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Platz 2 der Krimibestenliste im August 2020 – »Jack Reacher […] ist nun mal einer der auffälligsten und interessantesten Krimihelden der letzten Jahrzehnte« Frankfurter Allgemeine
Der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher entdeckt zufällig bei einem Pfandleiher einen Abschlussring der Militärakademie West Point. Warum trennt sich jemand von einer so hart errungenen Trophäe? Einem Impuls folgend beschließt er, die ursprüngliche Besitzerin aufzuspüren und ihr diese Auszeichnung zurückzubringen. Doch der Ring ging bereits durch viele Hände, und plötzlich befindet sich Reacher im Netz einer kriminellen Organisation mit Verbindungen in die höchsten Kreise der Gesellschaft. Ein Preis wird auf seinen Kopf ausgesetzt, Killer heften sich an seine Fersen. Es gibt eben Leute, mit denen man sich nicht anlegen sollte – zum Beispiel mit Jack Reacher!
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Seitenzahl: 497
Buch
Der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher entdeckt zufällig bei einem Pfandleiher einen Abschlussring der Militärakademie West Point. Warum trennt sich jemand von einer so hart errungenen Trophäe? Einem Impuls folgend beschließt er, die ursprüngliche Besitzerin aufzuspüren und ihr diese Auszeichnung zurückzubringen. Doch der Ring ging bereits durch viele Hände, und plötzlich befindet sich Reacher im Netz einer kriminellen Organisation mit Verbindungen in die höchsten Kreise der Gesellschaft. Ein Preis wird auf seinen Kopf ausgesetzt, Killer heften sich an seine Fersen. Es gibt eben Leute, mit denen man sich nicht anlegen sollte – zum Beispiel mit Jack Reacher!
Autor
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.
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Lee Child
Der Bluthund
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Wulf Bergner
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Midnight Line (22 Reacher)« bei Bantam Press, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2017 by Lee Child
Published by Agreement with Lee Child
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Umschlagmotive: Todd Bannor/Alamy Stock Foto; © Magdalena Russocka/Trevillion Images
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25524-4V005
www.blanvalet.de
In der Geschichte der USA sind bis heute fast zwei Millionen Purple Hearts verliehen worden. Dieses Buch ist jedem einzelnen Empfänger respektvoll gewidmet.
Jack Reacher und Michelle Chang verbrachten drei Tage in Milwaukee. Am vierten Morgen war sie fort. Als Reacher mit Kaffee ins Zimmer zurückkam, fand er auf seinem Kopfkissen ein paar Zeilen. Solche kurzen Abschiedsbriefe hatte er schon mehrmals gesehen. Direkt oder indirekt besagten sie alle das Gleiche. Changs Zeilen waren indirekt. Und eleganter als die meisten. Aber nicht, was die Präsentation betraf: mit Kugelschreiber auf ein von Feuchtigkeit gewelltes Blatt Motelpapier gekritzelt. Aber elegant im Ausdruck. Sie hatte eine Metapher gewählt, um zu erklären und zu schmeicheln und sich zu entschuldigen – alles gleichzeitig. Sie hatte geschrieben: Du bist wie New York. Ich besuche es liebend gern, aber ich könnte nicht dort leben.
Er tat, was er immer tat. Er ließ sie ziehen. Er hatte Verständnis. Keine Entschuldigung nötig. Er konnte nirgends auf Dauer leben. Sein ganzes Leben war ein Besuch. Wer hätte das ertragen können? Er trank seinen Kaffee und dann ihren, nahm seine Zahnbürste aus dem Glas im Bad mit und ging durch ein Labyrinth aus Straßen, links und rechts, in Richtung Busbahnhof davon. Sie würde in einem Taxi sitzen, vermutete er. Zum Flughafen unterwegs. Sie hatte eine Gold Card und ein Smartphone.
Am Busbahnhof tat er, was er immer tat: Er kaufte ein Ticket für den nächsten abfahrenden Bus, unabhängig von dessen Ziel. Das erwies sich als eine weit im Nordwesten gelegene Endstation am Ufer des Lake Superior. Im Prinzip die falsche Richtung. Kälter, nicht wärmer. Aber Regeln sind Regeln, deshalb stieg er ein. Unterwegs sah er aus dem Fenster. Wisconsin flitzte vorbei, seine Wiesen stoppelig und voller Heuballen, seine Weiden abgegrast, seine Bäume dunkel und wuchtig. Der Sommer ging zu Ende.
Dies war das Ende mehrerer Dinge. Chang hatte die üblichen Fragen gestellt, die in Wirklichkeit getarnte Feststellungen waren. Ein Jahr konnte sie verstehen. Absolut. Ein Junge, der auf Militärstützpunkten im Ausland aufgewachsen war und später auf solchen Stützpunkten Dienst getan hatte – ohne etwas dazwischen außer vier Jahren West Point, das nicht gerade als Ponyhof bekannt war; dieser Kerl würde sich natürlich ein Jahr Auszeit nehmen, um zu reisen und sich in der Welt umzusehen, bevor er sesshaft wurde. Vielleicht sogar zwei Jahre. Aber nicht mehr. Und nicht auf Dauer. Tatsache war, dass die Nadel des Pathologiemeters ausgeschlagen hatte.
Alles das wurde besorgt, aber ohne moralische Verurteilung gesagt. Keine große Sache, nur ein zweiminütiges Gespräch. Aber die Message war klar, so klar, wie eine Message dieser Art nur sein konnte. Irgendwas mit Verweigerung. Er hatte gefragt: Verweigerung von was? Er hielt seine Lebensweise nicht insgeheim für ein Problem.
Das beweist alles, sagte sie.
Also stieg er in den Bus zu einer Endstation und wäre bis zuletzt an Bord geblieben, weil Regeln eben Regeln sind, aber dann wollte er sich bei der zweiten Pinkelpause die Beine vertreten und sah im Schaufenster eines Pfandleihers einen Ring.
Die zweite Pinkelpause wurde spätnachmittags am trübseligen Rand einer Kleinstadt eingelegt. Vielleicht der Verwaltungssitz eines Countys. Oder der Sitz eines kleinen Teils seiner Verwaltung. Vielleicht war das County Police Department hier untergebracht. In dieser Stadt gab es ein Gefängnis, das war klar. Reacher konnte die Büros von Kautionsstellern und ein Leihhaus sehen. Voller Service gleich hier nebeneinander in der etwas heruntergekommenen Straße, die sich an den Toilettenblock anschloss.
Er war vom Sitzen steif. Er suchte die Straße jenseits des Toilettenblocks ab. Er begann auf sie zuzugehen. Ohne bestimmten Grund. Nur um sich die Beine zu vertreten. Nur um verspannte Muskeln zu lockern. Als er näher kam, zählte er die Gitarren im Schaufenster des Leihhauses. Sieben. Alle mit traurigen Geschichten. Wie die Songs eines Countrysenders. Unerfüllte Träume. Weiter unten im Schaufenster gab es Glasregale mit kleinerem Zeug. Aller mögliche Schmuck. Darunter auch Ringe. Auch Klassenringe. Aus allen möglichen Highschools. Nur einer stach heraus. Auf einem stand West Point 2005.
Der Ring war ein schönes Stück. Konventionelle Form und konventioneller Stil, mit komplizierter Filigranarbeit und einem schwarzen Stein, vielleicht Glas, vielleicht ein Halbedelstein, in einer ovalen Fassung, auf der oben West Point und unten die Jahreszahl 2005 eingraviert war. Lettern im alten Stil. Nach klassischem Muster. Respekt vor alten Zeiten – oder Mangel an Fantasie. West Pointer entwarfen ihre Ringe selbst. Sie waren in der Gestaltung völlig frei. Eine alte Tradition. Oder vielleicht eine Art Erstgeburtsrecht, weil die dortigen Ringe die allerersten Klassenringe gewesen waren.
Der Ring war auffällig klein.
Reacher hätte ihn an keinen Finger stecken können. Nicht mal an den kleinen Finger der linken Hand, nicht einmal über den Nagel. Bestimmt nicht übers erste Fingergelenk. Dieser Ring war winzig, ein Frauenring. Vielleicht eine Kopie für eine Freundin oder Verlobte. Das kam vor. Als Anerkennung oder Souvenir.
Vielleicht auch nicht.
Reacher stieß die Tür des Leihhauses auf. Er trat ein. Der Kerl an der Registrierkasse sah auf. Er war ein großer Bär von einem Mann, zottig und ungekämmt. Schätzungsweise Mitte dreißig, mit reichlich Fett auf einem grobknochigen Körper. Mit einer Art Gerissenheit im Blick. Jedenfalls so viel, dass seine Reaktion auf das plötzliche Erscheinen eines Besuchers, der beinahe zwei Meter groß war und hundertzehn Kilo wog, fast perfekt war. Rein durch Instinkt gesteuert. Der Kerl hatte keine Angst. Er hatte eine geladene Waffe unter dem Ladentisch. Außer er war ein Idiot. Danach sah er nicht aus. Trotzdem wollte der Kerl nicht riskieren, aggressiv zu wirken. Andererseits auch nicht unterwürfig. Eine Frage des Stolzes.
Also fragte er: »Wie läuft’s?«
Nicht gut, dachte Reacher. Ganz ehrlich gesagt. Chang würde längst wieder in Seattle sein. In ihr altes Leben zurückgekehrt.
Aber er sagte: »Kann nicht klagen.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Zeigen Sie mir Ihre Klassenringe.«
Der Kerl bugsierte das Glastablett rückwärts aus dem Schaufenster. Er stellte es auf den Ladentisch. Der West-Point-Ring war wie ein winziger Golfball zur Seite gerollt. Reacher griff danach. Der Ring war innen graviert, also keine Kopie für eine Freundin oder Verlobte. Kopien wurden niemals graviert. Auch das war eine alte Tradition. Keiner wusste, warum.
Keine Anerkennung, kein Souvenir. Hundert Prozent original. Der eigene Ring einer Kadettin, in vier harten Jahren verdient. Mit Stolz getragen. Offensichtlich. War man nicht stolz auf den Laden, ließ man sich keinen Ring anfertigen. Dazu gab es keine Verpflichtung.
Innen eingraviert war S.R.S. 2005.
Der Busfahrer hupte dreimal. Er war abfahrbereit, aber ein Fahrgast fehlte. Reacher legte den Ring zurück, sagte »Danke« und verließ den Laden. Er hastete an dem Toilettenblock vorbei zurück und beugte sich durch die offene Bustür hinein und sagte zu dem Fahrer: »Ich bleibe hier.«
»Keine Erstattung.«
»Will auch keine.«
»Haben Sie einen Koffer im Gepäckabteil?«
»Keinen Koffer.«
»Schönen Tag noch.«
Der Mann zog an einem Hebel. Die Tür schloss sich zischend vor Reachers Gesicht. Der Motor röhrte, und der Bus fuhr ohne ihn davon. Er wandte sich von dem Dieselqualm ab und ging in Richtung Leihhaus zurück.
Der Kerl im Leihhaus war leicht angesäuert, weil er das Tablett mit den Ringen wieder herausholen musste, nachdem er’s gerade erst zurückgestellt hatte. Aber er tat es und stellte das Tablett an dieselbe Stelle auf dem Ladentisch. Der West-Point-Ring war wieder zur Seite gerollt. Reacher griff danach.
Er sagte: »Können Sie sich an die Frau erinnern, die ihn verpfändet hat?«
»Wie sollte ich?«, entgegnete der Kerl. »Ich hab hier ’ne Million Artikel.«
»Sie haben Unterlagen.«
»Sind Sie ein Cop?«
»Nein«, sagte Reacher.
»Alles hier drin ist legal.«
»Das kümmert mich nicht. Ich will nur den Namen der Frau, die Ihnen diesen Ring gebracht hat.«
»Warum?«
»Wir haben dieselbe Schule besucht.«
«Wo ist die? Im Hinterland?«
»Östlich von hier«, sagte Reacher.
»Sie können kein Mitschüler sein. Nicht aus dem Jahr 2005. Nichts für ungut.«
»Schon okay. Ich gehöre einer früheren Generation an. Aber dort verändert sich nicht viel. Also weiß ich, wie schwer sie für diesen Ring gearbeitet hat. Deshalb frage ich mich, welche unglücklichen Umstände sie gezwungen haben, sich von ihm zu trennen.«
Der Kerl fragte: »Was für eine Art Schule war das?«
»Dort erwirbt man praktische Fertigkeiten.«
»Wie in einer Fachschule?«
»Mehr oder weniger.«
»Vielleicht ist sie bei einem Unfall umgekommen.«
»Vielleicht«, sagte Reacher. Oder bei keinem Unfall, dachte er. Damals hatte es im Irak und in Afghanistan Krieg gegeben. 2005 war ein schwieriges Jahr für eine Graduation gewesen. Er sagte: »Aber ich wüsste’s gern genau.«
»Warum?«, fragte der Kerl noch mal.
»Das kann ich Ihnen nicht erklären.«
»Ist’s eine Ehrensache?«
»Unter Umständen ja.«
»Fachschulen kennen so was auch?«
»Manche schon.«
»Hier war keine Frau. Den Ring hab ich gekauft. Mit einem Haufen anderem Zeug.«
»Wann?«
»Vor ungefähr vier Wochen.«
»Von wem?«
»Meine Geschäftsgeheimnisse verrate ich Ihnen nicht. Wozu auch? Hier ist alles legal. Alles völlig legitim. Das sagt der Staat. Ich habe einen Gewerbeschein und muss alle möglichen Inspektionen über mich ergehen lassen.«
»Warum wollen Sie dann nicht damit rausrücken?«
»Das sind private Informationen.«
Reacher sagte: »Und wenn ich den Ring kaufe?«
»Der kostet fünfzig Bucks.«
»Dreißig.«
»Vierzig.«
»Abgemacht«, sagte Reacher. »Jetzt will ich Genaueres über die Provenienz hören.«
»Wir sind hier nicht bei Sotheby’s.«
»Trotzdem.«
Der Kerl zögerte kurz.
Dann sagte er: »Ich hab ihn von einem Kerl, der bei einem Wohltätigkeitsverband aushilft. Leute machen Sachspenden gegen Spendenquittungen. Meistens alte Autos und Boote. Aber auch anderes Zeug. Der Kerl stellt ihnen überhöhte Quittungen fürs Finanzamt aus, verkauft die Sachen, wo er kann, und schickt dem Verband einen Scheck. Ich kaufe Kleinkram von ihm. Ich nehme, was ich gut finde und hoffentlich mit Gewinn losschlagen kann.«
»Sie glauben also, dass jemand diesen Ring für wohltätige Zwecke gespendet hat, um eine steuerlich absetzbare Spendenquittung zu bekommen?«
»Klingt vernünftig, wenn die Erstbesitzerin tot ist. Aus dem Jahr 2005. Teil des Nachlasses.«
»Das glaube ich nicht«, erklärte Reacher. »Ein Verwandter hätte ihn behalten, denke ich.«
»Kommt darauf an, ob der Verwandte gut gegessen hat.«
»Hier hat’s schlechte Zeiten gegeben?«
»Mir geht’s gut. Aber ich bin der Pfandleiher.«
»Trotzdem spenden die Leute noch für wohltätige Zwecke.«
»Gegen überhöhte Spendenquittungen. Die Zeche zahlt letztlich der Staat. Sozialhilfe unter anderem Namen.«
Reacher fragte: »Wer ist dieser Kerl, der Sachspenden einsammelt?«
»Das verrate ich Ihnen nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil es Sie nichts angeht. Ich meine, wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Nur ein Typ, der schon einen ziemlich miesen Tag erlebt. Nicht Ihre Schuld, klar, aber wenn mich jemand fragt, müsste ich sagen, dass es vielleicht eine dumme Idee wäre, mir den Tag noch mehr zu vermiesen. Sie könnten der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.«
»Drohen Sie mir jetzt?«
»Dies ist mehr eine Art Wetterbericht. Eine Dienstleistung. Wie eine Tornadowarnung. Halten Sie sich bereit, in Deckung zu gehen.«
»Verschwinden Sie aus meinem Laden.«
»Zum Glück plagen mich keine Kopfschmerzen mehr. Ich habe einen Schlag auf den Schädel bekommen, aber jetzt geht’s mir wieder gut. Das hat der Arzt auch gesagt. Eine Freundin hat mich zu ihm geschleppt. Zweimal. Sie hat sich Sorgen um mich gemacht.«
Der Pfandleiher überlegte kurz.
Dann fragte er: »Von welcher Art Schule stammt der Ring?«
Reacher antwortete: »Von einer Militärakademie.«
»Die sind was, Entschuldigung, für Problemkids. Oder für Gestörte. Nichts für ungut.«
»Die Kids können nichts dafür«, meinte Reacher. »Sehen Sie sich die Familien an. In unserer Schule gab’s viele Eltern, die Leute umgebracht hatten.«
»Ohne Scheiß?«
»Überdurchschnittlich viele.«
»Daher halten Sie auf ewig zusammen?«
»Wir lassen keinen zurück.«
»Dieser Kerl redet mit keinem Fremden.«
»Hat er einen Gewerbeschein, wird er von den Behörden kontrolliert?«
»Was ich hier mache, ist legal. Das bestätigt mein Anwalt. Solange ich das ehrlich glaube. Und das tue ich. Die Ware stammt von einem Wohlfahrtsverband. Ich habe die Unterlagen gesehen. Alle möglichen Leute kaufen von ihm. Er wirbt sogar im Fernsehen. Vor allem für Autos, seltener Boote.«
»Aber dieser eine Kerl will nicht mit mir reden?«
»Das würde mich überraschen.«
»Hat er keine Manieren?«
»Ich würde ihn zu keinem Picknick einladen.«
»Wie heißt er?«
»Jimmy Rat.«
»Echt jetzt?«
»So kennt ihn jeder.«
»Wo kann ich Mr. Rat finden?«
»Halten Sie Ausschau nach mindestens sechs Harley-Davidsons. Jimmy ist in der Bar, vor der sie alle stehen.«
Die Stadt war verhältnismäßig klein. Jenseits ihrer traurigen Seite lag eine, die vielleicht in fünf Jahren traurig sein würde. Vielleicht später. Vielleicht in zehn Jahren. Noch gab es Hoffnung. Hier waren einige, aber nicht allzu viele Geschäfte mit Brettern verschalt. Die meisten Läden machten noch Geschäfte – in behaglich ländlicher Geruhsamkeit. Auf den Straßen waren große Pick-ups langsam unterwegs. Es gab eine Billardhalle. Die Straßenbeleuchtung war spärlich, was bei einsetzender Dunkelheit auffiel. Irgendwie ließ die Architektur erkennen, dass hier Milchwirtschaft vorherrschte. Manche Geschäftshäuser hätten Scheunen sein können. In allen steckte dieselbe DNA.
In einem mit Schindeln verkleideten Holzhaus gab es eine Bar mit einem unbefestigten Parkplatz voller Unkraut, auf dem ordentlich aufgereiht sieben Harley-Davidsons standen. Vermutlich keine Hell’s Angels, sondern irgendeine der zahlreichen Parallelorganisationen. Die Biker waren so gespalten wie Baptisten: alle gleich, aber unterschiedlich. Speziell diese Typen hatten offenbar eine Vorliebe für Chrom und schwarze Lederfransen. Sie fuhren fast liegend zurückgelehnt – mit gespreizten Beinen und weit nach vorn gestreckten Füßen. Vielleicht war das kühler. Vermutlich brauchten sie etwas Kühlung. Sie trugen schwere Lederwesten, lange Hosen und Stiefel. Alles aus schwarzem Leder. Auch im Spätsommer verdammt heiß.
Die Bikes waren in dunklen Farbtönen glänzend lackiert: vier mit orangeroten Flammen, drei mit silbern umrahmten Runen. Die Bar sah ziemlich heruntergekommen aus; an ihrer Fassade fehlte eine Menge Schindeln. In einem der Fenster stand ein Klimagerät, das auf Hochtouren arbeitete und Kondenswasser auf den Gehsteig tropfen ließ. Ein Streifenwagen rollte mit auf dem Asphalt zischenden Reifen langsam vorbei. County Police. Vermutlich hatte der Uniformierte im ersten Teil seiner Wache mit einer Radarpistole auf dem Highway etwas für den Stadtsäckel getan. Jetzt zeigte er Flagge auf den Nebenstraßen der Kleinstädte, für die er zuständig war, und achtete auf Problemzonen. Der Cop am Steuer schaute zu Reacher. Der Kerl hatte keine Ähnlichkeit mit dem Pfandleiher. Er wirkte hellwach. Sein Gesicht war schmal, sein Blick aufgeweckt. Er saß steif aufgerichtet am Steuer und hatte sich erst kürzlich beim Friseur einen »Whitewall«, zugelegt, einen an den Seiten sehr kurzen Bürstenhaarschnitt. Vielleicht erst einen Tag alt. Höchstens zwei.
Reacher blieb stehen und verfolgte, wie das Cop Car davonfuhr. In der Ferne war ein Motorrad zu hören, das näher kam, lauter und lauter wurde. Dann bog eine achte Harley um die Ecke, so langsam, wie es die Schwerkraft zuließ, eine große schwere Maschine, brabbelnd und patschend, ihr Fahrer mit weit vorgestreckten Füßen fast auf dem Rücken liegend. Er legte sich in die Kurve, wurde auf dem Kies langsamer. Über seinem schwarzen T-Shirt trug er eine schwarze Lederweste. Er parkte als Letzter in der Reihe. Im Leerlauf klang sein Bike wie ein Schmiedehammer auf einem Amboss. Dann stellte er den Motor ab und kippte die Maschine auf den Seitenständer. Nun herrschte wieder Ruhe.
Reacher sagte: »Ich suche Jimmy Rat.«
Der Blick des Kerls richtete sich auf eine der geparkten Harleys. Eine unwillkürliche Reaktion. Aber er sagte: »Kenn ich nicht«, und marschierte, steif und o-beinig, zum Eingang der Bar. Er war birnenförmig, ungefähr vierzig. Knapp einen Meter achtzig groß und füllig. Sein blasser Teint glänzte, als hätte er ihn mit Motoröl eingerieben. Er zog die Tür auf und verschwand in der Bar.
Reacher blieb, wo er war. Bei dem Bike, das der Neuankömmling angeschaut hatte, handelte es sich um eines der drei mit silbern umrandeten Runen. Es war so riesig wie die anderen, aber Lenker und Fußstützen lagen etwas näher an der Fahrerposition als bei den Übrigen. Ungefähr eine Handbreit näher als die des Neuankömmlings. Also war Jimmy Rat vermutlich kaum einen Meter fünfundsiebzig groß. Vielleicht hager, wie sein Spitzname suggerierte. Vermutlich mit einem Messer oder einer Pistole bewaffnet. Vielleicht bösartig.
Reacher ging zum Eingang der Bar. Er zog die Tür auf und trat ein. Drinnen war es dunkel und heiß, und es roch nach verschüttetem Bier. In dem rechteckigen Raum gab es links eine mit Kupfer beschlagene lange Theke, rechts Tische und Stühle. Hinter einem Durchgang in der Rückwand lag ein kurzer Korridor. Toiletten und ein Münztelefon und der Notausgang. Vier Fenster. Insgesamt sechs potenzielle Ausgänge. Die zählte ein Exmilitärpolizist als Erstes.
Die acht Biker hockten unter einem Fenster an zwei zusammengeschobenen Vierertischen eng beieinander. Sie tranken Bier aus großen, schweren Gläsern, die mit Feuchtigkeit beschlagen waren. Der neue Typ – birnenförmig auf einem Stuhl – hatte sich mit dem randvollen Glas in der Hand in die Runde gezwängt. Sechs der anderen fielen in dieselbe Kategorie, was Größe, Figur und Kleidung betraf. Einer sah schlimmer aus. Wenig über einen Meter siebzig groß, hager, mit schmalem Gesicht und unstetem Blick.
Reacher trat an die Bar und bestellte Kaffee.
»Hab keinen«, sagte der Barkeeper. »Sorry.«
»Ist das dort drüben Jimmy Rat? Der kleine Kerl?«
»Wenn Sie Streit mit ihm haben, gehen Sie mit ihm raus, okay?«
Der Barkeeper verschwand. Reacher wartete. Einer der Biker leerte sein Glas, stand auf und ging zu den Toiletten. Reacher durchquerte den Raum und setzte sich auf den freien Stuhl. Das Holz war unangenehm warm. Der achte Mann stellte die Verbindung her. Er starrte Reacher an, dann sah er zu Jimmy Rat hinüber.
Der sagte: »Dies ist eine Privatparty, Kumpel. Dich hat keiner eingeladen.«
Reacher sagte: »Ich brauche ein paar Informationen.«
»Worüber?«
»Spenden für wohltätige Zwecke.«
Jimmy Rat machte ein verständnisloses Gesicht. Dann fiel ihm ein, wovon die Rede war. Er schaute zur Tür, vor der irgendwo das Leihhaus lag, dessen Besitzer ihm versichert hatte, alles sei strikt legal. Er sagte: »Verpiss dich, Kumpel.«
Reacher legte seine linke Faust auf den Tisch. So groß wie ein Hühnchen aus dem Supermarkt. Lange dicke Finger mit Knöcheln in Walnussgröße. Alte Narben, die sich weiß von seiner Sommerbräune abhoben. Er sagte: »Mir ist’s egal, mit welcher Betrugsmasche Sie arbeiten. Oder von wem Sie stehlen. Oder wessen Hehler Sie sind. Das alles interessiert mich nicht. Ich will nur wissen, woher Sie diesen Ring hatten.«
Er öffnete die Faust. Auf der Handfläche lag der Ring, West Point 2005. Goldene Filigranarbeit, schwarzer Stein. Auffällig kleine Größe. Jimmy Rat schwieg, aber sein Blick ließ Reacher vermuten, dass er den Ring wiedererkannte.
Reacher sagte: »West Point heißt offiziell United States Military Academy. Die beiden ersten Worte enthalten schon einen Hinweis. Dies ist ein Fall fürs FBI.«
»Sie sind ein Cop?«
»Nein, aber ich habe einen Quarter fürs Telefon.«
Der fehlende Mann kam von der Toilette zurück. Er blieb hinter Reachers Stuhl stehen, breitete übertrieben perplex die Arme aus, als wollte er fragen: Was, zum Teufel, geht hier vor? Wer ist dieser Kerl? Reacher behielt weiter Jimmy Rat im Auge und achtete zugleich auf das Fenster neben sich, in dem schemenhaft zu sehen war, was sich hinter seiner Schulter abspielte.
Jimmy Rat sagte: »Dieser Stuhl gehört jemandem.«
»Yeah, mir«, entgegnete Reacher.
»Sie haben noch fünf Sekunden.«
»Ich bleibe, bis Sie meine Frage beantwortet haben.«
»Glauben Sie, dass Sie heute eine Glückssträhne haben?«
»Ich brauche keine.«
Reacher legte seine rechte Hand auf den Tisch. Sie war etwas größer als die linke. Bei Rechtshändern ganz normal. Sie wies ein paar Narben mehr auf, darunter eine v-förmige weiße Narbe, die wie ein Schlangenbiss aussah, aber von einem Nagel stammte.
Jimmy Rat zuckte mit den Schultern, als wäre alles keine große Sache.
Er sagte: »Ich bin Teil der Lieferkette. Ich bekomme Zeug von anderen, die es von anderen Leuten bekommen. Diesen Ring hat jemand gespendet oder verkauft oder verpfändet und nicht wieder eingelöst. Mehr weiß ich echt nicht!«
»Von welchen anderen Leuten haben Sie ihn bekommen?«
Jimmy Rat sagte nichts. Reacher behielt das Fenster mit dem linken Auge im Blick. Mit dem rechten sah er Jimmy Rat nicken. Das Spiegelbild in der Scheibe zeigte, dass der Typ hinter ihm zu einem gewaltigen Rundschlag ausholte. Offenbar wollte er Reacher am Ohr treffen. Damit er vielleicht vom Stuhl kippte. Oder jedenfalls weichgeklopft war.
Das funktionierte nicht.
Reacher entschied sich für die einfachste Lösung. Er duckte sich, sodass der Schlag über ihm ins Leere ging. Dann schoss er hoch, drehte sich halb um und benutzte seinen Schwung dazu, dem Kerl seinen Ellbogen in die Niere zu rammen, die durch seine Drehbewegung in diesem Augenblick an der richtigen Stelle erschien. Ein guter, solider Treffer. Der Kerl klappte blitzschnell zusammen. Reacher ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken und saß da, als wäre nicht das Geringste passiert.
Jimmy Rat starrte ihn an.
Der Barkeeper rief: »Raus mit euch, Kumpel! Wie ich’s gesagt hab.«
Das klang, als meinte er es ernst.
Jimmy Rat sagte: »Jetzt kriegst du echt Ärger.«
Auch das klang, als meinte er es ernst.
Um diese Zeit würde Chang fürs Abendessen einkaufen. Vielleicht in einem kleinen Lebensmittelgeschäft in ihrer Nähe. Einfache, gesunde Sachen. Sie war bestimmt müde.
Ein schlechter Tag.
Reacher sagte: »Ihr seid sechs Fettsäcke und ein Kümmerling. Ein Spaziergang.«
Er stand auf, machte kehrt, trat auf den Kerl am Boden und stieg über ihn hinweg. Ging in Richtung Ausgang, zum Parkplatz mit den aufgereihten glänzenden Harleys. Als er sich umdrehte, sah er die anderen Kerle ins Freie kommen. Die nicht sehr glorreichen Sieben. Allgemein steif und o-beinig, durch Bierbäuche und schlechte Haltung eingeschränkt. Trotzdem insgesamt eine Menge Gewicht. Und vierzehn Fäuste – und vierzehn Stiefel.
Womöglich mit Stahlkappen.
Vielleicht ein ganz schlechter Tag.
Aber wen kümmerte das wirklich?
Die sieben Kerle bildeten einen Halbkreis mit Jimmy Rat in der Mitte. Reacher blieb in Bewegung, um sie in die richtige Position zu bringen, während er darauf achtete, die Straße im Rücken zu behalten. Er wollte nicht gegen den Nachbarzaun gedrängt werden. Er wollte sich nicht in eine Ecke schieben lassen. Er hatte keineswegs vor wegzulaufen, aber diese Option hatte man immer gern.
Die sieben Kerle verkleinerten ihren Halbkreis, aber nicht genug. Sie hielten ungefähr drei Meter Abstand und blieben über einen Meter voneinander entfernt. Daher lagen die beiden ersten Spielzüge auf der Hand. Sie würden grunzend und mit funkelnden Blicken langsam näher rücken, worauf Reacher rasch angreifen, blitzschnell zuschlagen und ihre Linie durchbrechen würde. Dann würden alle kehrtmachen, und Reacher würde einen umgekehrten Halbkreis vor sich haben, der nur noch aus sechs Mann bestand. Dann die Wiederholung, nach der nur noch fünf Mann standen. Ein drittes Mal würden sie nicht darauf reinfallen, sondern sich alle auf ihn stürzen – alle außer Jimmy Rat, der bestimmt nicht bereit war zu kämpfen. Zu clever. Also würde Reacher es zuletzt mit vier Fettsäcken zu tun bekommen.
Ein schlechter Tag.
Für irgendjemanden.
»Letzte Chance«, erklärte Reacher. »Sagt dem kleinen Kerl, dass er meine Frage beantworten soll, dann könnt ihr alle zu eurem Bier zurückgehen.«
Keiner sprach. Sie rückten etwas näher zusammen, zogen die Schultern hoch und schlurften mit offenen Händen auf ihn zu. Reacher entschied sich für sein erstes Ziel und wartete. Der Kerl sollte nur eineinhalb Meter entfernt sein, einen Schritt, nicht zwei. Die zusätzliche Energie sparte man sich lieber für später auf.
Dann hörte er Reifen auf der Straße hinter sich. Vor ihm richteten sich die sieben Männer auf und blickten mit übertrieben unschuldiger Miene nach vorn. Reacher drehte sich um und erkannte den zuvor gesehenen Streifenwagen. Derselbe Cop. County Police. Der Wagen kam zum Stehen, und der Mann begutachtete die Szene. Er fuhr die rechte Scheibe herunter, beugte sich nach rechts, sah Reacher an und sagte: »Sir, treten Sie bitte an den Wagen.«
Das tat Reacher, aber nicht auf der Beifahrerseite. Er wollte den Kerlen nicht den Rücken zukehren. Stattdessen ging er vorn um den Wagen herum zum Fahrerfenster, das heruntergefahren würde, während die andere Scheibe sich schloss. Der Cop hielt seine Pistole in der Hand. Ganz entspannt auf einem Knie liegend.
Der Uniformierte fragte: »Möchten Sie mir erzählen, was hier vorgeht?«
Reacher antwortete: »Waren Sie in der Army oder im Marine Corps?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Viele von Ihnen sind ehemalige Soldaten. Vor allem die, die zur nächsten Post Exchange fahren, um sich die Haare schneiden zu lassen.«
»Ich war in der Army.«
»Ich auch. Hier geht nichts vor.«
»Ich muss die ganze Story hören. Viele Kerle waren in der Army. Sie kenne ich nicht.«
»Jack Reacher, 110th MP. Letzter Dienstgrad Major. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Der Cop sagte: »Von der 110th MP hab ich gehört.«
»Hoffentlich nur Gutes.«
»Stationiert waren Sie im Pentagon, richtig?«
»Nein, unser Standort war Rock Creek, Virginia. Ein gutes Stück nordwestlich des Pentagons. Ich hatte dort ein paar Jahre lang das beste Dienstzimmer. War das Ihre Sicherheitsfrage?«
»Sie haben den Test bestanden. Rock Creek ist richtig. Jetzt erzählen Sie mir, was hier vorgeht. Ich glaube, Sie wollten es mit diesen Männern aufnehmen.«
»Bisher reden wir nur«, sagte Reacher. »Ich habe sie etwas gefragt. Sie wollten lieber draußen im Freien antworten. Keine Ahnung, weshalb. Vielleicht fürchten sie, wir könnten belauscht werden.«
»Was haben Sie sie gefragt?«
»Woher sie diesen Ring hatten.«
Reacher legte das Handgelenk auf den unteren Fensterrahmen und öffnete seine Faust.
»West Point«, sagte der Cop.
»Von diesen Kerlen ans Leihhaus verkauft. Ich möchte wissen, woher sie ihn hatten.«
»Warum?«
»Weiß ich selbst nicht genau. Mich interessiert einfach die Geschichte dahinter.«
»Von diesen Kerlen erfahren Sie nichts.«
»Sie kennen sie?«
»Wir können ihnen nichts nachweisen.«
»Aber?«
»Sie holen Zeug aus South Dakota, transportieren es durch Minnesota. Über zwei Staatsgrenzen hinweg. Aber nie so viel, dass die Feds sich dafür interessieren würden. Und nie genug, dass ein Kriminalbeamter aus South Dakota hierher in Marsch gesetzt würde. Also riskieren sie nicht viel.«
»Wo in South Dakota?«
»Das wissen wir nicht.«
Reacher schwieg.
Der Cop sagte: »Sie sollten bei mir einsteigen. Die anderen sind zu siebt.«
»Ich komme schon zurecht«, meinte Reacher.
»Wenn Sie möchten, kann ich Sie verhaften. Damit Sie unbeschadet rauskommen. Aber Sie sollten weg, weil ich weitermuss. Ich kann nicht bis Schichtende bleiben.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
»Vielleicht sollte ich Sie trotzdem verhaften.«
»Aus welchem Grund? Für etwas, das noch gar nicht passiert ist?«
»Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
»Ich könnte beleidigt sein«, sagte Reacher. »Ihre Sicherheit scheint Ihnen keine Sorgen zu machen. Sie reden, als stünde das Ergebnis schon fest.«
»Steigen Sie ein. Nennen Sie’s einen taktischen Rückzug. Auskunft über den Ring bekommen Sie auch anderswo.«
»Wo denn?«
»Dann vergessen Sie die Sache einfach. Ich wette zehn zu eins, dass an der Sache nichts dran ist. Der Kerl ist vermutlich deprimiert und verbittert zurückgekommen und hat den verdammten Ring schnellstens verkauft. Um die Miete für seinen Trailer zahlen zu können.«
»Ist das hierzulande üblich?«
»Kommt oft genug vor.«
»Sie kommen gut zurecht.«
»Die Bandbreite ist groß.«
»Das war kein Kerl. Der Ring ist viel zu klein. Er hat einer Frau gehört.«
»Auch Frauen leben in Trailern.«
Reacher nickte und sagte: »Sie haben recht, wahrscheinlich steckt nichts dahinter. Aber ich möchte es bestimmt wissen. Für alle Fälle.«
Danach herrschte für einen Augenblick Schweigen. Zu hören waren nur der leise Leerlauf des Automotors und eine Brise in den Telefonleitungen.
»Letzte Chance«, sagte der Cop. »Seien Sie clever. Steigen Sie ein.«
»Ich komme schon zurecht«, wiederholte Reacher. Er trat einen Schritt zurück und richtete sich auf. Der Cop schüttelte frustriert den Kopf, wartete noch einige Sekunden, gab dann auf und fuhr mit auf dem Asphalt zischenden Reifen und qualmendem Auspuff langsam davon. Reacher beobachtete ihn bis zur Ecke, dann trat er wieder auf den Gehsteig, wo der schwarz gekleidete Halbkreis sich erneut um ihn bildete.
Die sieben Biker nahmen erneut ihre Ausgangspositionen ein, standen wieder breitbeinig und geduckt angriffsbereit da. Aber sie bewegten sich nicht. Sie wollten nicht. Jedenfalls nicht sofort. Aus ihrer Sicht war ein neuer Faktor hinzugekommen. Ihr Gegner war eindeutig verrückt. Das hatte er gerade demonstriert. Der County Cop hatte ihm einen eleganten Ausweg angeboten, aber der Mann hatte abgelehnt. Er war geblieben, um diese Sache auszufechten.
Weshalb? Das wussten sie nicht.
Reacher wartete. Er stellte sich vor, dass Chang jetzt mit ihren Einkäufen auf dem Heimweg sein würde. Vielleicht war sie schon in der Küche. Zog ein Messer aus dem Messerblock. Heizte vielleicht den Backofen vor. Dinner for one. Ein ruhiger Abend. Vielleicht eine Erleichterung.
Die Biker rührten sich noch immer nicht.
Reacher sagte: »Na, habt ihr euch die Sache anders überlegt, Jungs?«
Keine Antwort.
Reacher sagte: »Beantwortet meine Frage, dann lasse ich euch laufen.«
Keine Bewegung.
Reacher wartete.
Dann sagte er: »Jemand, der ungeduldiger ist als ich, könnte denken, dass es Zeit wird zu scheißen oder vom Topf aufzustehen.«
Weiter keine Reaktion.
Reacher grinste.
Er sagte: »Wieder mal Glück gehabt, schätze ich. Als ob man in Vegas am Automaten gewinnt. Ding, ding, ding, und ich hab sieben große Girls in einer Reihe.«
Wie erwartet provozierte das eine Reaktion. Die brauchte er auch. Bewegung war seine Freundin. Er wollte sich bewegende Massen mit Bewegungsenergie. Die Kerle sollten rotsehen und blindlings angreifen. Genau das passierte. Sie sahen sich an – jeder wütend, aber nicht bereit, den Anfang zu machen – und stürmten dann wie auf ein unhörbares Signal los, plötzlich fuchsteufelswild, aufgepumpt und verwundbar. Reacher blieb bei seinem ursprünglichen Plan, der weiter gut und zweckmäßig war. Er wartete, bis sie auf eineinhalb Meter heran waren; dann stürmte er los, durchbrach ihre Linie, wobei er dem ersten Mann seinen Ellbogen ins Gesicht rammte. Dann bremste er ruckartig ab, warf sich herum, stürmte sofort wieder los und erwischte den Typen rechts neben der plötzlich entstandenen Lücke, der sich ihm eilig zuwandte und seinem Ellbogen begegnete wie einem Auto bei einem Frontalzusammenstoß.
Zwei k. o.
Reacher machte kehrt und stand still. Die fünf Überlebenden bildeten einen neuen Halbkreis. Reacher tat einen großen Schritt rückwärts. Nur um ihre Absichten auszuloten, die genau wie erwartet ausfielen. Jimmy Rat hielt sich zurück, und die vier anderen rückten langsam vor.
Reacher hatte fast alle von der Army angebotenen Nahkampflehrgänge absolviert – die meisten an Standorten in den Südstaaten –, die von ergrauten Veteranen geleitet wurden, deren fiese Tricks sich kein normaler Mensch vorstellen konnte. Das Ergebnis solcher Lehrgänge waren geheime Eintragungen in Geheimakten und viele blaue Flecken, manchmal auch Knochenbrüche. Stand man vier Kerlen gegenüber, lautete die Faustregel solcher Einrichtungen, verdammt schnell dafür zu sorgen, dass daraus drei wurden. Und dann ebenso schnell nur noch zwei, was bereits den Sieg bedeutete, weil kein Absolvent eines dieser Lehrgänge die geringsten Schwierigkeiten mit nur zwei Gegnern haben konnte. Hätte er welche gehabt, hätten seine Ausbilder ihn schlecht ausgebildet, was in der Army logischerweise unmöglich war.
Reacher nannte das präventive Vergeltung. Die vier Männer standen wieder alle leicht gebückt, breitbeinig, mit halb ausgebreiteten Armen da. Vielleicht bildeten sie sich ein, in dieser Pose bedrohlich zu wirken. Reacher erschienen sie wie eine Ansammlung leichter Ziele. Er tänzelte vorwärts, schaltete den Kerl links außen mit einem gewaltigen Tritt zwischen die Beine aus und bog rechtwinklig ab, sodass die anderen drei nicht an ihn herankamen, ohne einen Bogen um ihren Kameraden zu machen, der jetzt zusammengekrümmt dastand und würgte, kotzte und keuchend nach Luft rang.
Reacher trat zwei Schritte zurück. Die drei anderen machten den Bogen, um an ihn heranzukommen: der erste Mann rechts, der zweite links, der dritte wieder rechts. So hatte Reacher Zeit, auf die andere Seite der geparkten Harleys zu gelangen. Nun mussten die drei sich entscheiden. Natürlich würden zwei ihm auf einer Seite folgen und einer auf der anderen, aber in welcher Verteilung? Dass der einzelne Mann am meisten riskierte, lag auf der Hand. Als schwächster Punkt würde er zuerst und vielleicht am heftigsten angegriffen werden. Wer wollte diese Aufgabe übernehmen?
Reacher sah, wie Jimmy Rat die Ereignisse vom Gehsteig aus verfolgte.
Die drei Männer teilten sich zwei zu eins auf, die beiden kamen von rechts auf Reacher zu, der einzelne Kerl von links. Während Reacher sich rasch auf ihn zubewegte, stellte er sich den unsichtbaren Bewegungsablauf hinter sich vor und rechnete sich aus, dass es knapp drei Sekunden lang einer gegen einen heißen würde, bevor die beiden anderen hinter ihm eintrafen.
Drei Sekunden waren reichlich. Der einzelne Kerl glaubte, bereit zu sein, aber das war er nicht. Er dachte völlig falsch. Sein Unterbewusstsein sagte ihm, er könne nichts Besseres tun, als leicht zurückzuhängen. Menschliche Natur. Viele Jahrtausende menschlicher Evolution. Aber dann sagten seine Frontallappen ihm, bei einer unvermeidlichen Konfrontation sei es nur logisch, so nahe wie irgend möglich bei den Verstärkungen zu bleiben. Deshalb müsse er sich auf die beiden anderen zubewegen, nicht von ihnen weg.
Die Stopp-Start-Impulse im Kopf des Kerls ließen ihn plötzlich vorwärtsstolpern, sodass er zu früh zu nahe war. Sein Gehirn war ganz mit Bewegungsproblemen ausgelastet. Raum und Zeit. Er dachte nicht über seine Verteidigung nach. Bis es zu spät war. Und auch dann bewies er nicht viel Einfallsreichtum. Weil er Ellbogen und Füße gesehen hatte, improvisierte er eine Art Allzweck-Verteidigungshaltung gegen beide, aber Reacher ignorierte sie, kam ungebremst auf ihn zu und traf den Nasensattel des Kerls mit einem Kopfstoß. Masse mal Geschwindigkeit. Darauf konnte man seinen Arsch verwetten. Game over. Nach eineinhalb Sekunden.
Reacher warf sich herum und fand die beiden letzten Typen schon hinter den geparkten Motorrädern: drei bis vier Meter entfernt, in mittlerem Tempo näher kommend, irgendwo zwischen begierig und verpflichtet. Reacher stieg rückwärts über sein zu Boden gegangenes Opfer und wich auf die Straßenseite der abgestellten Bikes aus. Er beobachtete, wie die beiden letzten Männer ihm folgten. Beobachtete auch, wie sie erkannten, dass sie sich auf einer ovalen Laufbahn befanden. Auf der konnten sie die ganze Nacht lang eine Runde nach der anderen drehen.
Sie trennten sich, schauten sich um, blieben stehen und wurden sich stillschweigend einig. Einer stand hinter der letzten Harley links, der andere hinter der letzten rechts. Die Überlebenden. Die Elite der Biker. Jedenfalls die Cleversten. Immer besser, nicht als Erster oder Zweiter, sondern erst als Nummer fünf und sechs anzugreifen.
Als hätten sie schweigend bis drei gezählt, setzten sie sich gleichzeitig in Bewegung. Reacher hatte schon Schlechteres gesehen. Ihr Tempo war richtig, die Winkel stimmten. Laut Lehrbuch war zu erwarten, dass Reacher einen Treffer würde einstecken müssen. Aus der einen oder der anderen Richtung. Das war fast unvermeidlich. Sie würden ihn gleichzeitig erreichen. Er würde der Truthahn im Sandwich sein.
Inzwischen saß Chang vermutlich schon beim Essen. Was immer sie gekocht hatte. An ihrem Küchentisch. Zur Feier des Tages vielleicht mit einem Glas Wein. Wieder sicher in den eigenen vier Wänden.
Dass Reacher einen Treffer einstecken musste, kam selten vor. Und er wollte, dass das selten blieb. Nicht nur aus Eitelkeit. Treffer waren ineffizient. Sie schadeten seiner Gesamtbilanz.
Er trat vor, als die beiden Männer um die äußeren Harleys bogen. Damit befanden sie sich mehr oder weniger auf einer Geraden. Er atmete tief durch. Die beiden Kerle kamen heran. Einer von links, einer von rechts. Sie ließen sich Zeit, setzten einen Fuß vor den anderen, achteten immer auf ihre Position zueinander. Sie wollten gemeinsam ankommen.
Menschliche Natur. Viele Jahrtausende Evolution.
Reacher flitzte nach links. Daraufhin passierten zwei Dinge: Der linke Kerl wich zurück, weil er überrascht war, und der rechte beeilte sich, die Lücke zu schließen, weil er sich voll im Jagdmodus befand und seine Beute zu entwischen drohte.
Also warf Reacher sich blitzschnell herum, und der rechte Kerl lief in vollem Tempo in eine ansatzlos geschlagene Gerade, worauf Reacher sich erneut umdrehte und feststellte, dass er über eine Sekunde mehr Zeit verfügte, weil der Kerl links es nicht eilig hatte, aus seinem Zurückweichen wieder eine Vorwärtsbewegung zu machen. So konnte Reacher sich eine Stelle aussuchen. Er trat den Kerl ans Knie, sodass er aufs Gesicht knallte, peng, und noch mal an den Kopf – aber mit dem linken Fuß, der sein schwächerer war. Bei Rechtshändern normal. Und in diesem Fall angemessen. Er wollte nichts übertreiben. Dummheit war kein Schwerverbrechen. War überhaupt kein Verbrechen. Nur ein Handicap.
Er atmete aus.
Unbesiegt.
Vom Gehsteig aus sagte Jimmy Rat: »Fühlst du dich jetzt besser?«
Reacher sagte: »Ein bisschen.«
»Du kannst für mich arbeiten, wenn du willst.«
»Danke, keine Lust.«
»Weibergeschichten?«
Reacher gab keine Antwort. Stattdessen zwängte er sich zwischen zwei Harleys, hob ein Bein über den Sattel, setzte sich auf Jimmy Rats Bike. Er rutschte ein Stück nach hinten, machte es sich bequem und stellte seinen Fuß auf eine Fußraste.
»Hey«, schimpfte Jimmy Rat, »das darfst du nicht. Man setzt sich auf kein fremdes Bike. Das ist respektlos. Das gehört sich nicht, Mann.«
»Wie wichtig ist das?«
»Das ist Regel Nummer eins.«
»Was willst du dagegen machen?«
Jimmy Rat schwieg.
Reacher sagte: »Beantworte meine Frage, dann bin ich sofort weg.«
»Welche Frage?«
»Ich will wissen, wo und von wem in South Dakota du diesen Ring bekommen hast.«
Keine Antwort.
Reacher sagte: »Mir macht’s nichts aus, die ganze Nacht hier zu sitzen. Im Augenblick sieht uns niemand. Aber früher oder später kommt jemand vorbei, der mich auf deinem Bike sieht. Ohne dass du was dagegen unternimmst. Wie ein Feigling, nicht wie eine Ratte. Dann bist du erledigt.«
Jimmy Rat sah sich um.
Er sagte: »Das ist kein Kerl, dem du begegnen möchtest.«
»Du auch nicht«, entgegnete Reacher. »Trotzdem bin ich hier.«
Vom nächsten Straßenblock drang Motorenlärm herüber. Vielleicht ein langsam fahrender Pick-up. Rat beobachtete die Straßenecke. Würde er abbiegen? Das tat er nicht. Das Geräusch verhallte, die Stille kehrte zurück.
Reacher wartete.
Dann war ein weiteres Auto zu hören, diesmal aus der Gegenrichtung.
Jimmy Rat sagte: »Seine Zentrale ist ein Waschsalon in Rapid City. Er heißt Arthur Scorpio.«
Der Wagen auf der Parallelstraße wurde langsamer. Gleich würde er zu ihnen abbiegen. Zwanzig Sekunden bis zur Ecke. Reacher stieg von der Harley und zwängte sich zwischen den Bikes hindurch, bis er auf dem Gehsteig stand. Jimmy Rat ging in Gegenrichtung davon, umrundete die Maschinen und verschwand im Schatten hinter dem Gebäude. Vielleicht benutzte er den Seiteneingang.
Wie auf ein Stichwort hin bog der Streifenwagen um die Ecke. Der County Cop war wieder da.
Mit dem Fuß auf der Bremse zögerte der County Cop kurz, dann schlug er scharf ein und hielt am selben Randstein wie zuvor. Er fuhr seine Scheibe herunter und taxierte die Szene. Sechs Männer, alle horizontal, von denen einige sich bewegten. Dazu Reacher, der auf dem Gehsteig stand.
Der Cop sagte: »Sir, treten Sie bitte an den Wagen.«
Reacher tat wie ihm geheißen.
»Glückwunsch«, sagte der Cop.
»Wozu?«
»Was Sie hier geleistet haben.«
»Nein, das war alles selbst verursacht. Ich war nur Zuschauer. Sie haben untereinander eine Riesenschlägerei angefangen. Jemand hat auf dem falschen Bike gesessen, glaub ich.«
»Das ist Ihre Story?«
»Sie glauben mir nicht?«
»Nur mal theoretisch: Sollte ich das tun?«
»Der Anwalt des Pfandleihers sagt, dass es für uns alle besser sei, wenn Sie’s täten.«
»Ich will Sie aus dem County weghaben.«
»Nichts dagegen. Ich fahre mit dem ersten Bus.«
»Nicht schnell genug.«
»Soll ich ein Motorrad klauen?«
»Ich fahre Sie.«
»Sie haben’s so eilig, mich loszuwerden?«
»Das würde uns beiden eine Menge Papierkram ersparen.«
»Wohin würden Sie mich fahren?«
»Ich vermute mal, dass die Männer Ihre Frage beantwortet haben. Also wollen Sie jetzt nach Westen. Hinter der Countygrenze geht’s geradeaus zur I-90. Massenhaft freundliche Autofahrer. Da kommen Sie per Anhalter weiter.«
Also stieg Reacher ein und vierzig ereignislose Minuten später wieder aus: mitten in der Pampa, auf einer dunklen Straße, vor einem Schild, auf dem stand, er verlasse jetzt ein County und betrete ein anderes. Er winkte dem Cop ein Lebewohl zu und ging hundert, zweihundert Meter weit, blieb stehen und schaute sich um. Der Cop blendete kurz auf, wendete und fuhr davon. Reacher verfolgte, wie seine Heckleuchten verschwanden, ging dann zu einer etwas breiteren Stelle des Banketts und wartete dort. Vor ihm lagen ungefähr sechzig Meilen County Road, dann die I-90. Die durch Minnesota nach Westen, nach South Dakota führte. Durch Sioux Falls und ganz bis Rapid City.
Und weiter. Bis nach Seattle, wenn er wollte.
In diesem Augenblick verspeiste Michelle Chang über fünfzehnhundert Meilen entfernt an ihrem Küchentisch eine ins Haus gelieferte Pizza. Nicht mit Wein, sondern einem Glas Wasser. Keine Feier. Nur Kalorien. Sie hatte den ganzen Nachmittag geschuftet, um aufzuarbeiten, was sich in einer Woche angesammelt hatte. Sie war müde und teils froh, allein zu sein, teils nicht. Sie rechnete sich aus, dass Reacher als Nächstes nach Chicago gefahren war. Von dort aus ging es in alle Richtungen weiter. Er fehlte ihr. Aber mit ihnen hätte es nicht geklappt. Das wusste sie. Das wusste sie so sicher, wie sie jemals etwas gewusst hatte.
Ebenfalls in diesem Augenblick klingelte fast siebenhundert Meilen entfernt im Rapid City Police Department das Telefon auf einem Schreibtisch im Dezernat Eigentumsdelikte. Entgegengenommen wurde der Anruf von Detective Gloria Nakamura. Sie war klein und schwarzhaarig und seit drei Jahren beim RCPD. Keine Anfängerin mehr, aber auch noch keine Veteranin. Ihre Schicht würde in einer Stunde zu Ende sein. Sie sagte: »Eigentum, Nakamura.«
Der Anrufer war ein Techniker im Dezernat Computerkriminalität, der ihr einen Gefallen tat. Er sagte: »Mein Mann bei der Telefongesellschaft hat mich angerufen. Ein gewisser Jimmy aus Wisconsin hat gerade auf Arthur Scorpios Mailbox gesprochen. Auf seinem Privathandy. Irgendeine Art Warnung.«
Nakamura sagte: »Was für eine Warnung?«
»Ich maile sie dir.«
»Wäre klasse«, sagte Nakamura und legte auf. Ihre E-Mail klingelte. Sie klickte die Nachricht an, klickte auf die angehängte Datei und wählte etwas mehr Lautstärke. Im Hintergrund waren Geräusche wie in einer Bar zu hören, dann meldete sich eine nervöse Stimme, die hektisch schnell sprach. Sie sagte: »Arthur, ich bin’s, Jimmy. Bei mir war gerade ein Kerl, der nach etwas gefragt hat, das du mir verkauft hast. Er legt es anscheinend darauf an, die Lieferkette zurückzuverfolgen. Ich hab ihm nichts erzählt, aber er hat schon mich irgendwie gefunden, also denke ich, dass er vielleicht auch dich irgendwie findet. Tut er’s, solltest du ihn ernst nehmen. Das rate ich dir dringend. Dieser Kerl ist wie Bigfoot aus den Wäldern. Sieh dich vor, okay?«
Dann schepperte etwas, als ein großer alter Hörer eingehängt wurde. Vielleicht an einem Münztelefon an einer Wand. In einer Bar in Wisconsin. Die Akte Arthur Scorpio war gut fünf Zentimeter dick. Bisher konnte man ihm nichts nachweisen. Aber die Kriminalpolizei Rapid City gab nie auf. Jeder kleinste Hinweis wurde registriert. Früher oder später würde sich etwas beweisen lassen. Nakamura legte einen Vermerk an. Nach der Wiedergabe des Telefongesprächs fügte sie einen eigenen Kommentar an: Kein rauchender Colt, aber interessant wegen des Hinweises auf eine Lieferkette. Dann öffnete sie eine Suchmaschine und tippte Bigfoot ein. Die Bedeutung war klar: ein mythischer Affenmensch, behaart, über zwei Meter groß, aus den Wäldern im Nordwesten. Sie öffnete ihr Dokument noch mal und fügte an: Vielleicht bringt Bigfoot Bewegung in die Sache! Sie mailte ihrem Lieutenant eine Kopie.
Wenig später bedauerte sie das Ausrufezeichen. Es wirkte kindisch, hatte aber sein müssen. Eigentlich wollte sie, dass ihr Boss ihren Kommentar las und eine sofortige Wiederaufnahme der Überwachung anordnete. Nur für den Fall, dass Scorpios Besucher sich als wichtig erwies. Das verstand sich eigentlich von selbst. Jimmy aus Wisconsin hatte offenbar gelogen, als er behauptete, dem Kerl nichts erzählt zu haben. Diese Behauptung war unlogisch. Ein Kerl, der beängstigend genug war, um einen Warnanruf zu rechtfertigen, war beängstigend genug, um die Antwort auf jede beliebige Frage zu bekommen. Also war der Typ schon unterwegs. Folglich kam es darauf an, schnell zu handeln. Aber ihr Boss behielt sich solche Entscheidungen grundsätzlich selbst vor. Anstöße von außen waren kontraproduktiv. Daher der Versuch, ihren Kommentar zu entschärfen. Damit ihr Lieutenant glaubte, dies sei seine eigene Idee gewesen.
Dann kam die Nachtschicht zum Dienst, und Nakamura fuhr nach Hause. Sie beschloss, morgens an Scorpios Waschsalon vorbeizufahren. Auf dem Weg zur Arbeit. Eine halbe oder Dreiviertelstunde. Bloß um sich den Laden anzusehen. Vielleicht war Bigfoot dann schon eingetroffen.
Reacher hatte keinen Grund, dem County Cop nicht zu glauben, dass im Westen Wisconsins freundliche Leute wohnten. Das Problem war Quantität, nicht Qualität. Er war spätabends auf einer einsamen Straße durch die Pampa unterwegs. Hier gab es keinen Verkehr. Oder, genauer gesagt, fast keinen. Ein Dodge Pick-up war mit einem Schwall warmer Luft vorbeigerast, und fünf Minuten später rollte ein Ford F-150 langsamer an ihm vorbei, um sich den Anhalter anzusehen, bevor der Fahrer wieder Gas gab und flott weiterfuhr. Jetzt war der Horizont im Osten dunkel und still. Doch Reacher blieb optimistisch. Schließlich brauchte er nur einen Autofahrer, der für ihn anhielt. Und die Zeit drängte nicht. Der Ring hatte einen Monat in der Auslage des Leihhauses gelegen. Es gab keine heiße Spur, die er dringend verfolgen musste.
Jede Wette, dass dahinter überhaupt keine Story steckt.
Reacher wartete und sah nach einiger Zeit weit im Osten Scheinwerfer auftauchen, die wie zwei winzige Sterne funkelten. Eine Minute lang schienen sie nicht näher zu kommen, weil er sie genau von vorn sah. Aber dann wurde das Bild deutlicher. Ein Pick-up, dachte er, oder ein SUV. Wegen der Höhe und des Scheinwerferabstands. Er trat einen Schritt auf die Fahrbahn hinaus und reckte den Daumen hoch. Dabei drehte er sich halb zur Seite, weil diese Hollywoodpose ihn weniger massig erscheinen ließ. An seiner Größe war nichts zu ändern, aber je weniger bedrohlich man wirkte, desto besser. Reacher war ein erfahrener Anhalter. Er wusste, dass Autofahrer impulsive Entscheidungen trafen.
Der Wagen war ein Pick-up. Ein japanisches Ungetüm mit Doppelkabine. Er wurde langsamer. Kam näher. Das Gesicht der Fahrerin wurde von der Instrumentenbeleuchtung rot angestrahlt. Sie hält nicht, sagte Reacher sich. Sie müsste verrückt sein.
Der Truck hielt.
Er war ein Honda. Dunkelrotmetallic. Die rechte Scheibe wurde heruntergefahren. Auf dem Rücksitz saß ein Hund. Wie ein Schäferhund, aber größer. Ungefähr so groß wie ein Pony. Vielleicht eine verrückte Mutation. Er hatte Reißzähne von der Größe von Gewehrpatronen. Die Frau beugte sich über die Mittelkonsole nach rechts. Ihr schwarzes Haar war zu einem Nackenknoten zusammengefasst. Sie trug eine dunkelgrüne Bluse. Reacher schätzte sie auf Mitte vierzig.
Sie fragte: »Wohin wollen Sie?«
Reacher antwortete: »Ich muss zur I-90.«
»Dann steigen Sie ein. Die liegt auf meinem Weg.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Wohin ich fahre?«
»Dass ich einsteigen soll. Vom Sicherheitsstandpunkt aus. Sie kennen mich nicht. Ich bin ungefährlich, aber das würde ich auf jeden Fall behaupten, stimmt’s?«
»Ich habe hier drinnen einen scharfen Hund.«
»Ich könnte bewaffnet sein. Logischerweise würde ich als Erstes den Hund erschießen. Oder ihm die Kehle durchschneiden. Und dann würde ich Sie mir vornehmen. Darüber würde ich mir Sorgen machen. Aus professioneller Sicht, meine ich.«
»Sind Sie ein Cop?«
»Ich war bei der Militärpolizei.«
»Sind Sie bewaffnet?«
»Nein.«
»Dann steigen Sie ein.«
Sie sei eine Farmerin, erklärte sie, mit viel Milchvieh auf viel Land. Recht erfolgreich, vermutete Reacher wegen des Trucks, der innen fast so geräumig war wie ein Humvee. Er hatte Ledersitze in Patchwork-Optik und war leise wie eine Limousine. Sie unterhielten sich. Er fragte, ob sie schon immer Farmerin gewesen sei, und sie sagte Ja, seit vier Generationen. Sie fragte, womit er sein Geld verdiene, und er sagte, er sei gerade auf Jobsuche. Der riesige Hund verfolgte ihr Gespräch vom Rücksitz aus, wobei er seinen massigen Schädel dem jeweils Sprechenden zuwandte.
Eine Stunde später hielt sie und ließ ihn am Kleeblatt der I-90 aussteigen. Er bedankte sich und winkte ihr nach, als sie davonfuhr. Sie war nett und herzlich gewesen. Eine der zufälligen Begegnungen, die sein Leben zu dem machten, was es war.
Dann ging er zur Einfahrt nach Westen und baute sich dort auf: ein Fuß auf der gerillten Fahrbahnmarkierung, der andere auf dem Asphalt, den Daumen weit vorgestreckt.
Fast siebenhundert Meilen entfernt, im Büro hinter seinem Waschsalon in Rapid City, löschte Arthur Scorpio die letzten Textnachrichten, E-Mails und Anrufe des Tages von seinem Handy. Er kam zu Jimmy Rats Nachricht und hörte: Ich hab ihm nichts erzählt, aber er hat schon mich irgendwie gefunden, also denke ich, dass er vielleicht auch dich irgendwie findet. Im Klartext hieß das: Ich hab dich verpfiffen, und ein Kerl ist zu dir unterwegs. Langfristig bedeutete das keine Geschäfte mehr mit Jimmy Rat, und kurzfristig mussten vielleicht Abwehrmaßnahmen geplant werden.
Scorpio rief seine Sekretärin zu Hause an. Sie war gerade dabei, ins Bett zu gehen. Er fragte sie: »Wer oder was ist Bigfoot?«
Sie sagte: »Ein riesenhafter Affenmensch, der im Wald lebt. Im Bergland im Nordwesten. Über zwei Meter groß und dicht behaart. Frisst Bären und Rinder. Ein Rancher hat im Lauf der Jahre über tausend Stück eingebüßt.«
»Wo war das?«
»Nirgends«, sagte die Sekretärin. »Alles imaginär.«
Scorpio sagte: »Huh.«
Er legte auf, rief noch zwei zuverlässige Typen an, die er kannte, sperrte dann seinen Waschsalon ab und fuhr nach Hause.
Kurz vor Mitternacht wurde Reacher von einem blitzblanken Tanklaster mitgenommen, der zwanzigtausend Liter Biomilch in einem vorn spitz zulaufenden Edelstahltank transportierte. Er fuhr nach Sioux Falls an der Westgrenze des Einzugsgebiets dieser speziellen Molkerei – aber noch über dreihundertfünfzig Meilen von Rapid City entfernt. Keine Sorge, meinte der Fahrer, er würde leicht weiterkommen. Dort gab es eine Raststätte mit lebhaftem Verkehr, Tag und Nacht. Eine echt riesige Anlage wie der Dreh- und Angelpunkt der Welt.
Reacher ließ den Kerl quer durch Minnesota erzählen, agierte sozusagen wie menschliches Amphetamin. Alles, um den Kerl wach zu halten. Alles, damit der alte Witz nicht wahr wurde: Ich möchte friedlich im Schlaf sterben wie Grandpa. Nicht entsetzt kreischend wie seine Fahrgäste. Das daraus entstehende Gespräch verzweigte sich in alle möglichen Richtungen. Institutionelle Ungerechtigkeiten der Milchindustrie wurden ausgelotet. Beschwerden wurden vorgebracht. Aber der Mann wollte auch Geschichten hören, also erfand Reacher einige. Die große Raststätte war bald erreicht. Der Mann hatte nicht übertrieben. Hier gab es eine weitläufige Tankstelle, ein hundert Meter langes einstöckiges Motel und ein hell beleuchtetes Familienrestaurant von der Größe einer Lagerhalle mit blinkender Leuchtreklame. Neben Sattelschleppern, die hereinkamen oder herausfuhren, verkehrten hier alle möglichen Pkw, Lastwagen und Kastenwagen.
Reacher stieg aus dem Milchtanker und ging geradewegs zur Rezeption des Motels, wo er sich ein Zimmer nahm, obwohl es bald Tag werden würde. Es hatte keinen Zweck, erschöpft und übermüdet in Rapid City anzukommen. Und auch keinen, genau wie erwartet einzutreffen. Jimmy Rat würde natürlich Arthur Scorpio benachrichtigt haben. Um der Erste zu sein und seinen Arsch zu retten, indem er sagte: Ich war’s nicht, ehrlich, aber ich glaube, jemand hat dich verkauft. Was der Empfänger nicht für bare Münze nähme, auch wenn er bestimmt auf diese Frühwarnung reagieren würde. Dort draußen ist jemand. Die Urangst des Menschen. Scorpio würde sofort Wachen aufstellen und Reacher deshalb dafür sorgen, dass sie den ganzen ersten Tag ins Nichts starrten. Damit sie sich langweilten, ihre Begeisterung einbüßten und gähnend blinzelten. Immer besser, den Angriffszeitpunkt selbst zu bestimmen. Deshalb frühstückte er in dem belebten Restaurant, kehrte dann in sein Zimmer zurück, duschte und ging bei Sonnenaufgang mit dem kleinen West-Point-Ring auf dem Nachttisch neben sich ins Bett.
In Rapid City, über dreihundertfünfzig Meilen westlich, war Detective Gloria Nakamura zu diesem Zeitpunkt schon auf den Beinen. Sie war vor Tagesanbruch aufgewacht, hatte geduscht, sich angezogen und gefrühstückt. Jetzt fuhr sie eine Stunde früher los als sonst – zum Dienst, aber auf einem Umweg.
Sie nahm ihren eigenen Wagen, einen mittelgroßen viertürigen Chevy. Er war blassblau und so anonym wie ein Leihwagen. Sie fuhr durch die Innenstadt, bog dann von der Hauptstraße zu Arthur Scorpios Revier ab. Ihm gehörte ein ganzer Straßenblock. Sein Waschsalon befand sich wie ein Flagship Store in dem zentralen Gebäude. Davor lag eine Querstraße mit rissiger Betonfahrbahn, schmalem Gehsteig und einem abgestorbenen Baum in einem ausgetrockneten Pflanzentrog. Auf der Rückseite der Gebäude verlief eine Gasse als Zufahrt für Lieferanten und die Müllabfuhr.
Als Erstes fuhr sie durch die Gasse, die schmal und holprig war. Über ihr spannte sich ein dichtes Netz aus Strom- und Telefonleitungen, die kreuz und quer zwischen windschiefen Masten verliefen. Am Hintereingang des Waschsalons stand ein Mann. Er lehnte mit verschränkten Armen neben der Tür an der Mauer. Gegen die Morgenkälte trug er eine schwarze Bomberjacke. Dazu einen schwarzen Pullover, eine schwarze Hose und schwarze Schuhe. Er war geschätzt einen Meter neunzig groß und muskulös. Ungefähr doppelt so groß wie Nakamura. Er wirkte hellwach und aufmerksam.
Sie wollte ein Handyfoto machen. Für die endlose Akte. Aber sie konnte es nicht einfach knipsen. Sie hatte noch nichts von ihrem Boss gehört. Die Überwachung war bisher nicht wieder genehmigt. Also wischte sie sich bis zur Kamera vor, hielt ihr Smartphone ans linke Ohr, als telefonierte sie, sah stur geradeaus und machte ein Bild nach dem anderen, bis der Wachposten weit hinter ihr war. Dann bog sie zweimal links ab und rollte an der Vorderfront des Gebäudes vorbei.
Neben dem Vordereingang stand ein weiterer Kerl. Auch er lehnte mit verschränkten Armen an der Mauer. Ganz in Schwarz wie der Türsteher eines Nachtklubs. Nur ohne ein Samtseil als Absperrung. Nakamura hielt wieder ihr Smartphone ans Ohr. Klick, klick, klick. Am Ende des Blocks bog sie rechts ab und parkte, wo der Mann sie nicht sehen konnte.
Sie schaute sich die Aufnahmen an. Beide Serien waren schräg und verschwommen: Nirgends befanden sich die Kerle in der Bildmitte, aber das Gebäude konnte man erkennen, und der Kontext erzählte die Story. Scorpio war aus Wisconsin gewarnt worden und hatte sofort Sicherheitsleute angeheuert. Hiesige Schläger. Zwei Kerle. Einer vorn, einer hinten.
Weil Scorpio sich offenbar Sorgen wegen Bigfoot machte.
Der wo war?
Hierher unterwegs, dachte Nakamura. Todsicher. Er legt es anscheinend darauf an, die Lieferkette zurückzuverfolgen. Sie stieg aus, ging zur Straßenecke zurück und bog auf Scorpios Straße ab. Sie blieb auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Der Kerl am Eingang des Waschsalons entdeckte sie. Sie spürte seinen Blick auf sich. Er bewegte sich nicht, beobachtete sie nur. Sie ging weiter. Fast genau gegenüber dem Waschsalon lag ein Coffeeshop, der nicht Scorpio, sondern einem Nachbarn gehörte. Sein Fenster zur Straße hinaus war ziemlich klein, aber wenn man dort am Tisch sitzend einen langen Hals machte, sah man einigermaßen gut. Nakamura hatte dort schon Stunden verbracht.
Sie betrat den Coffeeshop.
Ihr Tisch war besetzt. Von einem Mann, der Rührei mit Bacon gegessen und jetzt noch eine halb volle Kaffeetasse vor sich stehen hatte. Er war ein adretter, kompakter Mann in einem strapazierfähigen grauen Anzug mit Krawatte. Sein Haar war sauber gescheitelt. Er schien etwas über fünfzig zu sein, aber sein genaues Alter ließ sich unmöglich schätzen. Sein volles Haar war noch braun. Er hatte ein glattes, altersloses Gesicht.
Er beobachtete den Waschsalon durchs Fenster.
Das war eindeutig. Nakamura kannte die Anzeichen. Weil er größer war als sie, hockte er nicht vorn auf der Stuhlkante. Trotzdem saß er unnatürlich gerade, um übers Fensterbrett spähen zu können. Und er schaute nie weg, ließ den Waschsalon nicht aus den Augen, sondern tastete jetzt blindlings nach seiner Tasse, um einen Schluck Kaffee zu nehmen.
War er Bigfoot?
Nimm ihn ernst, hatte die Stimme aus Wisconsin gesagt. Und der Mann an dem Tisch wirkte tatsächlich wie jemand, den man ernst nehmen musste. Er hatte etwas Hartes, Kompetentes an sich. Nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, aber seine Geduld schien begrenzt zu sein. Er ließ nicht mit sich spaßen. Das war klar. Theoretisch konnte man ihn sich als schweigsamen tödlichen Feind vorstellen. Als die Art Mann, vor der jemand ins Telefon flüsternd warnte. Eine dringende Warnung mit einer blumigen Personenbeschreibung. Aber die Warnung hätte nicht gelautet: Dieser Kerl ist wie Bigfoot aus den Wäldern. Nicht vor diesem Mann. Stattdessen wäre die Rede von einem Meisterspion oder einem gesichtslosen KGB-Killer gewesen, der in der Menge unsichtbar blieb. Auch davon, wie gut er gekleidet war. Und wie unauffällig er insgesamt wirkte. Er war geradezu adrett. Das genaue Gegenteil von Bigfoot.
Wer war er also?
Es gab ein Mittel, das sicher festzustellen.
Sie setzte sich ihm gegenüber und holte ihre Plakette aus ihrer Umhängetasche. Die befand sich in einem dienstlich gelieferten Plastiketui gegenüber ihrem Dienstausweis mit Foto. Nakamura Gloria, Detective, dazu ihre Unterschrift und ihr Foto.
Der Mann zog eine Schildpattlesebrille aus seiner Hemdtasche, setzte sie auf, warf einen Blick auf den Dienstausweis und sah wieder weg. Aus der Innentasche seines Jacketts holte er ein kleines Notizbuch. Er schaute hinein, blätterte weiter und hob dann den Kopf.
Er sagte: »Sie sind bei Eigentumsdelikten.«
»Sie haben uns alle dort drin?«
»Ja«, sagte er.
»Wozu?«
»Ich weiß gern, wer anderswo was tut.«
»Was machen Sie hier?«
»Meine Arbeit.«
»Wie heißen Sie?«
»Bramall«, entgegnete der Mann. »Vorname Terrence, aber Sie können mich Terry nennen.«
»Und was sind Sie von Beruf, Mr. Bramall?«
»Ich bin Privatdetektiv.«
»Woher kommen Sie?«
»Aus Chicago.«
»Was führt Sie nach Rapid City?«
»Private Ermittlungen.«
»Gegen Arthur Scorpio?«
»Ich bin zu gewisser Vertraulichkeit verpflichtet, fürchte ich. Jedenfalls bis ich glaube, dass eine Straftat verübt wurde oder wird. Was im Augenblick nicht der Fall zu sein scheint.«
Nakamura sagte: »Ich muss wissen, ob Sie für ihn oder gegen ihn sind.«
»So sieht’s also aus?«
»Er wird jedenfalls nicht zum Bürger des Jahres gekürt.«
»Er ist nicht mein Klient, falls Sie das meinen.«
»Wer sonst?«
»Darf ich nicht sagen.«
Nakamura fragte: »Haben Sie einen Partner?«
»Privat?«, sagte Bramall. »Oder beruflich?«
»Beruflich.«
»Nein.«
»Sind Sie bei einer Agentur?«
»Warum fragen Sie das?«
»Wir haben erfahren, dass jemand auf dem Weg hierher ist. Nicht Sie. Ein anderer. Gestern war er in Wisconsin. Ich habe mich gefragt, ob er Ihr Kollege sein könnte.«
»Nicht meiner«, erklärte Bramall. »Ich bin ein Alleinunterhalter.«
Nakamura nahm eine Geschäftskarte aus ihrer Umhängetasche und legte sie neben Bramalls Kaffeetasse auf den Tisch. Sie sagte: »Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. Oder wenn Sie beschließen, von der Vertraulichkeitsmasche abzugehen. Oder wenn Sie einen Rat benötigen. Scorpio ist ein gefährlicher Mann. Vergessen Sie das nie!«
»Danke«, sagte Bramall und blickte weiter aus dem Fenster.
Nakamura ging von dem Kerl vor dem Waschsalon auf dem ganzen Weg misstrauisch beobachtet zu ihrem Wagen zurück. Sie fuhr zum Dienst, kam dort früher als sonst an. Sie weckte ihren Computer auf und öffnete eine Suchmaschine. Sie gab Bramall, Terrence, Privatdetektiv, Chicago ein und erzielte eine Menge Treffer. Der Mann war siebenundsechzig. Ein pensionierter FBI-Agent. Mit langer erfolgreicher Karriere, zuletzt in leitender Stellung. Viele Belobigungen und Auszeichnungen. Jetzt auf eigene Rechnung als Ermittler tätig. Er war ein viel gefragter Mann und machte keine Werbung für sich. Er war schwierig zu engagieren und teuer. Ein echter Spezialist. Er bot nur eine Dienstleistung an: vermisste Personen aufzuspüren.