Schuldlos schuldig - Susan Sloan - E-Book
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Schuldlos schuldig E-Book

Susan Sloan

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Beschreibung

Der lebenslange Kampf einer Frau für Gerechtigkeit: Der mitreißende Roman »Schuldlos schuldig« von Susan Sloan jetzt als eBook bei dotbooks. New York, Weihnachten 1962: Die junge Karen findet nach einer Party kein Taxi und nimmt das Angebot eines charmanten Harvard-Studenten an, sie nach Hause zu begleiten. Doch mitten im finsteren Central Park fällt Bob über sie her: Er vergewaltigt Karen, er schlägt sie halbtot und lässt sein Opfer dann im Schnee liegen. Nur durch ein Wunder überlebt die schwer traumatisierte Frau … und niemand will ihr Glauben schenken. – Fast dreißig Jahre später sieht Karen ihren Peiniger wieder, denn sein Gesicht begegnet ihr plötzlich überall: Bob Willmont hat politische Karriere gemacht und kandidiert nun für das Weiße Haus. Karen hat die schreckliche Nacht ihr ganzes Leben lang verdrängt. Doch jetzt kann sie nicht länger schweigen. Als ihr wieder niemand glauben will, beginnt Karen zu kämpfen – gegen alle Widerstände! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Roman »Schuldlos schuldig« der amerikanischen Erfolgsautorin Susan Sloan, die mit diesem aufrüttelnden Roman schon vor der #metoo-Debatte einen wichtigen Beitrag geliefert hat. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

New York, Weihnachten 1962: Die junge Karen findet nach einer Party kein Taxi und nimmt das Angebot eines charmanten Harvard-Studenten an, sie nach Hause zu begleiten. Doch mitten im finsteren Central Park fällt Bob über sie her: Er vergewaltigt Karen, er schlägt sie halbtot und lässt sein Opfer dann im Schnee liegen. Nur durch ein Wunder überlebt die schwer traumatisierte Frau … und niemand will ihr Glauben schenken. – Fast dreißig Jahre später sieht Karen ihren Peiniger wieder, denn sein Gesicht begegnet ihr plötzlich überall: Bob Willmont hat politische Karriere gemacht und kandidiert nun für das Weiße Haus. Karen hat die schreckliche Nacht ihr ganzes Leben lang verdrängt. Doch jetzt kann sie nicht länger schweigen. Als ihr wieder niemand glauben will, beginnt Karen zu kämpfen – gegen alle Widerstände!

Über die Autorin:

Susan Sloan wurde in New York geboren und lebt heute im Nordwesten der USA, auf einer kleinen Insel vor Seattle. Neben ihrer Karriere als Romanautorin kümmert sich Susan Sloan in ihrer Freizeit um in Stich gelassene Haustiere. Ihre Spannungstitel wurden in mehrere Sprachen übersetzt und feierten weltweit Erfolge.

Bei dotbooks veröffentlichte Susan Sloan ihre Romane »Was keiner wissen konnte«, »Eine Frage der Gerechtigkeit« und »Denn alle Sicherheit ist trügerisch«

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eBook-Neuausgabe Februar 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »Guilt by Association« bei Warner Books, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1995 by Susan Sloan

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1996 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Sean Pavone / Mihai Stanciu sowie © Pixabay / Stux

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-472-5

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Susan Sloan

Schuldlos schuldig

Roman

Aus dem Amerikanischen von Angela Stein

dotbooks.

Für Pamela,die von Anfang anmit vollem Ernst dabei war.

Und für Virginia,die immer an mich geglaubt hat.Ich weiß, daß sie lächelt.

22. Dezember 1962

Die Kälte brach über die Stadt herein – heftig, bitter und beißend, typisch für die Winter in New York City. Es hatte kaum geschneit; nur manchmal überzogen flüchtige Schneegestöber die Gehsteige mit einem weißen Hauch, verzuckerten die Schornsteine und verschwanden dann wieder wie von Zauberhand, so daß man sich fragen mußte, ob überhaupt etwas geschehen war.

Noch drei Tage bis Weihnachten, und Manhattan strahlte Trostlosigkeit aus. Die Temperatur lag bei minus fünf Grad, und der Himmel hing voll bleierner Wolken, die am Tage düster und nachts bedrohlich wirkten.

Normalerweise stand Margaret Westfield samstags nicht um sechs Uhr morgens auf, und sie zog sich erst recht nicht an, um spazierenzugehen. Sie arbeitete als Buchhalterin in einem Modegeschäft in der Seventh Avenue, hatte aber eine Woche Urlaub, den sie bei ihrer Familie in Rhode Island zu verbringen beabsichtigte, und sie wollte die ganze Zeit nutzen. Brandy, ihr verspielter Golden Retriever, sollte sich im Central Park noch einmal richtig austoben, bevor sie ihn für die dreistündige Fahrt nach Providence auf den Rücksitz ihres VW-Käfers verbannte.

Margaret wußte, daß sich in Manhattan nur Reiche oder Verrückte ein Auto hielten, doch ihr Vater hatte ihre Einwände nicht hören wollen.

»Ich möchte bloß Gewißheit haben, daß du jederzeit nach Hause kommen kannst«, hatte er gesagt, als er ihr die Schlüssel aushändigte.

Ihm war durchaus klar, daß sie nach New York gezogen war, um von der Familie wegzukommen, oder vielmehr, um sich nicht ständig mit der peinlichen Situation konfrontiert zu sehen, daß sie dreiunddreißig Jahre alt und als einziges seiner acht Kinder noch unverheiratet war. Aber er hatte keinesfalls die Absicht, sie deshalb zu benachteiligen.

»Wenn nicht soviel Verkehr ist, sind wir zum Mittagessen da«, sagte sie zu Brandy, als sie die Fifth Avenue überquerten und den Park betraten.

Um diese Uhrzeit waren die meisten New Yorker noch nicht auf den Beinen; der Weg zu dem hübschen kleinen Teich in dieser grünen Oase im Herzen der Betonwüste, den Margaret immer mit dem Hund nahm, war menschenleer. Nach ein paar Metern blieb Margaret stehen, bückte sich und machte Brandy von der dicken Lederleine los. Der Retriever flitzte davon und war im Handumdrehen verschwunden.

Margaret zog die Strickmütze über ihr kurzes braunes Haar und die Pijacke fester um ihren stämmigen Körper, knöpfte sie zu und begann zu laufen. Sie machte sich keine Sorgen um den Hund. Diesen Weg gingen sie täglich, und sie wußte, daß Brandy spätestens am East Drive haltmachen, sich hinsetzen und hechelnd und mit dem Schwanz wedelnd auf sie warten würde, damit er endlich hinter dem schmuddeligen Tennisball herrennen konnte, den sie immer in der Jackentasche hatte. Sogar mitten im Winter sprang er mit Vergnügen in das eisige Wasser des Teichs. Aber als sie zur Straße kam, war der Hund nirgendwo zu sehen.

»Brandy?« rief sie. »Komm schon, Junge. Wir haben's eilig.« Keine Reaktion. Margaret runzelte die Stirn und hielt im trüben Dämmerlicht angestrengt Ausschau nach dem Tier. Der vierjährige Retriever war gut ausgebildet. Er gehorchte aufs Wort, und auf das allmorgendliche Spielen war er mindestens so scharf wie auf sein Frühstück und sein Fressen am Abend.

Margaret überquerte die Straße, ging weiter den Weg zum Teich, blickte in sämtliche Richtungen und rief den Hund alle fünfzehn oder zwanzig Schritte. Erst als sie das Bootshaus schon weit hinter sich gelassen hatte, hörte sie ein schwaches Winseln.

»Brandy, wo steckst du?« rief sie.

Diesmal erhielt sie ein kurzes, aufgeregtes Bellen zur Antwort, das irgendwo von rechts kam. Margaret entdeckte einen schmalen gewundenen Pfad, den sie einige hundert Meter entlanglief. Das Bellen und Winseln des Retrievers kam näher. Dann stand sie plötzlich auf einer kleinen Lichtung. Ungefähr zwölf Meter vor ihr sah sie Brandys Hinterteil aus einem Gebüsch herausragen.

»Brandy, komm sofort hierher!« befahl Margaret dem Hund. Sie hoffte, daß er nicht irgendein kleines Tier in das Dornengestrüpp gehetzt hatte. Er hatte noch nie auf die Lebewesen des Parks Jagd gemacht, aber wahrscheinlich gab es eben immer ein erstes Mal.

Der Retriever sah zu ihr herüber, gab erneut ein kurzes, aufgeregtes Bellen von sich und steckte wieder den Kopf ins Gestrüpp. Er schien nicht gehorchen zu wollen, was Margaret völlig irritierte. Das war neu bei ihm. Seufzend griff sie nach der Leine, die sie sich um die Schulter gehängt hatte, und lief zu ihm hinüber.

Als sie noch etwa zehn Meter von dem Hund entfernt war, merkte sie, daß er sich tatsächlich, wenn er nicht gerade bellte oder jaulte, mit etwas beschäftigte, das er offenbar dort aufgestöbert hatte. Margaret hatte ihm jedoch von klein auf strikt verboten, unbekannte Sachen zu fressen.

»Brandy, nein!« rief sie, als sie näher kam. »Laß das sofort in Ruhe!«

Drei Meter vor dem Gestrüpp blieb Margaret wie angewurzelt stehen. Ein Fuß in einem schwarzen Satinschuh ragte aus dem Gebüsch hervor. Margaret keuchte erschrocken. Dort, im grauen Zwielicht, lag eine junge Frau. Ihre Kleider waren zerrissen, ihre Haut blau angelaufen und mit schlimm aussehenden Blutergüssen übersät. Brandy hockte über ihr und leckte ihr das Gesicht.

»O Gott«, murmelte Margaret entsetzt und trat zögernd näher.

Das Gesicht der jungen Frau war geschwollen und mit gefrorenem Blut verkrustet und ihr Hals mit scheußlichen violetten Malen bedeckt. Ein Bein wirkte merkwürdig verdreht, aber Margaret hielt sich nicht damit auf. Sie war sicher, daß das Mädchen tot war, doch als sie sich ein Herz faßte und den violett verfärbten Hals berührte, spürte sie einen schwachen, unregelmäßigen Pulsschlag.

»Sie lebt noch, Brandy!« schrie Margaret. »Sie ist nicht tot, sie lebt. Wir müssen ihr helfen.« Sie bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. »Wir müssen sie warm halten. Erst mal warm halten.«

Sie zog ihre Pijacke aus und deckte damit den Teil des Körpers zu, den der Hund nicht schon wärmte. Sie konnte nicht einschätzen, wie lange die junge Frau bereits hier lag und wie nahe sie dem Erfrieren war. Aber die Kälte war so bitter, daß Margaret selbst nach ein paar Sekunden ohne Jacke spürte, wie sie ihr in die Knochen kroch und sie lähmte.

»Brandy, bleib hier!« befahl Margaret dem Retriever. »Ich versuche Hilfe zu holen.«

Die Kälte trieb sie voran; Margaret rannte so schnell sie konnte den gewundenen Pfad entlang, ließ das Bootshaus und den menschenleeren East Drive hinter sich und lief auf die Fifth Avenue zu. Sie wußte, daß dort um diese Uhrzeit noch nicht viel los war, doch sie betete, daß sie jemanden finden würde. Sie erreichte die Straße und hielt das nächstbeste Auto an.

»Was ist los mit Ihnen, Lady?« brüllte der Taxifahrer wütend. Er hatte eine Vollbremsung machen müssen und den Wagen nur schlingernd zum Halten gebracht. »Wollen Sie uns beide umbringen?«

»Hilfe!« rief Margaret. »O bitte, Sie müssen mir helfen. Da drüben liegt ein Mädchen. Man hat sie zusammengeschlagen, und sie ist fast erfroren. Bitte, holen Sie einen Arzt, die Polizei, irgendwen.«

»Gut, Lady, schon gut«, sagte der Taxifahrer, jetzt freundlicher. »Nur die Ruhe. Ein Stück die Straße rauf ist ein Polizeirevier. Wo sollen sie hinkommen?«

»Dort drüben«, antwortete Margaret und erklärte ihm den Weg.

»Ja, gut. Sie werden's schon finden.« Er griff nach hinten und brachte eine Decke zum Vorschein. »Hier. Ist nicht viel, aber vielleicht nützt es was, bis jemand bei Ihnen ist.« Margaret nahm die Decke und lief rasch den Weg zu der Lichtung zurück. Der Hund hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

»Wir müssen sie noch ein Weilchen warm halten, Brandy«, sagte sie, »bis Hilfe eintrifft.«

Sie hob ihre Jacke auf, zog sie an und hüpfte ein bißchen herum, bis sie nicht mehr fror. Ihr graute davor, dem Mädchen zu nahe zu kommen. Allein beim Gedanken an Blut wurde ihr flau, aber sie unterdrückte die aufsteigende Übelkeit und zwang sich dazu, in das Gebüsch zu kriechen, sich so nahe wie möglich an den mißhandelten Körper zu legen und die Decke über sich, das Mädchen und Brandy zu ziehen. Der Hund wurde zwar ein wenig unruhig darunter, aber er rührte sich nicht vom Fleck.

Der Gestank war grauenvoll. Margaret schloß die Augen, schluckte und versuchte verzweifelt an etwas zu denken, was sie ablenkte. Sie stellte sich schließlich vor, wie ihre Familie heute abend den Weihnachtsbaum schmückte.

Der Baum der Westfields war etwas ganz Besonderes. Margarets Mutter und ihre Schwestern schmückten ihn mit Girlanden und Zierat, den sie in wochenlanger Arbeit selbst bastelten. So wurde es bei den Westfields schon seit Generationen gehalten, aber bislang hatte Margaret dem keine besondere Bedeutung beigemessen. Doch nun schien es ihr nichts Wichtigeres zu geben, und zum erstenmal, seit sie von Providence nach New York gezogen war, konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

Sie wußte nicht, ob die junge Frau, die sie in den Armen hielt, sie hören konnte, doch sie begann zu ihr zu sprechen. Sie erzählte ihr mit sanfter, beruhigender Stimme von dem Weihnachtsbaum und ihrer Familie und von den verrückten, ausgelassenen, glücklichen Momenten, die sie zusammen erlebt hatten.

So lagen sie dort beinahe eine halbe Stunde – das Mädchen, die Frau und der Hund –, bis der Taxifahrer in Begleitung eines kräftigen Polizisten und zweier Sanitäter in weißer Uniform auf die Lichtung stürmte.

Teil I1962

Wir glauben so lange nicht an das Böse, bis es geschieht.

JEAN DE LA FONTAINE

Kapitel 1

Karen Kern stieg am Columbus Circle aus der U-Bahn aus. Sie hatte spontan beschlossen, den Rest des Wegs zum Apartment der Hartmans an der West Side zu Fuß zurückzulegen.

Es war Freitag, und die Weihnachtsfeiern der Firmen, die ab Montag Urlaub machten, gingen zu Ende. Frierende Taxifahrer hupten wütend, während sie sich über die verstopfte Kreuzung schoben. An jeder Ecke standen Weihnachtsmänner von der Heilsarmee in dicken roten Umhängen, und das verlockende Aroma von gerösteten Maronen hing in der Luft.

Karen machte es nichts aus, daß kein Schnee lag. Sie kam gerade aus Ithaca, wo in achtundvierzig Stunden fast ein Meter Schnee gefallen und der Verkehr zusammengebrochen war. Es hatte zahlreiche Unfälle gegeben, und ihre Seminare an der Cornell University, an der sie im vorletzten Studienjahr war, hatten nicht stattgefunden. Auch die Kälte störte sie kaum, obwohl der schwarze Kaschmirmantel, den sie fest um ihren schlanken Körper gezogen hatte, nicht viel Wärme spendete.

Karen wich Taxis aus, schenkte einem Weihnachtsmann einen Vierteldollar und machte lächelnd den aufgescheuchten Gruppen beschwipster Sekretärinnen Platz. Als die Kreuzung hinter ihr lag, ging sie Richtung Norden, zum Central Park West. Das war am 21. Dezember 1962. Karen war jung, strotzte vor Gesundheit und Lebendigkeit, und sie war so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben.

Auch im trüben Licht der Straßenlaternen gab es keinen Zweifel daran, daß Karen keine klassische Schönheit war. Dafür war ihre Nase zu klein, und ihre Wangenknochen waren zu markant. Doch ihr dunkles, im Stil von Jackie Kennedy frisiertes Haar glänzte, ihre blaugrauen Augen funkelten, und links und rechts ihres vollen Mundes befanden sich schelmische Grübchen. Ihre schlanken Füße in den schwarzen Satinpumps berührten kaum den Asphalt.

Ihre Mutter war entsetzt gewesen, als Karen in Radcliffe abgelehnt wurde, wo sie Harvard-Männer kennengelernt hätte, und Karen selbst sich geweigert hatte, Smith oder Mount Holyoke in der Nähe von Yale ins Auge zu fassen. Karen jedoch war glücklich mit ihrer Entscheidung. Sie liebte die idyllische Landschaft in Cornell, das weitläufige, altertümliche Universitätsgelände, die freundliche Atmosphäre. Außerdem hatte ihr Vater hier seinen Doktor in Zahnmedizin gemacht, und so hatte ihre Mutter mit ihren Einwänden einen schlechten Stand.

»Vergeude keine Zeit mit Studienanfängern«, hatte Beverly Kern Karen eingeschärft. »Halte dich gleich an die Doktoranden.«

Etwa einen Monat lang hatte Karen halbherzig versucht, diesen Rat zu befolgen, weil sie wußte, daß nur ein Arzt, ein Zahnmediziner oder zumindest ein Anwalt den gesellschaftlichen Vorstellungen ihrer Mutter entsprechen würde. Söhne wurden in diese Richtung gedrängt, und die Eltern heiratsfähiger Töchter spekulierten unverblümt auf eine solche Partie. Doch dann lernte Karen Peter Bauer kennen, und die mahnenden Worte ihrer Mutter waren im Nu vergessen.

Beim Gedanken an den jungen angehenden Ingenieur vertieften sich Karens Grübchen, und trotz der eisigen Kälte wurde ihr warm ums Herz. Seit Wochen schon dachte sie fast nur noch an ihn. Sie waren seit zwei Jahren zusammen, und kürzlich hatte nun die Univerlobung stattgefunden, diese unglaublich romantische Zeremonie. Jetzt planten sie, sich nächsten Sommer offiziell zu verloben.

Sie wußte noch genau, wie auserwählt sie sich gefühlt hatte, als sie da inmitten der Mädchen von ihrer Vereinigung auf der Veranda ihres Wohnheims gestanden und übers ganze Gesicht gestrahlt hatte, während die Jungs von Peters Verbindung ihr ein Ständchen brachten. Und als Peter dann das Abzeichen seiner Verbindung an ihrem rosa Angorapullover feststeckte, hatten ihr alle anderen Mädchen auf der Welt aufrichtig leid getan.

Karen seufzte und beobachtete, wie sich ihr Atem in der frostigen Nacht in eine weiße Wolke verwandelte. Sie hätte Peter jetzt lieber an ihrer Seite gewußt als in Bangor in Maine, wo er mit seiner Familie Weihnachten verbringen würde. Die Einwände ihrer Mutter kümmerten Karen nicht mehr, denn Peter war ihr Traummann. Alles an ihm entsprach ihrer Idealvorstellung: seine geistige Regheit und Großzügigkeit, sein rotblonder Haarschopf, seine warmen braunen Augen und seine weichen Lippen, die keine Gelegenheit zu einem breiten Lächeln ausließen.

»Silvester verbringen wir auf jeden Fall zusammen«, hatte er ihr versprochen, als sie sich auf dem Bahnhof in Ithaca zum Abschied umarmten. »Bis zum Dreißigsten.«

Neun Tage noch, dachte Karen voller Vorfreude. Dennoch konnte sie einen Anflug von Enttäuschung nicht unterdrücken, weil sie Peter bei der Party von Jill und Andy Hartman an diesem Abend so gerne dabeigehabt hätte.

Sie bog in die Seventy-seventh Street ein und ging in westlicher Richtung.

Obwohl man von Great Neck, der gehobenen Wohngegend am Long Island Sound, in der Karen geboren und aufgewachsen war, mit dem Zug nur eine halbe Stunde bis Manhattan brauchte, hatte sie nicht vorgehabt, am Freitag vor Weihnachten in die Stadt zu fahren. Doch hier war sie nun in ihren schicksten Sachen unterwegs zur Party ihrer besten Freundin, die aus ihrem zweiten Studienjahr an der Northwestern zehn Pfund schwerer und im zweiten Monat schwanger heimgekehrt war.

Es hatte ein schreckliches Durcheinander gegeben – Jill entehrt, Andy mußte sofort aus den Sommerferien im Ausland zurückkommen, Jills Eltern bemühten sich erfolglos, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Niemand kam auf die Idee, eine Abtreibung vorzuschlagen. Statt dessen wurde in aller Stille überstürzt auf dem Standesamt geheiratet und die Hochzeit um sechs Monate zurückdatiert. Jills Vater, ein bekannter New Yorker Anwalt, ließ seine Beziehungen spielen, und Andy wurde von der Northwestern an die Columbia versetzt, wo er mit seinem Jurastudium fortfahren konnte. Jill mußte ihr Studium natürlich abbrechen.

Karen vermochte sich lebhaft vorzustellen, wie ihre eigenen Eltern reagieren würden, wenn sie in solch eine Lage geriete. Schon beim bloßen Gedanken an das Gejammer und Geschrei ihrer Mutter drehte sich Karen der Magen um. Sie sagte ein stummes Dankesgebet für Peter auf; er hatte zwar auf dem Rücksitz seines grünen Pontiac ein paarmal versucht, sie zu verführen, als sie beide zuviel sauer schmeckendes Bier getrunken hatten, aber er war nie über einen bestimmten Punkt hinausgegangen.

Vielleicht war diese Haltung heutzutage aus der Mode geraten, doch Karen legte Wert darauf, in der Hochzeitsnacht noch Jungfrau zu sein. Abgesehen davon hatte ihre Mutter ihr häufig und drastisch die Gefahren der Leichtlebigkeit vor Augen geführt.

»Männer haben vielleicht Affären mit Flittchen, aber heiraten wollen sie Jungfrauen«, bleute sie Karen bei jeder Gelegenheit ein. »Oder würdest du im Laden für viel Geld etwas Gebrauchtes kaufen?«

Nein, räumte Karen ein, das würde sie nicht.

»Und möge der Himmel verhüten, daß du schwanger wirst«, setzte ihre Mutter stets ihre Rede fort. »Wir müßten uns zu Tode schämen in der Stadt. Die Leute würden nie mehr aufhören zu klatschen.«

Allein bei der Vorstellung, ihre Familie in eine solch erniedrigende Lage zu bringen, brach Karen der kalte Schweiß aus. Deshalb hörte sie immer auf die Stimme in ihrem Kopf, die zu raunen begann, sobald Karen sich, vom Bier enthemmt, auf dem Rücksitz des Pontiac wiederfand. Diese Stimme klang sehr nach der ihrer Mutter, und sie war massiv genug, um Karen davon abzuhalten, weich zu werden und Peter gewähren zu lassen.

Karen fand es schrecklich, daß Jill ihr Studium abbrechen, verfrüht heiraten und ein Kind zur Welt bringen mußte, da sie doch selbst noch eines war. Sie wußte, daß Jill davon geträumt hatte, nach dem Studium nach Paris zu gehen, in einer romantischen Mansarde am linken Seine-Ufer zu wohnen, surrealistische Bilder vom Eiffelturm zu malen und sich mit Künstlern aus aller Herren Länder herumzutreiben, bis ihr Studiengeld aufgebraucht war.

Solche kühnen Pläne hatte Karen nicht. Sie beabsichtigte zwar, in Cornell ihren Abschluß in Englisch zu machen, aber an einer Karriere lag ihr nichts. Im Grunde wollte sie am liebsten sofort heiraten und Kinder haben – so viele wie möglich. Vor allem seit sie Peter kennengelernt hatte. Anderen jungen Frauen mochte diese Vorstellung öde und altmodisch erscheinen, aber Karen konnte den Tag kaum erwarten, an dem sie zum Traualtar schreiten und so ihr eigentliches Leben beginnen würde.

Karen kannte ein paar Mädchen von Cornell, die nach dem Studium Karriere machen wollten, doch ihre Mutter hatte eine Berufslaufbahn immer nur als Notlösung betrachtet, für den Fall, daß der Partner früh starb. Karens Kommilitoninnen hatte sie unterstellt, daß sie nicht attraktiv genug waren, um einen guten Mann zu finden, und deshalb versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen.

Und Beverly Kern war der Ansicht, daß ein Mann, der so gut aussah und so viel zu bieten hatte wie Andy Hartman, sich bei der nächstbesten Gelegenheit von Jill scheiden lassen und damit für alle Zeiten ihr Leben ruinieren würde. Als Karen zur Ecke West End Avenue, Seventy-seventh Street kam, war es schon nach acht. Das zwölfstöckige Haus vor ihr, das fast den halben Block einnahm, strahlte wie so viele Gebäude in Manhattan nur mehr verblichene Eleganz aus. In der düsteren Dezembernacht wirkte es eher grau als rot.

Ein Portier in rostroter Uniform ließ sie ein und führte sie durch die dezent beleuchtete Eingangshalle, die so opulent ausgestattet war, daß sie aus einem Schloß à la Versailles hätte stammen können.

»Na endlich!« rief Jill Hartman, als Karen im achten Stock aus dem Aufzug stieg und zum Apartment G ging. »Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.«

»Ich werde doch keine gute Party sausenlassen«, erwiderte Karen lachend. »Da kennst du mich aber schlecht.«

Jill war jetzt im achten Monat und sah rundum prächtig aus. Ihr langes honigfarbenes Haar schimmerte, ihre haselnußbraunen Augen funkelten vergnügt, und ihre Haut strahlte rosig. Diese Party, so hatte sie angekündigt, war ihre letzte Ausschweifung vor der Ankunft des Babys.

»Komm rein!« rief sie. »Es sind Scharen von toll aussehenden Jungs hier, die dir vielleicht wenigstens einen Abend die Zeit vertreiben können, ohne daß du nach Peter schmachtest. Ich werd dich vorstellen, aber Tatsache ist, daß ich die meisten selbst nicht kenne. Es sind fast alles Freunde von Andy.« Sie nahm Karen Mantel und Handtasche ab und watschelte vor ihr den Flur entlang. »Und gib dich nicht schüchtern«, rief sie Karen über die Schulter zu, »misch dich einfach unters Volk.«

Karen kicherte Sie war immer lebhaft und gesprächig und von Natur aus alles andere als schüchtern, und so prüfte sie ihre Frisur, strich sich übers Kleid und nahm ihre Umgebung in Augenschein. Die Wohnung war toll; große, luftige, in Beigetönen gehaltene Räume mit hohen Decken und kunstvollem Stuck. Kristalleuchter schmückten die Wände, Samtvorhänge rahmten die Fenster ein, aus denen man auf den Hudson River blickte, und die Parkettböden waren nicht unter dicken Teppichen verborgen, sondern glänzten in voller Pracht.

Die Hartmans hatten dieses elegante Ambiente ungerührt mit modernen dänischen Möbeln vollgestellt. In einer Ecke des Wohnzimmers stand eine behelfsmäßige Bar, in der anderen fanden sich diverse staksig wirkende Teakcouchen und -stühle mit häßlichen braunen Tweedbezügen. In der Diele bog sich ein Eßtisch mit dünnen Stockbeinen unter der Last eines erlesenen Büfetts.

Aus einer hochmodernen Stereoanlage, die Andy installiert hatte, ertönte die rauchige Stimme von Nat King Cole, was das Stilmischmasch vervollständigte.

Die Gäste hielten sich entweder an der Bar oder am Büfett auf. Karen hatte nicht viel übrig für Alkohol und wandte sich deshalb Richtung Eßzimmer. Sie nahm sich einen Teller und war gerade damit beschäftigt, sich Huhn in Sahnesoße, Shrimp-Curry und eine Auswahl an Salaten aufzutun, als jemand sich dicht neben sie stellte, sie am Ellbogen berührte und ein warmer Atemzug ihr Ohr streifte.

»Sie müssen gerade erst gekommen sein«, flüsterte eine kehlige Stimme, »sonst hätte ich Sie sicher schon vermißt.« Karen war so überrascht, daß sie sich prompt ihr schwarzes Lieblingscocktailkleid mit Makkaroni und Mayonnaise bekleckerte.

»Sie haben recht, ich bin noch nicht lange hier«, brachte sie unwillig hervor, obwohl ihr in diesem Moment mehr danach zumute war, ihren Absatz in den Fuß des Fremden zu bohren. »Aber nun entschuldigen Sie mich bitte.«

Sie stellte ihren Teller auf den Tisch zurück und flüchtete ins Badezimmer, ohne den Mann auch nur eines Blickes zu würdigen. Dort betrachtete sie im Spiegel verstört den Fettfleck auf dem teuren Satinkleid.

»Verdammt«, schimpfte sie, nahm ein Handtuch von der Stange und begann dem Malheur zu Leibe zu rücken.

»Was ist los?« fragte Jill, die den Kopf zur Tür hereinsteckte. Karen wandte sich mit einem Seufzer zu ihr um.

»Ach du Schreck!« rief ihre Freundin aus. »Wie ist denn das passiert?«

»Irgendein Möchtegern-Don-Juan hat versucht, mir Neckereien ins Ohr zu flüstern, als ich mir gerade Makkaronisalat genommen habe.«

»Stärkemehl«, sagte Jill, verschwand und tauchte schneller, als Karen es beim gegenwärtigen Zustand der Freundin für möglich gehalten hatte, mit einer Schachtel voll pudrigem weißem Zeug wieder auf, das sie großzügig auf dem schwarzen Satin verteilte.

»Wer war das, der dir ins Ohr geflüstert hat?« fragte Jill, während die beiden darauf warteten, daß das Stärkemehl das Fett aufsaugte.

»Weiß ich nicht«, antwortete Karen. »Mir war nicht nach Höflichkeiten.«

»Na, das mußt du aber rauskriegen«, sagte Jill, als das Hausmittel auf wundersame Weise seine Wirkung getan hatte. »Und dann schüttest du ihm Cocktailsauce aufs Hemd.«

»Keine schlechte Idee«, stimmte Karen kichernd zu. Doch sie ließ das Büfett nun links liegen und begab sich zur Bar, wo sie sich eine Flasche Rootbeer zu Gemüte führte.

»Es tut mir leid wegen des Kleides«, sagte die Stimme hinter ihr. »Wenn ich darf, kaufe ich Ihnen gern ein neues.«

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Karen und überlegte, ob Rootbeer ebenso wirkungsvoll war wie Cocktailsaure. »Der Fleck ist fast rausgegangen, und den Rest wird die Reinigung erledigen. Aber danke für das Angebot.«

Sie wandte sich jetzt um und begegnete einem Blick aus aquamarinblauen Augen, die sie so in Bann zogen, daß sie den Rest des Mannes kaum wahrnahm.

»Das Kleid ist zauberhaft«, sagte er, und Karen spürte, wie er sie von Kopf bis Fuß musterte.

»Danke, sehr freundlich, Sir«, sagte sie leichthin. Das Kleid war tatsächlich zauberhaft – eine raffinierte Kreation mit rundem Dekolleté, enganliegendem Oberteil und weit schwingendem Rock.

»Ich bin Bob«, sagte er mit einem charmanten Lächeln, das sein Gesicht erhellte – in äußerst attraktives Gesicht, wie Karen jetzt bemerkte, mit geraden Brauen, dichten langen Wimpern, schmaler Nase, festem Mund und einem kleinen Muttermal auf der rechten Wange, das der Perfektion keinen Abbruch tat, sondern sie eher unterstrich. Dichtes schwarzes Haar, das – der Menge der Frisiercreme nach zu schließen, die er hineingetan hatte, um es zu bändigen – seinem Besitzer offenbar zu lockig geraten waren, vollendete den Eindruck.

»Ich heiße Karen«, sagte sie.

»Nun, Karen«, erwiderte er, wobei er ihren Namen fast kosend aussprach, »du bist zweifellos das schönste weibliche Wesen hier heute abend.«

Karen wußte, daß das eine Floskel war, aber sie konnte nicht verhindern, daß ihr ein kleiner Schauder den Rücken hinunterlief. Bob war noch größer als Peter, der schon keinesfalls klein war, und breit und muskulös wie ein Footballspieler, wohingegen Peter durch seine Tennisstunden schlank und sehnig wirkte. Karen registrierte, daß Bob Hosen mit messerscharfen Bügelfalten trug, daß an seinen Ärmeln, die aus dem marineblauen Blazer hervorsahen, teure goldene Manschettenknöpfe leuchteten, seine Krawatte dezent gestreift und seine Slipper auf Hochglanz poliert waren.

Er war offenbar recht eitel, aber Karen kannte diesen Typ Mann und hatte nicht das Gefühl, daß sie Peter hintergehen würde, wenn sie sich von einem attraktiven Unbekannten ein Kompliment machen ließ.

»Du verfügst über einen exzellenten Geschmack«, entgegnete sie und erwiderte das Lächeln.

Er stieß mit seinem Scotch Highball spielerisch an ihre Flasche Rootbeer. »Trinken wir auf die nähere Bekanntschaft«, sagte er leise.

Die anderen Gäste begannen sich um die beiden zu scharen. Karen lief auf Partys stets zu Hochform auf, bewegte sich mit solcher Leichtigkeit in unterschiedlichsten Gruppen, daß einer ihrer Professoren einmal gemeint hatte, sie sei die ideale Begleiterin für einen ehrgeizigen Politiker. Sie redete in einem Gespräch über die wahren Hintergründe der Kubakrise mit, beteiligte sich an einer Diskussion über James Meredith und die Zukunft der Rassenintegration und äußerte in einer anderen Gruppe ihre Meinung über die Aussichten einer zottligen Band aus Liverpool, die sich nach irgendwelchen Insekten benannt hatte.

Karen hätte sich mit einigen Leuten gerne länger unterhalten, doch Bob schien ständig um sie herum zu sein und lenkte sie ab. Irgendwann übernahm er es, die Drinks zu besorgen, goß ihr Rootbeer in ein hohes Glas und mixte etwas dazu, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Karen verzog ein bißchen das Gesicht wegen der unpassenden Geschmackskombination aus Hire's und Scotch, aber sie protestierte nicht. Bob war so attraktiv und aufmerksam, und obwohl Karen sich darüber im klaren war, daß sie nur ein bißchen flirteten, genoß sie es doch, wenn sie neidische Blicke von den anderen jungen Frauen aufschnappte.

Nur heute abend, Mädchen, dachte sie und lächelte zufrieden in sich hinein. Morgen könnt ihr ihn wiederhaben.

Wie sich herausstellte, hatte Bob Andy über einen von dessen ehemaligen Zimmergenossen an der Northwestern kennengelernt. Er erzählte ihr, daß er in Kalifornien geboren und aufgewachsen sei und an der Stanford University seinen Abschluß gemacht habe.

»Palmen, Sonne und Tequila«, sagte er mit einem wehmütigen Seufzer. »Vier Jahre lang eine erstklassige Party.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Karen lachend.

»Aber jetzt in Harvard«, berichtete er und verzog das Gesicht, »heißt es nur noch büffeln, büffeln und noch mal büffeln. Eine echte Schinderei, vierzehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Weißt du, daß ich heute abend zum erstenmal seit anderthalb Jahren auf einer Party bin?«

»Ach, du Ärmster«, sagte Karen tröstend. Auch ein Anwalt, dachte sie amüsiert, über den eines Tages die Eltern irgendeines Mädchens sehr glücklich sein werden.

»Nein, ernsthaft«, versicherte er ihr. »Ich bin gestern von Cambridge hergekommen, und ich werde erst wieder zurückfahren, wenn ich ordentlich gefeiert habe.«

»Na, dann viel Spaß dabei.«

»Weißt du, Cornell ist doch gar nicht so weit von Harvard weg«, bemerkte er irgendwann im Verlauf des Abends, dabei war Ithaca ein paar hundert Meilen von Cambridge entfernt. »Vielleicht komm ich dich mal besuchen.«

Sie hätte ihm fast von Peter erzählt, hielt seine Bemerkung aber dann für nicht ernstzunehmendes Partygeplänkel. Außerdem machten ihr seine Aufmerksamkeiten Spaß, sie wollte noch nicht so schnell darauf verzichten.

»Hm, das dürfte dann wohl so in anderthalb Jahren sein?« sagte sie scherzhaft.

»Oh, in deinem Fall mach ich eine Ausnahme«, konterte er mit einem strahlenden Lächeln.

Erst um zwei Uhr, als die Gäste sich nach und nach verabschiedeten, merkte Karen, wie spät es war. Eine Handvoll Leute wanderte noch ziellos umher. Andy war völlig betrunken auf einem der dünnbeinigen braunen Tweedsofas eingeschlafen. Jill begann aufzuräumen.

»Komm, ich helfe dir«, bot Karen ihr an.

»Ich werd jetzt nicht groß saubermachen«, sagte ihre Freundin. »Nur die Reste in den Kühlschrank packen. Alles andere kann bis morgen warten. Hör mal, es ist sehr spät. Willst du nicht hier übernachten? Wir finden bestimmt eine Couch für dich.«

»Danke, aber ich bin bei meiner Tante und meinem Onkel gut untergebracht.«

Edna und Harry Kern wohnten in der East Seventy-sixth Street, auf der anderen Seite des Central Parks. Immer wenn Karen abends länger in der Stadt bleiben wollte, übernachtete sie bei den beiden im Gästezimmer mit den Blümchentapeten. Seit Jahren schon hatte sich das als sehr praktisch erwiesen. In der Kommode hatte sie Kleidung zum Wechseln, zwei Pyjamas und eine Zahnbürste, und Onkel Harry hinterlegte beim Nachtportier einen Schlüssel, damit sie nicht klingeln mußte.

»Dann solltest du wohl los, sonst kriegst du kein Taxi mehr«, meinte Jill.

»Schön, dich kennengelernt zu haben«, sagte Karen zu Bob, als er ihr in den Mantel half. »Ich habe mich gut unterhalten.«

»Der Abend muß doch noch nicht vorbei sein, oder?« fragte er. »Es ist früh am Tag. Ein, zwei Clubs haben bestimmt noch auf.«

»Danke für die Einladung«, erwiderte Karen, »aber ich finde, es ist schon ziemlich spät, und ich muß noch quer durch die Stadt.«

»Und ich kann dich bestimmt nicht überreden?«

»Ich fürchte nein. Ich übernachte bei Verwandten. Die sind ziemlich altmodisch, und wenn ich nicht bald auftauche, rufen sie womöglich die Polizei an.«

Sie wußte, daß Tante Edna und Onkel Harry schon seit Stunden selig schlummerten, doch er wußte das nicht. Unter anderen Umständen hätte sie seine Einladung vielleicht angenommen. Aber die Party war vorbei, und in ein paar Tagen würde Peter bei ihr sein.

»Dann helfe ich dir, ein Taxi zu suchen«, erklärte er. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß du um diese Uhrzeit allein durch die Straßen läufst.«

Sie lächelte. Er war wirklich sehr charmant. »Danke«, sagte sie, »doch das macht schon der Portier.«

»Nun, dann werde ich dich noch zum Ausgang bringen«, beharrte er.

»Warum nicht?« stimmte sie leichthin zu.

Sie verabschiedeten sich von den anderen und gingen. In der Eingangshalle hielten sie jedoch vergebens Ausschau nach dem Portier.

»Vielleicht ist er mal für kleine Jungs«, mutmaßte Bob.

»Oder er hat gerade Kaffeepause.«

Sie warteten etwa zehn Minuten, doch der Portier tauchte nicht auf.

»Komm, ich besorg dir ein Taxi«, schlug Bob vor. »Und außerdem brauch ich auch eins.«

Karen zuckte mit den Schultern. »Na gut.«

Sie traten aus dem Apartmenthaus und machten sich auf die Suche nach einem Taxi. Die Temperatur lag weit unter null Grad. Sie gingen Richtung Central Park West, am Museum für Naturgeschichte vorbei. Die Straßen waren fast menschenleer um diese Uhrzeit, und düstere, abweisende Gebäude warfen das Echo ihrer Schritte zurück.

Als sie den Park erreichten, hielten sie an. Karen stampfte mit den Füßen und rieb sich die Hände, um sich warm zu halten, und Bob blickte angestrengt in alle Richtungen, doch nirgendwo war ein Taxi zu sehen.

»Irgendwann muß ja eins kommen«, sagte er.

Karen kicherte. »Hoffentlich noch bevor wir erfrieren.« Sie war inzwischen dankbar, daß Bob ihr Rootbeer mit Alkohol gemischt hatte, denn der wärmte sie nun.

Sie warteten eine Viertelstunde.

»Vielleicht sollten wir zum Columbus Circle gehen«, schlug Karen vor. »Kann sein, daß wir da mehr Glück haben.«

»Ich weiß was Besseres«, entgegnete Bob. »Laufen wir doch durch den Park.«

Karen wäre nie auf die Idee gekommen, nachts in den Park zu gehen. Man hörte immer wieder, wie gefährlich das geworden war.

»Du hast dich wirklich reizend um mich gekümmert, aber du solltest wegen mir nicht solche Umwege machen«, sagte sie.

»Das ist doch selbstverständlich. Wo wohnen deine Verwandten?«

»In der East Seventy-sixth Street«, antwortete sie. »Zwischen Park und Lexington Avenue.«

»Und ich wohne bei Freunden in der Seventy-fourth Street, Ecke Third Avenue«, erwiderte Bob. »Du siehst, es ist gar kein Umweg für mich.«

»Na ja, dann ...« Sie war immer noch etwas unentschlossen, aber auch nicht gerade versessen darauf, daß er nun verschwand und sie allein ließ. Außerdem nahm sie an, daß dieser sympathische breitschultrige Mann sie vor sämtlichen Unholden beschützen konnte, die ihnen auflauern mochten. »Warum nicht.«

Sie betraten den Central Park und gingen die Fußwege entlang. Bob hielt ihren Arm und führte sie nach rechts, nach links, über eine kleine Brücke, dann wieder nach rechts, bis die Stadt weit entfernt zu sein schien. Es war dunkel und unheimlich hier und seltsam lautlos. Keine Stimmen durchdrangen die Stille, kein Mondlicht schien durch die Wolkendecke, um den Weg zu beleuchten. Dürre Äste ragten in den finsteren grauen Himmel empor und schienen wie knorrige schwarze Finger nach ihm zu greifen.

»Ich hab keine Ahnung, wo wir sind«, gestand Karen, nachdem sie eine ganze Weile einen gewundenen Pfad nach dem anderen entlanggegangen waren.

»Macht nichts«, sagte er. »Ich kenne mich hier aus.«

Er führte sie so sicher, als tue er das wirklich, und Karen blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie dachte plötzlich daran, daß er von der Westküste stammte und anderthalb Jahre nicht aus Harvard herausgekommen war. »Woher denn?« fragte sie.

»Ich bin vorhin hier entlanggekommen«, antwortete er ungerührt. »Die Leute, bei denen ich wohne, haben mir den Weg beschrieben.«

»Ah ja«, murmelte sie.

»Vertrau mir«, sagte er. Er klang amüsiert.

Sie gingen weiter, doch der Pfad wurde immer schmaler, das Unterholz dichter.

»Es ist so dunkel«, stellte Karen fest. »Ich kann nicht mal die Richtung erkennen.«

»Ganz einfach«, erklärte Bob. »Hörst du das Wasser plätschern? Das ist der See. Solange wir den rechts von uns haben, gehen wir Richtung Osten.«

Karen horchte angestrengt, doch sie konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung das leise Plätschern kam, und sie wünschte sich plötzlich, Brotkrumen auf den Weg geworfen zu haben.

»Kommen wir auf die Transverse Höhe Seventy-ninth Street?«

»Nein«, erwiderte er. »Den Weg kenne ich nicht. Aber so stoßen wir genau auf die Seventy-sixth Street.«

»Hoffentlich«, sagte Karen. »Mir klappern schon die Zähne.«

»Frierst du sehr?« fragte er. »Da kann ich abhelfen.« Er knöpfte seinen dicken Mantel auf und zog Karen an sich. »Besser?«

Die unerwartete Wärme seines Körpers tat gut, aber er hielt sie zu fest, preßte sie zu dicht an sich, was ihr unangenehm war.

»Es geht schon«, meinte Karen. »Es kann ja nicht mehr weit sein. So schlimm ist es nicht mit dem Frieren.« Sie versuchte Abstand zu halten, aber er ließ sie nicht los. »Wirklich, es ist okay«, versicherte sie ihm. »Bestimmt.«

»Sei nicht albern«, entgegnete er und zog sie weiter mit sich.

»Was sollen denn deine Verwandten sagen, wenn ich dich als Eiszapfen nach Hause bringe?«

»Ach ...«

Sie war gerade drauf und dran, nachzugeben, als er mit rauher Stimme erklärte: »Außerdem fühlt es sich gut an.«

Karen blieb abrupt stehen. »Bitte«, sagte sie höflich, aber bestimmt, »ich weiß deine guten Absichten zu schätzen, doch es wäre mir wirklich lieber, wenn du mich jetzt loslassen würdest.«

»Und wenn ich nicht will?« entgegnete er neckisch und packte sie noch fester.

Trotz der Kälte spürte Karen, wie ihr ein unangenehmer Schauder den Rücken hinunterlief.

»Sieh mal, du bist ein netter Kerl«, sagte sie, wobei sie ihre Worte mit Bedacht wählte, »aber ich möchte nicht, daß du einen falschen Eindruck bekommst. Du mußt wissen, ich bin verlobt, ich werde bald heiraten.«

Karen log sonst nie, aber sie hatte das Gefühl, daß die Situation diese kleine Übertreibung rechtfertigte.

»Wenn du verlobt bist«, erwiderte er schroff, »wieso bietest du dich dann anderen Männern an?«

»Ich habe nichts dergleichen getan«, gab sie zurück.

»O doch. Und ich habe mich nicht den ganzen Abend umsonst bemüht.«

Bevor sie ihn davon abhalten konnte, hatte er sie an sich gerissen. Seine Zunge drang in ihren Mund, seine Hände glitten unter ihren Mantel.

»Laß das«, stieß sie aus und wollte sich seinem Griff entziehen, doch er war viel zu kräftig. Sie hatte keine Chance.

»Du kannst jetzt aufhören mit dem Theater«, sagte er lachend.

»Das ist kein Theater«, widersprach sie heftig, während sie versuchte sich loszureißen, »und ich finde das überhaupt nicht witzig. Laß mich sofort los.«

Es mochte daran liegen, daß er zuviel getrunken hatte oder daß er durch sein Studium zu sehr unter Streß stand, Karen wußte es nicht, jedenfalls schien plötzlich etwas in ihm aufzubrechen.

»Halt's Maul«, schnauzte er sie an und schlug sie mit solcher Wucht ins Gesicht, daß sie rückwärts gegen einen Dornenstrauch taumelte.

»Was machst du denn?« schrie sie, als ihr, viel zu spät, klar wurde, daß hier etwas ganz entschieden schieflief.

»Ich geb dir, wonach du verlangt hast«, stieß er aus und riß sich den schweren Mantel vom Leib.

»Ich habe nach gar nichts verlangt«, beteuerte Karen und rappelte sich hoch. »Ich hab mich nur amüsiert – wie alle anderen auch.«

Er lachte rauh. »Ich weiß, wann eine Frau es drauf anlegt. Das Kleid sprach schon Bände.«

»Du bist ja verrückt!« schrie sie, ohne die Wirkung ihrer Worte zu erwägen. Sie drehte sich um und wollte weglaufen.

Er packte sie an den Haaren und riß so heftig daran, daß sie rückwärts auf ihn stürzte. Dann zerrte er ihren rechten Arm hinter ihren Rücken und verdrehte ihn, bis sie einen furchtbaren Schmerz spürte und etwas riß.

»Verrückt? Du meinst, ich sei verrückt?« knurrte er dicht an ihrem Ohr. »Wart nur ab, bis ich mit dir fertig bin.«

Er wirbelte sie herum und streckte sie mit einem gezielten Schlag in den Magen zu Boden Karen lag da wie gelähmt, rang nach Atem, und ihre Fassungslosigkeit verwandelte sich in Furcht. Sie ahnte nicht, was kommen würde, als sie spürte, wie er ihr in die Rippen trat. Sie versuchte sich zur Seite zu rollen, er bekam sie am Nacken zu fassen, und als sie sich in eine andere Richtung drehen wollte, versetzte er ihr einen Tritt in den Unterleib. Wo sie sich auch hinwandte, überall wartete dieser auf Hochglanz polierte Slipper und trat zu.

»Bitte«, wimmerte sie.

»So ist es recht, bettle nur«, zischte er. »Sag mir, daß es dir leid tut, daß du mich wütend gemacht hast. Sag mir, wie sehr du es haben willst.«

Er hockte sich auf sie, zerrte an ihrem Mantel und dann an ihrem Kleid. Der teure Satinstoff gab nach wie Papier. Er packte ihren BH, der sich löste und ihr die Haut aufriß. Er zerfetzte ihren Hüfthalter. Die zarten Seidenhöschen, die Karens Mutter ihr immer aufdrängte, boten seinen gewalttätigen Händen keinen Widerstand.

Sie spürte, wie seine Hände ihren Körper betasteten – ihre Brüste, ihre Schenkel, die Stelle zwischen ihren Beinen –, Orte, die nicht einmal Peter bislang erkunden durfte. Und seine Zähne folgten seinen Händen und hinterließen eine grausige Spur auf ihrer Haut.

Als sie glaubte, die Grenze ihrer Leidensfähigkeit erreicht zu haben, hielt er plötzlich inne – doch nur, um den Reißverschluß seiner Hose zu öffnen. Dann drang er ohne weitere Umschweife roh in sie ein.

Karen schrie. Noch nie hatte sie einen solchen Schmerz erlebt. Es war, als schlitzte sie jemand mit einem glühenden Messer auf. Der Schmerz begann zwischen ihren Beinen und schoß bis in die Brust hinauf. Und sofort legte sich eine Hand auf ihren Mund, die andere um ihren Hals – erstickten ihre Schreie, nahmen ihr den Atem.

»Ich hab gesagt, du sollst bitten, nicht schreien«, knurrte er. Doch sie brachte kein Wort heraus, konnte sich nicht mehr rühren, nicht einmal mehr atmen. Sie vermochte nur noch dazuliegen, als er immer wieder in sie stieß. Tränen strömten ihr übers Gesicht, ihre Lungen brannten. Sie wollte nicht glauben, daß ihr so etwas widerfuhr, zumal sie doch immer so vorsichtig gewesen war, doch der schreckliche Schmerz ließ ihr keinen Zweifel daran.

In diesem Moment begriff sie, daß sie sterben mußte, daß er sie nicht am Leben lassen würde, und sie betete, daß es schnell gehen möge.

Bald verschwamm die Welt um sie herum, ihre Lider flatterten. Töne und Umrisse verblaßten, und sie schien sich in die Lüfte zu erheben, seltsam leicht, höher und immer höher, bis sie über den düsteren grauen Wolken schwebte, in einem milden weißen Licht, wo alles gut war und niemand ihr etwas zuleide tat. Sie dachte, daß es gar nicht so schlimm war, tot zu sein.

Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie zuerst nur den verhangenen Himmel. Ihr Peiniger war verschwunden. Keine Hand hielt ihr mehr den Mund zu, und die Kälte hatte sie fast gefühllos gemacht. Sie sog gierig die eisige Luft ein und fragte sich, woher das merkwürdige rasselnde Geräusch kam, das sie hörte. Sie konnte kaum glauben, daß sie noch lebte, und wollte gerade ein stummes Dankgebet sprechen, als sein Gesicht plötzlich über ihr auftauchte.

»Hat dir das gefallen?« säuselte er. »Komm, sag's mir. So gut hat's dir bestimmt noch keiner gemacht.«

Karen wandte den Kopf ab.

Er schlug ihr mit dem Handrücken quer übers Gesicht. »Sag's mir«, bellte er.

Sie öffnete den Mund, doch es kam nur ein rauhes Zischen heraus.

Er befingerte sie grob. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft stöhnte sie und versuchte wegzurutschen, doch er hielt sie fest.

»Wo willst du denn hin?« höhnte er. »Ich bin noch nicht fertig mir dir. Im Gegenteil, ich hab gerade erst angefangen.«

Karen starrte ihn voller Abscheu an und fragte sich, wie sie diesen Mann jemals hatte attraktiv finden können.

»Nicht mehr«, brachte sie krächzend hervor.

»Was du nicht sagst«, erwiderte er lachend. »Ich muß mich für diese ganzen keuschen Monate entschädigen, die ich nur mit Lernen verbracht habe, und du bist gerade die einzige Beute weit und breit.«

Damit drehte er sie auf den Bauch, spreizte ihre Beine und drang wieder in sie ein, diesmal an einer Stelle, wo sie es bislang für unmöglich gehalten hatte.

Der Schrei, der in Karens Hals aufsteigen wollte, erstarb im Dreck. Der erste Schmerz war schon qualvoll gewesen, doch der jetzige war ungleich höllischer – er stieß in sie, zerriß, zerfetzte, zerstörte alles in ihrem Inneren.

Endlos lange bearbeitete er sie wie ein Stier, raubte ihr alle Würde, steigerte sich in eine kopflose Raserei hinein, dann entlud er sich in sie. Sie war so betäubt, daß sie kaum spürte, wie er sich zurückzog, und jegliches Zeitgefühl verlor.

Flüssigkeiten sickerten aus ihrem Körper, sichtbare Spuren eines erlöschenden Lebens. Sie merkte es nicht mal, als er sie auf den Rücken drehte.

»Das war schon besser«, sagte er genüßlich. »Noch etwas Übung, dann kannst du das ganz gut.«

Sie keuchte nur.

Er riß ihren Kopf an den Haaren hoch, und ihr Körper schmerzte an zahllosen Stellen.

»Ich weiß, was du als nächstes willst, du Schlampe«, säuselte er ihr ins Ohr. »Ganz genau weiß ich es. Du findest das bestimmt genauso toll wie ich. Und ich wette, du kannst es richtig gut, wie?«

Ihre Augen waren verschleiert, sie vermochte ihn kaum mehr zu erkennen. Sie wußte nicht, was er im Sinn hatte, aber es spielte auch keine Rolle – sie würde ihn doch nicht davon abhalten können. Er würde tun, was er wollte, und dann war er fertig mit ihr, und sie war tot, und das war in Ordnung so. Sie konnte sich sowieso nicht mehr vorstellen, danach weiterzuleben.

Er hielt sie noch immer an den Haaren, und sie spürte jetzt, wie er sie fester packte. Bevor sie wußte, was er vorhatte, kam er auf die Knie und stieß sein Geschlechtsteil tief in ihren Mund.

»Zeig mir, wie gut du das kannst, Schlampe«, schrie er heiser. »Zeig mir, wie sehr du es magst.«

Karen konnte nichts dagegen tun – sie mußte würgen, und ihre Zähne schlugen zusammen.

Bob heulte wütend auf und entzog sich ihr. »Solche Spielchen machst du nicht mit mir«, schrie er, und seine rechte Faust sauste auf ihr Gesicht zu und traf mit voller Wucht ihren Kiefer.

Danach erinnerte sich Karen an nichts mehr.

Kapitel 2

Dr. Stanley Waschkowskis Zeit als Assistenzarzt am Manhattan Hospital ging bald zu Ende. Er war ein großer, hagerer Mann mit schütterem braunem Haar und forschenden dunklen Augen, der nie frisch rasiert aussah und dessen Gesicht jene Blässe angenommen hatte, die sich einstellt, wenn man sich zuviel in geschlossenen Räumen zwischen Kranken und Sterbenden aufhält. Er hatte vier Jahre lang sämtliche nur denkbaren Krankheiten und Verletzungen zu sehen bekommen – ein Vorteil der Großstadtausbildung, den er bei sich zu Hause, in einer Kleinstadt in New Hampshire, nicht gehabt hätte –, und er bildete sich etwas darauf ein, daß es ihm gelungen war, jenen emotionalen Abstand zu schaffen, den ein Arzt zum Überleben brauchte.

»Wenn du mit jedem Patienten mitfühlst, dem du nicht helfen kannst«, hatte ihm einmal ein Arzt gesagt, den er sehr bewunderte, »hast du bald keine Kraft mehr für die, denen du helfen könntest.«

Noch bevor sein Praktikum zu Ende war, hatte Waschkowski sich diesen Rat zum Credo gemacht. Und zwar so gründlich, daß ihn die jüngeren Assistenzärzte manchmal heimlich »altes Steingesicht« nannten. Doch das störte ihn nicht, ja, er war sogar eher stolz auf den Spitznamen, weil er wußte, wie hart er ihn sich erarbeitet hatte.

Aber als er zusah, wie die Schwester in der Notaufnahme der mißhandelten jungen Frau vor ihm die wenigen verbliebenen Fetzen ihrer Kleidung vom Leib schnitt, trat Zorn in seine Augen, und die eiserne Klammer, die seine Gefühle zügelte, verrutschte etwas.

»Gott, das ist ja fast noch ein Kind«, murmelte er.

Waschkowski hatte selbst zwei Töchter. Die Vorstellung, daß einer von ihnen jemals so etwas zustoßen könnte, reichte aus, um ihn seinen hippokratischen Eid vergessen zu lassen.

»Okay, es besteht akute Atemnot«, sagte er zu der Assistentin, die ihn gerufen hatte. »Bereiten Sie sie für einen Luftröhrenschnitt vor.«

Er blickte auf die junge Frau hinunter, die blutbeschmiert und zerschunden vor ihm lag, kaum mehr atmete und seiner Hilfe bedurfte. Dann machte er sich entschlossen an die Arbeit.

»Sagen Sie mir was, sobald Sie etwas wissen, Doc«, hatte der stämmige Polizeibeamte ihn gebeten, der dem Krankenwagen gefolgt war. Trotz seines Alters und seiner offenkundig langjährigen Berufserfahrung sah er ziemlich grün im Gesicht aus.

»Setzen Sie sich, Sergeant«, forderte ihn der Arzt auf. »Trinken Sie eine Tasse Kaffee. Es wird eine Weile dauern.« Eine Stunde später trat er aus der kleinen Kammer. Sein weißer Kittel war blutbefleckt. »Haben Sie ihre Personalien?« wollte er von dem Polizisten wissen.

»Hab ich«, antwortete dieser.

»Rufen Sie dort an«, sagte der Arzt. »Es muß jemand herkommen. Wir brauchen eine Einwilligung.«

Henry »Tug« McCluskey stand sechs Monate vor der Pensionierung. Er hatte dreißig Jahre harten Dienst bei der New Yorker Polizei hinter sich und dabei eine makellos saubere Weste behalten, was ihm nicht immer leichtgefallen war. Sein Wohnzimmer hing voller Belobigungen, seine Uniform war mit Orden gespickt, und in Kürze würde er die goldene Armbanduhr erhalten. Trotz alledem hatte er dieses arme Mädchen nicht beschützen können.

Was Schuß- und Stichwunden, Verstümmelungen, Erwürgte und Zusammengeschlagene betraf, hatte er in Manhattan mehr als genug gesehen, aber er hatte sich auch in dreißig Jahren nicht daran gewöhnt. Jedes einzelne dieser brutalen Verbrechen hatte seinen Tribut bei ihm gefordert, doch der Anblick von Karen Kerns zerschlagenem, blutendem Körper in dem Gebüsch war mit Abstand das Schlimmste, was er je erlebt hatte.

Als er an diesem kalten Samstagmorgen drei Tage vor Weihnachten in der Notaufnahme des Krankenhauses saß, hätte er seine Belobigungen, seine Orden, seine goldene Armbanduhr und sogar seine Rente gegeben, wenn er dafür fünf Minuten mit dem Schweinehund hätte allein sein können, der dem Mädchen das angetan hatte.

Tugs Eltern hatten ihm schon früh beigebracht, Frauen zu achten, und er hatte seine vier Söhne entsprechend erzogen. In der Stadt hieß er nur der »Gentleman-Cop«, sogar bei den Huren in der Eighth Avenue, denen er immer wieder Ärger machte. Er war der festen Überzeugung, daß dieses Mädchen eine solche Behandlung nicht verdient hatte, was es auch getan haben mochte, um solche Gewalttätigkeit zu provozieren.

Der Sergeant erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und stapfte zu den Telefonen am anderen Ende der Notaufnahme, um den Teil seiner Arbeit hinter sich zu bringen, den er am meisten haßte. So ruhig und neutral wie möglich erklärte er der Frau am anderen Ende der Leitung, daß sie sofort ins Krankenhaus kommen müsse.

»Nein, Ma'am«, erwiderte er seufzend, »ich kann Ihnen leider noch nichts Genaueres sagen. Aber die Ärzte werden Sie sicher informieren, wenn Sie hier sind.«

Tug McCluskey brauchte zwar sämtliche Details der Untersuchung für seinen Bericht, aber er wußte auch ohne die schlauen Bemerkungen der Ärzte, daß Karen Kern vergewaltigt und halb zu Tode geprügelt worden war. Doch das wollte er den Eltern nicht am Telefon mitteilen. Sie würden es noch früh genug erfahren.

Kapitel 3

Leo und Beverly Kern gingen auf dem Flur im dritten Stock des Manhattan Hospital auf und ab – ein dürrer kleiner Mann mit einer Nickelbrille, der sich hastig etwas über seinen Pyjama gestreift hatte, und eine dralle Frau mit leuchtend blauem Lidschatten, die einen knöchellangen Nerzmantel trug. Stumm begegneten sie sich immer wieder auf halbem Weg.

Beverlys Pumps klackten laut auf dem fleckigen grauen Linoleumboden; das Geräusch wirkte völlig fehl am Platz in dieser sterilen, gedämpften Atmosphäre. Es hatte in ihrem fünfundvierzigjährigen Leben noch nie eine Situation gegeben, die Beverly keine Zeit mehr gelassen hätte, sich herzurichten. An diesem Grundsatz gab es in ihrer Familie seit Generationen nichts zu rütteln – man ging prinzipiell nur passend aufgemacht und mit sauberer Unterwäsche aus dem Haus.

Leo schimpfte und rannte nervös auf und ab, als Beverly sich ein elegantes Wollkleid anzog und mit diversen Kosmetika ihren Falten und Krähenfüßen zu Leibe rückte, doch nach knapp einer Viertelstunde stiegen sie in der Garage in den großen schwarzen Buick und ließen Great Neck im Eiltempo hinter sich.

Eine Ewigkeit schien seit dem Anruf vergangen zu sein, als sie nun hier auf und ab schritten, aber tatsächlich waren es bloß sechs Stunden.

»Was dauert da nur so lange?« murrte Beverly, als sie wohl zum hundertstenmal den Korridor entlangging.

»Manches braucht eben seine Zeit«, erwiderte Leo geduldig, »und dazu gehören auch Operationen. Du willst doch nicht, daß sie sich beeilen und etwas falsch machen, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, räumte Beverly ein. »Das Warten ist nur so schrecklich.«

Um halb zehn hatten Pfleger Karen in den Operationssaal geschoben. Jetzt war es Viertel vor drei.

»Ihre Tochter hat schwere Verletzungen erlitten«, hatte Dr. Waschkowski ihnen mitgeteilt, als sie in die Notaufnahme gehastet kamen. Den Buick hatten sie auf dem Parkplatz des Krankenhauses abgestellt. So früh am Samstagmorgen war noch wenig Verkehr auf den Straßen, auch Streifenwagen waren keine unterwegs, und so waren sie in einer Rekordzeit von siebenundzwanzig Minuten ins Zentrum von Manhattan gelangt.

»Was ist passiert?« fragte Beverly.

»Offenbar wurde Ihre Tochter Opfer eines Überfalls.«

»Überfall?« rief Beverly fassungslos aus. »Wovon reden Sie? Da muß ein Irrtum vorliegen. Sie war gestern abend auf einer Party. Bei ihrer besten Freundin.«

»Man hat sie heute morgen gegen halb sieben im Central Park gefunden«, berichtete Tug McCluskey. »Ich war um kurz vor sieben an dieser Stelle.«

Er wollte den verängstigten Eltern nicht schildern, welcher Anblick sich ihm geboten hatte, als er und die beiden Sanitäter mit dem Taxifahrer die Lichtung erreicht hatten. »Ich habe Ihre Tochter hergebracht«, sagte er statt dessen. »Was hatte sie im Central Park zu suchen?«

»Das wissen wir nicht, Ma'am«, antwortete McCluskey.

»Was hat sie für Verletzungen?« fragte Leo.

»Meiner Eingangsuntersuchung nach liegen diverse Quetschungen und Brüche vor, und es gibt Anzeichen für Unterleibsblutungen«, sagte Waschkowski. »Wir haben eine Tracheotomie vorgenommen, um ihr das Atmen zu ermöglichen.«

»Hat sie schlimme Schmerzen?«

»Nein«, beruhigte er die Eltern. »Sie ist bewußtlos.«

»Großer Gott!« keuchte Beverly.

»Das ist bei solchen Fällen nicht unüblich«, beeilte sich der Arzt zu versichern. »Sie hat einen Schock erlitten – zum einen aufgrund der Verletzungen, zum anderen, weil sie wohl mehrere Stunden lang Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ausgesetzt war.«

»Warum sollte jemand so etwas tun?« fragte Leo. »Es kann kein Raubüberfall gewesen sein. Sie trug keinen teuren Schmuck und hatte nicht viel Geld bei sich.«

Waschkowski räusperte sich und verlagerte sein Gewicht. Was ihm jetzt bevorstand, verabscheute er an seinem Beruf fast genauso wie einen Patienten zu verlieren.

»Wir ... äh ... glauben, daß der Täter nicht direkt einen Überfall im Sinn hatte«, sagte er so behutsam wie möglich. Er hatte bei der Untersuchung Sperma in der Vagina, im Mund und im Rektum des Mädchens gefunden. »Sie wurde vergewaltigt.«

Beverly schrie auf. Das war der schlimmste Alptraum einer Mutter.

»Mein Kleines«, klagte sie, »mein Kleines.« Und dann erklärte sie bestimmt: »Ich will, daß sie die bestmögliche Pflege bekommt, und zwar im besten Krankenhaus der Stadt.«

»Das ist das Manhattan Hospital«, sagte Leo zu ihr.

»Ich wünsche, daß sich zwei Ärzte um sie kümmern«, erwiderte sie scharf. »Nichts gegen Sie, Dr. Waschkowski, aber ich möchte meine Tochter nicht einem Assistenzarzt anvertrauen. Ich will die besten Fachkräfte.«

»Ich habe mir schon erlaubt, einige Spezialisten hinzuzuziehen«, versicherte ihr Waschkowski. »Ein Oralchirurg, ein Orthopäde, ein Urologe, ein Neurologe und ein Gynäkologe, samt und sonders renommierte Fachkräfte, halten sich bereit. Sie sind sich einig, daß man so rasch wie möglich operieren sollte.«

»Natürlich«, sagte Leo.

»Wenn Sie meinen«, murmelte Beverly.

»Einer von Ihnen müßte die erforderlichen Papiere unterzeichnen.«

Leo war mit dem Arzt weggegangen, um das zu erledigen. Beverly hatte inzwischen immer wieder versucht, einen Blick in die kleine weiße Kammer zu werfen, in der man Karen für die Operation vorbereitete.

»Ihre Tochter wird schon wieder, Ma'am«, versuchte Tug McCluskey sie zu beruhigen. »Die sind schon mit Schlimmerem fertig geworden.«

»Danke«, erwiderte Beverly.

Tug räusperte sich wie Waschkowski kurz zuvor. »Ich wollte Ihnen nur sagen, Ma'am«, fügte er hinzu, »wie leid mir das tut.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Ich meine, ich hab selbst zwei Enkelinnen, wissen Sie, und wenn ich den Kerl schnappe, der Ihrer Kleinen das angetan hat, leg ich ihn vielleicht einfach um.«

»Ohhh«, stöhnte Beverly und wandte sich ab. Der Gedanke, daß all diese Leute wußten, was man ihrem Baby angetan hatte, war geradezu unerträglich für sie.

Ein steter Strom an Klinikpersonal betrat Karens Kammer, während Beverly untätig draußen warten mußte. Dann kamen Grüppchen von zwei oder drei Leuten wieder heraus und diskutierten in knapper Fachsprache, die Beverly weitgehend unverständlich blieb, was sie gesehen hatten.

Doch während Beverly dort vor den Türen des Operationssaals wartete, hatte sie ohnehin das Gefühl, nicht mehr viel zu verstehen. Sie wußte nur, daß Karen am Abend zuvor um sieben das Haus verlassen hatte, um zu einer Party bei ihrer besten Freundin zu gehen, und daß man sie zwölf Stunden später bewußtlos im Central Park gefunden hatte. Ihre kluge, hübsche, wohlerzogene Tochter – wie hatte ihr so etwas Schreckliches zustoßen können, zumal Beverly sie doch so oft davor gewarnt hatte, sich mit Fremden einzulassen?

»Vielleicht sollten wir Jill anrufen«, riß Leo sie aus ihren Gedanken.

»Wozu?« erwiderte Beverly. »Du glaubst doch wohl nicht, daß die Hartmans irgend etwas damit zu tun haben, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, murmelte er. »Ich dachte nur, Jill könnte dazu beitragen, das Ganze aufzuklären.«

»Was gibt es da aufzuklären?« meinte Beverly stöhnend und blickte auf den kahlen, glänzenden Schädel ihres Mannes hinunter. »Ich finde das alles schrecklich klar, du nicht?«

»Aber wir könnten doch zumindest ...«

»Laß uns noch etwas abwarten«, sagte Beverly. »Wir können auch später mit Jill sprechen. Schlimm genug, daß die Polizei schon mit der Sache befaßt ist. Solange Karen uns nicht selbst berichtet, was vorgefallen ist, sollten wir jedes weitere Aufsehen unbedingt vermeiden.«

Leo nickte langsam. »Das habe ich nicht bedacht.«

Er war ein kurzsichtiger kleiner Mann, der im Alter von sechsundzwanzig Jahren von einer Mutter zur anderen gegangen war, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Um zwanzig vor vier schoben sie Karen aus dem Operationssaal. Stanley Waschkowski ging zu ihren Eltern, die ihn im Aufwachraum erwarteten. Er machte einen erschöpften Eindruck.

»Sie hat es gut überstanden«, berichtete er. »Sie hatte mehr innere Verletzungen, als wir angenommen hatten, aber wir sind zuversichtlich, daß alles gut abheilen wird.«

Später, wenn sie ruhiger sind, kann ich ihnen Einzelheiten mitteilen, dachte er, aber im Augenblick sind sie nicht in der richtigen Verfassung dafür.

»Eine Zeitlang wird sie noch sehr beeinträchtigt sein«, sagte er. »Aber dann wird sie wieder auf die Beine kommen, und das Ganze wird ihr wie ein böser Traum erscheinen.«

»Ist sie bei Bewußtsein?« fragte Beverly.

»Nein, noch nicht.«

»Kann ich zu ihr?«

»Warten Sie noch etwa eine Stunde, bis wir sie auf die Intensivstation verlegen. Bis dahin wird sie wach sein.«

»Sie muß auf die Intensivstation?« fragte Leo.

»Bei Fällen von schwerem Trauma gehen wir kein Risiko ein«, antwortete Waschkowski. »Ihre Tochter war bewußtlos, als sie eingeliefert wurde. Das kann eine Folge des Schocks, aber es kann auch auf Hirndruck zurückzuführen sein. Und außerdem möchten wir beobachten, ob eine Nierenverletzung vorliegt. Wenn wir sie ständig im Auge behalten, können wir auf jedes weitere Problem sofort reagieren.«

Um zehn Uhr abends hatte Karen vierzig Grad Fieber.

»Woher kommt das?« jammerte Beverly.

»Lungenentzündung«, sagte Dr. Waschkowski. »Wir hatten gehofft, daß es sich vermeiden ließe, aber es ist keine Überraschung für uns angesichts ihres Zustands.«

»Ist das gefährlich?« wollte Leo wissen.

»In dieser Verfassung ist leider alles gefährlich.« Der Assistenzarzt seufzte. »Aber wir behandeln mit Penizillin, Aspirinzäpfchen und Alkoholbädern, womit wir die Entzündung eigentlich in den Griff bekommen sollten. Glücklicherweise gibt es bis jetzt keinerlei Anzeichen für erhöhten Hirndruck oder Nierenversagen.«

Um Mitternacht überredete man die erschöpften Eltern, nach Hause zu fahren.

»Sie können nichts tun, auch wenn sie zu sich kommt«, versicherte ihnen Waschkowski. »Und es ist durchaus möglich, daß es zweiundsiebzig Stunden dauern wird, bis wir wissen, ob wir die Lungenentzündung im Griff haben. Ich bin die ganze Nacht hier, und ich rufe Sie sofort an, wenn Veränderungen auftreten.«

»Um jede Uhrzeit?« fragte Beverly.

»Um jede Uhrzeit«, versprach er.

Sie fuhren zur großen Wohnung von Edna und Harry Kern in der Seventy-sixth Street. Trotz fortgeschrittener Uhrzeit waren die beiden noch auf.