Der Bankräuber - Damaris Kofmehl - E-Book

Der Bankräuber E-Book

Damaris Kofmehl

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Beschreibung

Ein maskierter Mann stürmt die Bank und erbeutet 50.000 Mark. Der Täter ist Iraner und gerade 18 Jahre alt. Neun Jahre zuvor wurde Farzad in einer Reisetasche nach Deutschland geschmuggelt. Mit 14 klaut er sich seine erste Waffe. Auf der Straße ist er schon bald unter dem Spitznamen "Psycho" bekannt. Die Spirale der Gewalt mündet schließlich in einen Banküberfall. Es folgen bittere Jahre hinter Gittern, bis Farzad einen radikalen Entschluss fasst und die Flucht wagt …

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Damaris Kofmehl

Der Bankräuber

Die wahre Geschichte des Farzad R.

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Bestell-Nr. 395.281

SBN 978-3-7751-7070-3 (PDF)

ISBN 978-3-7751-7063-5 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5281-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© der deutschen Ausgabe 2011

SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG • 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: gestalterstube, Arne Claußen

Titelbild: istockphoto.com

Fotos im Innenteil: © Privat

Satz: Breklumer Print-Service, Breklum

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

Für meine Freundin Mirjam Bratzel.

Wir haben schon viele herrliche Kaffeepausen

zusammen genossen und es werden noch viele folgen.

1 Nach Deutschland geschmuggelt

»Farzad, in die Sporttasche mit dir, los!«

»Aber Rashno, da pass ich doch gar nicht rein!«

»Willst du jetzt nach Deutschland oder was?«

»Und wenn ich keine Luft mehr kriege?«

»Ich lass einen Spalt offen, dummer Bruder. Mama und Shirin, ihr versteckt euch im Kofferraum. Sind nur noch ein paar Kilometer bis zur Grenze. Keine Sorge, wir schaffen das!«

»Und wenn sie uns erwischen?«

Rashno verlor langsam die Geduld mit mir.

»Halt endlich den Mund, Farzad! Sie werden uns nicht erwischen. Daria und Nasrin haben sie auch nicht entdeckt, als ich letztes Mal den Zoll passierte. Und jetzt hör auf zu jammern wie ein kleines Kind und versteck dich in der Tasche!«

Mein Bruder hielt mir die rote Adidas-Sporttasche unter die Nase und bedeutete mir mit einem scharfen Blick zu tun, was er sagte. Ich senkte folgsam die Augen, nahm die Tasche entgegen und öffnete mit meinen zarten Fingern den Reißverschluss.

Mein Herz hämmerte wie ein Heer von Spechten gegen meine kleine Brust. Ich war erst neun Jahre alt, aber mir war durchaus bewusst, wie viel für mich und meine Familie auf dem Spiel stand. Wir hatten unsere geliebte Heimat verlassen, alles, was uns vertraut war und etwas bedeutete, und waren dabei, in ein Land zu fliehen, das wir nicht kannten und dessen Sprache wir nicht sprachen. Natürlich freute ich mich darauf, meine Schwestern Daria und Nasrin wiederzusehen, die schon vor ein paar Monaten nach Deutschland geflohen waren, sowie meinen Bruder Milad, der in der Zwischenzeit genau wie Rashno als politischer Flüchtling anerkannt worden war. Doch im Augenblick graute mir einfach nur davor, in einer Sporttasche zusammengepfercht als lebendiges Gepäckstück über die Grenze geschmuggelt zu werden.

Ein seitlicher Blick auf meine Mutter und meine fünfzehnjährige Schwester Shirin bestätigte mir, dass ich nicht der Einzige mit einem mulmigen Gefühl im Magen war. Meine Mama zupfte sich schweigend ihr schwarzes Kopftuch zurecht und half Shirin in den Kofferraum. Sie legten sich zwischen die Koffer, die wir vor ein paar Tagen in unserer Villa in Teheran gepackt hatten, und mein Bruder ermahnte sie, keinen Ton von sich zu geben. Mama und Shirin nickten. Mama hielt meiner Schwester von hinten die Hand auf den Mund, damit sie nicht im falschen Moment niesen oder husten würde, und Rashno klappte den Kofferraumdeckel zu.

»Und jetzt du, Farzad.«

Folgsam kletterte ich in die Sporttasche hinein. Ich war schon immer ein kleiner Hüpfer gewesen, dünn wie ein Strohhalm, und hatte problemlos Platz in der Tasche. Die Beine eng an den Körper gezogen, die Arme um meine Knie geschlungen, kauerte ich mich hin wie ein Käfer, während mein Bruder mich mitsamt Tasche auf die Rückbank hob und den Reißverschluss bis auf einen kleinen Spalt zuzog.

»Kein Mucks mehr, verstanden?«, warnte er mich ein letztes Mal mit drohend erhobenem Zeigefinger. Dann verschwand er aus meinem Blickfeld und ich hörte, wie er sich hinters Lenkrad setzte und den Zündschlüssel drehte. Der VW-Golf sprang an, und los ging die Fahrt – eine Fahrt ins Ungewisse, eine Fahrt in ein komplett neues Leben und in eine völlig andere Welt: Deutschland.

Ich wusste nicht viel über dieses Land, nur, was mir Barzin, mein zweitältester Bruder, der als Einziger meiner Geschwister im Iran geblieben war, vor der Abreise ins Ohr geflüstert hatte.

»Kannst du dir vorstellen, Farzad«, so hatte er gesagt, »die Menschen dort haben Autos und Motorräder, die sich mit einem einzigen Knopfdruck auf die Größe einer Streichholzschachtel zusammenschrumpfen lassen!«

»Ist das wahr, Barzin?«, hatte ich gestaunt und ihn mit meinen schwarzen Kulleraugen fasziniert angestarrt. Ich glaubte ihm jedes Wort. Auch hatte mir Daria bei einem Telefonanruf vorgeschwärmt, wie viele Fernsehkanäle sie hätten und dass sie sich die tollsten Zeichentrickfilme anschauen würde, Mickey Mouse, Aschenputtel, Dornröschen und viele mehr. Ich war ziemlich neidisch auf sie, denn im Iran gab es gerade mal zwei Fernsehkanäle, einen politischen und einen Gebetskanal. Beide waren nicht gerade sehr verlockend für einen neunjährigen Jungen wie mich. Aber schon bald würde ich all das Wundersame, das ich über Deutschland gehört hatte, mit eigenen Augen sehen. Ich konnte es kaum erwarten.

Ich war so aufgeregt und nervös, dass ich mir beinahe in die Hosen machte, als wir den Zoll erreichten. Rashno kurbelte die Scheibe herunter, und ich konnte durch mein Luftloch einen Mann in Uniform erkennen, der eine Maschinenpistole um den Körper trug und den Lauf direkt auf meinen Bruder gerichtet hatte. Er sprach Rashno in einer mir völlig fremden Sprache an, und mein Bruder antwortete ihm in derselben Sprache. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten, und hielt einfach nur den Atem an.

Der soll bloß nicht auf die Idee kommen, einen Blick in die Sporttasche auf dem Rücksitz zu werfen! Bloß nicht!, dachte ich, während ich spürte, wie eine seltsame Hitzewelle meinen kleinen mageren Körper von Kopf bis Fuß erfasste. Mucksmäuschenstill lag ich da, und es kam mir vor, als würden sich mein Bruder und der Grenzwächter eine halbe Ewigkeit unterhalten. Endlich setzte sich unser Auto wieder in Bewegung. Rashno kurbelte die Scheibe hoch und stieß einen lauten Jubelschrei aus.

»Ja!«, rief er voller Begeisterung. »Ja! Ja! Ja! Wir haben es geschafft! Wir haben es geschafft! Ihr seid jetzt auf deutschem Boden!«

Ich atmete tief durch. Die Sekunden der Angst wichen einem unbeschreiblichen Gefühl von Euphorie. Es hat geklappt!, dachte ich erleichtert. Wir sind in Deutschland!

Beim nächsten Parkplatz fuhr Rashno raus und befreite Mama und Shirin aus dem Kofferraum, und ich kroch aus der Sporttasche und nahm wieder auf dem Rücksitz Platz. Während der ganzen restlichen Fahrt presste ich gespannt mein Gesicht an die Fensterscheibe und sog alles in mich auf, was an mir vorüberflitzte. Die Landschaft meiner neuen Heimat war allerdings nicht halb so aufregend, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass die Ortsschilder nicht mehr auf Persisch geschrieben waren.

Es war ungefähr zwei Uhr morgens, als wir unser Ziel, den Adenauerring 28 in Kempten, erreichten. Der Wagen hielt vor einem riesigen Hochhaus, das zwischen einer sechsspurigen Schnellstraße und einem Friedhof eingeklemmt war.

»Da wären wir«, meinte Rashno. »Die Wohnung befindet sich im achten Stock.«

Mein Blick glitt an der düsteren Fassade in die Höhe. Das Gebäude wirkte nicht gerade einladend auf mich, aber das konnte auch daran liegen, dass es mitten in der Nacht war. Bei Tag würde bestimmt alles viel freundlicher aussehen. Wir parkten den Wagen in der Tiefgarage, hievten die Koffer in den Lift und fuhren in den achten Stock hoch. Rashno schloss die Wohnungstür auf. Als wir unser neues Zuhause, eine gerade mal 15 Quadratmeter große Einzimmerwohnung, betraten, wurden wir stürmisch von meinen drei Geschwistern begrüßt.

Die Wiedersehensfreude kannte keine Grenzen. Jeder umarmte jeden, und alle plapperten gleichzeitig. Mama weinte vor Freude, als sie ihren geliebten Sohn Milad in die Arme schloss, Shirin musste dringend mal auf die Toilette, Rashno und Nasrin unterhielten sich darüber, wie die Fahrt gewesen sei, und meine zwölfjährige Schwester Daria zerrte mich am Arm in eine Ecke des Zimmers, um mir ihre neuen Spielsachen und ihre deutschen Schulbücher zu präsentieren.

»Kannst du denn schon deutsch sprechen?«, fragte ich sie.

Sie lachte. »Natürlich kann ich das. Ist ganz einfach.«

»Okay. Was heißt: Ich habe Hunger?«, testete ich sie auf Farsi.

»Ich habe Hunger«, übersetzte sie den Satz auf Deutsch und strahlte dabei wie ein Honigkuchenpferd. Ich war mächtig beeindruckt, obwohl ich kein Wort verstanden hatte von dem, was sie sagte. Ich versuchte ihr den Satz nachzusprechen, gab es aber bald auf.

»Ich glaube nicht, dass ich diese Sprache je lernen werde«, seufzte ich.

»Ach was«, kicherte sie amüsiert. »Das kriegst du schon hin. Du wirst sehen.«

Nasrin, meine älteste Schwester, hatte für unsere Ankunft extra etwas gekocht, und nachdem sich der allgemeine Begrüßungssturm gelegt hatte, breitete sie das »Sofreh«, ein iranisches Esstuch, in der Mitte der engen Wohnung aus, und wir setzten uns zu siebt darum herum und genossen unsere erste warme Mahlzeit auf deutschem Boden – im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich war einfach nur glücklich. Dass wir unsere geräumige Villa im Nobelviertel von Teheran gegen ein Ei in einem hässlichen Wolkenkratzer eingetauscht hatten und es nur ein Bett und einen Schrank für uns alle gab, störte mich nicht im Geringsten. Unsere Familie war wieder vereint, das war das Einzige, was im Moment zählte. Und da draußen wartete eine Welt voller Abenteuer auf mich.

2 Der Krieg

Das Schicksal geht oft merkwürdige Wege. Noch vor einem Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, dass meine Familie nach Deutschland auswandern würde. Niemand von uns hatte das geplant. Warum sollten wir auch? Wir lebten in einer wunderschönen Villa im Norden von Teheran, in der sogenannten Öl-Gegend. Im Garten roch es nach frischen Rosen, es gab Feigenbäume, und wenn der nasse Marmorboden auf der Terrasse nach dem Begießen der Pflanzen in der Sonne glitzerte, konnte man beinahe glauben, im Paradies zu sein.

Aber dann kam der Tag, an dem Bilder von einer der grausamsten Taten Saddam Husseins um die Welt gingen: der 16. März 1988, der Tag, an dem die Bewohner der kurdischen Kleinstadt Halabja Opfer des größten Giftgasangriffs seit dem Ersten Weltkrieg wurden. Das Senfgas, welches innerhalb von Sekunden Tausende unschuldiger Menschenleben auslöschte, war in Deutschland entwickelt worden. Dieser Umstand und die furchtbare Tatsache, dass mein ältester Bruder bei dem Angriff dabei gewesen war, sollte unser Leben auf einen Schlag für immer verändern …

Die Schrecken des Krieges hatten mein Leben von klein auf geprägt. Ich kam am 8. Februar 1980 in Teheran zur Welt, ausgerechnet in einer Zeit, in der der Schah aus Persien geflohen und der Revolutionsführer Ayatollah Chomeini aus dem Pariser Exil zurückgekehrt war; er hatte Millionen von Iranern für seine Ideale mobilisiert. Jeden Tag kam es auf den Straßen Teherans zu Schlägereien und Schießereien zwischen Chomeinis Anhängern und dem Rest des Militärs des Ex-Schahs.

Meine Mutter war 43 Jahre alt, als ich geboren wurde, und mein Vater 50. Ich habe sechs Geschwister: die drei Jahre ältere Schwester Daria, meine sechs Jahre ältere Schwester Shirin, die geistig behindert ist, einen acht Jahre älteren Bruder namens Milad, dann meine 16 Jahre ältere Schwester Nasrin, die immer wie eine Mutter zu mir gewesen ist, und schließlich mein 18 Jahre älterer Bruder Barzin und mein 20 Jahre älterer Bruder Rashno.

Mein Vater war Analphabet und stammte aus sehr ärmlichen Verhältnissen. Trotzdem hatte er den Mut, mit uns vom Land in die Großstadt zu ziehen und eine eigene Schneiderei aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Iran im Krieg mit dem Irak, und während mein Vater unermüdlich Tag und Nacht in seiner neu gegründeten Firma arbeitete, fielen die irakischen Bomben auf unsere Städte und rissen Abertausende Menschen in den Tod.

Noch heute erinnere ich mich an die heulenden Sirenen und das Geschrei der Bevölkerung, und die Haare stehen mir zu Berge, wenn all die Bilder und vor allem die Gefühle von damals wieder in mir hochsteigen. Wir waren angewiesen worden, alle Lichter zu löschen, sobald wir angegriffen würden, damit die irakische Luftwaffe keine Orientierungspunkte avisieren könne. Mein Bruder Barzin war der Meinung, wir hätten im Keller die größte Überlebenschance, falls unsere damalige Wohnung im Stadtzentrum von Teheran von einer Bombe getroffen und einstürzen würde.

»Schnell! Jeder stellt sich in eine Ecke!«, wies er uns jeweils hastig an, sobald die Sirenen ertönten. Ich war gerade mal vier, fünf Jahre alt und wäre viel lieber von meiner Mutter in den Arm genommen und getröstet worden. Aber Befehl war Befehl, mein zartes Alter hin oder her. Und so stellte ich mich bibbernd in eine Ecke unseres stockfinsteren Kellers und wartete leise wimmernd, bis der Angriff vorüber war. Unsere Wohnung wurde Gott sei Dank nie getroffen.

Mein ehrgeiziger und fleißiger Vater hatte in der Zwischenzeit seine Einmann-Schneiderei in ein richtiges Unternehmen verwandelt und finanziell so weit ausgesorgt, dass er uns eine dreistöckige Villa in einer der edelsten und besten Gegenden Teherans bauen lassen konnte. Alle, die hier wohnten, waren hohe Würdenträger, Ehrenmänner und Millionäre. Einer unserer Nachbarn war ein Stararchitekt, ein anderer ein hohes Parteimitglied des gefürchteten Paramilitärs, es gab einen stinkreichen Schiffskapitän mit einer Augenklappe und einen hoch ausgezeichneten General, der wegen einer Beinverletzung in Frühpension war.

Obwohl mein Vater kein Akademiker war, genoss er bei den Nachbarn hohes Ansehen. Er war ein stämmiger und rauer Mensch, der es von Kindesbeinen an gelernt hatte, sich mit beiden Ellenbogen durchs Leben zu boxen. Und so kam es, dass mein Vater in dieser ruhmreichen und millionenschweren Straße zu einer Art Schlichter wurde, der bei Streitfällen zwischen den Nachbarn vermittelte. Oft wurde er auch um Hilfe gebeten, wenn ein korrupter Staatsbeamter der Gaskompanie von einem unserer noblen Nachbarn Bestechungsgelder verlangte, nur, um seinen Job zu erledigen. Mein Vater sorgte dann dafür, dass dieser Beamte ein nettes Souvenir aus der Nachbarschaft mit nach Hause nahm, zum Beispiel ein blaues Auge oder eine gebrochene Nase. Durch diese kleinen Gefälligkeiten wurde mein Vater zu einem privilegierten und gefürchteten Mann in der Gegend und der gezollte Respekt galt selbstverständlich unserer ganzen Familie.

Indessen tobte der Iran-Irak-Krieg, auch Erster Golfkrieg genannt, unerbittlich weiter. Auf jeder Seite starben täglich Tausende von Menschen. Die Chance, dass unsere Villa getroffen würde, stand praktisch bei null, da hinter unserer Wohngegend die Berge schützend Wache hielten. Aber da sich unsere Villa auf einem Hügel befand, konnten wir aus fast allen Räumen das Herz von Teheran überblicken, und viele Male sahen wir in der Abenddämmerung, wie unsere geliebte Stadt bombardiert wurde. Barzin besaß ein derart gutes geografisches Gedächtnis, dass er uns bis auf drei Kilometer genau sagen konnte, wo die Bomben detoniert waren.

Meine zwei ältesten Brüder Barzin und Rashno sowie meine älteste Schwester Nasrin, die sich während der Revolution an der Universität in Teheran eingeschrieben hatten, mussten ihre Pläne aufgeben, da die Universitäten zu Beginn des Krieges geschlossen worden waren. Die Basijis, eine Chomeini treu ergebene Truppe aus Selbstmordattentätern zwischen 18 und 20 Jahren, suchten an Schulen immer wieder nach neuem Kanonenfutter, nach jungen Menschen, die bereit waren, für einen symbolischen Plastikschlüssel zum Paradies durch Minenfelder zu laufen.

In diesem Alltag, welcher von Angst und Bomben geprägt war, kam ich in die erste Klasse. Da das junge Regime von Chomeini jede westliche Lebensweise als satanisch klassifizierte, gab es keine Schulen oder öffentlichen Verkehrsmittel, bei denen beide Geschlechter vermischt waren. Somit bestand meine Klasse nur aus Jungen, und sämtliche meiner Lehrerinnen waren verschleierte konservative Fundamentalisten, die nur deshalb als Lehrerinnen eingestellt worden waren, weil sie im Krieg einen Bruder, Vater oder Ehemann verloren hatten. Ihre Bitterkeit ließen sie oft einfach an uns Kindern aus.

Einmal flüsterte ich meinem Nachbarn etwas ins Ohr – was ich besser unterlassen hätte.

»Farzad!«, rief die Lehrerin durch den Klassenraum. »Komm sofort nach vorne!«

»Aber … warum denn?«

»Halt den Mund und tu, was ich dir sage!«

Zögernd trat ich vor die Klasse.

»Streck beide Hände aus!«, befahl mir die Lehrerin und holte einen Stock aus massivem Holz aus der Tischschublade. »Für dein unverschämtes Benehmen erhältst du zehn Schläge auf die flache Hand. Und gnade dir Allah, wenn du die Hände zurückziehst!«

Meine Hände zitterten.

»Bitte«, piepste ich mit flehender Stimme, »ich verspreche, ich mache das nie wieder!«

»Das würde ich dir auch dringend raten«, keifte sie, »aber Strafe muss trotzdem sein für dein schlimmes Verhalten!«

Als die ersten Schläge auf meine kleinen unschuldigen Hände peitschten, waren meine schwarzen Dackelaugen nur noch ein Meer aus Tränen, und nach den ersten drei Schlägen spürte ich meine Hände nicht mehr.

Unsere Lehrerin hatte noch andere sadistische Bestrafungsmethoden auf Lager. An jedem ersten Wochentag ging sie durch die Reihen und kontrollierte unsere Fingernägel auf Länge und Sauberkeit. Auch die dunkelblaue Schuluniform musste perfekt zugeknöpft und in tadellosem Zustand sein. Wenn dem nicht so war, nahm die uns verhasste Frau einen Holzbleistift und klemmte ihn so lange zwischen unseren Zeige- und Ringfingern ein, bis der Bleistift brach– und unsere Seelen gleich dazu. Bei schlechten Schulnoten mussten wir uns eine ganze Stunde lang einbeinig mit dem Gesicht zur Wandtafel hinstellen und die Hände in die Luft strecken. Es dauerte keine halbe Stunde, bis man nicht einmal mehr fühlte, dass man ein Bein hatte.

Doch ich glaube, das Schlimmste an der Schule waren nicht die Bestrafungen, sondern die wöchentlichen Fliegeralarme. Dann wurden wir mitten im Unterricht aufgescheucht und rannten voller Panik in die Luftschutzbunker. Das Schluchzen und Herzklopfen in diesen unbeleuchteten, finsteren Räumen werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Ja, das waren meine ersten unschönen Erfahrungen mit dem Krieg. Aber es war erst der Anfang meiner Odyssee. Es sollte schlimmer kommen. Viel schlimmer.

3 Der Tod meines Bruders

Meine Schwester Nasrin hatte sich damit abgefunden, dass sie nicht studieren konnte, und hatte einen Job als Reporterin bei der berühmtesten Teheraner Tageszeitung gefunden. Meine beiden ältesten Brüder wurden dagegen für den Militärdienst eingezogen. Rashno wurde an die vorderste Front geschickt, und Barzin stationierten sie in einer Wüstenstadt, ca. 700 Kilometer von Teheran entfernt, in einem Kriegsgefangenenlager für irakische Soldaten. Oh, ich wünschte mir, er wäre nie dort gewesen. Denn das war der Ort, an dem er das grausame Handwerk des Foltermeisters erlernte. Um Informationen aus den feindlichen Soldaten herauszubekommen, folterte er sie tagelang, indem er sie zum Beispiel des Schlafes beraubte oder kopfüber an eine Stange hängte, bis sich das Blut im Kopf staute.

Jedes Mal, wenn Barzin auf Heimaturlaub war, bekam ich genau diese Foltermethoden an meinem eigenen Körper zu spüren. Ich war gerade mal sieben Jahre alt, doch mein Bruder kannte keine Gnade. Die Zeit im Kriegsgefangenenlager hatte ihn jeglicher Menschlichkeit beraubt.

An einem schwülen Sommerabend kam ich mit einer schlechten Note nach Hause. Es war keine wirklich schlechte Note, sie lag nur einen halben Punkt unter der Bestnote. Aber in Barzins Augen war jede Note, die von der Bestnote abwich, eine schlechte Note und musste dementsprechend bestraft werden.

»Geh ruhig mit deinen Freunden spielen«, sagte er, als ich ihm das Diktat vorlegte, »ich bestrafe dich dann am Abend.«

Ich schluckte, denn ich wusste genau, was mich erwartete, wenn ich vom Spielen zurückkam. Und ich wusste ebenfalls, dass mir niemand zu Hilfe kommen würde, selbst meine Eltern nicht. Mein Vater und meine Mutter mischten sich schon lange nicht mehr ein, wenn es um meine Erziehung ging. Von klein auf waren es meine beiden ältesten Brüder gewesen, die mir sagten, wo’s langging, und Nasrin hatte sozusagen die Rolle der Mutter übernommen. So sehr ich Nasrin liebte, fürchtete ich mich vor Barzin und Rashno, aber am meisten vor Barzin und seinen brutalen Züchtigungen, die er im Krieg erlernt hatte.

Es kam, wie es kommen musste: Nachdem sich alle schlafen gelegt hatten, riss mich Barzin unsanft aus meinem Bett und befahl mir, mich im Wohnzimmer ihm gegenüber hinzusetzen. Während er seiner Lieblingsbeschäftigung nachging, welche darin bestand, alle Zeitungen nach interessanten Artikeln zu durchforsten und diese auszuschneiden, musste ich still dasitzen und ihm dabei zusehen, und zwar stundenlang. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war einzunicken, schickte er mich ins Badezimmer, damit ich mir mit kaltem Wasser das Gesicht waschen konnte. Auf diese Weise hielt er mich bis zum Morgengrauen wach.

Weit schlimmer als Schlafentzug war es, kopfüber an einer Stange zu hängen. Diese Strafe kassierte ich ein, wenn ich eine Note nach Hause brachte, die mehr als einen ganzen Punkt unter der Bestnote lag. Es war grausam. Mein Bruder band mich mit den Füßen an einer Trainingsstange fest und setzte sich dann seelenruhig an den Tisch, um die Zeitung zu lesen.

»Bitte lass mich runter!«, flehte ich ihn unter Tränen an, während mir das Blut in den Kopf lief und ich das Gefühl hatte, er müsste gleich explodieren. »Bitte, Barzin! Bitte!«

Aber Barzin war damit beschäftigt, minutiös und hingebungsvoll Zeitungsartikel auszuschneiden, und ignorierte mich einfach. Von Zeit zu Zeit warf er mir einen prüfenden Blick zu, um zu sehen, ob ich noch bei Bewusstsein war, und kurz bevor ich ihm wegkippte und womöglich einen Hirnschaden hätte davontragen können, erlöste er mich für einige Minuten von meinen Qualen, um dann wieder von vorne zu beginnen.

Meine Eltern und Geschwister pfuschten ihm nie ins Handwerk. Oft wünschte ich mir, wenigstens meine Mama hätte den Mut aufgebracht, die Stimme gegen meinen Bruder zu erheben und mich von meiner Tortur zu befreien. Aber sie hatte es nie gelernt, sich durchzusetzen. Ein Leben lang war sie von ihrem eigenen Vater misshandelt und schließlich prügelnd in eine Zwangsehe weitergereicht worden, wo sie ebenfalls nur ausgenutzt und sogar dann noch von meinem Vater geschlagen wurde, wenn sie sechs Stunden lang mit drei kleinen Kindern im Arm in der Küche verbracht hatte, um etwas zu kochen und zum Schluss vergessen hatte, den Salzstreuer aufs Sofreh zu stellen. Bedingungslose Unterwerfung war alles, wozu sie erzogen worden war. Und deswegen konnte ich auch nicht mit ihrer Unterstützung rechnen, wenn es um meine Züchtigung ging.

Nur einmal, nur ein einziges Mal mischte sie sich ein. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was sonst aus mir geworden wäre. Es begann damit, dass Ali, ein Nachbarsjunge, und ich nur so zum Spaß bei den geparkten Autos in der Nachbarschaft die Luft aus den Reifen ließen. Dabei musste auch das Motorrad meines Bruders Barzin dran glauben. Kichernd ließen wir eine Menge Luft aus dem Hinterrad entweichen. Dann wandten wir uns anderen Spielen zu und dachten nicht mehr weiter über den Streich nach. Dass Barzin ein paar Minuten später das Haus verließ, um ein paar Besorgungen zu machen, bemerkte ich nicht, sehr wohl aber, dass er zwanzig Minuten später, das Motorrad neben sich herschiebend, zurückkam und mich mit finsterer Miene im Garten des Generals aufsuchte, so als wüsste er Bescheid.

»Verabschiede dich von deinem Freund«, sagte er schroff. »Wir beide haben etwas zu bereden.«

Ich wusste sehr wohl, was diese Worte bedeuteten, und folgte meinem Bruder mit hängenden Schultern nach Hause. Barzin stapfte zielstrebig ins Wohnzimmer, bückte sich und klappte ein Stück des Perserteppichs zurück. Ich erschauerte, als mir klar wurde, was Barzin vorhatte. Unter dem Teppich kam eine Falltüre zum Vorschein. Es war der Einstieg in eine geheime unterirdische Kammer, in welcher mein Vater seinen Safe und andere wichtige Dinge aufbewahrte. Ich mied diesen Raum wie der Teufel das Weihwasser, denn Barzin hatte mir erzählt, dass dort unten in der Dunkelheit Geister wohnen würden. Manchmal, so hatte er mir gesagt, höre er nachts ihre furchterregenden Schreie. Natürlich glaubte ich ihm jedes Wort, und als er mich nun aufforderte, in den Kerker hinunterzuklettern, wurde mir angst und bange. Unter Tränen flehte ich ihn an, mich nicht zu den Geistern zu schicken. Aber es half alles nichts.

»Strafe muss sein!«, sagte Barzin emotionslos. »Los! Runter mit dir!«

»Bitte, Barzin! Ich will nicht!«

Meine kleinen Hände klammerten sich verzweifelt an den Hosenbeinen meines Bruders fest, doch er schüttelte mich ab wie ein lästiges Insekt und stieß mich grob in die Dunkelheit hinunter. Ein lautes Ächzen, und die Falltüre fiel über mir ins Schloss. Ich hörte ein leises Rascheln, als der Teppich über die Tür gezogen wurde. Dann war es still, totenstill. Kühle Finsternis umschlang mich. Ich rechnete mir aus, dass Barzin mir bloß eine Lektion erteilen und mich jeden Moment wieder aus dem unheimlichen Kerkerloch befreien würde. So schlimm war mein Vergehen nun auch wieder nicht gewesen, dass er mich tatsächlich den Geistern überlassen würde. Oder etwa doch?

Mein Herz pochte zum Zerspringen. Ich stand in der Dunkelheit und wartete. Aber nichts geschah. Nur wenige Sekunden waren verstrichen, als ich plötzlich spürte, wie sich etwas im Raum bewegte! Ich war nicht allein hier! Die Geister waren da! Sie waren da, um mich zu holen! Panische Angst erfasste mich. Wie am Spieß begann ich zu schreien und zu weinen. Ich war mir sicher, dass ich meine Eltern und Geschwister nie mehr wiedersehen würde. Das war das Ende. Ich verkroch mich wie ein geprügelter Hund in eine Ecke und wartete darauf, von den Geistern angegriffen und verschleppt zu werden. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurden die Qualen meiner zarten Kinderseele größer. Irgendwann verwandelte sich mein Schreien in ein Wimmern, und schließlich drang nur noch ein leiser Schluckauf aus meiner trockenen Kehle. Wie lange ich in dem dunklen Verlies kauerte, hätte ich nicht sagen können. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein und kam erst wieder zu mir, als mir jemand eiskaltes Wasser ins Gesicht leerte. Alles um mich herum war verschwommen. Wie aus weiter Ferne oder durch Watte hindurch hörte ich die Stimme meiner Mutter, die Barzin mit vielen Kraftausdrücken betitelte und ihn aufs Heftigste beschimpfte.

»Du hättest ihn fast umgebracht!«, schrie sie ihn an.

Die Umrisse wurden wieder schärfer, meine Sinne kehrten zu mir zurück, und ich sah, dass ich auf dem Boden unseres Wohnzimmers lag. Meine Mama hatte sich über mich gebeugt wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt, und kühlte mit einem nassen Tuch meine Stirn. Ich war unsagbar froh, sie zu sehen. Nicht auszudenken, was mit mir geschehen wäre, hätten meine Eltern mich nicht rechtzeitig aus meinem Martyrium befreit. Das war meine erste und letzte Erfahrung mit dem Haus der Geister. Von da an verschonte mich mein Bruder mit den Geistern und bestrafte mich wieder mit den herkömmlichen Foltermethoden.

Rashno, mein ältester Bruder, der bereits 25 Jahre alt war, hatte bei seiner Rekrutierung nicht so viel Glück wie Barzin. Er wurde an die vorderste Front geschickt. Hier standen sich die iranischen und irakischen Soldaten auf eine Distanz von 50 Metern gegenüber. Jeden Tag gab es Dutzende von Toten auf beiden Seiten durch Scharfschützen und Mörsergranaten. Rashno teilte sich mit einem Soldaten einen Zweimann-Grabenbunker. Es schneite zu dieser Zeit unbarmherzig viel, und Rashno und sein Kamerad, der in dieser harten Zeit wie ein Bruder für ihn geworden war, fragten sich, was sie wohl zuerst umbringen würde: die feindlichen irakischen Scharfschützen oder die eisigen Temperaturen unter minus 20 Grad.

Zur selben Zeit und unendlich viele Kilometer von diesem Ort des Grauens entfernt, brachte mir meine Schwester Daria bei sommerlichen Temperaturen das Fahrradfahren bei. Im Iran kann man tatsächlich in ein und derselben Jahreszeit im Meer schwimmen oder in den Bergen Skilaufen gehen. Ich hatte keine Ahnung, wie es Rashno im Krieg erging. Wir konnten nicht miteinander telefonieren, da unsere Siedlung noch in der Bauphase steckte und es in unserer Gegend keinerlei Telefonleitungen gab. Die nächste Telefonkabine befand sich einige Kilometer weit entfernt und war außerdem nur für Stadtgespräche geeignet. Für Telefonate ins Ausland oder in eine andere iranische Stadt musste man zum »Mochaberat«, einer Art Vermittlungszentrale. Selbstverständlich wurden hier die Gespräche ins Ausland streng kontrolliert und auf Band aufgezeichnet, um mögliche Regimegegner und Fahnenflüchtige zu fassen. Die einzige Möglichkeit der Kommunikation waren somit Briefe.

Eines Nachmittags, als Daria und ich vor unserer Haustür Fahrrad fuhren, brachte ein Postbote einen Brief vorbei, der einen Militärstempel trug. Meine Schwester Nasrin, die gerade von der Zeitungsredaktion nach Hause gekommen war, öffnete den Umschlag. Sie las den Brief, und augenblicklich wich jede Farbe aus ihrem Gesicht. Mit der einen Hand stützte sie sich an die Mauer, mit der anderen zerknüllte sie das Papier. Entsetzen und Unglauben spiegelten sich in ihren dunklen Augen. So stand sie da, und plötzlich begann sie zu weinen und rannte ins Haus. Daria und ich lehnten sofort unsere Fahrräder an die Mauer unserer Villa und folgten ihr besorgt. Meine Mutter und mein Vater kamen Nasrin von der anderen Seite entgegengeeilt und fragten sie, was denn eigentlich los wäre.

»Rashno ist bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommen!«, brach es aus ihr heraus. Auch wenn ich damals noch nicht wirklich begriff, was der Tod bedeutete, so wusste ich sehr wohl, dass Bomben große Schäden anrichten konnten. Mama hielt sich bei dieser furchtbaren Nachricht sofort die Hände vors Gesicht und begann, sich vor Kummer und Schmerz Haare auszureißen. Mein Vater stieg unverzüglich ins Auto und fuhr fort, um, wie es bei uns üblich war, die Angehörigen zu benachrichtigen. Meine Mutter taumelte, und Nasrin konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor sie in Ohnmacht fiel. Daria wurde zu den Nachbarn geschickt, um Hilfe zu holen, während ich in die Küche rannte, um ein Glas Wasser für meine Mama aufzutreiben. Ich war so klein, dass ich mich auf einen Schemel stellen musste, um bis zum Wasserhahn zu gelangen.

Einige Minuten später kamen die Frauen des Generals, des Schiffskapitäns, des Stararchitekten und einige andere Frauen aus der Nachbarschaft völlig hysterisch herbeigeeilt und versuchten, so gut es ging zu helfen. Meine Mutter kam wieder zu sich, und eine Nachbarin kümmerte sich um Daria und mich. Im Laufe der Abenddämmerung füllte sich unsere Villa mit den Trauernden: in Schwarz gekleidete Verwandte, Bekannte und Nachbarn. Bald saßen mindestens fünfzig Leute bei uns herum und ließen sich von den Frauen Schwarztee, unser Nationalgetränk, Früchte und iranische Süßigkeiten servieren.

Die Männer unterhielten sich eifrig darüber, wie man das Land hätte führen müssen, damit der Schurke Saddam Hussein niemals soweit gegangen wäre, den Iran anzugreifen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der blutige Krieg bereits das Leben von mehr als 300000 iranischen Teenagern gefordert. Viele empfanden es als eine große Ehre, im Krieg zu fallen. Sogar die düstere Rabenmiene meiner Lehrerin hellte sich auf, als Nasrin mich am nächsten Tag zur Schule begleitete, um mich wegen der mehrtägigen Trauerfeier vom Unterricht suspendieren zu lassen. Ich hatte meine Lehrerin, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Tschador gehüllt, noch nie lachen sehen. Aber an diesem Morgen umarmte sie meine Schwester, und das nicht etwa, um uns ihr Beileid auszusprechen, sondern um uns zu beglückwünschen, einen Märtyrer in der Familie zu haben.

»Euer Bruder ist jetzt im Paradies und lässt sich von 70 Jungfrauen bedienen«, meinte sie mit feierlicher Stimme. Ich beobachtete meine Schwester und sah ihr deutlich an, dass sie am liebsten etwas erwidert hätte. Nasrin war eine kluge, intelligente Frau, hatte aber unter dem Regime gelernt, ihre Zunge zu zügeln und sich zu beherrschen. So schluckte sie ihre ganze Bitterkeit über so viel Schwachsinn aus dem Munde einer gebildeten Lehrerin hinunter und schwieg. Sie wusste, dass nur ein falsches Wort über Chomeini oder sein Regime genügte, um einer ganzen Familie den Besitz, das Auto, die Firma oder ihr Haus wegzunehmen. Und ihren Job als Reporterin wäre sie auch gleich losgeworden. Die Regierung kannte keine Gnade, wenn es darum ging, Andersdenkende in die Schranken zu weisen. Einmal wurde mein Vater vom Inlandmilitär verhaftet, weil er es gewagt hatte, in der Öffentlichkeit ein kurzärmliges Hemd zu tragen (wohlgemerkt bei 50 Grad im Schatten!). Nachdem sie ihn mit auf die Wache genommen und erfahren hatten, dass zwei seiner Söhne im Krieg dienten, ersparten sie ihm die Peitschenhiebe und bestraften ihn damit, seine beiden Arme bis zum Schultergelenk in Farbe einzutauchen.

Nach der Hiobsbotschaft von Rashnos Tod war es bei uns zu Hause merkwürdig still geworden. Niemand lachte mehr. Meine Mutter weinte die ganze Zeit. Ganz egal, ob sie beim Kochen, Essen oder Putzen war, sie weinte. Die Tage schlichen freudlos und unendlich langsam dahin. Und dann, eines Tages, klingelte es an unserer Haustür. Shirin, meine geistig behinderte Schwester, öffnete die Tür.

»Shirin«, rief meine Mutter aus der Küche. »Wer ist es denn?«

»Es ist Rashno«, antwortete Shirin wie selbstverständlich, worauf meine Mutter sie in aggressivem Ton anfuhr: »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht lügen sollst? Dein Bruder lebt nicht mehr!«

Meine Mutter ließ die Pfanne auf dem Herd stehen und ging in den Garten, um zu sehen, wer wirklich gekommen war. Im selben Moment erstarrte sie. Ein junger Mann kam freudig auf sie zugeeilt, um sie zu umarmen. Es war Rashno! Instinktiv trat meine Mutter ein paar Schritte zurück und griff zu einer Schaufel, die in der Ecke des Gartens stand, im Glauben, den Geist ihres verstorbenen Sohnes vor sich zu haben.

»Mama? Was soll das? Ich bin es doch!« Rashno entwaffnete Mama, ziemlich verblüfft von ihrer Reaktion, und verstand die Welt nicht mehr.

»Aber du bist doch … tot!«

»Was?«

»Wir … haben um dich getrauert!«

»Was?!!!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich meine Mutter einigermaßen beruhigt hatte und Rashno endlich in ihre Arme schloss. Die Trauer um den Tod meines Bruders verwandelte sich nun in grenzenlose Freude, dass er noch am Leben war. Wie sich herausstellte, war das Ganze ein furchtbares Missverständnis gewesen. Nicht Rashno war von einer Bombe getötet worden, sondern sein Kamerad, als er im verschneiten Wald nach Holz gesucht hatte und auf eine Landmine getreten war. Die Informationsabteilung hatte die beiden Soldaten miteinander verwechselt und die falsche Familie vom Tod ihres gefallenen Sohnes unterrichtet.

4 Halabja

Nicht lange nach Rashnos überraschender Rückkehr von den Toten wurde er auch schon wieder eingezogen, diesmal in das irakischkurdische Dorf Halabja. Und mit dieser Versetzung kam ein Stein ins Rollen, der mein Schicksal und das Schicksal von uns allen auf wundersame, wenn auch tragische Weise mit Deutschland verknüpfte– einem Land, das zu diesem Zeitpunkt niemand von uns kannte.

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