Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
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Buch
Sengende Hitze liegt über Texas. Und das veranlasst Jack Reacher - ehemaliger Ermittler bei der Militärpolizei, Einzelgänger und niemandem auf der Welt verpflichtet -, ganz gegen seine Gewohnheit per Anhalter zu fahren. Zu seinem Erstaunen hält ein luxuriöser weißer Cadillac mit einer bildschönen jungen Frau am Steuer. Erstaunlich deshalb, weil in dieser Gegend sonst kaum jemand einen fremden Anhalter mitnimmt, geschweige denn als weiblicher Fahrer. Den Grund erfährt er jedoch bald darauf: Carmen Greer will ihn anheuern, ihren Ehemann umzubringen. Doch was sich so erschreckend anhört, ist eine aus reiner Verzweiflung geborene Idee. Carmen hat in eine missgünstige, korrupte Familie eingeheiratet, die ihr das Leben zur Hölle macht. Ihr Mann Scoop tyrannisiert und misshandelt sie. Ihn zu verlassen wagt sie nicht, weil ihre 6-jährige Tochter wie eine Geisel gehalten wird. Scoop saß - zu Carmens Glück - die letzten Jahre über im Gefängnis, doch nun soll er bald entlassen werden. Reachers Interesse und Mitgefühl sind schnell geweckt. Er jobbt fortan als Hilfsarbeiter auf der Ranch, um Carmen zu beschützen. Was ihm jedoch nur zum Teil gelingt: Der aus dem Gefängnis heimgekehrte Ehemann wird im gemeinsamen Schlafzimmer erschossen - und die Ereignisse überstürzen sich mit tödlichen Konsequenzen …
Autor
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann viele Jahre als Produzent beim Fernsehen. Heute lebt er mit Frau und Tochter im Staat New York. Er erzielte bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Roman einen Bestseller in England und eroberte sich dann in beeindruckendem Tempo international eine riesige Fangemeinde. Sein Erfolgsgeheimnis: »Lee Child schreibt exzellente Thriller, packend und glänzend konstruiert. Unmöglich, sie aus der Hand zu legen!« (Frances Fyfield)
Von Lee Child im Taschenbuch lieferbar:
Zeit der Rache. Roman (35715)
Sein wahres Gesicht. Roman (35692)
Die meisten Leute glauben, die Schriftstellerei sei ein einsames Geschäft. Das ist ein Irrtum. Es ist ein Mannschaftsspiel, und ich kann mich glücklich schätzen, dass mir in allen meinen Verlagen liebenswürdige und fähige Menschen zur Seite stehen. Dieser Roman ist also jenen gewidmet, die an einem meiner Bücher mitgearbeitet haben. Sie sind zu zahlreich, als dass ich sie einzeln nennen könnte, aber zu wichtig, um unerwähnt zu bleiben.
1
Die Beobachter waren zu dritt: zwei Männer und ein Junge. Sie benutzten Teleskope, keine Ferngläser. Das war eine Frage der Entfernung. Wegen des Geländes betrug der Abstand zu ihrem Zielobjekt fast eine Meile. In geringerer Entfernung gab es keine Deckung. Vor ihnen lag niedriges, sanft gewelltes Land, das im Sonnenglast eine Khakifarbe angenommen hatte - Gras, Fels und sandiger Boden gleichermaßen. Die nächste sichere Deckung war die weite Senke, in der sie sich befanden: ein knochentrockenes ehemaliges Flussbett, das vor einer Million Jahren in einem anderen Klima ausgewaschen worden war, in dem es hier noch Regen und Farne und rauschende Flüsse gegeben hatte.
Die Männer lagen ausgestreckt im Staub, spürten die Morgenhitze auf ihrem Rücken und starrten durch ihre Teleskope. Der Junge kroch hinter ihnen auf den Knien umher, holte Wasser aus der Kühlbox, achtete auf Klapperschlangen und hielt Bemerkungen in einer Kladde fest. Sie waren vor Tagesanbruch in einem staubigen Pick-up angekommen, hatten zuvor einen weiten Bogen gemacht und waren von Westen übers unbesiedelte Land geholpert. Sie hatten eine schmutzige Plane über den Wagen geworfen und mit Felsbrocken beschwert. Dann waren sie zum Rand des ehemaligen Flussufers geschlichen, dort in Stellung gegangen und hatten ihre Teleskope auf das Zielobjekt eingestellt, als die Morgensonne im Osten hinter dem fast eine Meile entfernten roten Haus aufging. Heute war Freitag, ihr fünfter Morgen hintereinander, und sie hatten nicht mehr viel Gesprächsstoff.
»Uhrzeit?«, fragte einer der Männer. Seine Stimme klang nasal, weil er ein Auge offen und das andere geschlossen hielt.
Der Junge sah auf seine Uhr.
»Zehn vor sieben«, antwortete er.
»Dann ist’s jeden Augenblick so weit«, sagte der Mann.
Der Junge schlug seine Kladde auf und hielt sich bereit, dieselbe Eintragung zu machen, die er schon viermal hineingeschrieben hatte.
»Küchenlicht an«, sagte der Mann.
Das schrieb der Junge auf. 6.50 Uhr, Küchenlicht an. Die Küche lag auf der ihnen zugekehrten Seite des Hauses; da ihr nach Westen hinausführendes Fenster von der Morgensonne abgewandt war, wurde es in der Küche auch nach Sonnenaufgang nicht gleich hell.
»Allein?«, fragte der Junge.
»Genau wie immer«, sagte der zweite Mann blinzelnd.
Dienstmädchen macht Frühstück, notierte der Junge. Zielperson noch im Bett. Die Sonne stieg langsam höher. Sie hievte sich am Himmel hoch und ließ die Schatten kürzer und kürzer werden. Das rote Haus hatte einen hohen Schornstein, der wie der Zeiger einer Sonnenuhr aus dem Dach des Küchenanbaus ragte. Der Schatten, den er warf, beschrieb einen Bogen und wurde kürzer, während die Hitze schwer auf den Schultern der Beobachter lastete. Sieben Uhr morgens, und es war bereits heiß. Um acht würde es glühend, um neun entsetzlich heiß sein. Und sie mussten den ganzen Tag hier ausharren, bis sie abends nach Einbruch der Dunkelheit ungesehen verschwinden konnten.
»Schlafzimmervorhänge aufgezogen«, sagte der zweite Mann. »Sie ist aufgestanden, läuft herum.«
Der Junge schrieb es auf. 7.04 Uhr, Schlafzimmervorhänge offen.
»Jetzt kommt’s«, sagte der erste Mann.
Sie hörten die Pumpe anspringen, die Wasser aus dem Brunnen heraufbeförderte - aus fast einer Meile Entfernung eben noch hörbar. Ein kurzes mechanisches Klicken, danach ein leises, tiefes Brummen.
»Sie duscht«, sagte der Mann.
Der Junge notierte auch das. 7.06 Uhr, Zielperson beginnt zu duschen.
Die Männer gönnten ihren Augen eine Ruhepause. Solange sie unter der Dusche stand, würde sich nichts ereignen. Wie denn auch? Sie ließen ihre Teleskope sinken und sahen blinzelnd ins grelle Sonnenlicht. Die Wasserpumpe verstummte nach sechs Minuten mit einem erneuten Klicken. Die Stille klang lauter als das schwache Pumpgeräusch zuvor. Der Junge trug ein: 7.12 Uhr, Zielperson hört auf zu duschen. Die Männer hoben wieder ihre Teleskope.
»Sie zieht sich an, glaube ich«, sagte der erste Mann. Der Junge kicherte. »Kannst du sie nackt sehen?«
Der Platz des zweiten Mannes war gut sechs Meter nach Süden versetzt. Von dort aus konnte er die Rückseite des Hauses mit ihrem Schlafzimmerfenster besser sehen.
»Du bist widerlich«, sagte er. »Weißt du das?«
Der Junge notierte: 7.15 Uhr, vermutlich beim Anziehen. Anschließend: 7.20 Uhr, vermutlich unten, vermutlich beim Frühstück.
»Anschließend geht sie wieder rauf, putzt sich die Zähne«, sagte er.
Der linke Mann verlagerte sein Gewicht von einem auf den anderen Ellbogen.
»Klar doch«, sagte er. »Das sieht der kleinen Zicke ähnlich.«
»Sie zieht wieder ihre Vorhänge zu«, sagte der rechte Mann.
Das war im Westen von Texas im Sommer allgemein üblich, vor allem wenn das Schlafzimmerfenster wie hier nach Süden hinausging. Außer man wollte in der folgenden Nacht in einem Raum schlafen, der heißer als ein Pizzaofen war.
»Achtung!«, sagte der Mann. »Ich wette zehn zu eins, dass sie jetzt in den Pferdestall geht.«
Diese Wette nahm keiner an, denn bisher war sie an vier Morgen viermal in den Stall hinausgegangen, und Beobachter werden dafür bezahlt, dass ihnen solche Verhaltensmuster auffallen.
»Die Küchentür geht auf.«
Der Junge schrieb: 7.27 Uhr, Küchentür wird geöffnet.
»Da kommt sie.«
Sie trat in einem schulterfreien, knielangen blauen Baumwollkleid aus dem Haus. Ihr Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es war noch feucht vom Duschen.
»Wie nennt man diese Art Kleidung?«, fragte der Junge.
»Kleid mit Nackenträger«, erwiderte der linke Mann.
7.28 Uhr, kommt in blauem Kleid mit Nackenträger aus dem Haus, geht zur Scheune, notierte der Junge.
Sie überquerte den Hof, machte auf den unebenen Fahrspuren in der sonnenverbrannten Erde kurze, zögerliche Schritte, hatte gut sechzig Meter weit zu gehen. Sie zog mit einiger Anstrengung das Scheunentor auf und verschwand im Dunkel dahinter.
Der Junge schrieb: 7.29 Uhr, Zielperson in der Scheune.
»Wie heiß ist’s schon?«, fragte der linke Mann.
»Mindestens fünfunddreißig Grad«, sagte der Junge.
»Dann gibt’s bald ein Gewitter. Bei solcher Hitze muss es eins geben.«
»Da kommt ihr Bus«, bemerkte der rechte Mann.
Einige Meilen südlich von ihnen war über der Straße die Staubwolke eines Fahrzeugs zu sehen, das langsam und stetig nach Norden vorankam.
»Sie kommt zurück«, sagte der rechte Mann.
7.32 Uhr, Zielperson kommt aus der Scheune, notierte der Junge.
»Das Dienstmädchen ist an der Tür«, sagte der Mann.
Die Zielperson machte an der Küchentür Halt und nahm ihre Lunchbox von dem Dienstmädchen entgegen. Eine leuchtend blaue Plastikbox mit Abziehbildern von Cartoonfiguren. Sie blieb noch einen Augenblick stehen. Ihre Haut war von der Hitze rosa und feucht. Sie bückte sich, um ihre Socken hochzuziehen, dann trottete sie ans Tor, durchs Tor hinaus und auf den Randstreifen der Straße. Der Schulbus wurde langsamer und hielt; die vordere Tür öffnete sich mit einem Zischen, das die Beobachter über das Geräusch des im Leerlauf tuckernden Motors hinweg deutlich hörten. Die verchromten Haltestangen blitzten einmal in der Sonne auf. Dieselqualm hing wabernd in der heißen, reglosen Luft. Die Zielperson hievte ihre Lunchbox in den Bus, fasste die Haltestangen mit beiden Händen und kletterte hinein. Die Tür schloss sich wieder, und die Beobachter sahen das weizenblonde Haar der Zielperson hinter einem der Busfenster auftauchen. Dann wurde das Motorengeräusch lauter, als der Fahrer den ersten Gang einlegte. Der Bus fuhr weiter und zog dabei eine neue Staubwolke hinter sich her.
7.36 Uhr, Zielperson im Schulbus, schrieb der Junge.
Die Straße nach Norden verlief schnurgerade, und er drehte den Kopf zur Seite und sah dem Bus nach, bis die Hitzewellen am Horizont ihn zu einem flimmernden gelben Trugbild zerfließen ließen. Dann klappte er seine Kladde zu und sicherte sie mit einem breiten Gummiband. Drüben im roten Haus trat das Dienstmädchen über die Schwelle und schloss die Küchentür. Fast eine Meile entfernt ließen die Beobachter ihre Teleskope sinken und schlugen ihre Kragen als Schutz gegen die Sonne hoch.
7.37 Uhr an einem Freitagmorgen.
7.38 Uhr.
Um 7.39 Uhr kletterte Jack Reacher mehr als dreihundert Meilen nordöstlich aus dem Fenster seines Hotelzimmers. Vor einer Minute war er noch im Bad gewesen und hatte sich die Zähne geputzt. Davor hatte er die Tür seines Zimmers geöffnet, um die Temperatur zu erkunden. Er hatte die Tür offen gelassen. Der Kleiderschrank in dem kleinen Vorraum besaß eine Spiegeltür, und im Bad hing ein Rasierspiegel an einem Schwenkarm, in dem Reacher durch einen glücklichen Zufall vier Männer beobachten konnte, die aus einem Auto stiegen und zur Rezeption des Motels gingen. Reines Glück, aber ein Kerl, der so wachsam war wie Jack Reacher, hatte natürlich überdurchschnittlich oft Glück.
Das Auto war ein Streifenwagen. An der Beifahrertür trug er ein Wappen, dessen Über- und Unterschrift dank des hellen Sonnenscheins und der zweifachen Spiegelung gut zu lesen war. Oben stand City Police, in der Mitte kam ein prächtiges Stadtwappen, und darunter stand Lubbock, Texas. Alle vier Männer waren in Uniform. Sie trugen breite Gürtel mit Revolvern, Handfunkgeräten, Schlagstöcken und Handschellen. Drei der Männer hatte er noch nie gesehen, aber den vierten Kerl kannte er. Dieser vierte Kerl war ein bulliger Schwergewichtler mit einer blondierten Gelfrisur über seinem fleischigen roten Gesicht. An diesem Morgen war dieses Gesicht teilweise durch eine glänzende Aluminiumschiene verdeckt, die man mit Heftpflaster über seiner zertrümmerten Nase befestigt hatte. Sein gebrochener rechter Zeigefinger war ähnlich geschient und verbunden.
Am Abend zuvor hatte der Typ noch keine dieser Verletzungen gehabt - und Reacher hatte nicht geahnt, dass er ein Cop war, weil er einfach wie irgendein Idiot in einer Bar aussah. Reacher war dorthin gegangen, weil er gehört hatte, die Musik sei gut, aber das war sie nicht, deshalb hatte er sich allmählich immer weiter von der Band abgesetzt und war schließlich auf einem Barhocker gelandet, von dem aus er in einem hoch an der Wand montierten Fernseher ESPN ohne Ton sehen konnte. Die Kneipe war übervoll und laut, und er war zwischen einer Frau rechts und einem Schwergewichtler mit blondierter Gelfrisur links von ihm eingeklemmt. Als die Sportsendung ihn zu langweilen begann, drehte er sich um und wollte sich die anderen Gäste ansehen. Er bemerkte, wie der Kerl neben ihm fraß. Er trug ein ärmelloses weißes T-Shirt und aß Hähnchenflügel vom Grill. Die Flügel waren fettig, und der Typ war ein Schwein. Hühnerfett lief ihm übers Kinn und tropfte ihm von den Fingern aufs Hemd. Zwischen seinen Brustmuskeln hatte sich ein dunkler, tropfenförmiger Klecks gebildet, der sich allmählich zu einem eindrucksvollen Fleck ausweitete. Der Kerl ertappte Reacher dabei, wie er diesen Fettfleck anstarrte.
»Was glotzt du so?«, fragte er.
Das sagte er halblaut und aggressiv, aber Reacher ignorierte ihn.
»Was glotzt du so?«, wiederholte der Kerl.
Wie Reacher aus Erfahrung wusste, passierte unter Umständen nichts, wenn jemand das nur einmal sagte. Sagte er’s jedoch zweimal, waren Scherereien zu erwarten. Das grundlegende Problem dabei ist, dass der andere die ausbleibende Antwort als Beweis seiner eigenen Überlegenheit sieht. Andererseits würde er gar nicht zulassen, dass man ihm eine Antwort gab.
»Glotzt du mich an?«, fragte der Kerl.
»Nein«, antwortete Reacher.
»Glotz mich bloß nicht an, Junge«, drohte der Kerl.
Als Reacher ihn Junge sagen hörte, vermutete er, der andere sei Vorarbeiter in einem Sägewerk oder auf einer Baumwollplantage. Bei irgendeinem hiesigen Unternehmen, in dem Muskelkraft gebraucht wurde. In irgendeinem herkömmlichen Beruf, der vielleicht schon seit Generationen vererbt wurde. An das Wort Cop dachte er jedenfalls überhaupt nicht. Andererseits war er in Texas noch ziemlich neu.
»Glotz mich nicht an!«, wiederholte der Kerl.
Reacher drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Nicht um den Kerl gegen sich aufzubringen, nur um ihn einzuschätzen. Das Leben ist immer wieder für Überraschungen gut, deshalb wusste er, dass er eines Tages einem Mann gegenüberstehen würde, der ihm körperlich gewachsen war. Jemandem, der ihm Sorgen bereiten würde. Aber als er sich den Typ genauer ansah, merkte er, dass dieser Tag noch nicht gekommen war. Deshalb lächelte er nur und wandte seinen Blick ab.
Dann stieß der Kerl ihn mit dem Zeigefinger an.
»Du sollst mich nicht anglotzen«, sagte er und stieß ihn erneut mit dem Finger an.
Sein dicker Zeigefinger war fettig. Er hinterließ einen deutlichen Fleck auf Reachers Hemd.
»Lass das«, sagte Reacher.
Der Kerl stieß ihn noch einmal an.
»Warum?«, fragte er. »Was passiert sonst?«
Reacher sah an sich herab. Auf seinem Hemd waren jetzt zwei Fettflecken. Der Kerl stieß ihn erneut an. Drei Stöße, drei Flecken. Reacher biss die Zähne zusammen. Was waren schon drei Fettflecken auf einem Hemd? Er begann langsam bis zehn zu zählen. Er war erst bei acht angelangt, als der Kerl ihn nochmals anstieß.
»Bist du taub?«, fragte Reacher. »Du sollst das lassen, hab ich gesagt.«
»Willst du’nen Aufstand machen, oder was?«
»Nein«, sagte Reacher, »eigentlich nicht. Ich will nur, dass du damit aufhörst.«
Der Kerl grinste. »Dann bist du ein feiges Stück Scheiße.«
»Meinetwegen«, sagte Reacher. »Lass bloß deine Hände von mir.«
»Was passiert sonst? Was willst du dagegen machen?«
Reacher zählte langsam weiter. Acht. Neun.
»Willst du mit mir rauskommen?«, fragte der Kerl.
Zehn.
»Fass mich noch mal an, dann weißt du’s«, sagte Reacher. »Ich hab dich viermal gewarnt.«
Der Kerl zögerte eine Sekunde. Dann machte er natürlich weiter. Reacher fing seinen Zeigefinger in der Luft ab und brach ihn am ersten Gelenk. Bog ihn einfach nach oben um, als betätige er eine Türklinke. Und weil er wütend war, beugte er sich nach vorn und rammte dem Kerl seine Stirn ins Gesicht. Das war eine flüssige, genau berechnete Bewegung, die er aber auf ungefähr die Hälfte der möglichen Wucht abschwächte. Es war nicht nötig, den Mann wegen vier Fettflecken auf einem Hemd in ein Koma zu versetzen. Reacher trat einen Schritt zur Seite, damit der Kerl Platz hatte, zu Boden zu gehen, und stieß dabei versehentlich die Frau rechts von ihm an.
»Entschuldigung, Ma’am«, sagte er.
Die Frau nickte vage; sie war durch den Krach leicht verwirrt, konzentrierte sich auf ihren Drink, hatte nicht mitbekommen, was neben ihr passierte. Der große Kerl polterte auf den Fußboden, ohne einen Laut von sich zu geben, und Reacher benutzte seine rechte Stiefelsohle, um ihn auf die Seite zu wälzen. Dann schob er die Zehenkappe unter das Kinn des Schwergewichtlers und drückte es leicht nach oben, damit die Luftröhre frei blieb. Stabile Seitenlage, so nannten es die Rettungssanitäter. Sie verhinderte, dass man in der Bewusstlosigkeit erstickte.
Reacher zahlte seine Drinks, ging ins Motel zurück und dachte überhaupt nicht mehr an den Kerl, bis er ihn morgens bei einem zufälligen Blick in den Rasierspiegel draußen als Cop herumlaufen sah. Dann dachte er angestrengt und so schnell er nur konnte nach.
Die erste Sekunde verbrachte er damit, über Spiegelungen zu sinnieren und sich zu fragen: Wenn ich ihn sehe, kann er mich dann auch sehen? Die Antwort lautete: Klar kann er das. Wenn er in die richtige Richtung schaute, was er vorläufig nicht tat. In der nächsten Sekunde war Reacher auf sich selbst wütend. Er hätte die Anzeichen richtig einordnen müssen. Sie waren unverkennbar gewesen. Wer hätte sich mit einem Kerl seiner Statur angelegt - außer jemand, der sich seiner Macht, seiner vermeintlichen Unverwundbarkeit sicher war? Das hätte er merken müssen.
Was tun? Der Kerl war ein Cop in seinem eigenen Revier. Und Reacher war wegen seiner Größe ein leicht auszumachendes Ziel. Außerdem hatte er noch immer vier Fettflecken am Hemd und auf der Stirn eine frische Beule. Wahrscheinlich gab es Gerichtsmediziner, die nachweisen konnten, dass ihre Form dem Nasenbein des Kerls entsprach.
Was tun? Ein wütender Cop auf einem Rachefeldzug konnte Ärger bereiten. Großen Ärger. Erst eine spektakulär öffentliche Verhaftung, vielleicht mit ein paar Schüssen in die Luft, anschließend garantiert Spiel und Spaß in einer abgelegenen Zelle auf dem Polizeirevier, wobei man sich nicht gegen die vier Typen wehren durfte, wenn man seine juristische Lage nicht verschlimmern wollte. Dann alle möglichen schwierigen Fragen, weil Reacher gewohnheitsmäßig ohne Papiere und Gepäck außer einer Zahnbürste und ein paar tausend Dollar in der Hosentasche reiste. Also würde er als verdächtig gelten und beschuldigt werden, einen Polizeibeamten tätlich angegriffen zu haben. In Texas war das vermutlich ein Kapitalverbrechen. Alle möglichen Augenzeugen würden sich melden, um zu beschwören, sein heimtückischer Angriff sei völlig grundlos erfolgt. Im schlimmsten Fall konnte ihm das sieben bis zehn Jahre Knast einbringen. Was auf seiner Wunschliste definitiv nicht ganz oben stand.
Also war in diesem Fall Vorsicht, nicht Mut angesagt. Reacher steckte seine Zahnbürste ein, ging durchs Zimmer und öffnete das Fenster. Hakte das Fliegenschutzgitter aus und stellte es draußen auf den Boden. Kletterte ins Freie, schloss das Fenster, stellte das Gitter in den Fensterrahmen zurück und ging über ein unbebautes Grundstück zur nächsten Straße. Wandte sich nach rechts und ging weiter, bis er hinter einem niedrigen Gebäude in Deckung war. Er sah sich nach Bussen um. Hier gab es keine. Er hielt Ausschau nach Taxis. Wieder Fehlanzeige. Also hielt er den Daumen hoch. Seiner Schätzung nach hatte er zehn Minuten Zeit, eine Mitfahrgelegenheit zu finden, bevor die Cops im Motel fertig waren und anfingen, die Straßen abzusuchen. Zehn Minuten, mit viel Glück eine Viertelstunde.
Was bedeutete, dass das nicht funktionieren würde, nicht funktionieren konnte. Um 7.42 Uhr hatte es schon über vierzig Grad im Schatten. Bei solchen Temperaturen würde ihn kein Mensch mitnehmen. Kein Autofahrer der Welt würde seine Tür lange genug öffnen, um ihn einsteigen zu lassen - von langen Diskussionen über die jeweiligen Fahrtziele ganz abgesehen. Also war es unmöglich, rechtzeitig von hier wegzukommen. Völlig unmöglich. Weil er sich seiner Sache so sicher war, machte er sich daran, Alternativen in Erwägung zu ziehen. Aber wie sich dann zeigte, hatte er sich getäuscht. Dieser ganze Tag sollte aus einer Reihe von Überraschungen bestehen.
Die Killer waren zu dritt: zwei Männer und eine Frau. Sie waren ein zu Aufträgen anreisendes Profiteam, das in Los Angeles lebte und nur über einen Kontaktmann in Dallas und einen weiteren Vermittler in Las Vegas zu erreichen war. Die drei waren seit zehn Jahren im Geschäft und verstanden sich sehr gut darauf, überall im Südwesten der USA Probleme zu lösen, dabei selbst zu überleben, um ihr Honorar zu kassieren, und wieder tätig zu werden, wenn der nächste Auftrag kam. Zehn Jahre, niemals irgendwelche Schwierigkeiten. Ein gutes Team. Gewissenhaft, einfallsreich, perfektionistisch. In ihrer seltsamen kleinen Welt gehörten die drei zur absoluten Spitze. Und sie waren für ihre Arbeit hervorragend geeignet: weiß, unauffällig, leicht zu vergessen, anonym. Sah man die drei zusammen, hätten sie das Personal einer Büromöbelherstellerfiliale auf der Fahrt zu einer Fachmesse sein können.
Nicht, dass sie jemals zusammen zu sehen gewesen wären - außer von ihren Opfern. Sie reisten getrennt. Einer fuhr mit dem Auto, die beiden anderen flogen auf verschiedenen Routen. Das Auto wurde immer von einem der Männer gelenkt, denn sie wollten möglichst unauffällig bleiben, und eine Frau, die allein lange Strecken fuhr, war auch heutzutage noch etwas ungewöhnlicher als ein Mann. Der Wagen wurde immer gemietet, immer in Los Angeles auf dem Flughafen, wo bei den Mietwagenfirmen ständig großer Andrang herrschte. Gemietet wurde stets eine Standardlimousine, ein unauffälliger mausgrauer Wagen, an den sich kein Mensch erinnern konnte. Führerschein und Kreditkarte, die bei der Anmietung vorgelegt wurden, waren immer echt - in einem anderen Bundesstaat für jemanden ausgestellt, der nie existiert hatte. Der Fahrer wartete im Terminal und stellte sich erst an, wenn die mit einem voll besetzten Jumbo angekommenen Passagiere zu den Mietwagenschaltern strömten, weil er dann nur eines unter hundert Gesichtern war. Er war klein und dunkelhaarig; mit seinem Rollenkoffer, dem einen Stück Handgepäck und dem gehetzten Gesichtsausdruck sah er aus wie alle anderen.
Er erledigte den Papierkram am Schalter, fuhr mit dem Bus zum Parkhaus der Leihwagenfirma und fand den ihm zugewiesenen Wagen. Er warf sein Gepäck in den Kofferraum, wartete an der Ausfahrtkontrolle und fuhr ins grelle Sonnenlicht hinaus. Die folgenden vierzig Minuten verbrachte er scheinbar ziellos auf dem Freeway durch Greater Los Angeles, um sich zu vergewissern, dass er nicht beschattet wurde. Dann verließ er den Freeway in West Hollywood und hielt vor einer Garage in einer schmalen Zufahrt hinter einem Wäschegeschäft. Er ließ den Motor laufen, öffnete das Garagentor, holte sein Gepäck aus dem Kofferraum und vertauschte es gegen zwei große schwarze Nylonkoffer. Einer dieser Koffer war sehr schwer und der Grund dafür, dass der Mann nicht flog, sondern mit einem Leihwagen fuhr. Er enthielt lauter Dinge, mit denen man keine Sicherheitsschleuse auf einem Flughafen passieren konnte.
Er schloss das Garagentor ab, fuhr auf dem Santa Monica Boulevard nach Osten, bog auf der 101 nach Süden ab und beschrieb auf der 10 wieder einen Bogen nach Osten. Machte es sich auf seinem Sitz für die zweitägige Fahrt nach Texas bequem. Obwohl er Nichtraucher war, zündete er viele Zigaretten an, hielt sie zwischen den Fingern und schnippte Asche auf die Sitze, die Auslegeteppiche und das Instrumentenbrett. Er ließ die Zigaretten herunterbrennen und drückte sie dann im Aschenbecher aus. So würde das Personal der Leihwagenfirma den Wagen sehr gründlich staubsaugen, ihn mit Luftverbesserer aussprühen und die Vinylsitze mit Kunststoffreiniger abwischen. Das würde alle von ihm hinterlassenen Spuren beseitigen, auch etwaige Fingerabdrücke.
Der zweite Mann hatte sich ebenfalls auf den Weg gemacht. Er war größer und schwerer und aschblond, aber keineswegs auffällig oder beeindruckend. Er reihte sich in Los Angeles ins abendliche Gedränge auf dem Flughafen ein und besorgte sich ein Ticket nach Atlanta. Dort vertauschte er seine Geldbörse mit einer der anderen fünf, die er in seinem Kabinengepäck mitführte, und kaufte als völlig anderer Mann ein weiteres Ticket nach Dallas-Fort Worth.
Die Frau reiste einen Tag später. Das war ihr Vorrecht, weil sie das Team führte. Sie war schon fast in mittlerem Alter, mittelgroß, mittelblond. Nichts Auffälliges an ihr, außer, dass sie davon lebte, auf Bestellung zu morden. Sie parkte ihr Auto auf dem Flughafen Los Angeles auf einem Platz für Langzeitparker, was ungefährlich war, weil es auf ein Kleinkind zugelassen war, das vor dreißig Jahren in Pasadena an Masern starb. Sie fuhr mit einem Shuttlebus zum Terminal, benutzte für den Kauf ihres Tickets eine gefälschte Master-Card und wies bei der Sicherheitskontrolle einen echten New Yorker Führerschein mit Lichtbild vor. Sie ging etwa zur selben Zeit an Bord, als der Fahrer seinen zweiten Tag auf der Straße begann.
Nach seinem zweiten Tankstop am ersten Tag hatte er einen Abstecher in die Hügel New Mexicos gemacht und einen einsamen Rastplatz gefunden, auf dem er in der kühlen, frischen Bergluft im Staub hockte und die kalifornischen Kennzeichen des Wagens mit Nummernschildern aus Arizona vertauschte, die er aus dem schweren Koffer holte. Anschließend fuhr er noch etwa eine Stunde auf der Interstate, bevor er sich ein Motel suchte. Er zahlte bar, gab eine Adresse in Tuscon an und ließ den Angestellten an der Rezeption das Kennzeichen aus Arizona ins Anmeldeformular eintragen.
Er schlief sechs Stunden bei schwach eingestellter Klimaanlage und machte sich früh wieder auf den Weg. Erreichte am Abend des zweiten Tages den Flughafen Dallas-Fort Worth, auf dem er den Mietwagen auf einem Platz für Langzeitparker abstellte. Nahm seine Koffer und benutzte den Shuttlebus zum Abfluggebäude. Fuhr mit der Rolltreppe in den Ankunftsbereich hinunter und stellte sich am Hertz-Schalter an. Bei Hertz, weil dort Wagen der Marke Ford vermietet wurden und er einen Crown Victoria brauchte.
Den Leihwagen mietete er mit einem in Illinois ausgestellten Führerschein. Fuhr mit dem Bus zum Hertz-Parkplatz und fand seinen Wagen: einen unauffälligen Crown Vic in Stahlblau-Metallic, weder hell noch dunkel, der genau seinen Vorstellungen entsprach. Er wuchtete sein Gepäck in den Kofferraum und fuhr zu einem Motel in der Nähe des neuen Baseballstadions an der Straße von Fort Worth nach Dallas. Dort legte er wieder den Führerschein aus Illinois vor, nahm sich ein Zimmer, aß eine Kleinigkeit und schlief ein paar Stunden. Er wachte früh auf und traf sich in der glühenden Morgenhitze mit seinen beiden Partnern vor dem Motel - genau in dem Augenblick, in dem Reacher über vierhundert Meilen entfernt in Lubbock den Daumen in die Luft reckte.
Die zweite Überraschung nach dem Auftauchen des Cops war die Tatsache, dass Reacher innerhalb von drei Minuten mitgenommen wurde. Er schwitzte nicht mal. Sein Hemd war noch trocken. Die dritte Überraschung war, dass der Wagen, der anhielt, von einer Frau gelenkt wurde. Die vierte und größte Überraschung war die Richtung, die ihre Unterhaltung nahm.
Er war seit fast fünfundzwanzig Jahren in mehr Ländern, als er ohne Nachdenken hätte aufzählen können, als Anhalter unterwegs, und drei Minuten waren ungefähr die kürzeste Wartezeit am Straßenrand, an die er sich erinnern konnte. Reisen per Anhalter war eine aussterbende Fortbewegungsart. Zu dieser Schlussfolgerung war er aus eigener Erfahrung gelangt. Berufskraftfahrer konnten Probleme mit ihrer Versicherung bekommen, und Privatleute waren ängstlicher geworden. Wer wusste schließlich, was für einen Psychopathen er da auflas? Und Reacher hatte ohnehin größere Schwierigkeiten als der durchschnittliche Anhalter, vor allem jetzt. Er war ein Hüne, einen Meter fünfundneunzig groß, mit Muskeln bepackt, gut hundertzehn Kilo schwer. Aus der Nähe betrachtet war er meist nicht sehr ordentlich gekleidet, meist unrasiert und ungekämmt. Das schreckte die Leute ab. Sie machten einen Bogen um ihn. Und jetzt hatte er auch noch eine frische Beule an der Stirn. Deshalb wunderten ihn die drei Minuten umso mehr. Und die Tatsache, dass der Wagen von einer Frau gefahren wurde.
Im Allgemeinen gab es eine Hackordnung, die auf einer unbewussten Risikoabschätzung basierte. Ganz oben stand ein junges Mädchen, das jederzeit von einem älteren Mann mitgenommen wurde, denn was sollte daran gefährlich sein? Aber da sich manche jungen Mädchen als Erpresserinnen entpuppt hatten, die hundert Bucks dafür verlangten, dass sie keine Anzeige wegen angeblicher sexueller Belästigungen erstatteten, wurden auch Anhalterinnen seltener mitgenommen. Ganz am Ende der Liste stand jedenfalls ein großer, leicht verwahrlost aussehender Kerl, der von einer eleganten, schlanken Frau in einem teuren Coupé mitgenommen wird. Aber genau das passierte. Innerhalb von drei Minuten.
Reacher hastete, den linken Daumen in die Höhe gereckt, die Straße entlang, als der weiße Wagen auf dem heißen Asphalt neben ihm hielt. Das von der Motorhaube zurückgeworfene Sonnenlicht blendete ihn. Er wandte sich ihm blinzelnd zu, und die Frau am Steuer ließ das rechte Fenster herunter. 7.45 Uhr, Freitagmorgen.
»Wohin?«, wollte sie wissen, als fahre sie ein Taxi, keinen Privatwagen.
»Irgendwohin«, antwortete er.
Er bereute sofort, was er gesagt hatte. Es war eine dämliche Antwort, denn kein Ziel zu haben machte die Situation im Allgemeinen noch schlimmer. Die Leute halten einen für einen Herumtreiber, was sie misstrauisch macht und befürchten lässt, sie könnten einen nicht mehr loswerden. Aber diese Frau nickte nur.
»Okay«, sagte sie. »Ich bin in die Nähe von Pecos unterwegs.«
Er zögerte überrascht. Sie hielt den Kopf gesenkt, sah schräg durchs Fenster zu ihm auf.
»Großartig«, sagte er.
Er ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Das Wageninnere war eisig kalt. Sie ließ die Klimaanlage auf vollen Touren laufen; der Ledersitz fühlte sich wie ein Eisblock an. Während er die Tür hinter sich schloss, fuhr sie das Fenster mit einer der Tasten auf der Mittelkonsole wieder hoch.
»Danke«, sagte er. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie mich mitnehmen.«
Sie schwieg. Machte nur eine wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand, während sie den Kopf nach links drehte, um über ihre Schulter hinweg den Verkehrsstrom zu beobachten. Die Leute haben ihre Gründe, Anhalter mitzunehmen - jeder einen anderen. Vielleicht sind sie in ihrer Jugend selbst viel per Anhalter unterwegs gewesen und wollen jetzt, da sie etabliert sind und behaglich leben, etwas davon zurückgeben. Eine Art Kreislauf. Vielleicht sind sie mildtätig veranlagt oder auch nur einsam und haben das Bedürfnis, mit jemandem zu reden.
Aber falls diese Frau sich unterhalten wollte, hatte sie es keinesfalls eilig, damit zu beginnen. Sie wartete einfach ab, bis ein paar Sattelschlepper vorbeigebrummt waren, und fuhr dann wortlos an. Reacher sah sich in dem Wagen um: ein Cadillac, zweitürig, endlos lang, sehr luxuriös. Vielleicht schon ein paar Jahre alt, aber sehr gepflegt. Das Leder war isabellfarben, und die Scheiben waren getönt wie eine leere französische Weinflasche. Auf dem Rücksitz lagen eine Handtasche und ein schmaler Aktenkoffer. Die schwarze Lederhandtasche sah aus wie aus Kunststoff, der Aktenkoffer hingegen war aus abgewetztem Rindsleder - die Art Tasche, die schon alt aussieht, wenn man sie kauft. Er stand etwas offen, und in seinem Innern lag ein dicker Stapel Akten wie aus einer Anwaltskanzlei.
»Fahren Sie den Sitz zurück, wenn Sie wollen«, forderte die Frau ihn auf. »Machen Sie’s sich bequem.«
»Danke«, sagte er wieder.
In der Türverkleidung waren Tasten mit Kissensymbolen eingelassen. Als Reacher daran herumprobierte, fuhren leise summende Motoren ihn nach hinten und verstellten die Rückenlehne. Dann senkte er seinen Sitz ab, um von außen möglichst unauffällig zu wirken. Die Elektromotoren summten wieder. Er kam sich vor wie auf einem Zahnarztstuhl.
»Das sieht schon besser aus«, sagte sie. »Viel bequemer für Sie.«
Ihr eigener Sitz befand sich dicht am Lenkrad, denn sie war nicht sehr groß. Er wandte sich ihr ein wenig zu, um sie mustern zu können, ohne sie direkt anzustarren. Sie war klein und schlank, hatte schwarzes Haar und einen grazilen Körperbau. Insgesamt eine zierliche Person. Weniger als fünfzig Kilo leicht, schätzungsweise dreißig Jahre alt. Lange schwarze Locken, schwarze Augen, kleine weiße Zähne, die sichtbar wurden, wenn sie halb lächelte. Mexikanerin, vermutete er, aber nicht der Typ, der auf der Suche nach einem besseren Leben den Rio Grande durchschwamm. Die Vorfahren dieser Frau hatten seit Jahrhunderten ein besseres Leben genossen. Das war offensichtlich. Es lag in ihren Genen. Sie sah wie eine Aztekenprinzessin aus und trug ein schlichtes, blass gemustertes Baumwollkleid. Nicht viel dran, aber wohl teuer. Es war ärmellos und endete eine halbe Handbreit über ihren Knien. Ihre Arme und Beine schimmerten dunkel.
»Also, wohin sind Sie unterwegs?«, fragte sie.
Dann hielt sie inne, und ihr Lächeln verstärkte sich. »Nein, das habe ich Sie schon gefragt. Sie wissen anscheinend nicht recht, wohin Sie wollen.«
Sie sprach akzentfrei Amerikanisch, vielleicht mit mehr Westküsten- als Südstaatenanklängen. Da sie mit beiden Händen lenkte, konnte er die Ringe an ihren Fingern sehen. An einer Hand trug sie außer einem schmalen Ehering einen Platinring mit einem großen Solitär.
»Irgendwohin«, sagte Reacher. »Wo ich zuletzt lande, dort will ich hin.«
Sie lächelte wieder. »Sind Sie vor irgendetwas auf der Flucht? Habe ich einen gefährlichen Flüchtling aufgelesen?«
Ihr Lächeln zeigte, dass das keine ernst gemeinte Frage war, aber er dachte, dass sie sich das vielleicht doch hätte fragen sollen. Schließlich war das unter den gegebenen Umständen keine so abwegige Frage. Sie war ein Risiko eingegangen. Die Art Risiko, die eines Tages das Ende des Reisens per Anhalter bedeuten könnte.
»Ich bin auf Erkundungsreise«, erklärte er.
»Sie erkunden Texas? Es ist längst entdeckt.«
»Wie ein Tourist«, sagte er.
»Sie sehen aber nicht wie ein Tourist aus. Die Touristen, die zu uns kommen, tragen Freizeitanzüge aus Polyester und reisen mit dem Bus.«
Während sie das sagte, lächelte sie wieder. Sie war attraktiv, wenn sie lächelte, wirkte selbstsicher und selbstbewusst. Eine elegante Mexikanerin, die ein teures Kleid trug und es verstand, Konversation zu machen. Die einen Cadillac fuhr. Reacher war sich plötzlich seiner knappen Antworten bewusst, seiner ungekämmten Haare, seines Dreitagebarts, seines fleckigen Hemds und seiner verknitterten Khakihose - und der großen Beule auf der Stirn.
»Leben Sie hier in der Gegend?«, fragte er, weil sie von Touristen, die zu uns kommen, gesprochen hatte und er das Bedürfnis hatte, etwas zu sagen.
»Ich wohne südlich von Pecos«, antwortete sie. »Über dreihundert Meilen von hier. Dorthin fahre ich, wie ich Ihnen schon gesagt habe.«
»Nie dort gewesen«, bemerkte er.
Sie reagierte nicht darauf und hielt an einer Ampel. Fuhr dann über eine große Kreuzung weiter und blieb in der rechten Fahrspur. Er beobachtete das Spiel ihrer Beinmuskeln, als sie aufs Gaspedal trat. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, und ihre Augen waren leicht zusammengekniffen. Sie schien ein wenig nervös zu sein, die Sache aber im Griff zu haben.
»Und wie fanden Sie Lubbock?«, fragte sie.
»Ich habe die Buddy-Holly-Statue gesehen.«
Er bemerkte ihren kurzen Blick zum Autoradio hin, als dächte sie: Dieser Kerl mag Musik, vielleicht sollte ich eine CD auflegen.
»Sie mögen Buddy Holly?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Reacher. »Ist mir zu zahm.«
Sie nickte ihrem Lenkrad zu. »Das finde ich auch. Ritchie Valens war besser, finde ich. Er stammt auch aus Lubbock.«
Reacher nickte ebenfalls. »Ich habe ihn auf dem Walk of Fame gesehen.«
»Wie lange waren Sie in Lubbock?«
»Einen Tag.«
»Und jetzt ziehen Sie weiter.«
»Das ist der Plan.«
»Irgendwohin.«
»Das ist der Plan«, wiederholte er.
Sie passierten die Stadtgrenze, die durch ein kleines Metallschild an einem Pfosten auf dem Gehsteig bezeichnet war. Er lächelte in sich hinein. City Police hatte auf der Beifahrertür des Streifenwagens gestanden. Er sah sich um und beobachtete, wie die Gefahr hinter ihm verschwand.
Die beiden Männer saßen vorn in dem Crown Victoria. Der große Aschblonde fuhr, um den kleinen Schwarzhaarigen abzulösen. Die Frau hatte hinten Platz genommen. Sie verließen den Parkplatz des Motels und beschleunigten auf der I-20 nach Westen, in Richtung Fort Worth, von Dallas weg. Keiner sprach. Der Gedanke an die Weite von Texas deprimierte sie. Um sich auf ihren Einsatz vorzubereiten, hatte die Frau einen Reiseführer besorgt, der darauf hinwies, dass der Staat volle sieben Prozent der Landmasse der Vereinigten Staaten ausmacht und größer als die meisten europäischen Staaten ist. Das beeindruckte sie nicht. Die übliche Texas-istecht-groß-Scheiße kannte schließlich jeder. Das hatte sie schon immer gewusst. Aber in dem Reiseführer stand auch, dass Texas in der Breite länger ist als die Strecke New York- Chicago. Diese Information war beeindruckender. Und sie unterstrich, weshalb sie eine so lange Fahrt vor sich hatten, nur um von einem texanischen Nest zu einem anderen zu gelangen.
Aber der Wagen war leise, kühl und bequem, und unterwegs konnte man sich ebenso gut entspannen wie in einem Motelzimmer. Schließlich hatten sie noch etwas Zeit totzuschlagen.
Die Frau fuhr langsamer, bog erst halb rechts in Richtung New Mexico, dann nach einer Meile links ab und lenkte den Wagen genau nach Süden, in Richtung Mexiko.
»Ist Pecan also sehenswert?«, fragte Reacher in die Stille hinein.
»Pecos«, korrigierte sie ihn.
»Richtig, Pecos.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mir gefällt’s«, meinte sie. »Dort leben hauptsächlich Mexikaner, deshalb fühle ich mich wie zu Hause.«
Ihre rechte Hand umfasste das Lenkrad fester. Er sah, wie die Sehnen unter der Haut spielten.
»Mögen Sie Mexikaner?«, fragte sie.
Diesmal zuckte er mit den Schultern. »Nicht mehr und nicht weniger als andere Leute auch, denke ich.«
»Sie mögen keine Leute?«
»Kommt darauf an.«
»Mögen Sie Honigmelonen?«
»So wie jedes andere Gemüse.«
»In Pecos wachsen die süßesten Melonen von ganz Texas«, sagte sie. »Und deshalb nach Ansicht der Einheimischen die süßesten Melonen der ganzen Welt. Im Juli gibt’s dort auch ein Rodeo, aber das haben Sie für dieses Jahr verpasst. Und unmittelbar nördlich von Pecos liegt Loving County. Haben Sie schon mal davon gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Bin zum ersten Mal in Texas.«
»Das ist das am dünnsten besiedelte County der Vereinigten Staaten«, sagte sie. »Na ja, wenn man ein paar Gebiete in Alaska nicht mitzählt. Aber nach Pro-Kopf-Einkommen gerechnet auch das reichste. Die Einwohnerzahl beträgt nur hundertzehn Seelen, aber dort fließen vierhundertzwanzig Ölquellen.«
Er nickte. »Gut, dann setzen Sie mich in Pecos ab. Klingt nicht schlecht, finde ich.«
»Früher war es eine richtige Wildweststadt«, erklärte sie. »Das ist natürlich schon lange her. Die Texas and Pacific Railroad hat dort einen Halt eingerichtet. Also hat’s dort Saloons und alles andere gegeben. Pecos war damals ziemlich berüchtigt. Der Stadtname ist sogar als Verb benutzt worden: Jemanden ›pecossen‹ bedeutete damals, ihn zu erschießen und in den Pecos River zu werfen.«
»Machen sie das noch immer?«
Sie lächelte wieder. Ein anderes Lächeln. Schalkhaft. Es ließ sie weniger angespannt wirken und machte sie noch anziehender.
»Nein, in letzter Zeit weniger«, sagte sie.
»Stammt Ihre Familie aus Pecos?«
»Nein, aus Kalifornien«, antwortete sie. »Ich bin erst nach meiner Heirat nach Texas gekommen.«
Red weiter, ermahnte er sich. Schließlich hat sie dich gerettet.
»Schon lange verheiratet?«, fragte er.
»Nicht ganz sieben Jahre.«
»Lebt Ihre Familie schon lange in Kalifornien?«
Sie lächelte wieder. »Länger als jeder Kalifornier, das steht fest«, antwortete sie.
Vor ihnen lag eine weite, leere Ebene, und als sie etwas mehr Gas gab, schien der Wagen die schnurgerade Straße in sich hineinzufressen. Der wolkenlose Himmel sah durch die Tönung der Windschutzscheibe flaschengrün aus. Die beiden Thermometerskalen am Instrumentenbrett zeigten, dass die Temperatur außen dreiundvierzig und innen sechzehn Grad betrug.
»Sind Sie Anwältin?«, fragte er.
Sie schien einen Augenblick verwirrt, aber dann begriff sie, wie er darauf kam, und machte einen langen Hals, um ihren Aktenkoffer im Rückspiegel zu betrachten.
»Nein«, sagte sie. »Ich bin Klientin eines Anwalts.«
Dann stockte das Gespräch wieder. Sie wirkte nervös, und er war leicht verlegen.
»Und was sind Sie sonst noch?«, wollte er wissen.
Sie überlegte kurz. »Jemandes Ehefrau und Mutter«, entgegnete sie. »Und auch jemandes Tochter und Schwester. Und ich halte ein paar Pferde. Das ist alles. Was sind Sie?«
»Nichts Besonderes«, erwiderte Reacher.
»Sie müssen irgendetwas sein«, beharrte sie.
»Nun, früher war ich schon etwas«, sagte er. »Ich war jemandes Sohn, jemandes Bruder und jemandes Freund.«
»Das waren Sie?«
»Meine Eltern sind tot, mein Bruder ist tot, meine Freundin hat mich verlassen.«
Nicht gerade eine Erfolgsstory, dachte er. Sie äußerte sich nicht dazu.
»Und ich besitze keine Pferde«, fügte er hinzu.
»Das tut mir sehr Leid«, sagte sie.
»Dass ich keine Pferde habe?«
»Nein, dass Sie ganz allein auf der Welt sind.«
»Gewohnheitssache«, meinte er. »Das ist nicht so schlimm, wie es klingt.«
»Sie sind nicht einsam?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin gern allein.«
Sie machte eine Pause. »Warum hat Ihre Freundin Sie verlassen?«
»Sie hat eine Stelle in Europa angenommen.«
»Und Sie konnten sie nicht begleiten?«
»Das wollte sie eigentlich nicht.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Und wollten Sie mitkommen?«
»Eigentlich nicht«, sagte er nachdenklich. »Das wäre mir vorgekommen, als müsste ich sesshaft werden.«
»Und Sie wollen nicht sesshaft werden?«
Er schüttelte den Kopf. »Zwei Nächte im selben Motel sind mir schon zu viel.«
»Deshalb nur ein Tag in Lubbock«, sagte sie.
»Und der nächste Tag in Pecos«, bestätigte Reacher.
»Und danach?«
Reacher lächelte. »Wie’s weitergeht, muss sich erst zeigen. Und gerade das gefällt mir.«
Sie fuhr schweigend weiter.
»Dann laufen Sie also vor etwas davon«, begann sie wieder. »Vielleicht haben Sie früher ein sehr geregeltes Leben geführt und wollen von dieser Schiene wegkommen.«
Er schüttelte erneut den Kopf. »Nein, eher das genaue Gegenteil. Ich war mein Leben lang in der Army, die sehr unstet ist, und genieße dieses Gefühl.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Sie haben sich vermutlich ans Chaos gewöhnt.«
»So muss es wohl sein.«
Sie hob die Augenbrauen. »Wie kommt man dazu, sein Leben in der Army zu verbringen?«
»Mein Vater war auch schon dabei. Also bin ich auf Militärstützpunkten in aller Welt aufgewachsen und dann einfach dabeigeblieben.«
»Aber jetzt sind Sie draußen.«
Reacher nickte. »Voll ausgebildet und ohne Verwendung dafür.«
Er sah ihr an, dass sie über seine Antwort nachdachte. Ihre Nervosität kehrte zurück. Sie drückte mehr aufs Gaspedal, vielleicht ohne es zu merken, vielleicht aber auch aus einem unbewussten Reflex heraus. Er hatte das Gefühl, ihr Interesse an ihm beschleunige sich wie der Wagen.
Ford baut das Modell Crown Victoria in seiner kanadischen Fabrik in St. Thomas: jährlich Zehntausende von Exemplaren, die fast ausschließlich an Polizei, Taxiunternehmen und Mietwagenfirmen gehen. Nur sehr wenige dieser Fahrzeuge werden von Privatpersonen erworben. Ausgewachsene Straßenkreuzer haben keinen großen Marktanteil mehr, und für die Ewiggestrigen, die einen von der Ford Motor Company wollen, ist der Mercury Grand Marquis, der ungefähr das Gleiche kostet, derselbe Wagen in gefälligerer Ausführung. Deshalb ist ein privater Crown Vic seltener als ein roter Rolls-Royce. Wer jedoch einen nicht taxigelben oder schwarz-weißen mit der Aufschrift Police auf den Türen sieht, hält ihn unbewusst für einen neutralen Dienstwagen der Kriminalpolizei oder irgendeiner anderen staatlichen Einrichtung wie US Marshals, FBI oder Secret Service. Oder für ein Fahrzeug, das ein Gerichtsmediziner oder der Feuerwehrchef einer Großstadt zur Verfügung gestellt bekommen hat.
Das ist der unbewusste Eindruck, und es gibt Mittel, ihn zu verstärken.
In der menschenleeren Gegend auf halber Strecke nach Abilene bog der große Blonde vom Highway ab und fuhr durch weite Felder und an dichten Wäldern vorbei, bis er einen versteckten Rastplatz fand, der vermutlich zehn Meilen von den nächsten Menschen entfernt war. Dort hielt er, stellte den Motor ab und entriegelte den Kofferraum. Der kleine Dunkelhaarige hob den schweren Koffer heraus und legte ihn ins Gras. Die Frau zog den Reißverschluss auf und gab dem Blonden zwei Kennzeichen aus Virginia. Er holte einen Schraubenzieher aus dem Koffer, schraubte die texanischen Nummernschilder ab und ersetzte sie durch die Kennzeichen aus Virginia. Der kleine Dunkelhaarige entfernte die Zierblenden von den Rädern, sodass die billigen schwarzen Stahlfelgen sichtbar wurden; die Zierblenden legte er wie Teller gestapelt in den Kofferraum. Die Frau nahm Antennen aus dem Koffer, je zwei CB-Peitschen- und Mobilfunkantennen, die sie in Los Angeles im Zubehörhandel billig erstanden hatte. Die beiden Mobilfunkantennen ließen sich nach dem Abziehen einer Schutzfolie auf die Heckscheibe kleben. Sobald der Kofferraumdeckel wieder geschlossen war, brachte die Frau die magnetisch haftenden CB-Antennen darauf an. Keine dieser Antennen war mit irgendetwas verbunden. Sie dienten nur zur Täuschung.
Dann übernahm der kleine Dunkelhaarige wieder das Steuer, wendete und fuhr in gleichmäßigem Tempo zum Highway zurück. Ein Crown Vic mit einfachen Stahlfelgen und einem Wald von Antennen, in Virginia zugelassen. Möglicherweise ein Wagen aus dem FBI-Fuhrpark, mit drei Agenten besetzt, die vielleicht in einer dringenden Sache unterwegs waren.
»Was haben Sie in der Army gemacht?«, wollte die Frau ganz beiläufig wissen.
»Ich war ein Cop«, antwortete Reacher.
»In der Army gibt es Cops?«
»Klar«, sagte er. »Militärpolizei. Genau wie Cops, aber beim Militär.«
»Das hab ich nicht gewusst«, sagte sie.
Sie schwieg wieder, dachte offenbar angestrengt nach. Sie wirkte nervös.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«, sagte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Sie nehmen mich schließlich mit …«
Die Frau nickte. »Ich möchte Sie nur nicht kränken.«
»Das wäre unter den jetzigen Umständen schwierig. Draußen hat’s über vierzig Grad, hier drinnen sechzehn.«
»Bei dieser Hitze gibt’s bestimmt bald ein Gewitter.«
Reacher beugte sich nach vorn und sah zum Himmel auf. Er war wegen der getönten Windschutzscheibe flaschengrün, aber wolkenlos klar.
»Ich sehe nichts, was darauf hindeutet«, sagte er.
Sie lächelte flüchtig. »Darf ich fragen, wo Sie wohnen?«
»Ich wohne nirgends«, erwiderte er. »Bin mal hier, mal dort.«
»Sie haben nirgends ein Zuhause?«
Er schüttelte den Kopf. »Was Sie sehen, ist alles, was ich besitze.«
»Sie reisen mit leichtem Gepäck«, stellte sie fest.
»So leicht wie irgend möglich.«
Sie machte eine Pause, in der ihr Cadillac eine Meile zurücklegte.
»Sind Sie arbeitslos?«, fragte sie dann.
Er nickte. »Meistens.«
»Waren Sie ein guter Cop? In der Army?«
»Kein schlechter, denke ich. Die Army hat mich zum Major befördert, mir ein paar Auszeichnungen verliehen.«
Nochmals eine Pause. »Warum haben Sie Ihren Dienst quittiert?«
Das klang wie ein Interview. Als wollte er einen Kredit oder einen Job.
»Ich bin das Opfer von Sparmaßnahmen geworden«, erklärte er. »Nach dem Ende des Kalten Kriegs sollte die Army verkleinert werden, und weniger Leute brauchen weniger Cops, die sich um sie kümmern.«
Sie nickte. »Wie in einer Kleinstadt. Geht die Einwohnerzahl zurück, wird auch die Polizei reduziert. Das hat irgendwas mit Haushaltsmitteln zu tun. Mit den sinkenden Steuereinnahmen.«
Reacher äußerte sich nicht dazu.
»Ich wohne in einer sehr kleinen Stadt«, sagte die Frau. »In Echo, südlich von Pecos, wie ich Ihnen schon erzählt habe. Ein einsames Nest. Daher kommt auch der Name Echo. Er hat nichts damit zu tun, dass es dort ein Echo gibt, sondern stammt aus der griechischen Mythologie. Echo war eine Nymphe, die Narziss liebte. Aber er liebte nicht sie, sondern nur sich selbst, deshalb verzehrte sie sich, bis nur noch ihre Stimme übrig war. Aber Echo ist auch ein County. Ein County und eine Township. Nicht so dünn besiedelt wie das Loving County, aber trotzdem ohne eigene Polizei. Bei uns gibt’s nur einen County Sheriff, der auf sich allein gestellt ist.«
Irgendetwas an ihrem Tonfall fiel ihm auf.
»Ist das ein Problem?«, fragte er.
»Echo ist ein sehr weißes County«, sagte sie. »Völlig anders als Pecos.«
»Und?«
»Deshalb hat man das Gefühl, es könnte ein Problem geben, wenn’s mal ernst würde.«
»Und ist’s ernst geworden?«
Sie lächelte leicht verlegen. »Man merkt, dass Sie ein Cop waren«, entgegnete sie. »Sie stellen so viele Fragen. Dabei wollte ich hier die Fragen stellen.«
Die Frau schwieg eine Zeit lang. Sie fuhr schnell, ohne jedoch zu rasen. Reacher betätigte die elektrische Sitzverstellung, um seine Rückenlehne etwas weiter nach hinten zu kippen. Dann beobachtete er die Fahrerin aus dem Augenwinkel heraus. Sie war hübsch, hatte aber allem Anschein nach Sorgen. In zehn Jahren würden sich deutliche Sorgenfalten auf ihrer Stirn eingegraben haben.
»Wie war das Leben in der Army?«, wollte sie wissen.
»Anders«, sagte er. »Anders als das Leben außerhalb der Army.«
»Wie anders?«
»Andere Regeln, andere Situationen. Es war eine eigene Welt. Durch Vorschriften reglementiert, aber doch irgendwie gesetzlos. Rau und unzivilisiert.«
»Wie der Wilde Westen«, sagte sie.
»Schon möglich«, bestätigte er. »Eine Million Menschen, die in erster Linie dafür ausgebildet wurden, das zu tun, was nötig war. Die Regeln kamen erst später.«
»Wie im Wilden Westen«, wiederholte sie. »Das hat Ihnen gefallen, glaube ich.«
Er nickte. »Zumindest teilweise.«
Die Frau machte eine Pause. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Bitte sehr.«
»Wie heißen Sie?«
»Reacher«, sagte er.
»Ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?«
»Die Leute nennen mich einfach nur Reacher.«
Wieder eine Pause. »Darf ich Ihnen noch eine persönliche Frage stellen?«
Er nickte.
»Haben Sie Leute umgebracht, Reacher? In der Army?«
Er nickte nochmals. »Ein paar.«
»Das ist im Grunde genommen der eigentliche Zweck der Army, stimmt’s?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich«, antwortete er. »Im Grunde genommen.«
Sie schwieg wieder. Als ringe sie mit einer Entscheidung.
»In Pecos gibt’s ein Museum«, begann sie erneut. »Ein richtiges Wildwestmuseum. Es ist teils in einem alten Saloon, teils in dem alten Hotel nebenan eingerichtet. Dahinter liegt Clay Allisons Grab. Haben Sie schon mal von Clay Allison gehört?«
Reacher schüttelte den Kopf.
»Er war als der ›Gentleman-Revolverheld‹ bekannt«, erklärte sie. »Er lebte im Ruhestand, aber dann ist er unter ein Getreidefuhrwerk gestürzt und seinen Verletzungen erlegen. Er hat einen hübschen Grabstein mit der Inschrift Robert Clay Allison, 1840-1887 bekommen. Ich habe ihn selbst gesehen. Und darunter steht noch: Er hat nie einen Mann erschossen, der nicht erschossen werden musste. Was halten Sie davon?«
»Das ist eine gute Grabinschrift, finde ich«, sagte Reacher.
»In einem Glaskasten hängt auch eine alte Zeitung«, sagte sie. »Aus Kansas City, glaube ich - mit einem Nachruf auf Clay Allison. Darin heißt es: Fest steht, dass viele seiner strengen Taten fürs Recht geschahen, wie er dieses Recht begriff.«
Der Cadillac raste weiter nach Süden.
»Ein schöner Nachruf«, meinte Reacher.
»Finden Sie?«
Er nickte. »Einen besseren kann man sich gar nicht wünschen.«
»Würden Sie auch gern einen Nachruf dieser Art bekommen?«
»Na ja, vielleicht noch nicht gleich«, meinte Reacher.
Die Schwarzhaarige lächelte wieder, diesmal entschuldigend. »Nein«, sagte sie, »natürlich nicht. Aber würden Sie sich gern für einen Nachruf dieser Art qualifizieren? Für später, meine ich.«
»Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen«, sagte er.
Sie schwieg.
»Wollen Sie mir nicht verraten, wohin wir unterwegs sind?«, fragte er.
»Auf dieser Straße, meinen Sie?«, sagte sie nervös.
»Nein, bei diesem Gespräch.«
Sie fuhr noch ein Stück weiter, dann nahm sie den Fuß vom Gaspedal und ließ den Wagen ausrollen. Als der Cadillac langsamer wurde, fuhr sie von der Straße aufs staubige Bankett. Der Straßenrand fiel zu einem Entwässerungsgraben hin ab, sodass der Wagen schräg nach rechts geneigt stehen blieb. Sie brachte den Schalthebel mit einer knappen Bewegung ihres schmalen Handgelenks in Parkstellung und ließ den Motor laufen und die Klimaanlage auf höchster Stufe eingeschaltet.
»Ich heiße Carmen Greer«, sagte sie. »Und ich brauche Ihre Hilfe.«
2
»Ich habe Sie nicht zufällig aufgelesen, wissen Sie«, sagte Carmen Greer.
Reacher war nach rechts gesackt und saß mit dem Rücken an die Beifahrertür gepresst. Der halb über den Straßenrand gekippte Cadillac hatte Schlagseite wie ein sinkendes Schiff. An der glatten Lederpolsterung fand Reacher nicht genug Halt, um sich hochziehen zu können. Die Frau war mit einer Hand am Lenkrad und der anderen an der Rückenlehne seines Sitzes über ihn gelehnt. Ihr Gesicht war keine dreißig Zentimeter von seinem entfernt. Reacher konnte seinen Ausdruck nicht deuten. Sie starrte an ihm vorbei in den staubigen Straßengraben.
»Glauben Sie, dass Sie von hier wieder wegkommen?«, fragte er.
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah zur Straße hinauf. Die raue Asphaltdecke, über der Hitzewellen flimmerten, befand sich etwa auf einer Höhe mit der Unterkante ihres Fensterrahmens.
»Ich denke schon«, antwortete sie. »Ich hoffe es.«
»Das hoffe ich auch«, sagte er.
Sie starrte ihn nur an.
»Weshalb haben Sie mich also aufgelesen?«, fragte er.
»Was vermuten Sie?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Reacher. »Ich dachte nur, ich hätte Glück gehabt. Vielleicht habe ich Sie für einen netten Menschen gehalten, der einem Fremden einen Gefallen tut.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, ich war auf der Suche nach einem Kerl wie Ihnen.«
»Warum?«
»Ich habe bestimmt schon ein Dutzend Typen aufgelesen«, sagte sie. »Und ich habe ein paar hundert gesehen. Das war so ziemlich alles, was ich im vergangenen Monat getan habe. Kreuz und quer durch Westtexas fahren, immer auf der Suche nach Anhaltern.«
»Wozu?«
Sie tat seine Frage mit einem Schulterzucken, einer abschätzigen kleinen Bewegung ab.
»Die Meilen, die ich mit diesem Wagen gefahren bin«, sagte sie. »Einfach unglaublich! Und das Geld, das ich für Benzin ausgegeben habe.«
»Warum?«, wiederholte er.
Sie schwieg. Wollte nicht antworten. Verfiel nur in langes Schweigen. Die Armstütze an der Tür drückte in seine Niere. Er machte ein Hohlkreuz, verdrehte die Schultern und änderte seine Position. Wünschte sich, er wäre von jemand anderem mitgenommen worden. Von jemandem, der einfach nur von A nach B unterwegs war. Er sah zu ihr auf.
»Darf ich Carmen zu Ihnen sagen?«
Sie nickte. »Klar. Bitte.«
»Also gut, Carmen«, sagte er. »Erklären Sie mir, was hier vorgeht, okay?«
Sie machte den Mund auf, dann schloss sie ihn wieder.
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, sagte sie. »Wo’s jetzt so weit ist.«
»Was ist so weit?«
Sie gab keine Antwort.
»Erzählen Sie mir lieber, was Sie genau wollen«, sagte er. »Sonst steige ich hier und jetzt aus.«
»Draußen hat’s weit über vierzig Grad.«
»Das weiß ich.«
»In dieser Hitze kann man umkommen.«
»Das riskiere ich.«
»Sie können Ihre Tür nicht öffnen«, sagte sie. »Der Wagen liegt zu schräg.«
»Dann drücke ich die Windschutzscheibe ein.«
Die Frau machte eine kurze Pause. »Ich brauche Ihre Hilfe«, wiederholte sie.
»Sie kennen mich überhaupt nicht.«
»Nicht persönlich«, gab sie zu. »Aber Sie bringen die nötigen Voraussetzungen mit.«
»Welche Voraussetzungen?«
Sie schwieg wieder. Lächelte dann ein kurzes sarkastisches Lächeln. »Das ist so schwierig«, sagte sie. »Ich habe diese Rede schon eine Million Mal geübt, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll.«
Reacher sagte nichts. Wartete.
»Haben Sie je mit Anwälten zu tun gehabt?«, fragte sie. »Die können einem nicht helfen. Sie wollen nur einen Haufen Geld, lassen sich endlos lang Zeit und erzählen einem dann, dass sich praktisch nichts machen lässt.«
»Dann nehmen Sie sich einen neuen Anwalt«, schlug er vor.
»Ich habe schon vier gehabt«, sagte sie. »Vier in einem Monat. Die sind alle gleich und alle zu teuer. Dafür habe ich nicht genug Geld.«
»Sie fahren einen Cadillac.«
»Der gehört meiner Schwiegermutter. Ich habe ihn mir nur ausgeliehen.«
»Sie tragen einen großen Brillantring.«
Sie verstummte wieder. Ihr Blick verdunkelte sich. »Den hat mein Mann mir geschenkt«, sagte sie.
Er sah zu ihr auf. »Kann er Ihnen nicht helfen?«
»Nein, er kann mir nicht helfen«, antwortete sie. »Haben Sie je versucht, einen Privatdetektiv zu engagieren?«
»Hab nie einen gebraucht. Ich war selbst Kriminalbeamter.«
»Die gibt’s nicht wirklich«, sagte sie. »Jedenfalls nicht wie im Film. Sie wollen nur in ihrem Büro sitzen und am Telefon arbeiten. Oder am Computer mit ihren Datenbanken. Sie denken nicht daran, rauszugehen und wirklich etwas für einen zu tun. Ich bin bis nach Austin gefahren. Dort habe ich einen Kerl aufgetrieben, der gesagt hat, er könnte mir helfen - aber er wollte sechs Männer einsetzen und mir pro Woche fast zehntausend Dollar abknöpfen.«
»Wofür?«
»Ich bin immer verzweifelter geworden. Bin in Panik geraten. Dann habe ich mir überlegt, dass der richtige Mann vielleicht unter Anhaltern zu finden sei. Einer von ihnen könnte sich als der Richtige herausstellen und möglicherweise bereit sein, mir zu helfen. Ich habe versucht, eine sorgfältige Auswahl zu treffen, und nur für raue Gesellen angehalten.«
»Danke, Carmen«, sagte Reacher.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, erklärte sie. »Das meine ich nicht abwertend.«
»Aber es hätte gefährlich sein können.«
Sie nickte. »Das war es ein paar Mal auch. Aber das musste ich riskieren. Ich musste irgendwen finden. Ich habe gehofft, so einen Rodeoreiter oder Bohrarbeiter kennen zu lernen. Sie wissen schon: einen harten Burschen, einen Raufbold, vielleicht gerade arbeitslos, ohne momentane Verpflichtungen.
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Echo Burning« bei Bantam Press, Transworld Publishers, The Random House Group Ltd, London.
Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Deutsche Erstveröffentlichung März 2003
Copyright © der Originalausgabe 2001 by Lee Child
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Umschlagfoto: Premium/Images Verlagsnummer: 35577 Lektorat: Silvia Kuttny Redaktion: Irmgard Perkounigg Herstellung: Heidrun Nawrot
eISBN : 978-3-641-03814-4
www.blanvalet-verlag.de
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www.randomhouse.de