei der Explosion des Hill House lebensgefährlich verletzt worden war.

Verwandte, Freunde, Ärzte und Schwestern waren gekommen und gegangen und hatten etwas zu essen, Decken und Kissen, ein paar aufmunternde Worte und neue Informationen über Jeffreys Zustand gebracht, aber Marilyn nahm alles nur am Rande wahr. Mit ihrer Schwester, die von Anfang an bei ihr gewesen war, sprach sie, und einmal am Tag rief sie ihre Mutter an, die sich um die Kinder kümmerte. Doch meist dachte sie daran, dass sie Jeffrey zum letzten Mal gesehen hatte, als sie sich wegen einer dämlichen Waschmaschine zankten. Und nun war es durchaus möglich, dass sie seine Stimme nie wieder hören würde.

Ab und zu ließ man sie für ein paar Minuten zu ihm. Er lag in einem kleinen sterilen abgedunkelten Raum, und angesichts seines Zustandes konnte man es als Segen bezeichnen, dass er nicht bei Bewusstsein war. Sein einst kraftvoller Körper war über verschiedene Kabel mit Maschinen verbunden, die blinkten und piepten. Über Schläuche wurden ihm Blut, Glucose und Salzlösung zugeführt. In ihrem ganzen Leben hatte Marilyn noch nie etwas so Entsetzliches gesehen.

»Ich will nicht, dass er Schmerzen hat, wenn er aufwacht«, sagte sie verzweifelt zu den Ärzten. »Sie können ihm doch was dagegen geben, oder?«

»Natürlich«, antworteten die Ärzte und nickten ernst. Sie wollten sie nicht darauf hinweisen, dass er wahrscheinlich nicht mehr aufwachen würde.

Marilyn und Jeffrey Korba waren beide in Seattle aufgewachsen, hatten sich an der Universität von Washington kennen gelernt und nach ihrem Abschluss geheiratet. Als Jeff seine Ausbildung vervollständigte, wohnten sie bei Marilyns Eltern. In dem Jahr, bevor er seinen Doktor machte, kauften sie sich ein kleines Haus in Issaquah und bekamen kurz hintereinander drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. In all den Jahren waren sie nur in den Nächten nicht zusammen gewesen, in denen Jeff Dienst hatte, und einmal einen ganzen Tag. Wenn sie sich gestritten hatten, klärten sie das immer noch am selben Tag.

»Ich wünschte, sie würden mich zu ihm lassen«, sagte Marilyn zu ihrer Schwester. »Er soll nicht alleine sein.«

»Er ist nicht alleine«, sagte ihre Schwester sanft. »Gott der Herr ist bei ihm.«

Nachdem man die Metallsplitter operativ entfernt hatte, die Ruth Zelkin das Augenlicht geraubt hatten, wurde die einstige Leiterin der Kindertagesstätte im Hill House in ein Einzelzimmer im dritten Stock des Virginia Mason Hospital gebracht. Obwohl sich die Zelkins eine solche Ausgabe kaum leisten konnten, hatte ihr Mann Harry darauf bestanden, da er wusste, dass ihre Familie sich um sich scharen wollte.

Er hatte Recht. Vier ihrer fünf Kinder lebten in Seattle und Umgebung sowie Ruths zwei Schwestern, ihr Bruder, Harrys Bruder und weitere Familienangehörige. Zu jeder Tageszeit hielten sich mehrere Menschen in Ruths Zimmer auf.

»Die Kinder«, stöhnte Ruth, kaum dass sie aus der Narkose erwachte. »Was ist mit den Kindern? Und den Mitarbeitern?«

»Denk jetzt nicht daran«, sagte Harry sanft. »Das hat Zeit. Du musst jetzt erst einmal gesund werden.«

Sie wandte den Kopf in seine Richtung und flüsterte angstvoll: »Wie viele?«

Harry war froh, dass sie sein angespanntes Gesicht nicht sehen konnte. Es ist zu früh, dachte er, sie ist noch nicht kräftig genug. Ihre älteste Tochter nahm die Hand der Mutter.

»Du musst dich ausruhen, Mutter«, sagte sie. »Noch nicht reden.«

Doch Ruth schob auf diese energische Art das Kinn vor, die ihrer Familie nur zu vertraut war, stützte sich auf und fragte hartnäckig: »Wie viele?«

Ihre Tochter legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie sachte zurück auf ihr Kissen.

Harry seufzte. »Zehn Mitarbeiter sind umgekommen«, sagte er.

»Und von den Kindern?«

Die Tochter schüttelte heftig den Kopf, doch Harry zuckte die Achseln. »Sechsundfünfzig«, sagte er.

Ruth Zelkins Welt, zuvor schon grau, wurde nun gänzlich schwarz.

Das Kinderzimmer, in dem Jason Holman den größten Teil seiner kurzen Kindheit verbracht hatte, war dunkel. Die schweren Vorhänge, die das Tageslicht verdrängt hatten, damit er ungestört seinen Mittagsschlaf machen konnte, waren zugezogen. Janet Holman saß in dem großen Schaukelstuhl aus Ahornholz, in dem sie ihren Sohn gestillt, gewiegt und getröstet hatte, wenn er sich fürchtete oder ihm etwas wehtat. Diesen Raum hatte sie seit dem Mittwochabend nicht mehr verlassen.

Sie brauchte kein Licht, um sein Lächeln zu sehen, wenn sie ihn aus seiner Wiege gehoben hatte, oder die kleinen Arme, die sich nach ihr ausstreckten, Zeichen seines bedingungslosen Glaubens, dass sie ihn vor allem Bösen beschützen würde, das in der Welt lauerte. Janet Holman wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, und es war ihr auch egal. Wer die große Eigentumswohnung der Holmans betrat, ging leise und flüsterte, doch das wäre nicht nötig gewesen, denn Janet nahm keine Geräusche mehr wahr. Sie saß nur da und schaukelte vor und zurück, wie sie es getan hatte, wenn Jason unruhig gewesen war, und starrte in den dunklen Raum, in eine Welt, die so unerträglich schmerzhaft und gnadenlos war, dass sie nur einen Wunsch hegte: Jason zu folgen.

»Sie hat seither rein gar nichts zu sich genommen«, sagte ihr Mann Rick allen Besuchern. »Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie hört mich, glaube ich, nicht einmal. Sie sitzt nur da und starrt ins Leere.« Seine Augen waren rot vor Müdigkeit. »Wir müssen ... Entscheidungen treffen, wegen dem Begräbnis und allem. Aber sie will nichts davon hören. Es scheint mir fast, als glaube sie, sie könne es ungeschehen machen, wenn sie nicht darüber redet. Ich weiß nicht, was ich tun soll ...« Seine Stimme verlor sich.

»Ich kann mich doch um das Begräbnis kümmern«, bot sein Bruder ihm an. »Dann kannst du bei Janet sein.«

»Wenn ich nur wüsste, was sie will«, murmelte Rick.

»Ruh dich jetzt aus«, schlug seine Schwägerin vor. »Überlass alles andere uns.«

Rick betrat das Kinderzimmer, beugte sich über den Schaukelstuhl und nahm seine Frau in die Arme. Er merkte kaum, dass der Priester ihm gefolgt war und nun still hinter ihm stand.

Rick wusste genau, wie Janet zu Mute war. Sie hatten dreizehn Jahre lang versucht, ein Kind zu bekommen, und Jason war der einzige Überlebende dieser Versuche gewesen. »Mein Bruder kümmert sich um das Begräbnis«, murmelte er in ihr Haar. »Es wird so, wie du es willst, schlicht, keine Musik, keine Medien, nur Familie und Freunde, die sich von Jason verabschieden.«

Er spürte, wie ihr Körper zuckte. »Er kann nicht alleine bleiben«, sagte sie mit merkwürdig hoher Stimme. »Du weißt, dass er Angst hat, wenn er alleine ist.«