Way Out - Lee Child - E-Book

Way Out E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Zu spät um auszusteigen … Jack Reacher ermittelt bis zum tödlichen Showdown

Cool, kompromisslos und immer auf dem direkten Weg zum Ziel: Jack Reacher, der einsamste und eigenwilligste Ermittler der amerikanischen Thrillerliteratur, löst seinen zehnten Fall.

Nie stehen bleiben. Nie wiederkehren. Jack Reacher, der geniale Ex-Ermittler der Militärpolizei, ist ein einsamer Wolf. Ohne Papiere. Ohne Gepäck. Und mit dem eisernen Vorsatz: Halte dich nie zweimal innerhalb von 24 Stunden am selben Ort auf. Doch ein wunderbarer Espresso in einem kleinen Café in Manhattan führt ihn in Versuchung, und prompt gerät der Unsichtbare ins Scheinwerferlicht. Unwissentlich hat er eine Lösegeldübergabe beobachtet.

Edward Lane will seine Frau wiederhaben – und sein Geld. Er engagiert Reacher. Denn es scheint, dass sich die Geschichte wiederholt. Lanes erste Frau hat ihre Entführung nicht überlebt …

Als Reacher hinter das Offensichtliche blickt, ist die Sache mehr als undurchsichtig. Sie ist groß. Und schmutzig. Doch Reacher steckt schon zu tief drin, um noch aussteigen zu können.

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Seitenzahl: 534

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Inhaltsverzeichnis
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
 
Copyright
1
Jack Reacher bestellte einen Espresso, doppelt, keine Orangenschale, kein Würfelzucker, Styroporbecher, kein Porzellan, und noch bevor er serviert wurde, sah er, wie das Leben eines Mannes sich für immer veränderte. Nicht dass der Ober langsam gewesen wäre. Nur lief die Bewegung flüssig ab. So flüssig, dass Reacher nicht begriff, was er beobachtete. Es war nur eine Großstadtszene, die sich weltweit jeden Tag eine Milliarde Mal wiederholte: Ein Kerl sperrte ein Auto auf, stieg ein und fuhr davon. Das war alles.
Aber das war genug.
 
Der Espresso war nahezu perfekt gewesen, deshalb kehrte Reacher genau vierundzwanzig Stunden später in das Café zurück. Zwei Abende am selben Ort waren für Reacher ungewöhnlich, aber er fand, für großartigen Kaffee lohne es sich, von der gewohnten Routine abzuweichen. Das Café lag auf der Westseite der Sixth Avenue in New York City, etwa in der Mitte zwischen der Bleecker und Houston Street. Es nahm das Erdgeschoss eines unauffälligen dreistöckigen Gebäudes ein. In den Obergeschossen schienen anonyme Mietwohnungen zu liegen. Das Café selbst sah aus, als wäre es aus einer kleinen Gasse in Rom hierher verpflanzt worden. Drinnen gab es schummrige Beleuchtung, verkratzte holzgetäfelte Wände und eine verbeulte verchromte Kaffeemaschine, die lang und heiß war wie eine Lokomotive, und eine Theke. Draußen stand eine einzelne Reihe von Metalltischen hinter einem niedrigen Windschutz aus Markisenstoff. Reacher wählte den selben Endtisch wie am Abend zuvor und setzte sich auf den selben Stuhl. Er streckte die Beine aus, machte es sich bequem und kippte seinen Stuhl auf zwei Beinen nach hinten. So lehnte er mit dem Rücken an der Hauswand – mit Blickrichtung nach Osten, über das Trottoir und die gesamte Breite der Avenue hinweg. In New York saß er im Sommer gern im Freien. Vor allem abends. Ihm gefielen das elektrisch aufgeladene Dunkel, die heiße staubige Luft, der Verkehrslärm, das manisch schrille Sirenengeheul und das Gedränge auf den Gehsteigen. Das alles half einem einsamen Mann, sich dazugehörig und zugleich isoliert zu fühlen.
Er wurde von demselben Ober wie am Abend zuvor bedient und bestellte dasselbe Getränk: einen doppelten Espresso in einem Styroporbecher, ohne Zucker, ohne Löffel. Er zahlte, als der Espresso serviert wurde, und ließ das Wechselgeld auf dem Tisch liegen. So konnte er jederzeit gehen, ohne den Ober zu kränken oder den Cafébesitzer zu betrügen oder das Porzellan zu klauen. Reacher richtete sein Leben bis ins kleinste Details immer so ein, dass er sekundenschnell aufbrechen konnte. Das war eine zwanghafte Angewohnheit. Er besaß nichts und trug nichts bei sich. Körperlich war er ein großer Mann, aber er warf einen kleinen Schatten und hinterließ in seinem Kielwasser nur sehr wenig.
Er trank seinen Kaffee mit kleinen Schlucken und spürte die Nachthitze vom Trottoir aufsteigen. Er beobachtete Autos und Menschen. Verfolgte, wie Taxis nach Norden strömten und Müllwagen am Randstein hielten. Sah kleine Gruppen von seltsamen jungen Leuten, die in Klubs unterwegs waren. Beobachtete, wie Mädchen, die einmal Jungen gewesen waren, nach Süden stöckelten. Schaute zu, wie eine dunkelblaue deutsche Limousine in der Nähe des Cafés geparkt wurde. Beobachtete, wie ein kompakter Mann in einem grauen Anzug ausstieg und von Süden auf das Lokal zukam. Sah, wie er zwischen zwei Tischen auf dem Gehsteig hindurch nach drinnen ging, wo die Ober im rückwärtigen Teil zusammenstanden. Beobachtete, wie er ihnen Fragen stellte.
Der Kerl war mittelgroß, nicht jung, nicht alt, zu muskulös, um drahtig genannt zu werden, zu schlank, um stämmig zu sein. Sein an den Schläfen graues Haar war kurz geschnitten und ordentlich gescheitelt. Er wirkte auch im Stehen sprungbereit. Seine Lippen bewegten sich kaum, als er sprach. Seine Augen dafür umso mehr. Sie suchten unaufhörlich die gesamte Umgebung ab. Der Typ war ungefähr vierzig, schätzte Reacher, und Reacher vermutete weiterhin, er habe es auf ungefähr vierzig Jahre gebracht, indem er ständig wusste, was um ihn herum passierte. Diesen Blick kannte Reacher von Veteranen aus Eliteeinheiten, die lange Einsätze im Dschungel überlebt hatten.
Dann drehte der Ober, der Reacher bedient hatte, sich plötzlich um und zeigte direkt auf ihn. Der gedrungene Mann in dem grauen Anzug starrte hinüber. Reacher starrte über eine Schulter hinweg und durchs Fenster zurück. Blickkontakt wurde hergestellt. Ohne ihn abreißen zu lassen, formte der Mann in dem Anzug »vielen Dank« mit den Lippen und machte sich auf den Rückweg. Er trat aus der Tür, bog innerhalb des niedrigen Windschutzes rechts ab und schlängelte sich auf Reachers Tisch zu. Reacher ließ ihn einen Augenblick stumm dastehen, während er einen Entschluss fasste. Dann sagte er »Ja« zu ihm – als Antwort, nicht als Frage.
»Ja was?«, fragte der Kerl zurück.
»Ja, was auch immer«, sagte Reacher. »Ja, ich genieße einen angenehmen Abend, ja, Sie können sich zu mir setzen, ja, Sie können mich fragen, was immer Sie mich fragen wollen.«
Der Kerl zog einen Stuhl heraus und setzte sich mit dem Rücken zum Verkehrsstrom, wodurch er Reachers Blick blockierte.
»Tatsächlich habe ich eine Frage«, sagte er.
»Ich weiß«, entgegnete Reacher. »Wegen gestern Abend.«
»Woher wissen Sie das?« Die Stimme des Kerls war leise und ruhig, sein Akzent eintönig abgehackt und britisch.
»Der Ober hat Sie auf mich aufmerksam gemacht«, erklärte Reacher. »Und das Einzige, was mich von den übrigen Gästen unterscheidet, ist die Tatsache, dass ich gestern Abend hier war und sie nicht.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Drehen Sie den Kopf zur Seite«, sagte Reacher. »Beobachten Sie den Verkehr.«
Der Kerl drehte den Kopf zur Seite, beobachtete den Verkehr.
»Erzählen Sie mir jetzt, was ich anhabe«, fuhr Reacher fort.
»Grünes Hemd«, sagte der britische Kerl. »Baumwolle, weit geschnitten, billig, sieht nicht neu aus, Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt, über einem grünen T-Shirt, ebenfalls billig und nicht neu, etwas eng, über Chinos ohne Bundfalten getragen, keine Socken, englische Schuhe, genarbtes Leder, braun, nicht neu, aber auch nicht sehr alt, vermutlich teuer. Ausgefranste Schuhbänder, als zögen Sie beim Schnüren zu kräftig daran. Vielleicht ein Hinweis auf zwanghafte Selbstdisziplin.«
»Okay«, sagte Reacher.
»Okay was?«
»Sie beobachten gut«, antwortete Reacher. »Und ich beobachte gut. Wir sind vom selben Schlag. Wir gleichen uns wie ein Ei dem anderen. Ich bin hier der einzige Gast, der auch gestern Abend hier war. Das weiß ich bestimmt. Und das haben Sie das Personal gefragt. Das muss Ihre Frage gewesen sein. Nur deshalb hat der Ober auf mich gezeigt.«
Der Kerl wandte sich wieder ihm zu.
»Haben Sie gestern Abend ein Auto gesehen?«, fragte er.
»Ich habe viele Autos gesehen«, sagte Reacher. »Wir sind hier auf der Sixth Avenue.«
»Einen Mercedes. Dort drüben geparkt.« Der Mann wandte sich halb um und deutete leicht schräg über die Straße auf die wegen des Parkverbots freie Fläche vor einem Hydranten.
Reacher sagte: »Silber, viertürige Limousine, ein E 420, New Yorker Wunschkennzeichen mit OSC beginnend, hohe Kilometerleistung aus dem Stadtverkehr. Schmutziger Lack, abgefahrene Reifen, angeschlagene Felgenränder, Beulen und Kratzer an beiden Stoßstangen.«
Der Kerl drehte sich wieder um.
»Sie haben ihn gesehen«, sagte er.
»Er hat dort drüben gestanden«, sagte Reacher. »Natürlich habe ich ihn gesehen.«
»Haben Sie gesehen, wie er weggefahren ist?«
Reacher nickte. »Kurz vor dreiviertel zwölf ist ein Kerl eingestiegen und weggefahren.«
»Sie tragen keine Uhr.«
»Ich weiß immer, wie spät es ist.«
»Es muss fast Mitternacht gewesen sein.«
»Vielleicht«, sagte Reacher. »Was auch immer.«
»Haben Sie den Fahrer gesehen?«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich gesehen habe, wie er eingestiegen und weggefahren ist.«
Der Kerl stand auf.
»Sie müssen mitkommen«, sagte er. Dann griff er in seine Jackentasche. »Ich zahle Ihren Kaffee.«
»Der ist schon bezahlt.«
»Okay, dann können wir fahren.«
»Wohin?«
»Zu meinem Boss.«
»Wer ist Ihr Boss?«
»Ein Mann namens Lane.«
»Sie sind kein Cop«, sagte Reacher. »Das ist meine Vermutung. Aufgrund von Beobachtungen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wegen Ihres Akzents. Sie sind kein Amerikaner. Sie sind Engländer. So verzweifelt ist das NYPD noch nicht.«
»Die meisten von uns sind Amerikaner«, sagte der englische Kerl. »Aber Sie haben recht, wir sind keine Cops. Wir sind gewöhnliche Bürger.«
»Welcher Art?«
»Von der Art, die Ihnen Ihre Mühe vergütet, wenn Sie den Mann beschreiben, der mit dem Mercedes weggefahren ist.«
»Wie vergütet?«
»Finanziell«, entgegnete der Kerl. »Gibt’s denn eine andere Methode?«
»Jede Menge anderer Methoden«, meinte Reacher. »Ich denke, ich bleibe lieber hier.«
»Diese Sache ist sehr wichtig.«
»Wie?«
Der Mann in dem Anzug setzte sich wieder.
»Das darf ich Ihnen nicht erzählen«, antwortete er.
»Adieu«, sagte Reacher.
»Nicht meine Entscheidung«, erklärte der Kerl. »Mr. Lane
hat festgelegt, dass es für den Einsatz entscheidend ist, dass das niemand erfährt. Aus sehr guten Gründen.«
Reacher hielt seinen Becher schräg und begutachtete den Inhalt. Fast ausgetrunken.
»Haben Sie einen Namen?«, fragte er.
»Haben Sie einen?«
»Sie zuerst.«
Als Antwort darauf steckte der Kerl Daumen und Zeigefinger in die Brusttasche seines Jacketts und zog ein schwarzes Lederetui für Geschäftskarten heraus. Er klappte es auf und benutzte denselben Daumen, um eine einzelne Karte hinauszuschieben. Dann legte er sie vor Reacher. Die Karte war gut gestaltet: schwerer Karton mit Leinenstruktur, erhabene Lettern, wie nass glänzende Druckfarbe. Ganz oben stand: Operational Security Consultants.
»OSC«, sagte Reacher. »Wie das Kennzeichen.«
Der Mann sagte nichts.
Reacher lächelte. »Sie sind Sicherheitsberater und haben sich Ihr Auto klauen lassen? Ich verstehe, dass das peinlich sein kann.«
Der Kerl sagte: »Uns geht’s nicht um den Wagen.«
Etwas tiefer auf der Geschäftskarte stand der Name: John Gregory, unter dem Namen als zusätzliche Information: British Army a.D. und darunter sein Titel: Geschäftsführender Vizepräsident.
»Wie lange sind Sie schon draußen?«, fragte Reacher,
»Aus der Army?«, fragte der Kerl namens Gregory. »Sieben Jahre.«
»Einheit?«
»SAS.«
»Das sieht man Ihnen noch immer an.«
»Ihnen auch«, meinte Gregory. »Wie lange sind Sie schon draußen?«
»Sieben Jahre.«
»Einheit?«
»US Army, hauptsächlich CID – Kripo.«
Gregory sah auf. Interessiert. »Ermittler?«
»Die meiste Zeit.«
»Dienstgrad?«
»Weiß ich nicht mehr«, antwortete Reacher. »Ich bin seit sieben Jahren Zivilist.«
»Seien Sie nicht schüchtern«, sagte Gregory. »Ich tippe mindestens auf Oberstleutnant.«
»Major«, sagte Reacher. »Damit war Schluss.«
»Karriereprobleme?«
»Ein paar.«
»Haben Sie einen Namen?«
»Das haben die meisten Leute.«
»Wie lautet er?«
»Reacher.«
»Was tun Sie im Augenblick?«
»Ich versuche, ungestört einen Kaffee zu trinken.«
»Brauchen Sie Arbeit?«
»Nein«, sagte Reacher. »Ich brauche keine.«
»Ich war Sergeant«, sagte Gregory.
Reacher nickte. »Hab ich mir ausgerechnet. Das sind SAS-Leute meistens. Und Sie sehen danach aus.«
»Kommen Sie also mit und reden mit Mr. Lane?«
»Ich habe Ihnen gesagt, was ich gesehen habe. Das können Sie weitergeben.«
»Mr. Lane wird es direkt hören wollen.«
Reacher schaute wieder in seinen Becher »Wo ist er?«
»Nicht weit von hier. Zehn Minuten.«
»Hm, ich weiß nicht«, sagte Reacher. »Ich genieße meinen Espresso.«
»Nehmen Sie ihn mit. Er ist in einem Styroporbecher.«
»Mir sind Ruhe und Frieden lieber.«
»Ich verlange nur zehn Minuten.«
»Das kommt mir wie viel Aufwand wegen eines gestohlenen Wagens vor, auch wenn’s ein Mercedes war.«
»Um den Wagen geht’s hier nicht.«
»Worum denn sonst?«
»Um Leben und Tod«, erwiderte Gregory. »Im Augenblick vermutlich eher um Tod als um Leben.«
Reacher sah noch einmal in seinen Becher. Auf dem Boden standen weniger als drei Millimeter einer lauwarmen Kaffeesatzbrühe. Mehr nicht. Er stellte den Becher ab.
»Okay«, sagte er. »Gehen wir also.«
2
Die dunkelblaue deutsche Limousine erwies sich als neuer 7er BMW, ebenfalls mit dem Wunschkennzeichen OSC. Gregory entriegelte die Türen aus zehn Metern Entfernung mit dem Sender im Schlüsselanhänger, und Reacher setzte sich auf den Beifahrersitz, fand den Schalter und fuhr den Sitz nach hinten, um mehr Beinfreiheit zu haben. Gregory zog ein kleines silbernes Mobiltelefon heraus und tippte eine Nummer ein.
»Komme mit einem Zeugen zurück«, sagte er knapp und sehr britisch. Dann klappte er sein Handy zu, ließ den Motor an und ordnete sich in den mitternächtlichen Verkehr ein.
Die zehn Minuten erwiesen sich als zwanzig. Gregory fuhr auf der Sixth Avenue durch die ganze Innenstadt bis zur 57th Street und dann zwei Blocks nach Westen. Auf der Eighth Avenue ging es nach Norden weiter, über den Columbus Circle zum Central Park West, dann auf die 72nd Street. Zuletzt hielt er vor dem Dakota Building.
»Nette Unterkunft«, meinte Reacher.
»Für Mr. Lane ist das Beste gerade gut genug«, sagte Gregory in neutralem Tonfall.
Als sie ausstiegen und auf dem Gehsteig standen, trat ein weiterer kompakter Mann in einem grauen Anzug aus dem Schatten, stieg in den BMW und fuhr ihn weg. Gregory begleitete Reacher in das Gebäude und im Aufzug nach oben. Die Eingangshalle und alle Korridore waren so düster prunkvoll wie das Äußere.
»Sehen Sie manchmal Yoko?«, fragte Reacher.
»Nein«, antwortete Gregory.
Sie stiegen im vierten Stock aus. Gregory führte ihn um die Ecke und zu einer Apartmenttür, die sich vor ihnen öffnete. Der Portier musste sie oben angemeldet haben. Die Tür bestand aus honigfarbener massiver Eiche, und das warme Licht, das auf den Korridor fiel, war ebenfalls honigfarben. Das Apartment bestand aus luxuriös eingerichteten hohen Räumen. Durch eine kleine Diele gelangte man in einen großen quadratischen Wohnraum. Dort gab es gekühlte Luft, gelblich gestrichene Wände, Lampen auf niedrigen Tischchen und mit Chintz bezogene bequeme Sofas und Sessel. Er war mit sechs Männern ziemlich voll. Keiner von ihnen saß. Alle standen schweigend da. Drei trugen graue Anzüge wie Gregory, drei hatten schwarze Jeans und Bomberjacken aus schwarzem Nylon an. Reacher wusste sofort, dass sie alle ehemalige Soldaten waren. Genau wie Gregory. Das sah man ihnen an. In dem Apartment selbst herrschte eine Atmosphäre stiller Verzweiflung, wie in einem Befehlsbunker, der weit von irgendeinem Punkt entfernt liegt, an dem eine Schlacht in diesem Augenblick verloren geht.
Alle sechs Männer drehten sich um und richteten ihren Blick auf Reacher. Keiner von ihnen sprach. Aber fünf Männer sahen nun den sechsten an, was ihn in Reachers Augen als Mr. Lane identifizierte – als den Boss. Er war eine halbe Generation älter als seine Männer, trug einen grauen Anzug und hatte graues Haar, das militärisch kurz geschoren war. Er war zwei, drei Zentimeter größer als der Durchschnitt und schlank. Sein Gesicht wirkte blass und sorgenvoll. Er stand sichtlich angespannt da und berührte mit gespreizten Fingerspitzen eine Tischplatte, auf der ein altmodisches Telefon und das gerahmte Foto einer schönen Frau standen.
»Das ist der Zeuge«, sagte Gregory.
Keine Antwort.
»Er hat den Fahrer gesehen«, fuhr Gregory fort.
Der Mann am Tisch warf einen Blick auf das Telefon und wandte sich dann Reacher zu, musterte ihn von oben bis unten, begutachtete ihn, schätzte ihn ab. Er blieb einen Meter vor ihm stehen und streckte ihm die Hand hin.
»Edward Lane«, sagte er. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir.« Sein Akzent verriet, dass er aus irgendeinem ärmlichen Gebiet stammte, das weit von der Upper West Side von Manhattan entfernt lag. Vielleicht aus Arkansas oder dem ländlichen Tennessee, aber jedenfalls hatte er sich durch langen Gebrauch des neutralen militärischen Tonfalls abgeschliffen. Reacher nannte seinen Namen und schüttelte Lane die Hand. Sie war trocken, nicht warm, nicht kalt.
»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben«, forderte Lane ihn auf.
»Ich habe gesehen, wie ein Kerl in ein Auto gestiegen ist«, sagte Reacher. »Er ist damit weggefahren.«
»Ich brauche Einzelheiten«, sagte Lane.
»Reacher war in der US Army beim CID«, erklärte Gregory. »Er hat den Benz perfekt beschrieben.«
»Dann beschreiben Sie mir den Fahrer«, sagte Lane.
»Den Wagen habe ich länger gesehen als den Fahrer«, meinte Reacher.
»Wo waren Sie?«
»In einem Café. Der Wagen hat leicht nordöstlich von mir auf der anderen Seite der Sixth Avenue gestanden. Ungefähr in einem Winkel von zwanzig Grad, etwa dreißig Meter entfernt.«
»Wieso ist er Ihnen aufgefallen?«
»Er war schlecht geparkt, Irgendwie hat er nicht hingepasst. Ich habe vermutet, er stehe vor einem Hydranten.«
»Das hat er auch«, sagte Lane. »Was dann?«
»Dann hat ein Mann die Straße überquert, um zu ihm zu gelangen. Nicht an einem Fußgängerübergang. Durch Lücken im Verkehr, schräg. Der Winkel hat ziemlich genau meiner Blickrichtung entsprochen – ungefähr zwanzig Grad. Deshalb habe ich die meiste Zeit nur seinen Rücken zu sehen bekommen.«
»Und dann?«
»Er hat den Schlüssel ins Schloss gesteckt und ist eingestiegen. Davongefahren.«
»Offenbar nach Norden, weil er auf der Sixth Avenue war. Ist er irgendwo abgebogen?«
»Meines Wissens nicht.«
»Können Sie ihn beschreiben?
»Jeans, blaues Hemd, blaue Baseballmütze, weiße Sneaker. Lauter alte, bequeme Kleidungsstücke. Der Mann war mittelgroß, mittelschwer.«
»Alter?«
»Sein Gesicht habe ich nicht gesehen, die meiste Zeit nur seinen Rücken. Aber er hat sich nicht wie ein Jugendlicher bewegt. Er war mindestens Mitte dreißig. Vielleicht sogar Anfang vierzig.«
»Wie hat er sich genau bewegt?«
»Er war konzentriert, ist geradewegs auf den Wagen zugegangen. Nicht schnell, aber doch so, dass außer Zweifel stand, wohin er wollte. Ich glaube, er hat ihn die ganze Zeit angestarrt. Wie ein Ziel. Und seiner Schulterhaltung nach vermute ich, dass er den Schlüssel waagrecht vor sich hergetragen hat. Wie eine winzige Lanze. Konzentriert und zielbewusst. Und in Eile. So hat er sich bewegt.«
»Wo ist er hergekommen?«
»Mehr oder weniger aus dem Bereich hinter meiner Schulter. Vielleicht war er zu Fuß nach Norden unterwegs und ist vor dem Café auf die Fahrbahn getreten, um sie in nordöstlicher Richtung zu überqueren.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Vielleicht«, sagte Reacher. »Aber nur an seiner Kleidung, seinem Gang und seiner Körperhaltung. Das würde niemanden überzeugen.«
»Hat er sich durch den Verkehr geschlängelt, muss er nach Süden gesehen haben, um abzuschätzen, was von dort kam. Mindestens einmal. Also hätten Sie seine rechte Gesichtshälfte sehen müssen. Und als er am Steuer saß, hätten Sie die linke sehen müssen.«
»Spitze Winkel«, sagte Reacher. »Und das Licht war nicht gut.«
»Autoscheinwerfer müssen ihn angestrahlt haben.«
»Er war ein Weißer«, meinte Reacher. »Bartlos. Mehr habe ich nicht gesehen.«
»Ein Weißer«, sagte Lane, »Mitte dreißig bis Mitte vierzig. Das dürfte etwa achtzig Prozent der Bevölkerung eliminieren, vielleicht sogar mehr, aber es genügt nicht.«
»Sind Sie denn nicht versichert?«, fragte Reacher.
»Hier geht’s nicht um den Wagen«, antwortete Lane.
»Er war leer«, sagte Reacher.
»Das war er nicht«, widersprach Lane.
»Was war also drin?«
»Danke, Mr. Reacher«, sagte Lane. »Sie haben uns sehr geholfen.«
Er drehte sich um und ging an seinen vorigen Platz am Tisch mit dem Telefon und dem gerahmten Foto. Er baute sich stocksteif dahinter auf, spreizte wieder die Finger und ließ ihre Spitzen auf dem polierten Holz dicht neben dem Telefon ruhen, als könnte er durch diese Nähe einen eingehenden Anruf spüren, bevor der elektronische Impuls das Klingelzeichen auslöste.
»Sie brauchen Hilfe«, sagte Reacher. »Habe ich recht?«
»Was kümmert Sie das?«, fragte Lane.
»Gewohnheit«, entgegnete Reacher. »Reflex. Professionelle Neugier.«
»Ich habe Hilfe«, sagte Lane. Seine freie Hand beschrieb einen Bogen. »Kampfschwimmer der Navy, Delta Force, Aufklärer der Marines, Green Berets, SAS aus Großbritannien. Die Besten der Welt.«
»Sie müssen eine andere Art Hilfe finden. Der Kerl, der Ihren Wagen geklaut hat... Ihre Leute können einen Krieg gegen ihn anfangen, das steht fest. Aber erst müssen Sie ihn finden.«
Keine Antwort.
»Was war in dem Wagen?«, fragte Reacher.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Laufbahn«, sagte Lane.
»Sie ist seit langem vorüber. Das ist ihre Haupteigenschaft.«
»Letzter Dienstgrad?«
»Major.«
»Army CID?«
»Dreizehn Jahre.«
»Ermittler?«
»Meistens.«
»Ein guter?«
»Gut genug.«
»110th Special Unit?«
»Längere Zeit. Sie?«
»Rangers und Delta. Hab in Vietnam angefangen und mit dem ersten Golfkrieg aufgehört. Hab als Leutnant angefangen, war zuletzt Oberst.«
»Was war in dem Wagen?«
Lane sah weg. Er blieb lange, sehr lange still und unbeweglich stehen. Dann sah er Reacher wieder an, als wäre eine Entscheidung gefallen.
»Sie müssen mir wegen einer Sache Ihr Ehrenwort geben«, sagte er.
»Nämlich?«
»Keine Cops. Ihr erster Ratschlag wird sein: Gehen Sie zu den Cops. Aber ich werde mich weigern, das zu tun, und verlange Ihr Ehrenwort, dass Sie’s nicht hinter meinem Rücken tun.«
Reacher zuckte mit den Schultern.
»Okay«, sagte er.
»Sagen Sie’s.«
»Keine Cops.«
»Sagen Sie’s noch mal.«
»Keine Cops«, wiederholte Reacher.
»Ist das ein ethisches Problem für Sie?«
»Nein«, antwortete Reacher.
»Kein FBI, niemand«, sagte Lane. »Wir regeln diese Sache ganz allein. Verstanden? Brechen Sie Ihr Wort, verlieren Sie Ihr Augenlicht. Ich lasse Sie blenden.«
»Sie haben eine komische Art, Freunde zu gewinnen.«
»Ich suche Unterstützung, keine Freunde.«
»Auf mein Wort ist Verlass«, ließ ihn Reacher wissen.
»Sagen Sie, dass Sie verstehen, was passiert, wenn Sie’s brechen.«
Reacher blickte sich in dem Raum um. Nahm alles in sich auf. Die still verzweifelte Atmosphäre und sechs Special-Forces-Veteranen, alle stahlhart, alle unterschwellig bedrohlich, die seinem Blick voller Gruppenloyalität und feindseligem Misstrauen gegenüber dem Außenseiter begegneten.
»Sie lassen mich blenden«, sagte Reacher.
»Glauben Sie’s lieber«, sagte Lane.
»Was war in dem Wagen?«
Lane nahm seine Hand vom Telefon und griff nach dem gerahmten Foto. Er hielt es mit beiden Händen so hoch vor seine Brust, dass Reacher das Gefühl hatte, zwei Personen erwiderten seinen Blick. Oben Lanes blasse, kummervolle Gesichtszüge, etwas tiefer, unter Glas, eine Frau, eine atemberaubende klassische Schönheit. Schwarzes Haar, grüne Augen, hohe Wangenknochen, sinnlicher Mund – alles mit Leidenschaft und Können fotografiert und von einem Meister seines Fachs vergrößert.
»Das ist meine Frau«, sagte Lane.
Reacher nickte. Sagte nichts.
»Sie heißt Kate.«
Niemand sprach.
»Kate ist gestern Vormittag verschwunden«, fuhr Lane fort. »Nachmittags bin ich angerufen worden. Von ihren Entführern. Sie wollten Geld. Das war in dem Wagen. Sie haben beobachtet, wie einer der Entführer meiner Frau das Lösegeld abgeholt hat.«
Niemand sprach.
»Sie haben versprochen, sie freizulassen«, sagte Lane. »Und das ist vierundzwanzig Stunden her. Und sie haben noch nicht wieder angerufen.«
3
Edward Lane hielt das gerahmte Foto wie eine Opfergabe, und Reacher trat vor, um es entgegenzunehmen. Er hielt es leicht schräg ins Licht. Kate Lane war schön, das stand außer Zweifel. Sie war hypnotisierend. Sie war ungefähr zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, musste also Anfang dreißig sein. Alt genug, um ganz Frau, jung genug, um makellos zu sein. Auf diesem Foto war ihr Blick auf etwas knapp außerhalb des Bilderrahmens gerichtet. Aus ihren Augen leuchtete Liebe. Auf ihren Lippen lag der Hauch eines strahlenden Lächelns. Dem Fotografen war es gelungen, die erste Andeutung davon einzufangen, sodass die Pose dynamisch wirkte. Dies war ein Standfoto, aber es schien kurz davor zu sein, sich zu bewegen. Die Schärfe, das Korn und die Details waren makellos. Reacher verstand nicht viel von Fotografie, aber er wusste, dass er ein hochklassiges Produkt in den Händen hielt. Allein der Rahmen kostete vermutlich so viel, wie er früher in der Army im Monat verdient hatte.
»Meine Mona Lisa«, sagte Lane. »Das denke ich bei diesem Bild.«
Reacher gab es zurück. »Ist es einigermaßen neu?«
Lane stellte es wieder neben das Telefon.
»Weniger als ein Jahr alt«, antwortete er.
»Wieso keine Cops?«
»Ich habe meine Gründe dafür.«
»Bei dieser Art Verbrechen leisten sie meist gute Arbeit.«
»Keine Cops«, sagte Lane.
Niemand sprach.
»Sie waren ein Cop«, sagte Lane. »Was die machen, können Sie auch.«
»Das kann ich nicht«, entgegnete Reacher.
»Sie waren ein Cop beim Militär. Folglich können Sie unter sonst gleichen Voraussetzungen bessere Arbeit leisten.«
»Die Voraussetzungen sind nicht gleich. Ich verfüge nicht über ihre Ressourcen.«
»Sie können wenigstens einen Anfang machen.«
In dem Raum wurde es totenstill. Reacher betrachtete erst das Telefon, dann das gerahmte Foto.
»Wie viel haben sie verlangt?«, fragte er.
»Eine Million in bar«, antwortete Lane.
»Und die war in dem Wagen? Eine Million Bucks?«
»Im Kofferraum. In einem Lederkoffer.«
»Okay«, sagte Reacher. »Setzen wir uns erst mal hin.«
»Mir ist nicht nach Hinsetzen zumute.«
»Nicht aufregen«, sagte Reacher. »Sie rufen bald wieder an. Wahrscheinlich sehr bald. Dafür kann ich praktisch garantieren.«
»Wie?«
»Setzen Sie sich. Beginnen Sie mit dem Anfang. Erzählen Sie mir von gestern.«
Also setzte Lane sich in den Sessel neben dem Telefontisch und begann vom Vortag zu erzählen. Reacher saß an einem Ende eines Sofas, Gregory nah bei ihm. Die restlichen fünf Männer verteilten sich im Raum: zwei saßen, zwei hockten auf Sessellehnen, einer lehnte an der Wand.
»Kate ist um zehn Uhr morgens aus dem Haus gegangen«, sagte Lane. »Sie wollte zu Bloomingdale’s, glaube ich.«
»Glauben Sie?«
»Ich lasse ihr etwas Bewegungsfreiheit. Sie erzählt mir nicht unbedingt alles, was sie vorhat. Nicht jeden Tag.«
»War sie allein?«
»Ihre Tochter hat sie begleitet.«
»Ihre Tochter?«
»Kate hat eine achtjährige Tochter aus erster Ehe. Sie heißt Jade.«
»Sie lebt hier bei Ihnen?«
Lane nickte.
»Und wo ist Jade jetzt?«
»Offensichtlich verschwunden«, sagte Lane.
»Dann geht’s also um eine doppelte Entführung?«, fragte Reacher.
Lane nickte wieder. »Eigentlich um eine dreifache. Ihr Fahrer ist auch nicht zurückgekommen.«
»Sie haben’s nicht für nötig gehalten, das vorher zu erwähnen?«
»Macht das einen Unterschied? Eine Person oder drei?«
»Wer war der Fahrer?«
»Ein Kerl namens Taylor. Brite, früher beim SAS. Ein guter Mann. Einer von uns.«
»Was ist mit dem Wagen passiert?«
»Der ist verschwunden.«
»Kauft Ihre Frau oft bei Bloomingdale’s ein?«
Lane schüttelte den Kopf. »Nur gelegentlich. Und nie nach einem berechenbaren Schema. Wir tun nichts regelmäßig oder vorhersehbar. Ich wechsle ihre Fahrer, wechsle ihre Routen, manchmal fahren wir überhaupt nicht in die City.«
»Weshalb? Haben Sie viele Feinde?«
»Nicht gerade wenig. Meine Geschäftstätigkeit zieht Feinde an.«
»Sie werden mir Ihre Geschäftstätigkeit erklären. Und erzählen müssen, wer Ihre Feinde sind.«
»Wieso sind Sie sich so sicher, dass sie anrufen werden?«
»Dazu komme ich noch«, antwortete Reacher. »Schildern Sie mir das erste Gespräch. Wort für Wort.«
»Sie haben um sechzehn Uhr angerufen. Alles war ziemlich so, wie man’s erwarten würde. Sie wissen schon: Wir haben Ihre Frau, wir haben Ihre Tochter.«
»Stimme?«
»Verändert. Eine dieser elektronischen Krächzboxen. Sehr metallisch, wie ein Roboter im Film. Laut und tief, aber das hat nichts zu bedeuten. Stimmhöhe und Lautstärke lassen sich einstellen.«
»Was haben Sie zu ihnen gesagt?«
»Ich habe gefragt, was sie wollen. Eine Million Bucks, haben sie gesagt. Ich habe verlangt, Kate ans Telefon zu holen. Das haben sie nach kurzer Pause getan.« Lane schloss die Augen. »Sie hat gesagt, Sie wissen schon, hilf mir, hilf mir.« Er öffnete die Augen. »Dann hat der Kerl mit der Krächzbox sich wieder gemeldet, und ich habe gesagt, dass ich zahle. Ohne zu zögern. Der Kerl hat gesagt, er würde in einer Stunde noch mal anrufen, um mir Anweisungen zu geben.«
»Und hat er’s getan?«
Lane nickte. »Um siebzehn Uhr. Ich sollte sechs Stunden warten, dann das Geld in den Kofferraum des Mercedes legen, den Sie gesehen haben, ins Village fahren und um Punkt dreiundzwanzig Uhr vierzig an der angegebenen Stelle parken lassen. Der Fahrer sollte ihn abschließen und die Schlüssel durch den Briefschlitz eines bestimmten Gebäudes an der Südwestecke von Spring Street und West Broadway werfen. Jemand würde ihm folgen, das Gebäude betreten und sich die Schlüssel holen. Bliebe mein Fahrer stehen, würde er sich auch nur umsehen, würde Kate sterben. Ebenso wenn an dem Wagen ein Peilsender angebracht würde.«
»Das war’s Wort für Wort?«
Lane nickte.
»Sonst nichts?«
Lane schüttelte den Kopf.
»Wer hat den Mercedes hingefahren?«, fragte Reacher.
»Gregory«, sagte Lane.
»Ich habe mich an die Anweisungen gehalten«, warf Gregory ein. »Wortwörtlich. Ich durfte nichts anderes riskieren.«
»Wie weit mussten Sie gehen?«, fragte Reacher ihn.
»Sechs Blocks.«
»Was war das Gebäude mit dem Briefschlitz?«
»Leer stehend«, sagte Gregory. »Oder auf Renovierung wartend. Jedenfalls war es leer. Ich war heute Abend noch mal dort, bevor ich ins Café gekommen bin. Eindeutig unbewohnt.«
»Wie gut ist dieser Taylor? Haben Sie ihn in England gekannt?«
Gregory nickte. »Der SAS ist eine große Familie. Und Taylor war wirklich sehr gut.«
»Okay«, sagte Reacher.
»Okay was?«, fragte Lane.
»Daraus ergeben sich ein paar offenkundige erste Schlussfolgerungen«, erwiderte Reacher.
4
Reacher sagte: »Die erste Schlussfolgerung lautet, dass Taylor bereits tot ist. Diese Kerle kennen Sie offenbar relativ gut, daher sollten wir davon ausgehen, dass sie wussten, wer und was Taylor war. Deshalb haben sie ihn nicht am Leben gelassen. Aus ihrer Sicht nicht notwendig. Zu gefährlich.«
Lane fragte: »Wieso glauben Sie, dass sie mich kennen?«
»Sie haben einen speziellen Wagen verlangt«, erklärte Reacher. »Und sie haben vermutet, dass Sie eine Million Dollar in bar herumliegen haben. Sie haben das Geld verlangt, als die Banken geschlossen waren, und Sie sollten es deponieren lassen, bevor die Banken öffnen. Das könnte nicht jeder. Sogar sehr reiche Leute brauchen meist einige Zeit, um eine Million Bucks in bar zusammenzubekommen. Sie nehmen Überbrückungskredite auf, lassen sich telegrafisch Geld überweisen, verpfänden Aktien als Sicherheiten, solche Dinge. Aber diese Kerle scheinen gewusst zu haben, dass Sie die Million einfach so ausspucken konnten.«
»Woher kennen sie mich?«
»Das möchte ich von Ihnen wissen.«
Niemand sprach.
»Und sie sind zu dritt«, fuhr Reacher fort. »Einer, der Kate und Jade dort bewacht, wohin man sie verschleppt hat. Einer, der Gregory beschattet hat, als er auf dem West Broadway nach Süden unterwegs war, mit einem Handy, um den dritten Mann anzurufen, der darauf gewartet hat, die Autoschlüssel abholen zu können, sobald das ungefährlich war.«
Niemand sprach.
»Und ihr Versteck liegt mindestens zweihundert Meilen nördlich von hier«, sagte Reacher. »Nehmen wir mal an, die Entführung hätte gestern gegen elf Uhr morgens stattgefunden. Aber sie haben erst über fünf Stunden später angerufen. Weil sie mit dem Auto unterwegs waren. Dann haben sie um siebzehn Uhr Anweisungen für die Lösegeldübergabe durchgegeben, die über sechs Stunden später stattfinden sollte. Weil sie sechs Stunden brauchten, weil zwei von ihnen die ganze Strecke zurückfahren mussten. Fünf, sechs Stunden – das sind zweihundert Meilen, vielleicht zweihundertfünfzig oder sogar mehr.«
»Wieso nördlich?«, fragte Lane. »Sie können überall sein.«
»Nicht im Süden oder Westen«, entgegnete Reacher. »Sonst hätten sie verlangt, dass der Wagen mit dem Lösegeld südlich der Canal Street geparkt wird, um gleich zum Holland Tunnel fahren zu können. Auch nicht im Osten auf Long Island, sonst hätten sie ihn am Midtown Tunnel abstellen lassen. Nein, er sollte auf der Sixth Avenue in Richtung Norden stehen. Das lässt darauf schließen, dass sie zur George Washington Bridge oder zur Henry Hudson und Saw Mill und Triboro oder zur Major Deegan wollten. So haben sie irgendwann den Thruway erreicht. Sie können irgendwo in den Catskills sein. Wahrscheinlich auf einer Farm, jedenfalls auf einem Anwesen mit großer Garage oder einer Scheune.«
»Warum?«
»Weil sie gerade Ihren Mercedes geerbt haben. Und zuvor schon den Wagen, mit dem Taylor gestern zu Bloomingdale’s gefahren ist. Diese Autos müssen sie irgendwo verstecken.«
»Taylor hat einen Jaguar gefahren.«
»Da haben Sie’s. Ihr Grundstück muss inzwischen wie ein Verkaufsplatz für Luxuswagen aussehen.«
»Wieso sind Sie sich so sicher, dass sie wieder anrufen werden?«
»Wegen der menschlichen Natur. Im Augenblick sind sie stinksauer. Sie treten sich selbst in den Hintern. Sie kennen Sie – aber vielleicht doch nicht gut genug. Sie haben viel riskiert und eine Million in bar gefordert – und Sie haben sie bezahlt, ohne eine Sekunde lang zu zögern. Das hätten Sie nicht tun sollen. Sie hätten mauern und auf Zeit spielen sollen. Denn jetzt sagen sie sich: Verdammt, wir hätten mehr verlangen sollen. Wir hätten testen sollen, wo die Obergrenze liegt. Deshalb werden sie noch mal anrufen und eine weitere Forderung stellen. Sie werden rauszukriegen versuchen, wie viel Bargeld Sie tatsächlich herumliegen haben. Und sie werden Sie ausbluten lassen.«
»Weshalb warten sie dann so lange?«
»Weil das ein bedeutsamer Strategiewechsel ist«, antwortete Reacher. »Über den diskutieren sie noch. Darüber haben sie schon den ganzen Tag lang diskutiert. Auch das liegt in der menschlichen Natur. Drei Kerle diskutieren ständig: das Für und Wider, beim Plan bleiben oder improvisieren, auf Nummer sicher gehen oder etwas riskieren.«
Niemand sprach.
»Wie viel haben Sie in bar?«, fragte Reacher.
»Das geht Sie nichts an«, meinte Lane.
»Fünf Millionen«, sagte Reacher. »Die verlangen sie als Nächstes. Das Telefon wird klingeln, und sie werden weitere fünf Millionen verlangen.«
Sieben Augenpaare starrten das Telefon an. Es klingelte nicht.
»Wieder in einem Auto«, fuhr Reacher fort. »Sie müssen eine große Scheune haben.«
»Ist Kate in Sicherheit?«, fragte Lane.
»Vorläufig ist sie ungefährdet«, erwiderte Reacher. »Sie ist ihre Einnahmequelle. Und Sie haben richtig reagiert, als Sie beim ersten Anruf verlangt haben, mit ihr zu sprechen. Dieses Verhaltensmuster müssen sie wiederholen. Die eigentlichen Probleme kommen noch, wenn sie die letzte Zahlung erhalten haben. Das Geld wegzugeben, ist einfach. Die Entführten zurückzubekommen, ist schwierig.«
Das Telefon blieb stumm.
»Ich sollte also mauern?«, fragte Lane.
»Das täte ich an Ihrer Stelle«, sagte Reacher. »Verlangen Sie Ratenzahlung. Bleiben Sie im Gespräch. Spielen Sie auf Zeit.«
Das Telefon klingelte noch immer nicht. Die einzigen Geräusche waren das Summen der Klimaanlage und das flache Atmen der Männer. Alle warteten geduldig. Darauf verstanden Soldaten der Special Forces sich gut. Trotz ihrer manchmal spektakulären Einsätze verbrachten sie den größten Teil ihrer Zeit in Alarmbereitschaft. Und in neunzig Prozent aller Fälle wurden die Einsatzbefehle widerrufen, die jeweiligen Unternehmen abgeblasen.
Das Telefon klingelte nicht.
»Gute Schlussfolgerungen«, sagte Lane in die Stille hinein, ohne damit jemanden anzusprechen. »Drei Kerle, weit weg. Nördlich von hier. Auf einer Farm.«
 
Reacher lag jedoch völlig daneben. Nur vier Meilen durchs elektrisch erhellte Dunkel der City entfernt, wie sie auf der Insel Manhattan, stieß ein einzelner Mann die Tür eines kleinen, heißen Zimmers auf. Dann trat er zur Seite. Kate Lane und ihre Tochter Jade gingen an ihm vorbei, ohne seinen Blick zu erwidern. Sie betraten den Raum und sahen zwei Betten, die schmal und ziemlich hart zu sein schienen. Das Zimmer fühlte sich feucht, unbewohnt an. Das einzige Fenster war mit schwarzem Tuch verhängt und mit Gewebeband am Fensterrahmen befestigt: oben und unten, auf beiden Seiten.
Der einzelne Mann schloss die Tür und ging weg.
5
Das Telefon klingelte Punkt ein Uhr morgens. Lane riss den Hörer von der Gabel und sagte: »Ja?« Reacher hörte eine leise Telefonstimme, die zweifach verzerrt wurde: erst durch ein elektronisches Gerät, dann nochmals durch eine schlechte Verbindung. Lane fragte: »Was?«, und bekam irgendeine Antwort. Lane sagte: »Holen Sie Kate ans Telefon. Das müssen Sie als Erstes tun.« Dann entstand eine Pause, nach der eine andere Stimme zu hören war. Eine Frauenstimme: verzerrt, in Panik, außer Atem. Sie sagte nur ein Wort, vermutlich Lanes Namen, dann stieß sie einen gellend lauten Schrei aus. Dieser Schrei verhallte, und Lane schloss krampfhaft die Augen. Dann meldete sich wieder die elektronische Stimme und blaffte fünf kurze Silben. Lane sagte: »Okay, okay, okay«, und Reacher hörte ein Klicken, als am anderen Ende aufgelegt wurde.
Lane hockte stumm da, hielt seine Augen geschlossen, atmete stoßweise. Schließlich öffnete er die Augen und sah von einem zum anderen, bis er zu Reacher kam.
»Fünf Millionen Dollar«, sagte er. »Sie hatten recht. Woher haben Sie das gewusst?«
»Das war der logische nächste Schritt«, erklärte Reacher. »Eine, fünf, zehn, zwanzig. So denken die Leute.«
»Sie haben eine Kristallkugel. Sie können in die Zukunft sehen. Ich setze Sie auf meine Lohnliste. Mit fünfundzwanzig Riesen im Monat wie alle meine Jungs.«
»Diese Sache dauert keinen Monat«, sagte Reacher. »Garantiert nicht. In ein paar Tagen ist alles vorbei.«
»Ich habe zugestimmt«, sagte Lane. »Ich konnte nicht anders. Sie haben ihr wehgetan.«
Reacher nickte. Schwieg.
Gregory fragte: »Anweisungen später?«
»In einer Stunde«, sagte Lane.
In dem Raum wurde es wieder still. Die Warterei ging weiter. Die Männer sahen auf ihre Uhren, lehnten sich kaum merklich zurück. Lane legte den Telefonhörer auf die Gabel und starrte ins Leere. Aber Reacher beugte sich nach vorn und tippte ihm aufs Knie.
»Wir müssen reden«, sagte er ruhig.
»Worüber?«
»Hintergrund. Wir sollten rauszukriegen versuchen, wer diese Kerle sind.«
»Okay«, sagte Lane vage. »Kommen Sie, wir gehen in mein Büro.«
Er stand langsam auf und führte Reacher aus dem Wohnzimmer und durch die Küche in den ehemaligen Hauswirtschaftsraum. Er war klein und schlicht, quadratisch und als Büro eingerichtet. Schreibtisch, Computer, Faxgerät, Telefone, Aktenschränke, Regale.
»Erzählen Sie mir von Operational Security Consultants«, forderte Reacher ihn auf.
Lane setzte sich in den Schreibtischsessel.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Wir sind nur ein paar ehemalige Soldaten, die sich irgendwie beschäftigen wollen.«
»Womit?«
»Was die Leute so brauchen. Hauptsächlich Personenschutz. Sicherheitsdienst in Firmen. Solche Sachen.«
Auf dem Schreibtisch standen zwei gerahmte Fotos. Eines war ein kleinerer Abzug von Kates atemberaubendem Porträt im Wohnzimmer. Statt elf mal vierzehn nur fünf mal sieben Zoll, aber in dem gleichen teuren Goldrahmen. Auf dem zweiten Foto war eine ungefähr gleichaltrige andere Frau zu sehen: blond, mit blauen statt grünen Augen. Aber genauso schön und ebenso meisterhaft fotografiert.
»Personenschutz?«, wollte Reacher wissen.
»Hauptsächlich.«
»Sie überzeugen mich nicht, Mr. Lane. Leibwächter verdienen keine fünfundzwanzig Riesen im Monat. Leibwächter sind große tumbe Kerle, die von Glück sagen können, wenn sie ein Zehntel davon bekommen. Und hätten Sie für Personenschutz ausgebildete Leute, hätten Sie Kate und Jade gestern Morgen von ihnen eskortieren lassen. Taylor als Fahrer, vielleicht Gregory als bewaffneter Begleiter. Aber das haben Sie nicht getan, was darauf schließen lässt, dass Personenschutz nicht gerade Ihr Kerngeschäft ist.«
»Mein Geschäft ist vertraulich«, sagte Lane.
»Jetzt nicht mehr. Nicht wenn Sie Frau und Tochter zurückbekommen wollen.«
Keine Antwort.
»Ein Jaguar, ein Mercedes und ein BMW«, sagte Reacher. »Und vermutlich weitere Luxuskarossen. Und eine Eigentumswohnung im Dakota. Und eine Menge Bargeld im Haus. Und ein halbes Dutzend Kerle zu fünfundzwanzig Riesen im Monat. Dafür muss man’ne Menge verdienen.«
»Alles legal.«
»Bis auf die Tatsache, dass Sie keine Cops wollen.«
Lane sah unwillkürlich zu dem Foto der blonden Frau hinüber.
»Kein Zusammenhang«, sagte er. »Das ist nicht der Grund.«
Reacher folgte seinem Blick.
»Wer ist sie?«, fragte er.
»War«, sagte Lane.
»War was?«
»Anne«, antwortete Lane. »Sie war meine erste Frau.«
»Und?«
Längeres Schweigen.
»Wissen Sie, ich habe das alles schon mal durchgemacht«, erklärte Lane. »Vor fünf Jahren ist mir Anne weggenommen worden. Auf genau dieselbe Weise. Aber damals habe ich mich an die Regeln gehalten. Ich habe die Cops alarmiert, obwohl die Männer am Telefon mir das streng verboten hatten. Die Cops haben den Fall ans FBI weitergeleitet.«
»Und was ist dann passiert?«
»Das FBI hat irgendwie Mist gebaut«, sagte Lane. »Es muss bei der Lösegeldübergabe entdeckt worden sein. Das hat Anne das Leben gekostet. Einen Monat später ist ihre Leiche in New Jersey aufgefunden worden.«
Reacher schwieg.
»Deswegen will ich diesmal keine Cops haben«, sagte Lane.
6
Reacher und Lane saßen lange schweigend beisammen. Dann sagte Reacher: »Fünfundfünfzig Minuten. Sie sollten sich auf den nächsten Anruf vorbereiten.«
»Sie tragen keine Uhr«, sagte Lane.
»Ich weiß immer, wie spät es ist.«
Reacher folgte ihm ins Wohnzimmer zurück. Lane stand wieder an dem Tisch, den nur seine Fingerspitzen berührten. Offenbar zog er es vor, den Anruf inmitten seiner Männer entgegenzunehmen. Vielleicht brauchte er ihren Trost. Oder ihre Unterstützung.
Das Telefon klingelte pünktlich, exakt um zwei Uhr morgens. Lane nahm den Hörer ab und meldete sich. Reacher hörte leises Roboterkrächzen aus der Hörmuschel dringen. Lane sagte: »Ich will mit Kate reden«, aber das wurde anscheinend abgelehnt, denn er sagte: »Bitte tun Sie ihr nichts.« Er hörte eine weitere Minute lang zu und sagte: »Okay.« Dann legte er auf.
»In fünf Stunden«, sagte er. »Um sieben Uhr morgens. Am selben Ort, dasselbe Verfahren. Mit dem blauen BMW. Nur ein Mann.«
»Ich fahre hin«, sagte Gregory.
Die übrigen Männer im Raum wurden unruhig. »Wir sollten alle dort sein«, sagte einer von ihnen, ein kleiner schwarzhaariger Amerikaner, der wie ein Buchhalter aussah – bis auf seine Augen, die kalt und hart wie die eines Hammerhais waren. »Zehn Minuten später wüssten wir, wo sie ist. Das kann ich euch versprechen.«
»Ein Mann«, beharrte Lane. »So lauten die Anweisungen.«
»Wir sind hier in New York City«, sagte der Typ mit den Haiaugen. »Da sind immer Leute unterwegs. Sie können keine menschenleeren Straßen erwarten.«
»Anscheinend kennen sie uns«, sagte Lane. »Sie würden Sie erkennen, Carter.«
»Ich könnte gehen«, sagte Reacher. »Mich kennt keiner.«
»Sie sind mit Gregory gekommen. Vielleicht beobachten sie dieses Gebäude.«
»Denkbar«, sagte Reacher. »Aber unwahrscheinlich.«
Lane schwieg.
»Ihre Entscheidung«, meinte Reacher.
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte Lane.
»Denken Sie schnell. Zweckmäßigerweise sollte ich lange vor sieben Uhr losziehen.«
»Entscheidung in einer Stunde«, erklärte Lane. Er wandte sich vom Telefon ab, ging wieder in sein Büro. Um das Geld abzuzählen, dachte Reacher. Er überlegte flüchtig, wie fünf Millionen Dollar aussehen mochten. Nicht anders als eine Million, vermutete er. Bloß in Hundertern statt in Zwanzigern.
»Wie viel Geld hat er?«, fragte Reacher.
»Reichlich«, antwortete Gregory.
»Diese zwei Tage kosten ihn sechs Millionen.«
Der Kerl mit den Haiaugen grinste.
»Wir holen es uns zurück«, meinte er. »Darauf können Sie Gift nehmen. Sobald Kate wieder sicher zu Hause ist, legen wir los. Dann werden wir sehen, wer zuletzt die Oberhand behält. Irgendwer hat diesmal im falschen Hornissennest rumgestochert, das steht verdammt fest. Und sie haben Taylor umgelegt. Er war einer von uns. Sie werden bereuen, überhaupt geboren zu sein.«
Reacher sah in seine harten Augen und glaubte ihm jedes Wort. Dann streckte der Kerl ihm plötzlich die Hand entgegen. Abrupt und ein bisschen misstrauisch. »Ich bin Carter Groom«, sagte er. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Denke ich jedenfalls. Ich meine, soweit das unter den Umständen möglich ist.«
Die anderen vier Männer stellten sich in gedämpftem Tonfall ebenfalls mit ihrem Namen und einem Händeschütteln vor. Jeder Mann war höflich und in Gegenwart eines Fremden sehr zurückhaltend. Reacher bemühte sich, die einzelnen Namen mit Gesichtern zu verknüpfen. Gregory kannte er bereits. Der Kerl mit einer großen Narbe über dem rechten Auge hieß Addison. Der kleinste Typ war ein Latino namens Perez. Der Größte von allen hieß Kowalski. Und es gab einen Schwarzen namens Burke.
»Lane hat mir erzählt, dass ihr Personen schützt und Firmen bewacht«, sagte Reacher.
Abruptes Schweigen. Keine Antwort.
»Keine Sorge«, meinte Reacher. »Das hat mich ohnehin nicht überzeugt. Ich glaube, dass ihr Jungs alle Unteroffiziere bei Spezialeinheiten wart. Erfahrene Kämpfer. Deshalb glaube ich, dass euer Mr. Lane auf einem ganz anderen Gebiet tätig ist.«
»Auf welchem?«, fragte Gregory.
»Ich glaube, dass er wie ein Zuhälter Söldner verleiht«, antwortete Reacher.
Der Kerl namens Groom schüttelte den Kopf. »Falsche Wortwahl, Kumpel.«
»Was wäre die richtige?«
»Wir sind eine private Militärfirma«, erklärte Groom. »Irgendein Problem damit?«
»Dazu habe ich eigentlich keine Meinung.«
»Nun, Sie sollten sich aber eine zulegen – am besten eine gute. Wir sind legal. Wir arbeiten fürs Pentagon, genau wie wir’s immer getan haben, genau wie Sie früher selbst.«
»Privatisierung«, sagte Burke. »Auf die ist das Pentagon ganz scharf. Sie ist effizienter. Die Zeit staatlicher Allmacht ist vorbei.«
»Wie viele Männer seid ihr?«, fragte Reacher. »Nur die, die hier sind?«
Groom schüttelte erneut den Kopf. »Wir sind das A-Team. Die erfahrenen Unteroffiziere. Außerdem gibt’s eine ganze Rollkartei voller Mitglieder des B-Teams. Im Irak waren wir mit hundert Mann.«
»Dort wart ihr also? Im Irak?«
»Und in Kolumbien, Panama und Afghanistan. Wir gehen überallhin, wo Onkel Sam uns braucht.«
»Und wie steht’s mit Gebieten, in denen Onkel Sam euch nicht braucht?«
Niemand gab eine Antwort. »Ich vermute, dass das Pentagon mit Schecks zahlt«, sagte Reacher. »Aber hier scheint auch eine Menge Bargeld herumzuliegen.«
Keine Antwort.
»Afrika?«, erkundigte sich Reacher.
Keine Antwort.
»Unwichtig«, sagte Reacher. »Geht mich nichts an, wo ihr gewesen seid. Ich muss nur wissen, wo Mrs. Lane war. In den letzten paar Wochen.«
»Welchen Unterschied macht das?«, fragte Kowalski.
»Es muss eine Art Überwachung gegeben haben«, erwiderte Reacher. »Glaubt ihr nicht auch? Ich bin mir sicher, dass die bösen Kerle sich nicht jeden Tag aufs Geratewohl vor Bloomingdale’s herumgetrieben haben.«
»Mrs. Lane war auf den Hamptons«, sagte Gregory. »Mit Jade, fast den ganzen Sommer über. Sie sind erst vor drei Tagen zurückgekommen.«
»Wer hat sie hergefahren?«
»Taylor.«
»Und ab dann waren die beiden hier?«
»Korrekt.«
»Ist auf den Hamptons irgendwas passiert?«
»Zum Beispiel?«, fragte Groom.
»Zum Beispiel etwas Ungewöhnliches«, antwortete Reacher. »Etwas, das aus dem Rahmen gefallen ist.«
»Eigentlich nicht«, meinte Groom.
»Eines Tages ist eine Frau vor der Tür aufgekreuzt«, warf Gregory ein.
»Was für eine Art Frau?«
»Bloß eine Frau. Sie war fett.«
»Fett?«
»Na ja, stämmig. Ungefähr vierzig. Langes Haar, Mittelscheitel. Mrs. Lane hat sie zu einem Strandspaziergang mitgenommen. Dann ist die Frau wieder gegangen. Ich hab sie für eine Freundin gehalten, die einen Besuch macht.«
»Hatten Sie sie schon mal gesehen?«
Gregory schüttelte den Kopf. »Vielleicht eine alte Freundin. Aus der Vergangenheit.«
»Was haben Mrs. Lane und Jade nach ihrer Rückkehr in die City gemacht?«
»Ich glaube nicht, dass sie schon irgendwas gemacht haben.«
»Nein, sie ist einmal ausgegangen«, sagte Groom. »Mrs. Lane, meine ich. Nicht Jade. Sie war allein einkaufen. Ich habe sie gefahren.«
»Wohin?«
»Staples.«
»Sie war in einem Geschäft für Bürobedarf?« Reacher hatte sie überall gesehen. Eine große Ladenkette, rot-weißes Dekor, riesige Geschäfte voller Zeug, für das er keine Verwendung hatte. »Was hat sie gekauft?«
»Nichts«, sagte Groom. »Ich habe zwanzig Minuten am Bordstein gewartet, aber sie hat nichts mitgebracht.«
»Vielleicht hat sie etwas zur Lieferung bestellt«, sagte Gregory.
»Das hätte sie online tun können. Dazu hätte ich sie nirgendwohin fahren müssen.«
»Dann hat sie sich vielleicht nur umgesehen«, meinte Gregory.
»Komischer Laden, um sich darin umzusehen«, sagte Reacher. »Wer macht das schon?«
»Die Schule fängt bald wieder an«, warf Groom ein. »Vielleicht hat Jade irgendwas gebraucht.«
»Dann wäre sie mitgekommen«, sagte Reacher. »Glauben Sie nicht auch? Und sie hätte irgendwelche Einkäufe dabeigehabt.«
»Hat sie etwas mit reingenommen?«, fragte Gregory. »Vielleicht hat sie etwas zurückgebracht.«
»Sie hatte ihre große Umhängetasche dabei«, sagte Groom. »Möglich wär’s also.« Dann hob er den Kopf und sah an Reacher vorbei. Edward Lane kam zurück. Er trug eine Art Seesack aus Leder, mit dessen Gewicht er zu kämpfen hatte. Fünf Millionen Dollar, dachte Reacher. So sehen sie also aus. Lane ließ den Sack am Durchgang zum Eingangsbereich zu Boden fallen. Er plumpste aufs Eichenparkett und blieb wie der Kadaver eines fetten kleinen Tiers liegen.
»Ich muss ein Bild von Jade sehen«, sagte Reacher.
»Wozu?«, fragte Lane.
»Weil Sie wollen, dass ich wie ein Cop vorgehe. Und Cops wollen immer als Erstes Bilder sehen.«
»Schlafzimmer«, sagte Lane.
Also stand Reacher auf und folgte ihm in ein Schlafzimmer. Der quadratische hohe Raum war kreideweiß gestrichen, schlicht wie eine Mönchszelle und still wie ein Grab. Beherrscht wurde er von einem Himmelbett aus Kirschholz mit zwei dazu passenden Nachttischen. Ebenfalls dazu passte eine Hochkommode, in der sich vielleicht ein Fernseher befand. Und ein Schreibtisch mit dazugehörendem Stuhl. Auf der Schreibtischplatte stand ein gerahmtes Foto: Querformat, acht mal zehn Zoll groß, eigentlich kein Porträtformat. Aber es war eindeutig ein Porträt, sogar ein Doppelporträt: rechts im Bild Kate Lane – dieselbe Aufnahme, die gerahmt im Wohnzimmer stand. Dieselbe Pose, derselbe Blick, dasselbe angedeutete Lächeln. Aber auf dem anderen Foto war das Objekt ihrer Zuneigung abgeschnitten: ihre Tochter Jade. Die vollständige Aufnahme zeigte links Jade, deren Haltung die ihrer Mutter widerspiegelte. Sie blickten einander liebevoll an, schienen kurz davor zu sein, über einen Scherz zu lächeln, den nur sie verstanden. Auf diesem Bild war Jade ungefähr sieben Jahre alt. Sie hatte langes schwarzes Haar, leicht gewellt, fein wie Seide, grüne Augen und einen Porzellanteint. Sie war ein hübsches kleines Mädchen – eine schöne Aufnahme.
»Darf ich?«, fragte Reacher.
Lane nickte, sagte nichts. Reacher nahm das gerahmte Bild vom Schreibtisch und betrachtete es genauer. Der Fotograf hatte die Bindung zwischen Mutter und Kind perfekt eingefangen. Nicht nur, dass Jade ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, sondern auch die keinen Augenblick zweifelhafte Beziehung zwischen den beiden. Sie waren Mutter und Tochter, aber auch Freundinnen. Man konnte nicht übersehen, dass sie viel gemeinsam hatten. Das machte die Aufnahme noch großartiger.
»Wer hat sie fotografiert?«, fragte Reacher.
»Ich habe einen guten Mann in Manhattan gefunden«, antwortete Lane. »Ziemlich berühmt. Scheißteuer.«
Reacher nickte. Jedenfalls war der Typ sein Geld wert gewesen, obwohl dieser Abzug nicht ganz so gut wie der im Wohnzimmer zu sein schien. Die Farben wirkten etwas weniger natürlich, die Gesichtszüge ein bisschen plastikartig. Vielleicht war dies kein Handabzug, weil Lane sich das Geld für einen teuren Einzelabzug hatte sparen wollen, wenn es um seine Stieftochter ging.
»Sehr hübsch«, sagte Reacher. Er stellte das Foto behutsam wieder auf seinen Platz. Im Zimmer war es totenstill. Irgendwo hatte Reacher einmal gelesen, das Dakota sei das Gebäude mit der besten Lärmdämmung New Yorks. Es war erbaut worden, als man den Central Park umgestaltete. Der Bauunternehmer hatte fast einen Meter Lehmerde aus dem Park zwischen die Geschossdecken packen lassen. Auch die Außenmauern und Zwischenwände waren dick. Das ganze Gebäude wirkte wie aus Stein gehauen. Was bestimmt ein Vorteil war, dachte Reacher, als John Lennon hier gewohnt hat.
»Okay«, sagte Lane. »Genug gesehen?«
»Kann ich mir den Schreibtisch mal ansehen?«
»Wozu?«
»Er gehört Kate, stimmt’s?«
»Richtig.«
»So würden die Cops vorgehen.«
Lane zuckte mit den Schultern, und Reacher fing mit den unteren Schubladen an. In der linken fand er Schachteln mit Briefpapier und -karten, die nur den aufgedruckten Namen Kate Lane trugen. Die rechte enthielt eine Hängeregistratur, deren Inhalt ausschließlich Jades Erziehung betraf. Sie besuchte eine Privatschule neun Straßen weiter nördlich. Eine teure Schule, wie die Rechnungen und Überweisungsbelege zeigten. Alle Überweisungen waren von Kates Privatkonto erfolgt. In den beiden oberen Schubladen lagen Bleistifte und Kugelschreiber, Umschläge, Briefmarken, Adressaufkleber, ein Scheckbuch. Und Kreditkartenabrechnungen. Aber nichts Auffälliges. Nichts aus jüngster Zeit, zum Beispiel nichts von Staples.
Die mittlere Schublade enthielt nur zwei US-Reisepässe, einen für Kate, einen für Jade.
»Wer ist Jades Vater?«, fragte Reacher.
»Ist das wichtig?«
»Vielleicht schon. Wäre dies eine gewöhnliche Entführung, würden wir uns ganz sicher mit ihm befassen müssen. Kinder werden oft von entfremdeten Elternteilen geraubt.«
»Aber dies ist eine Entführung, um Lösegeld zu erpressen. Und die Kerle hatten es auf Kate abgesehen. Jade war nur zufällig mit dabei.«
»Entführungen lassen sich tarnen. Und ihr Vater würde sie kleiden und ernähren und für ihre Ausbildung aufkommen müssen. Vielleicht bräuchte er Geld.«
»Er ist tot«, erklärte Lane. »An Magenkrebs gestorben, als Jade drei war.«
»Was hat er beruflich gemacht?«
»Er war Juwelier. Kate hat sein Geschäft anschließend noch ein Jahr weitergeführt. Nicht sehr gut. Sie hatte als Model gearbeitet. Aber so habe ich sie kennengelernt. In ihrem Geschäft. Ich wollte eine Armbanduhr kaufen.«
»Irgendwelche anderen Verwandten? Großeltern, Onkel, Tanten mit Besitzansprüchen?«
»Ich habe niemanden kennengelernt. Folglich hat sich in den letzten Jahren niemand für Jade interessiert. Folglich gibt’s niemanden mit Besitzansprüchen.«
Reacher schloss die mittlere Schublade. Rückte das Foto zurecht und drehte sich um.
»Kleiderschrank?«, fragte er.
Lane wies auf eine von zwei schmalen weißen Schleiflacktüren. Dahinter lag ein Einbauschrank – groß für ein Apartment in New York City, klein für eine Wohnung anderswo. Die Innenbeleuchtung ließ sich durch einen Zug an einer Messingkette einschalten. Der Schrank war dreigeteilt: Im oberen Regal lagen Blusen und Pullover, dann kamen zwei verchromte Kleiderstangen, und unten standen Schuhe, Stiefel und Sandalen. Überall schwacher Lavendelduft. Auf dem Schrankboden lag ordentlich zusammengelegt ein Jackett. Es soll in die Reinigung, dachte Reacher. Er hob es auf. Das Jackett war bei Bloomingdale’s gekauft. Er sah in den Taschen nach. Sie waren leer.
»Was hat sie angehabt, als sie aus dem Haus gegangen ist?«, fragte er.
»Weiß ich nicht genau«, antwortete Lane.
»Wer würde es wissen?«
»Wir sind alle vor ihr weggegangen«, sagte Lane. »Ich glaube nicht, dass noch jemand da war. Außer Taylor.«
Reacher machte das Licht aus, schloss die Kleiderschranktür und trat an den halbhohen Schrank. Er hatte oben zwei Türen, darunter Schubladen. Die oberste war eine in Fächer unterteilte Schmuckschublade. Eine weitere enthielt allen möglichen Kram wie Plastiktüten mit Ersatzknöpfen für neue Kleidungsstücke, Papiertaschentücher und Kleingeld aus irgendwelchen Taschen. Die beiden letzten enthielten Spitzenunterwäsche: BHs, Slips, alle weiß oder schwarz.
»Darf ich Jades Zimmer sehen?«, fragte Reacher.
Lane führte ihn durch einen kurzen Verbindungsgang. Jades Zimmer war in blassen Pastellfarben gehalten und quoll von Kindersachen über. Teddybären, Porzellanpuppen, Spielzeug, Spiele. Ein niedriges Bett. Auf dem Kopfkissen ein zusammengelegter Schlafanzug. Ein Kinderschreibtisch, auf dem Zeichnungen mit Wachsmalkreiden auf Konzeptpapier lagen. Ein ordentlich daruntergestellter kleiner Stuhl.
Nichts, was einem Militärpolizisten irgendeinen Hinweis gegeben hätte.
»Ich bin fertig«, sagte Reacher. »Tut mir leid, dass ich hier herumschnüffeln musste.«
Er folgte Lane wieder ins Wohnzimmer. Der Seesack mit dem Geld lag noch immer in der Nähe des Eingangsbereichs auf dem Fußboden. Gregory und die anderen fünf Söldner saßen wie zuvor still und nachdenklich auf ihren Plätzen.
»Wir müssen uns entscheiden«, sagte Lane. »Gehen wir davon aus, dass Reacher beim Betreten des Gebäudes beobachtet worden ist? Oder nicht?«
»Ich habe niemanden gesehen«, antwortete Gregory. »Und ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Eine ständige Überwachung wäre sehr aufwendig. Deshalb glaube ich’s eher nicht.«
»Genau«, sagte Lane. »Ich denke, dass Reacher weiter John Citizen für sie ist. Deshalb wäre es gut, wenn er ab sieben Uhr auf der Straße unterwegs ist. Wir sollten’s mit etwas eigener Überwachung versuchen.«
Es gab keinen Widerspruch. Reacher nickte.
»Ich beobachte die Vorderfront des Gebäudes in der Spring Street«, sagte er. »So sehe ich mindestens einen von ihnen, vielleicht sogar zwei.«
»Sie dürfen auf keinen Fall entdeckt werden«, sagte Lane. »Sie verstehen meine Sorge, nicht wahr?«
»Völlig«, meinte Reacher. »Mich sieht keiner.«
»Nur Überwachung. Absolut keine Intervention.«
»Keine Sorge.«
»Die Kerle sind bestimmt früh da«, sagte Lane. »Seien Sie also noch früher in Position.«
»Keine Sorge«, wiederholte Reacher. »Ich gehe gleich hin.«
»Wollen Sie nicht wissen, welches Gebäude Sie überwachen sollen?«
»Nicht nötig«, antwortete Reacher. »Ich sehe, wo Gregory die Schlüssel hinbringt.«
Dann verließ er das Apartment und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss hinunter. Nickte dem Portier zu und ging auf die Straße hinaus. Machte sich auf den Weg zum U-Bahneingang an der Ecke 72nd Street und Broadway.
 
Die Frau, die das Gebäude überwachte, sah ihn weggehen. Sie hatte beobachtet, wie er mit Gregory gekommen war, und nun ging er allein fort. Sie schaute auf ihre Uhr, notierte sich die Zeit, verrenkte sich den Hals und verfolgte seinen Weg nach Westen. Dann verlor sie ihn aus den Augen und wich tief in die Schatten zurück.
7
Als Erster fuhr ein Zug der Linie A9 ein. Reacher benutzte die Metrocard, die er sich am Vortag besorgt hatte, und fuhr zehn Stationen weit zur Houston Street. Dort verließ er den Untergrund und folgte der Varick Street nach Süden. Um kurz nach drei Uhr morgens war es hier ungewohnt still. Nach Reachers Erfahrung schlief »die Stadt, die niemals schläft« in einigen Nächten doch, zumindest für ein bis zwei Stunden. Manchmal gab es ein kurzes Intervall zwischen der Heimkehr der Nachtschwärmer und dem Auftauchen der Frühaufsteher. Dann atmete die Großstadt einmal still durch, und leuchtendes Dunkel erfüllte die Straßen. Das war Reachers Zeit. Er stellte sich gern vor, wie die Schlafenden zwölf, dreißig, fünfzig Stockwerke hoch gestapelt lagen, oft Kopf an Kopf mit völlig Unbekannten, nur durch dünne Wohnungswände getrennt, und nicht ahnten, dass unter ihnen ein großer Mann lautlos durch den Schatten schritt.
Auf der Charlton Street bog er links ab, überquerte die Sixth Avenue und folgte der Straße, die nun Prince Street hieß. Drei Blocks weiter befand er sich auf dem West Broadway, mitten in Soho, einen Block nördlich der Spring Street, drei Stunden und vierzig Minuten vor der Zeit. Im gemächlichen Tempo eines Mannes, der ein Ziel, aber keine Eile hat, es zu erreichen, ging er nach Süden weiter. Der West Broadway war breiter als die Seitenstraßen. Weshalb er die Südwestecke gut sehen konnte, als er an der Spring Street vorbeischlenderte. Dort stand ein schmales Gebäude mit eisernen Rollläden im Erdgeschoss und etwas erhöht eingesetzter mattroter Haustür, zu der drei Stufen hinaufführten. Seine Fassade war unten mit Graffiti bedeckt und verschwand oben fast hinter einer komplizierten Feuertreppe. Die oberen Fenster waren schmutzig und von innen mit dunklem Papier oder Stoff zugeklebt. An dem Fenster links neben der Haustür klebten verblichene Baugenehmigungen. In der Tür gab es einen Briefeinwurf: ein schmales Rechteck mit beweglicher Klappe. Sie mochte einst aus blank poliertem Messing gewesen sein; jetzt war sie dunkel angelaufen und mit Korrosionsnarben bedeckt.
Das ist’s, dachte Reacher. Das muss es sein.
Einen Straßenblock weiter bog er auf die Broome Street ab und folgte dann der Greene Street wieder nach Norden – vorbei an mit Scherengittern gesicherten Boutiquen, in denen man Pullover kaufen konnte, die mehr als Flugtickets erster Klasse kosteten, und Möbel, die teurer als viele US-Autos waren. Auf der Prince Street bog er wieder nach Westen ab und umrundete so den Block. Ging auf dem West Broadway nach Süden weiter und fand auf dem östlichen Gehsteig einen geeigneten Hauseingang. Vor der Tür befand sich ein fast einen halben Meter hoher Treppenabsatz. Reacher beförderte etwas Müll mit einem Tritt beiseite und streckte sich dann auf der Seite liegend so aus, dass sein Kopf in der linken Armbeuge ruhte. Er hätte ein schlafender Betrunkener sein können, aber seine halb geöffneten Augen blieben auf die gut vierzig Meter entfernte Haustür gerichtet.
 
Kate Lane hatte strikte Anweisung, sich nicht zu bewegen und nicht das leiseste Geräusch zu machen, aber sie beschloss, das Risiko trotzdem einzugehen. Selbstverständlich fand sie keinen Schlaf. Jade natürlich auch nicht. Wie hätte jemand unter diesen Umständen schlafen können? Also stand Kate leise aus ihrem Bett auf, packte es am Fußende und rückte es zur Seite.
»Mom, nein«, flüsterte Jade. »Du machst Krach.«
Kate gab keine Antwort. Schlich nur ans Kopfende ihres Betts und rückte es ebenfalls zur Seite. Nach drei vorsichtigen Hin-und-Herbewegungen hatte sie erreicht, dass ihre Matratze eng an Jades anschloss. Dann kroch sie wieder unter die Decke und nahm ihre Tochter in die Arme. Hielt sie an sich gedrückt. Mussten sie schon wach sein, so waren sie es wenigstens gemeinsam.
 
Die Uhr in Reachers Kopf zeigte wenige Minuten vor sechs an. Auf dem Boden der Stahl- und Ziegelschluchten von Soho war es noch dunkel, aber der Himmel darüber begann schon hell zu werden. Die Nacht war warm gewesen. Reacher hatte es nicht unbequem gehabt. Er hatte sich schon an schlimmeren Orten aufgehalten. Viele Male und oft weit länger. Bisher gab es an der mattroten Tür keinerlei Aktivitäten. Aber die Frühaufsteher waren schon auf den Beinen. Auf der Straße fuhren Autos und Lastwagen; auf beiden Gehsteigen waren die ersten Passanten unterwegs. Aber niemand achtete auf ihn. Er war nur irgendein Kerl in einem Hauseingang.
Er wälzte sich auf den Rücken und sah sich um. Die Tür, die er blockierte, war eine schlichte graue Stahltür ohne äußere Klinke. Vielleicht ein Notausgang, vielleicht ein Lieferanteneingang. Mit etwas Glück würde er hier bis sieben Uhr nicht gestört werden. Er wälzte sich auf die Seite und sah wieder nach Süden und Westen. Machte ein Hohlkreuz, als wollte er eine Verkrampfung lösen, und schaute dabei nach Norden. Wer kommen wollte, würde vermutlich bald Stellung beziehen. Diese Leute waren keine Dummköpfe. Sie würden die Übergabe sorgfältig vorbereiten. Sie würden Dächer, Fenster und geparkte Autos auf wachsame Cops hin kontrollieren. Vielleicht würden sie auch die Hauseingänge in der näheren Umgebung überprüfen. Aber Reacher war noch nie für einen Cop gehalten worden. Ein Cop, der sich absichtlich schäbig anzieht, wirkt nie ganz echt. Reacher dagegen war echt.
Cops, dachte er.
Das Wort verhakte sich in seinen Gedanken wie ein in der Strömung treibender Ast, der sich am Flussufer verfängt. Es blieb kurz hängen, dann riss es sich los und trieb weiter. Im nächsten Augenblick sah er einen richtigen Cop in einem Streifenwagen, der langsam nach Norden fuhr. Reacher stemmte sich hoch und lehnte sich mit dem Rücken an die graue Tür. Lehnte den Kopf an das kalte, harte Metall. In der Öffentlichkeit liegend zu schlafen, schien ein Verstoß gegen die Verordnung gegen Stadtstreicherei zu sein. Andererseits schien es ein von der Verfassung garantiertes Recht zu geben, sich sitzend auszuruhen. Sehen New Yorker Cops einen Kerl in einem Hauseingang oder auf einer Bank liegen, lassen sie ihre Sirene aufheulen und rufen ihn durch ihren Lautsprecher an. Sehen sie ihn im Sitzen schlafen, mustern sie ihn nur scharf und fahren weiter.
Der Streifenwagen fuhr weiter.
Reacher legte sich wieder hin. Verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ die Augen halb offen.