Der Spezialist - Lee Child - E-Book

Der Spezialist E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Auf den Spuren seines Vaters – der SPIEGEL-Bestseller um Jack Reachers persönlichsten Fall.

»Laconia, New Hampshire« stand auf dem Straßenschild. Obwohl Jack Reacher noch nie hier gewesen war, entschied er sofort, dass er den Ort besuchen würde. Denn hier war sein Vater aufgewachsen, und auch wenn dieser niemals zurückgekehrt war, wollte Reacher sehen, was das für ein Ort war. Als er den Entschluss traf, ahnte Reacher noch nicht, dass es einen guten Grund gab, warum sein Vater Laconia den Rücken gekehrt hatte. Während Reacher in der Vergangenheit herumstochert, gerät er ins Fadenkreuz skrupelloser Männer, die für ihren Profit über Leichen gehen. Doch mit einem Mann wie Jack Reacher haben sie nicht gerechnet.

Verpassen Sie nicht die anderen Romane mit Jack Reacher wie zum Beispiel Der Bluthund, Der Einzelgänger und Der Ermittler. Jeder Band ist einzeln lesbar.

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Seitenzahl: 526

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Buch

»Laconia, New Hampshire« stand auf dem Straßenschild. Obwohl Jack Reacher noch nie hier gewesen war, entschied er sofort, dass er den Ort besuchen würde. Denn hier war sein Vater aufgewachsen, und auch wenn dieser niemals zurückgekehrt war, wollte Reacher sehen, was das für ein Ort war. Als er den Entschluss traf, ahnte Reacher noch nicht, dass es einen guten Grund gab, warum sein Vater Laconia den Rücken gekehrt hatte. Während Reacher in der Vergangenheit herumstochert, gerät er ins Fadenkreuz skrupelloser Männer, die für ihren Profit über Leichen gehen. Doch mit einem Mann wie Jack Reacher haben sie nicht gerechnet.

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anthony Award, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Lee Child

Der Spezialist

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Past Tense (Reacher 23)« bei Bantam Press, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Lee Child

Published by Agreement with Lee Child

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: © Magdalena Russocka/Trevillion Images; www.buerosued.de

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26997-5V005

www.blanvalet.de

In memoriamJohn Reginald Grant, 1924–2016Norman Steven Shiren, 1925–2017Audrey Grant, 1926–2017

1

Jack Reacher genoss die letzten Strahlen der Sommersonne in einer kleinen Küstenstadt in Maine, dann begann er wie die Zugvögel am Himmel über ihm seine lange Wanderung nach Süden. Aber nicht, dachte er, auf der Vogelfluglinie zur Küste hinunter. Nicht wie die Pirole und die Ammern und die Fliegenschnäpper und die Rotkehlchen-Kolibris. Stattdessen entschied er sich für eine diagonale Route nach Südwesten, von der oberen rechten Ecke des Landes zur unteren linken Ecke, vielleicht über Syracuse und Cincinnati und St. Louis und Okla­homa City und Albuquerque und weiter bis ganz nach San Diego hinunter. Für einen Army-Veteranen wie Reacher war die Navy dort etwas zu stark vertreten, aber ansonsten konnte man in San Diego sehr gut überwintern.

Ein epischer Roadtrip, wie er seit Jahren keinen mehr gemacht hatte.

Er freute sich darauf.

Er kam nicht weit.

Er marschierte ungefähr eine Meile weit landeinwärts, bis er eine County Road erreichte, stellte sich an den Rand und reckte einen Daumen hoch. Er war ein großer Kerl, in Stiefeln über einen Meter fünfundneunzig groß, breitschultrig, nur Muskeln und Knochen, nicht besonders gutaussehend, nie sehr gut angezogen, meist ein bisschen zerzaust. Kein überwältigend attraktiver Anblick. Wie immer wurden die meisten Fahrer etwas langsamer, sahen ihn sich kurz an und gaben dann wieder Gas. Das erste Auto, dessen Fahrer bereit war, es mit ihm zu riskieren, kam nach vierzig Minuten vorbei. Es war ein mehrere Jahre alter Subaru-Kombi, der von einem hageren Kerl in mittleren Jahren mit adrett gebügelten Chinos und einem frisch gewaschenen Khakihemd gelenkt wurde. Von seiner Frau eingekleidet, dachte Reacher. Der Mann trug einen Ehering. Aber in dem feinen Tuch steckte ein Arbeiterkörper mit Stiernacken und breiten roten Fingerknöcheln. Der irgendwie verwunderte und etwas widerwillige Boss von irgendwas, vermutete Reacher. Wie ein Typ, der zuerst Löcher für Zaunpfosten ausgehoben hatte und jetzt Inhaber einer Firma war, die Zäune aufstellte.

Was sich als zutreffende Vermutung erwies. Als sie miteinander ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass der Kerl mit nicht mehr als dem alten Zimmererhammer seines Vaters angefangen hatte, aber jetzt Inhaber eines Bauunternehmens war, das vierzig Arbeiter beschäftigte und die Hoffnungen und Träume zahlreicher Kunden erfüllte. Der Mann beendete seine Geschichte mit einem kleinen Schulterzucken, das teils auf yankeehafte Bescheidenheit, teils auf echte Ratlosigkeit zurückzuführen war. Als fragte er sich selbst: Wie ist das bloß passiert? Genauigkeit in allen Dingen, dachte Reacher. Dies war ein sehr gut organisierter Kerl mit eigenen Meinungen und Patentrezepten, mit Maximen und gusseisernen Überzeugungen, zu denen die Ansicht gehörte, gegen Sommerende sei es besser, die Route One und die I-95 zu meiden. Um möglichst schnell aus Maine rauszukommen, musste man auf der Route Two genau westlich nach New Hampshire fahren. Bis zu einem Punkt knapp südlich von Berlin, wo der Mann ein paar Nebenstraßen kannte, die einen schneller nach Boston brachten als jede andere Route. Dort wollte er hin – zu einer Verkaufsveranstaltung für Arbeitsplatten aus Marmor. Reacher war das nur recht. Gegen Boston als Ausgangspunkt hatte er nichts einzuwenden. Überhaupt nichts. Von dort aus gelangte man geradewegs nach Syracuse. Dann über Rochester, Buffalo und Cleveland mühelos nach Cincinnati. Vielleicht auch über Akron, Ohio. Reacher hatte schon schlimmere Orte gesehen. Hauptsächlich in seiner Dienstzeit.

Nur kamen sie nie nach Boston.

Der Kerl erhielt einen Anruf auf seinem Handy, als sie in New Hampshire ungefähr fünfzig Minuten auf den besagten Nebenstraßen nach Süden unterwegs waren, die genau den Vorhersagen entsprachen. Reacher musste zugeben, dass der Plan des Kerls gut war. Hier gab es kaum Verkehr. Keine Staus, keine Verzögerungen. Sie konnten überall sechzig Meilen in der Stunde fahren. Bis das Telefon klingelte. Es war mit dem Radio verbunden, und auf dem Bildschirm des Navis erschienen eine Telefonnummer und als Orientierungshilfe ein kleines Foto, das in diesem Fall einen rotgesichtigen Mann mit Schutzhelm zeigte, der ein Schreibbrett in der Hand hielt. Anscheinend ein Polier auf einer Baustelle. Als der Mann am Steuer einen Knopf drückte, drang leises Handyzischen aus allen Lautsprechern der Stereoanlage.

Der Fahrer sprach mit der A-Säule, als er sagte: »Will bloß hoffen, dass du gute Nachrichten hast.«

Der Anrufer hatte schlechte. Es ging um einen ­städtischen Bauinspektor und eine stählerne Kaminauskleidung über dem offenen Kamin einer Eingangshalle, die genau nach Vorschrift isoliert war, was sich aber nicht nachprüfen ließ, ohne das Mauerwerk abzutragen, das bereits zwei Stockwerke hoch und fast fertig war, sodass die Maurer schon kommende Woche eine neue Baustelle beziehen sollten. Alternativ konnte man im Esszimmer auf der anderen Seite des Kamins die teure Wandtäfelung aus Nussbaumholz herausreißen – oder die aus Rosenholz im Schlafzimmer darüber, die noch teurer war. Aber der Inspektor stellte sich stur, wollte die Isolierung unbedingt mit eigenen Augen sehen.

Der Kerl am Steuer schaute kurz zu Reacher, dann fragte er: »Welcher Inspektor ist das?«

Der Anrufer sagte: »Der neue.«

»Weiß er, dass er zu Thanksgiving einen Truthahn bekommt?«

»Ich hab ihm gesagt, dass wir hier alle an einem Strang ziehen.«

Der Fahrer sah erneut Reacher an, als bäte er um Erlaubnis oder um Entschuldigung oder beides, und fragte: »Hast du ihm Geld geboten?«

»Fünfhundert. Er wollte’s nicht nehmen.«

Plötzlich verschlechterte sich der Handyempfang. Der Ton kam abgehackt an, als würde ein Roboter in einem Swimmingpool untergehen, dann setzte er ganz aus. Auf dem Display blinkte nur noch Suche …

Der Wagen rollte weiter.

Reacher fragte: »Wozu will jemand einen offenen Kamin in der Eingangshalle?«

Der Mann am Steuer sagte: »Er wirkt einladend.«

»Historisch gesehen, sollte er eher abschrecken, glaube ich. Eine Defensivmaßnahme. Wie ein Lagerfeuer in einem Höhleneingang. Es sollte Raubtiere fernhalten.«

»Ich muss umkehren«, sagte der Kerl. »Sorry.«

Er bremste und hielt am Straßenrand. Allein auf einer einsamen Nebenstraße ohne Verkehr. Auf dem Display blinkte weiter Suche …

»Leider muss ich Sie hier absetzen«, erklärte der Mann. »Ist das okay?«

»Kein Problem«, meinte Reacher. »Sie haben mich ein schönes Stück weit mitgenommen. Dafür danke ich Ihnen sehr.«

»Gern geschehen.«

»Wem gehört die Rosenholztäfelung?«

»Einem wichtigen Kunden.«

»Sägen Sie ein großes Loch hinein, und zeigen Sie’s dem Inspektor. Danach nennen Sie dem Kunden fünf vernünftige Gründe für den Einbau eines Wandsafes. Dieser Typ möchte nämlich einen Wandsafe. Vielleicht weiß er das noch nicht, aber jemand, der in der Eingangshalle einen offenen Kamin will, möchte auch einen Safe im Schlafzimmer. Das steht verdammt fest. Menschliche Natur. Dabei können Sie sogar verdienen, wenn Sie ihm das Aussägen der Öffnung berechnen.«

»Kommen Sie aus meiner Branche?«

»Ich war Militärpolizist.«

Der Mann sagte: »Ach.«

Reacher öffnete seine Tür, stieg aus, schloss die Tür hinter sich und ging ein paar Schritte, damit der Kerl Platz hatte, mit dem Subaru zu wenden, Gas zu geben und in Gegenrichtung davonzufahren. Alles das tat er mit einer knappen Handbewegung, die Reacher als bedauernde Abschiedsgeste interpretierte. Dann wurde sein Wagen in der Ferne kleiner und kleiner. Reacher wandte sich ab und stapfte in Richtung ­Süden weiter. Wo immer möglich, behielt er gern eine Vorwärtsbewegung bei. Die zweispurige Straße vor ihm war ziemlich breit, in gutem Zustand, hier und da kurvig, ohne viel Auf und Ab. Kein Problem für ein modernes Auto. Der Subaru war mit sechzig unterwegs gewesen. Doch hier gab es keinen Verkehr. Gar keinen. Aus keiner Richtung. Absolute Stille bis auf das leise Seufzen des Windes in den Bäumen.

Reacher marschierte weiter.

Zwei Meilen weiter zweigte in einer leichten Linkskurve eine weitere gleich breite identische Straße rechts ab. Eigentlich keine Abzweigung, mehr eine Wahlmöglichkeit. Eine klassische Y-förmige Straßengabel. Als Autofahrer musste man sich entscheiden, ob man ein wenig nach links oder ein wenig nach rechts lenken wollte. Beide Optionen verschwanden unter Bäumen, die so gewaltig waren, dass sie an manchen Stellen Tunnels bildeten.

Hier standen Wegweiser.

Auf dem nach links zeigenden Schild stand Portsmouth, und das nach rechts weisende war mit Laconia beschriftet. Aber die Schrift der rechten Option war kleiner und stand auf einem kleineren Schild, als wäre Laconia weniger bedeutend als Portsmouth. Eine trotz gleicher Größe unwichtigere Nebenstraße.

Laconia, New Hampshire.

Ein Ortsname, den Reacher kannte. Er hatte ihn gelegentlich gehört und auf allen möglichen Dokumenten aus der Fami­lien­ge­schichte gelesen. Der Geburtsort seines verstorbenen Vaters, der dort aufgewachsen war, bis er mit siebzehn abgehauen und zum Marine Corps gegangen war. So lautete die vage Fami­lien­legende. Wovor abgehauen, darüber hatte niemand geredet. Kein einziges Mal. Reacher selbst wurde über fünfzehn Jahre später geboren, als Laconia in ferner Vergangenheit lag – fast so entlegen wie das Dakota Territory, in dem angeblich ein weiterer Vorfahr gelebt und gearbeitet hatte. Niemand aus seiner Familie war jemals an einem dieser Orte gewesen. Es gab keine Besuche. Die früh gestorbenen Großeltern wurden nur selten erwähnt. Tanten oder Onkel, Cousins oder sonstige entfernte Verwandte schien es nicht zu geben. Was statistisch unwahrscheinlich war und auf einen Familienkrach schließen ließ.

Sein Vater war der Einzige, der wirklich etwas darüber wusste, aber niemand machte sich die Mühe, irgendwas aus ihm herauszubekommen. Über bestimmte Dinge wurde in Marine-Corps-Familien nicht gesprochen. Viel später war Reachers Bruder als Hauptmann in der Army im Norden stationiert und sprach davon, vielleicht das alte Haus der Familie zu finden, aber daraus wurde nie etwas. Reacher hatte vermutlich schon mehrmals das Gleiche gesagt, aber auch er war nie dort gewesen.

Links oder rechts. Er hatte die Wahl.

Portsmouth war besser. Dort gab es Highways und Verkehr und Fernbusse. Von dort aus ging es geradewegs nach Boston. San Diego lockte. Im Nordwesten würde es bald kalt werden.

Aber was machte ein zusätzlicher Tag aus?

Er wandte sich nach rechts, nahm die Straße nach Laconia.

Fast dreißig Meilen weit entfernt war im selben Augenblick an diesem Spätnachmittag auf einer ande­ren Nebenstraße ein klappriger Honda Civic mit einem Fünfundzwanzigjährigen namens Shorty Fleck am Steuer nach Süden unterwegs. Auf dem Beifahrersitz neben ihm saß die fünfundzwanzigjährige Patty Sundstrom. Sie waren ein Paar, beide geboren und aufgewachsen in Saint Leonard, einer abgelegenen Kleinstadt im kanadischen New Brunswick. Dort passierte nie viel. Das größte Ereignis seit Menschengedenken war vor zehn Jahren gewesen, als ein Lastwagen mit zwölf Millionen Bienen in einer engen Kurve umkippte. Das Lokalblatt hatte stolz gemeldet, dies sei der erste derartige Unfall in New Brunswick gewesen. Patty arbeitete in einem Sägewerk. Sie war die Enkelin eines Kerls aus Minnesota, der sich vor einem halben Jahrhundert nach Norden abgesetzt hatte, um nicht als Wehrpflichtiger in Vietnam kämpfen zu müssen. Shorty baute als Farmer Kartoffeln an. Seine Familie hatte schon immer in Kanada gelebt. Und er war nicht besonders klein. Vielleicht war er es als Kind gewesen, aber heutzutage ginge er davon aus, dass jeder Augenzeuge ihn als durchschnittlich aussehenden Typen beschreiben würde.

Sie versuchten, von Saint Leonard nonstop nach New York City zu gelangen, was nach allen Maßstäben eine verdammt anspruchsvolle Fahrt war. Aber die beiden sahen darin einen großen Vorteil. Sie wollten etwas in der Stadt verkaufen, und eine eingesparte Hotelübernachtung würde ihren Profit erhöhen. Sie hatten ihre Route genau geplant, wollten nach Westen ausholen, um den Urlaubern auszuweichen, die von den Stränden heimfuhren, und würden vor allem Nebenstraßen benutzen. Pattys dicker Zeigefinger fuhr über die Landkarte, und ihr nach vorn gerichteter Blick achtete auf Wegweiser und Abzweigungen. Sie hatten die Strecke nach der Karte berechnet und waren sich darüber einig, dass sie zu schaffen sein müsste.

Allerdings waren sie etwas später weggekommen, als ihnen lieb war, was zu einem kleinen Teil auf allgemeine Desorganisation, aber vor allem darauf zurückzuführen war, dass die alters­schwache Batterie des Hondas die von Prince Edward ­Island herüberwehenden frischen Herbstwinde nicht mochte. Wegen dieser Verzögerung hatten sie an der US-Grenze in einer langen Schlange warten müssen, und dann war der Honda zu heiß geworden und konnte längere Zeit nur ganz vorsichtig und nicht schneller als fünfzig Meilen in der Stunde gefahren werden.

Sie waren müde.

Und hungrig und durstig und brauchten eine Toilette, waren zu spät dran und hinkten ihrem Plan hinterher. Und waren frustriert. Der Honda wurde schon wieder zu heiß. Die Nadel stand kurz vor dem roten Bereich. Unter der Motorhaube hörte man ein mahlendes Geräusch. Vielleicht war der Ölstand zu niedrig. Das ließ sich nicht ohne Weiteres feststellen. Alle Warnleuchten blinkten seit nunmehr zweieinhalb Jahren permanent.

Shorty fragte: »Was liegt vor uns?«

Patty sagte: »Nichts.«

Ihre Fingerspitze folgte einer roten Schlangenlinie, die mit einer dreistelligen Ziffer versehen war und durch ein unregelmäßig geformtes blassgrünes Gebiet nach Süden führte. Ein Waldgebiet, was ein Blick aus dem Fenster bestätigte. Auf beiden Seiten der Straße erhoben sich Bäume, die Äste noch schwer von Sommerlaub. Auf der Landkarte war ein Spinnennetz aus feinen roten Linien zu sehen: unbefestigte Straßen, die irgendwohin, aber zu keiner größeren Ansiedlung führten. Bestimmt zu keiner, in der es eine Autowerkstatt mit Motoröl und Kühlwasser gab. Hoffnung weckte nur ein Ort ungefähr eine halbe Stunde südöstlich, eine Kleinstadt, deren Name halbfett und nicht zu klein gedruckt war, was bedeutete, dass dort zumindest eine Tankstelle existierte. Sie hieß Laconia.

Patty fragte: »Schaffen wir noch zwanzig Meilen?«

»Vielleicht«, antwortete Shorty, »wenn wir die letzten neunzehn zu Fuß gehen.«

Er drückte etwas weniger aufs Gaspedal und fuhr auf dem niedrigen Gras des Banketts, das nicht so heiß wie der Asphalt war, weiter. Andererseits verringerte das den Luftdurchsatz des Kühlers, sodass die Nadel der Temperaturanzeige noch weiter ausschlug. Pattys Zeigefinger verfolgte ihre langsame Fahrt auf der Karte. Bald würden sie einen der Spinnenfäden erreichen: einen dünnen roten Strich, der einen Fingerbreit vor ihnen ins Blassgrün abzweigte. Ohne das Rauschen des Windes an ihrem schlecht schließenden Fenster konnte sie die Geräusche aus dem Motorraum hören – ein Klappern, Klopfen und Mahlen. Schlimmer werdend.

Dann tauchte vor ihnen die Einmündung einer schmalen Zufahrt auf. Der rote Spinnenfaden, gerade rechtzeitig. Aber mehr ein dunkler Tunnel als eine Straße. Die Äste der Bäume verschränkten sich ineinander. An der Einfahrt stand ein von Bodenfrost schiefer Pfahl mit einem Brett, auf das verschnörkelte Kunststoffbuchstaben und ein in den Tunnel weisender Pfeil geschraubt waren. Die Buchstaben bildeten das Wort Motel.

»Sollen wir?«, fragte sie.

Die Antwort erteilte der Wagen. Die Temperaturnadel stand jetzt am Anschlag. Shorty konnte die Hitze an den Schienbeinen spüren. Der Motorraum strahlte Hitze wie ein Backofen ab. Er fragte sich eine Sekunde lang, was passieren würde, wenn sie weiterfuhren. Die Leute sprachen davon, dass Auto­mo­to­ren explodierten und zusammenschmolzen. Was natür­lich nur Gerede war. Es würde kein geschmolzenes Metall geben. Und auch keine Explosion. Der Motor würde nur friedlich den Geist aufgeben, und der Honda würde sanft ausrollen.

Aber am Ende der Welt, wo es keinen Verkehr und keinen Handyempfang gab.

»Müssen wohl«, sagte er, bremste und bog in den Tunnel ab. Aus der Nähe war zu erkennen, dass man die Kunststoffbuchstaben auf dem Brett mit einem schmalen Pinsel vergoldet hatte, als wäre dies ein Versprechen, als wäre das Motel ein erstklassiges Haus. Für Fahrer aus der Gegenrichtung gab es ein zweites identisches Schild.

»Okay?«, fragte Shorty.

In dem Tunnel war es merklich kühler, bestimmt zwei bis drei Grad, als auf der Hauptstraße. Auf beiden Seiten der Zufahrt lag noch Laub vom letzten Herbst und Matsch vom letzten Winter.

»Okay?«, fragte Shorty noch mal.

Sie fuhren über ein quer auf der Straße liegendes Kabel. Ein dickes, mit Gummi ummanteltes Ding, nicht viel kleiner als ein Gartenschlauch. Wie man’s an Tankstellen sah, wo es im Kassenhäuschen ein Klingelzeichen ertönen ließ, damit der Tankwart rauskam, um einem zu helfen.

Patty gab keine Antwort.

Shorty fragte: »Wie schlimm kann’s schon sein? Es ist auf der Karte eingezeichnet.«

»Die Zufahrt ist eingezeichnet.«

»Das Schild war hübsch.«

»Hast recht«, sagte Patty. »Es war hübsch.«

Sie fuhren weiter.

2

Die Bäume kühlten die Luft, sodass Reacher keine Mühe hatte, vier Meilen in der Stunde zurückzulegen, die bei seiner Beinlänge exakt achtundachtzig Schritte in der Minute erforderten, was genau das Tempo vieler großartiger Musikstücke war, mit denen er sich die Zeit vertreiben konnte. Während er in dreißig Minuten zwei Meilen marschierte, liefen in seinem Kopf sieben Klassiktracks ab. Als er dann reale Geräusche hörte, sah er sich um und stellte fest, dass sie von einem uralten Pick-up stammten, dessen Räder so stark eierten, als würden sie in verschiedene Richtungen auseinanderstreben.

Reacher reckte den Daumen hoch.

Der Truck hielt neben ihm. Ein alter Mann mit langem weißem Bart lehnte sich zur Seite und kurbelte das rechte Fenster herunter.

Er sagte: »Ich bin nach Laconia unterwegs.«

»Ich auch«, sagte Reacher.

»Also, okay.«

Reacher stieg ein und kurbelte das Fenster wieder hoch. Der alte Mann gab Gas und nahm eiernd wieder Fahrt auf.

Er sagte: »Jetzt kommt der Teil, schätz ich, wo Sie mir sagen, dass ich neue Reifen brauche.«

»Wäre vielleicht nicht schlecht«, entgegnete Reacher.

»Aber in meinem Alter versuche ich, hohe Ausgaben zu vermeiden. Wozu in die Zukunft investieren? Habe ich überhaupt eine?«

»Dieser Zirkelschluss ist runder als Ihre Reifen.«

»Tatsächlich ist der Rahmen verzogen. Ich hatte mal ’nen Unfall.«

»Wann?«

»Vor fast dreiundzwanzig Jahren.«

»Für Sie ist das Eiern jetzt also normal.«

»Hält mich wach.«

»Wie wissen Sie, wohin Sie lenken müssen?«

»Daran gewöhnt man sich. Als ob man ein Boot segelt. Warum wollen Sie nach Laconia?«

»Ich bin auf der Durchreise«, sagte Reacher. »Mein Vater ist dort geboren. Ich wollte’s mal sehen.«

»Wie heißen Sie mit Nachnamen?«

»Reacher.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

Er sagte: »Ich hab in Laconia nie jemand gekannt, der Reacher heißt.«

Der Grund für die Y-förmige Straßengabelung erwies sich als ein See, der so breit war, dass Fahrer in Nord-Süd-Richtung sich entscheiden mussten, ob sie die linke oder rechte Uferstraße nehmen wollten. Reacher und der alte Kerl holperten und schepperten das rechte Ufer entlang: mechanisch stressreich, aber mit schöner Aussicht in der Abendsonne, die in einer Stunde untergehen würde. Dann tauchte die Stadt Laconia vor ihnen auf. Sie war größer, als Reacher erwartet hatte. Fünfzehn- bis zwanzigtausend Einwohner. Mittelpunkt eines Countys. Wohlhabend und solide. Ansehnliche Gebäude, saubere altmodische Straßen. In der rötlichen Abendsonne erinnerten die Häuser an Kulissen eines Westernfilms.

Der eiernde Pick-up kam wackelnd an einer Straßenecke in der Stadtmitte zum Stehen. Der alte Mann sagte: »Dies ist Laconia.«

Reacher fragte: »Wie sehr hat es sich verändert?«

»Hier draußen nicht besonders.«

»Als Kind hab ich’s mir kleiner vorgestellt.«

»Die meisten Leute sehen erinnerte Dinge größer.«

Reacher bedankte sich bei dem Mann fürs Mitnehmen, stieg aus und beobachtete, wie der Truck davoneierte, wobei jeder Reifen darauf bestand, dass die drei ande­ren unrecht hatten. Dann wandte er sich ab und lief kreuz und quer durch die Innenstadt, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wo was liegen mochte. Speziell interessierten ihn zwei Orte, an denen er morgens mit seinen Nachforschungen beginnen wollte, und zwei weitere, die er an diesem Abend zum Essen und Schlafen brauchte.

Beide waren mit historischem Altstadtflair verfügbar. Gesundes Essen, kein Restaurant breiter als zwei Tische. Motels fand er hier keine, aber viele Hotels und Pensionen und eine Menge Häuser, die Bed & Breakfast anboten. Er aß in einem schmalen Bistro, weil die Bedienung ihm durchs Fenster zugelächelt hatte. Allerdings gab es einen peinlichen Augenblick, als sie ihm sein Essen servierte. Reacher hatte eine Art Salat mit Roastbeef bestellt, weil er glaubte, das sei das nahrhafteste Gericht auf der Karte. Doch als es kam, war es winzig. Er bestellte den Salat noch mal – und einen größeren Teller. Anfangs verstand ihn die Bedienung falsch: Sie glaubte, mit dem Essen sei etwas nicht in Ordnung. Oder mit der Tellergröße. Oder mit beidem. Dann begriff sie, dass er hungrig war und zwei Portionen wollte. Sie fragte, ob er sonst noch etwas brauche. Er bat um einen größeren Becher für seinen Kaffee.

Anschließend ging er zu einem kleinen Hotel, das er in einer Seitenstraße in der Nähe des Rathauses entdeckt hatte. Die Urlaubszeit war vorbei und somit genug Platz in der Herberge. Er zahlte einen hohen Preis für etwas, das der Typ am Empfang eine Suite nannte, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um ein Zimmer mit einem Sofa und viel zu vielen floralen Mustern und Federkissen handelte. Er fegte ein Dutzend vom Bett und legte seine Hose zum Bügeln unter die Matratze. Dann duschte er lange, schlüpfte unter die Decke und schlief ein.

Der Tunnel durch den Wald erwies sich als über zwei Meilen lang. Patty Sundstrom verfolgte eine Kurve mit ihrem Finger auf der Karte. Unter den Rädern des Hondas lag grauer, löchriger Asphalt, der an manchen Stellen durch abfließendes Regenwasser weggeschwemmt worden war, sodass tischgroße ­flache Schlaglöcher, teils mit geripptem Beton, teils mit Kies aufgefüllt, entstanden. Viele bedeckte auch eine feuchte Laubschicht, weil das Blätterdach über ihnen geschlossen war – abgesehen von einer Stelle, wo zwanzig Meter lang keine Bäume standen, sodass sich kurz der hellrosa Abendhimmel zeigte. Vielleicht bestand der Untergrund hier aus massivem Fels, oder es gab zu viel oder zu wenig Wasser. Dann verschwand der schmale Himmelsstreifen. Sie befanden sich wieder im Tunnel. Shorty Fleck fuhr langsam, weil der Wagen dann weniger holperte und um den Motor zu schonen. Er überlegte, ob er mit Licht fahren sollte.

Dann lichtete sich erneut das Blätterdach, schien allgemein lückenhaft zu werden, als läge vor ihnen eine große Lichtung, als wären sie kurz vor einem Ziel. Vor ihnen verlief die Straße geradeaus über einige Hektar Grasland, von dem ihr schmales graues Band sich im letzten Tageslicht nackt und bloß abhob. Sie lief auf eine Gruppe aus drei großen Holzhäusern zu, die auf einer Strecke von fünfzig Metern hintereinander an einer weiten Rechtskurve standen. Alle drei waren dunkelrot gestrichen und hatten leuchtend weiße Tür- und Fensterrahmen. Vor dem grasgrünen Hintergrund wirkten sie wie Klassiker im New-England-Stil.

Beim ersten Gebäude handelte es sich um ein Motel. Wie aus einem Bilderbuch. Wie aus einem ABC-Buch, in dem ­Motel für M stand. Es war lang und niedrig, mit dunkelroten Brettern verkleidet, und hatte ein graues Schindeldach. Im ersten Fenster stand in roter Neonschrift Office, dann kam die Lamellentür eines Lagerraums, und dahinter folgte ein sich wiederholendes Muster: ein breites Fenster mit einem Klima­gerät, davor zwei Plastikstühle und eine nummerierte Tür. Das ging so noch elfmal, sodass es zwölf identische Zimmer in einer Reihe gab. Aber vor keinem parkte ein Auto. Sah nach null Belegung aus.

»Okay?«, fragte Shorty.

Patty schwieg. Er hielt an. Das zweite Gebäude rechts voraus war kürzer als das Motel, aber viel höher und tiefer. Eine Art Scheune. Aber nicht für Tiere. Die Betonrampe vor dem Tor wirkte auffällig sauber. Ohne Mist, um es deutlich zu sagen. Vor dem Gebäude parkten neun Quads mit breiten Stollenreifen. Sie waren in drei präzisen Reihen zu je drei Quads aufgestellt.

»Vielleicht sind das Hondas«, sagte Patty. »Vielleicht wissen diese Kerle, wie man einen Motor repariert.«

Das dritte Gebäude am Ende der Reihe war ein normales Wohnhaus: schlicht, aber sehr geräumig, mit einer umlaufenden Veranda, auf der Schaukelstühle standen.

Shorty fuhr ein Stück weiter und hielt erneut. Der Asphalt endete zehn Meter vor dem Parkplatz des leeren Motels. Er war kurz davor, auf die verunkrautete unbefestigte Fläche zu rollen, auf der er mit dem erfahrenen Blick eines Kartoffelfarmers mindestens fünf Pflanzen erkannte, die er auf seinem eigenen Land nicht hätte haben wollen.

Das Ende der asphaltierten Zufahrt kam ihm wie eine Schwelle vor. Als stünde er vor einer Entscheidung.

»Okay?«, fragte er noch mal.

»Die Bude ist leer«, meinte Patty. »Kein einziger Gast. Wie verrückt ist das denn?«

»Die Saison ist vorbei.«

»Als ob man einen Schalter umlegt?«

»Darüber klagen sie immer.«

»Hier sind wir am Ende der Welt.«

»Ein idealer Rückzugsort. Kein Trubel, kein Stress.«

Patty schwieg eine Weile.

Dann sagte sie: »Es sieht okay aus, find ich.«

Shorty sagte: »Was ande­res gibt’s hier nicht, denk ich.«

Sie suchte die Struktur des Motels von einer Seite zur ande­ren ab: die schlichten Proportionen, das solide Dach, die starken Bretter, den kürzlichen Anstrich. Alle notwendigen Wartungsarbeiten waren ausgeführt, aber ohne Luxus. Dies war ein ehrliches Gebäude. Es hätte in Kanada stehen können.

Sie sagte: »Sehen wir’s uns mal an.«

Sie holperten von dem Asphalt über die unebene Fläche und parkten vor dem Büro. Shorty überlegte kurz, dann stellte er den Motor ab. Das war sicherer, als ihn laufen zu lassen. Für den Fall, dass Explosionen und Metallschmelzen drohten. Sprang er nicht wieder an, war das eben Pech. Sie befanden sich schon fast am Ziel. Notfalls konnten sie Zimmer eins verlangen. Sie hatten einen Riesenkoffer voller Zeug, das sie verkaufen wollten. Der konnte im Auto bleiben. Davon abgesehen reisten sie mit leichtem Gepäck.

Sie stiegen aus und betraten das Büro. Hinter der Empfangstheke saß ein Mann, ungefähr in Pattys und Shortys Alter, Mitte zwanzig, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Er war sonnengebrannt, hatte kurzes blondes, ordentlich gekämmtes Haar, blaue Augen, weiße Zähne und ein freundliches Lächeln. Aber er passte nicht so recht hierher. Shorty hielt ihn anfangs für einen Sommerjobber, wie er sie aus Kanada kannte, wo Kids aus guten Familien zu stumpfsinnigen Arbeiten aufs Land geschickt wurden, um Erfahrungen zu sammeln, ihren Horizont zu erweitern oder zu sich selbst zu finden oder irgendwas in der Art. Doch dafür war dieser Kerl fünf Jahre zu alt. Und seine Begrüßung hörte sich an, als wäre er der Besitzer. Er sagte willkommen, gewiss – aber in meinem Haus. Als gehörte ihm der Laden.

Vielleicht stimmte das sogar.

Patty erklärte ihm, sie bräuchten ein Zimmer und fragten sich, ob jemand, der für die Quads zuständig sei, sich ihren Wagen ansehen könne. Sonst seien sie für die Telefonnummer eines guten Automechanikers dankbar. Hoffentlich kein Abschleppdienst.

Der Kerl fragte lächelnd: »Was ist mit Ihrem Wagen?«

Er klang wie ein junger Filmheld, der an der Wall Street arbeitete und einen Anzug mit Krawatte trug. Gelassen und selbstbewusst. Vermutlich trank er Champagner. Geldgier ist geil. Nicht der Lieblingstyp eines Kartoffelfarmers.

Patty antwortete: »Er wird zu heiß und macht scheppernde Geräusche unter der Motorhaube.«

Der Typ setzte ein ande­res Lächeln auf, dieses Mal ein bescheidenes, aber selbstsicheres Junior-Master-of-the Universe-Grinsen, und sagte: »Dann sollten wir ihn uns mal ansehen, denke ich. Ich tippe auf wenig Öl und wenig Kühlmittel. Beides ist leicht zu beheben, wenn’s nicht irgendwo ein Leck gibt. Davon würde abhängen, welche Teile wir brauchen. Aber vielleicht könnten wir irgendwas anpassen. Klappt das nicht, kennen wir auch ein paar gute Mechaniker. Aber in beiden Fällen lässt sich nichts tun, bevor der Motor ganz abgekühlt ist. Parken Sie den Wagen über Nacht vor Ihrem Zimmer, dann sehen wir ihn uns morgen früh als Erstes an.«

»Um welche Zeit genau?«, fragte Patty, die daran dachte, wie viel Verspätung sie schon hatten – aber auch an geschenkte Gäule und ihre Mäuler.

Der Mann sagte: »Hier stehen wir alle mit der Sonne auf.«

Sie fragte: »Was kostet das Zimmer?«

»Nach dem Labor Day, vor den Herbstlaubfans … sagen wir fünfzig Bucks.«

»Okay«, sagte sie, obwohl das nicht ganz stimmte, aber sie dachte wieder an geschenkte Gäule. Und auch daran, was Shorty vorhin gesagt hatte: Was ande­res gibt’s hier nicht, denk ich.

»Wir geben Ihnen Zimmer zehn«, erklärte der Mann. »Das erste, das wir bisher renoviert haben. Tatsächlich sind wir gerade damit fertig. Sie wären die allerersten Gäste. Wir hoffen, dass Sie uns die Ehre erweisen werden.«

3

Reacher wachte eine Minute nach drei Uhr morgens auf. Regelrecht klischeehaft: sofort hellwach, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Er bewegte sich nicht. Spannte nicht einmal Arme und Beine an. Er lag einfach da, starrte ins Dunkel, horchte angestrengt, konzentrierte sich zu hundert Prozent. Keine angelernte Reaktion. Ein primitiver Instinkt, von der Evolution tief in sein Gehirn eingebrannt. In Südkalifornien hatte er einmal in einer stillen Nacht bei offenem Fenster geschlafen und war hellwach hochgeschreckt, weil er im Schlaf leichten Rauchgeruch wahrnahm. Keinen Zigarettenrauch oder den Rauch eines brennenden Gebäudes, sondern einen vierzig Meilen weit entfernten Buschbrand. Ein urzeitlicher Geruch. Wie ein Lauffeuer, das sich in grauer Vorzeit durch eine Savanne fraß. Wessen Vorfahren ihm entkamen, hing davon ab, wer am schnellsten aufwachte und sofort losrannte. Löschen, wieder und wieder, Hunderte von Genera­tio­nen lang.

Aber es gab keinen Rauch. Nicht um eine Minute nach drei Uhr an diesem speziellen Morgen. Nicht in diesem speziellen Hotelzimmer. Was hatte ihn also geweckt? Er hatte nichts gesehen oder gefühlt oder geschmeckt, sondern fest geschlafen. Also musste es ein Geräusch gewesen sein. Er musste etwas gehört haben.

Er wartete auf eine Wiederholung, was er als evolutionäre Schwäche ansah. Das Produkt war noch nicht perfekt. Der Prozess lief nach wie vor in zwei Stufen ab. Stufe eins, damit man aufwachte, und Stufe zwei, damit man wusste, worum es sich handelte. Viel besser wäre es gewesen, wenn beides gleichzeitig abgelaufen wäre.

Er hörte nichts. Heutzutage gab es nicht mehr viele Ge­räusche, auf die sein Echsengehirn ansprach. Das Anschleichen oder Fauchen eines Raubtiers war kaum mehr zu vernehmen und das nächste Unterholz, in dem es bedrohlich knackte, meilenweit von hier entfernt. Sonst gab es kaum etwas, das den primitiven Kortex erschrecken konnte. Nicht im Audiobereich. Für neuere Geräusche waren die Frontallappen zuständig, die sehr wachsam auf moderne Gefahrensignale achteten, aber nicht die Kompetenz besaßen, einen Menschen aus ruhigem Tiefschlaf zu wecken.

Was hatte ihn also geweckt? Der einzig wirkliche andere uralte Klang war ein Hilferuf. Ein Schrei oder ein Flehen. Kein modernes Juchzen, kein Kreischen oder gackerndes Gelächter. Etwas zutiefst Primitives. Der Stamm wurde angegriffen. Vom äußersten Rand her. Eine Frühwarnung aus der Ferne.

Aber er hörte nichts mehr. Es gab keine Wiederholung. Er stand auf und horchte an der Tür. Nichts. Er nahm ein Kissen und drückte es auf den in die Tür eingelassenen Spion. Keine Reaktion. Kein Schuss, der Holz zersplittern ließ. Er schaute nach draußen. Nichts zu erkennen außer dem leeren, schwach beleuchteten Flur.

Er zog den Vorhang etwas auf und kontrollierte das Fenster. Nichts zu sehen. Auch auf der schlecht beleuchteten Straße nichts. Pechschwarz. Totenstill. Er ging zum Bett zurück, schüttelte das Kopfkissen auf und schlief weiter.

Auch Patty Sundstrom wachte eine Minute nach drei Uhr auf. Sie hatte vier Stunden geschlafen, aber dann hatte irgendeine unterschwellige Erregung sie geweckt. Sie fühlte sich nicht gut. Nicht im Innersten, wie es richtig gewesen wäre. Das lag wohl auch daran, dass die Verzögerung ihr Sorgen machte. Bestenfalls würden sie die City morgen Nachmittag erreichen. Nicht gerade die beste Verkaufszeit. Dazu kamen die fünfzig Bucks fürs Zimmer. Und der Wagen, der eine unbekannte Größe war. Es konnte ein Vermögen kosten, wenn Teile gebraucht wurden. Wenn etwas angepasst werden musste. Autos sind klasse, bis sie’s nicht mehr sind. Immerhin war der Motor gleich angesprungen, als sie aus dem Büro gekommen waren. Der Kerl vom Motel hatte nicht allzu besorgt gewirkt und ein zuversichtliches Gesicht gemacht. Er war nicht mit ihnen ins Zimmer gegangen. Auch das war gut gewesen. Sie hasste es, wenn Leute sich mit hereindrängten, um ihr zu zeigen, wo sich der Lichtschalter im Bad befand, während sie ihr Gepäck begutachteten, übertrieben höflich taten und ein Trinkgeld wollten. Dieser Kerl hatte nichts dergleichen getan.

Und trotzdem fühlte sie sich nicht gut. Sie wusste nicht, warum. Das Zimmer war angenehm und wie angekündigt komplett renoviert. Die Wandtäfelung sah so neu aus wie die Holzdecke, der Anstrich und der Teppichboden. Nichts Gewagtes, erst recht nichts Verrücktes, sondern eine grundsolide Sanierung nach altem Vorbild. Die Klimaanlage arbeitete gut und geräuschlos. An der Wand hing ein Flachbildfernseher. Das teure Fenster bestand aus einer Isolierverglasung, in deren Zwischenraum eine elektrische Jalousie montiert war. Man zog an keiner Kette, um sie zu schließen, sondern drückte auf einen Knopf. Alles teuer und gediegen. Das einzige Problem war, dass sich das Fenster nicht öffnen ließ. Darüber konnte sie sich Sorgen machen, wenn es brannte. Und sie hatte gern frische Luft im Schlafzimmer. Aber insgesamt war dies ein anständiges Zimmer. Besser als die meisten, in denen sie jemals genächtigt hatte. Vielleicht sogar die fünfzig Bucks wert.

Aber sie fühlte sich nicht gut. Im Zimmer gab es kein Telefon, aber auch keinen Handyempfang, sodass sie nach einer halben Stunde ins Büro gegangen waren, um zu fragen, ob sie das Festnetztelefon benutzen dürften, um sich Essen zu bestellen. Vielleicht eine Pizza. Der Mann am Empfang hatte ihnen bedauernd lächelnd erklärt, das Motel liege leider viel zu einsam. Hierher komme kein Lieferservice. Er sagte, die meisten Gäste führen zum Abendessen in einen Diner oder ein Restaurant. Shorty hatte ausgesehen, als würde er gleich wütend. Als hätte der Kerl gesagt, die meisten Gäste hätten Autos, die funktionierten. Vielleicht hing das mit dem bedauernden Lächeln zusammen. Aber dann erklärte der Mann, hey, drüben im Haus haben wir Pizzen in der Tiefkühltruhe. Wollen Sie nicht mit uns essen?

Das war eine seltsame Mahlzeit gewesen: in einem dunklen alten Haus, mit Shorty und dem Mann und drei ande­ren genau wie er. Gleiches Alter, gleiches Aussehen, mit stummer Kommunikation auf gleicher Wellenlänge zwischen ihnen. Als verbände sie ein gemeinsames Vorhaben. Irgendwie wirkten sie nervös. Im Verlauf des Abends gelangte Patty zu dem Schluss, sie seien Investoren, die ihr ganzes Geld in ein gemeinsames Projekt gesteckt hatten. In das Motel, vermutete sie. Anscheinend hatten sie’s gekauft und versuchten nun, es zum Erfolg zu führen. Jedenfalls waren sie alle ausnehmend höflich, freundlich und gesprächig. Der Kerl von der Rezeption stellte sich als Mark vor. Die ande­ren waren Robert, ­Steven und Peter. Alle stellten intelligente Fragen über das Leben in Saint Leonard. Sie erkundigten sich nach ihrer anstrengenden Fahrt gen ­Süden. Shorty sah wieder aus, als wollte er wütend werden. Er glaubte, sie hielten ihn für blöd, weil er mit einem unzuverlässigen Auto losgefahren war. Aber der Typ, der sich um die Quads kümmerte – Peter –, versicherte ihm, er hätte es auch getan. Rein statistisch gesehen. Der Honda war jahrelang gut gelaufen. Was hätte sich plötzlich daran ändern sollen? Alles hatte dafür gesprochen, dass er noch eine Weile durchhalten würde.

Sie hatten gute Nacht gesagt und waren zu Zimmer zehn zurück und ins Bett gegangen, nur war Patty vier Stunden später unruhig aufgewacht. Sie fühlte sich nicht gut, aber sie wusste nicht, warum. Oder vielleicht wusste sie es doch. Vielleicht wollte sie es sich nur nicht eingestehen. Vielleicht war das ihr Problem. Vermutlich war sie tief in ihrem Innern wütend auf Shorty. Dieser lange Trip stellte den wichtigsten Teil ihres Geheimplans dar, und er war mit einem defekten Auto losgefahren. Er war dumm. Dümmer als seine eigenen Kartoffeln. Zu geizig, um ein bisschen im Voraus zu investieren. Was hätte ein Ölwechsel im Sonderangebot gekostet? Garantiert weniger als die fünfzig Bucks für das Motel, von dem Shorty ihr einreden wollte, es sei ein unheimlicher Laden, der von unheimlichen Leuten geführt wurde – was sie in Konflikte stürzte, weil sie das Gefühl hatte, von einer Gruppe höflicher junger Männer wie von Rittern in schimmernder Rüstung aus einer Notlage befreit zu werden. An der allein ein Kartoffelbauer Schuld hatte, der zu doof gewesen war, sein Auto durchzuchecken, bevor er eine Tausendmeilentour in Angriff nahm – noch dazu in ein fremdes Land und mit etwas sehr Wertvollem im Gepäck.

Doof. Sie brauchte frische Luft, schlüpfte aus dem Bett und tappte barfuß zur Tür. Dann drehte sie den Knopf und stützte sich mit der ande­ren Hand vom Rahmen ab, um die Tür geräuschlos öffnen zu können, damit Shorty nicht aufwachte, denn sie wollte jetzt nichts mit ihm zu tun haben, weil sie ­wütend auf ihn war.

Aber die Tür klemmte. Sie bewegte sich überhaupt nicht. Patty überzeugte sich davon, dass sie von innen aufgesperrt war, und drehte den Knopf nach beiden Richtungen, ohne dass etwas passierte. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Vielleicht hatte sie sich nach dem Einbau in der Sommerhitze verzogen.

Doof. Echt doof. In dieser Situation hätte sie Shorty brauchen können. Weil er ständig Hundertpfundsäcke mit Kartoffeln herumwuchtete, war er ein bärenstarker kleiner Kerl. Aber würde sie ihn wecken, damit er ihr die Tür öffnete? Im Leben nicht. Sie kehrte zum Bett zurück, streckte sich neben ihm aus und starrte an die glatte und solide Zimmerdecke.

Reacher wachte um acht Uhr morgens erneut auf. An den Vorhangrändern fiel helles Sonnenlicht in den Raum. Sonnenstäubchen trieben träge durch die Luft. Von der Straße kamen gedämpfte Geräusche. Autos hielten, fuhren wieder an. Vermutlich an einer Ampel am Ende des Blocks. Gelegentlich wurde gehupt, als wäre ein Autofahrer unaufmerksam gewesen und bei Grün nicht gleich angefahren.

Reacher duschte und zog seine Hose unter der Matratze ­heraus, zog sich an und machte sich auf die Suche nach einem Frühstück. Ganz in der Nähe gab es Kaffee und Muffins, sodass er für einen längeren Streifzug gestärkt war, der ihn in ein ­Lokal führte, in dem es vielleicht gutes Essen geben würde, wenn man über das kitschige Retrodekor hinwegsah. Die Einrichtung schien jemandes heutige Idee wiederzugeben, wie Holzfäller in früheren Zeiten gegessen hatten, was nach derzeitigem Verständnis vor allem Gebratenes gewesen sein musste. Nach Reachers Erfahrung aßen Holzfäller wie andere Schwerarbeiter alle möglichen Dinge. Aber er hatte keine Einwände gegen Gebratenes, wenn es reichlich davon gab. Also spielte er mit, ging hinein und setzte sich geschäftig hin, als hätte er nur eine halbe Stunde Zeit, bevor er den nächsten Baum fällen musste.

Das Essen war klasse, und guter Kaffee wurde reichlich nachgeschenkt, sodass er länger als eine halbe Stunde blieb, das Treiben auf der Straße vor dem Fenster beobachtete und abwartete, bis die Leute in Anzügen und Kostümen in ihren Büros verschwanden. Dann stand er auf, ließ ein Trinkgeld liegen, zahlte seine Rechnung und ging zwei Blocks weit zu dem Ort, den er am Abend zuvor ausgekundschaftet hatte, um dort seine Recherchen zu beginnen. Er wollte ins Archiv der Stadtverwaltung, das mit vielen ande­ren städtischen Dienststellen in einem Mehrzweckklinkerbau untergebracht war. Aufgrund seiner Größe und seines Alters tippte Reacher darauf, dass sich früher einmal ein Gerichtssaal darin befunden hatte. Sich vielleicht noch heute darin befand.

Die Bürosuite, die er suchte, lag auf einem Flur, der von einer großen Halle im Zwischengeschoss abzweigte. Wie ein Korridor in einem teuren Hotel. Nur hatten die Türen hier altmodische Milchglaseinsätze, auf denen in goldener Schrift der Name der jeweiligen Dienststelle stand. In diesem speziellen Fall zweizeilig: Records Department. Hinter der Tür lag ein leerer Raum mit vier Plastikstühlen und einer hüfthohen Theke, auf der ein Klingelknopf montiert war, von dem eine dünne Litze zur Bodenleiste hinunterführte. Auf einem dachförmigen Pappschild stand Falls nicht besetzt, bitte läuten. Der Text war sauber mit der Hand geschrieben und durch viele Streifen eines durchsichtigen Klebebands geschützt. An den Kanten sah er schmuddelig aus und begann sich abzulösen, als hätten schon viele gelangweilte oder nervöse Finger mit dem Schild gespielt.

Reacher klingelte also. Nach etwa einer Minute tauchte eine Frau durch die Tür in der Rückwand auf und wandte sich dabei bedauernd um, wie Reacher fand, als verließe sie einen dramatisch größeren und aufregenderen Raum. Sie war ungefähr dreißig, schlank und adrett, in grauem Rock und grauem Pullover. Sie trat an die Theke, blickte sich aber erneut nach der Tür um. Entweder wartete dort ihr Freund, oder sie hasste ihren Job. Vielleicht beides. Aber sie tat ihr Bestes, setzte ein freundliches Begrüßungslächeln auf. Nicht so wie in einem Geschäft, in dem der Kunde König war, sondern eher als Gleich­ge­stellte.

Er sagte: »Ich brauche eine Auskunft wegen eines alten Grundbucheintrags.«

»Geht’s um Besitzansprüche?«, fragte die Frau. »Dann sollten Sie den Auszug von Ihrem Anwalt anfordern lassen. Das geht viel schneller.«

»Keine Ansprüche«, antwortete er. »Mein Vater ist hier geboren. Das ist alles. Vor vielen Jahren. Er ist schon tot. Ich bin nur auf der Durchreise. Ich dachte, ich sollte mir mal das Haus ansehen, in dem er aufgewachsen ist.«

»Sagen Sie mir die Adresse?«

»Die weiß ich nicht.«

»Können Sie sich ungefähr erinnern, wo es steht?«

»Ich war niemals dort.«

»Sie haben es nicht besucht?«

»Nein.«

»Vielleicht ist Ihr Vater schon sehr jung weggezogen.«

»Erst als er mit siebzehn zu den Marines gegangen ist.«

»Dann sind Ihre Großeltern vielleicht weggezogen, bevor Ihr Vater selbst eine Familie hatte. Bevor Besuche üblich wurden.«

»Ich hatte den Eindruck, meine Großeltern lebten bis an ihr Lebensende hier.«

»Aber Sie haben sie nicht persönlich gekannt.«

»Wir waren eine Marine-Corps-Familie und meist irgendwo anders auf der Welt.«

»Das tut mir leid.«

»Nicht Ihre Schuld.«

»Aber danke für Ihren Dienst.«

»War nicht mein Dienst. Mein Dad war der Marine, nicht ich. Ich hatte gehofft, wir könnten seinen Namen im Geburtsregister finden, um die genaue Anschrift seiner Eltern rauszubekommen. Vielleicht auch in einem Grundsteuerverzeichnis oder dergleichen, damit ich mir das Haus ansehen könnte.«

»Sie wissen nicht, wie Ihre Großeltern geheißen haben?«

»James und Elizabeth Reacher, denke ich.«

»Das ist mein Name.«

»Sie heißen Reacher?«

»Nein, Elizabeth. Elizabeth Castle.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Reacher.

»Ebenfalls«, erwiderte sie.

»Ich bin Jack Reacher. Mein Vater war Stan Reacher.«

»Vor wie vielen Jahren ist Stan zu den Marines gegangen?«

»Er wäre jetzt fast neunzig, also war das vor über siebzig Jahren.«

»Dann sollten wir sicherheitshalber vor achtzig Jahren beginnen«, sagte die Frau. »Damals war Stan Reacher ungefähr zehn Jahre alt und hat irgendwo in Laconia bei seinen Eltern James und Elizabeth Reacher gelebt. Ist das eine korrekte Zusammenfassung?«

»Das könnte Kapitel eins meiner Biografie sein.«

»Ich weiß bestimmt, dass viele unse­rer Unterlagen bis 1900 digitalisiert sind«, erklärte sie. »Aber so alte Grundsteuerakten bestehen wahrscheinlich nur aus Namenslisten, fürchte ich.«

Sie sperrte ein Thekenfach auf und klappte den Deckel hoch. Darunter kamen ein Bildschirm und eine Tastatur zum Vorschein. Bei Nichtbenutzung diebstahlsicher weggesperrt. Sie schaltete den Computer per Knopfdruck ein und wartete.

»Er muss erst hochfahren«, sagte sie.

Diesen Ausdruck hatte Reacher in technischem Zusammenhang schon mehrmals gehört.

Sie klickte und scrollte, scrollte und klickte.

»Ja«, sagte sie. »Für die Zeit vor achtzig Jahren gibt’s nur ein Register mit Grundstücksnummern. Wenn Sie Details wollen, müssen Sie die Akte aus dem Archiv anfordern. Aber das dauert meistens ziemlich lange.«

»Wie lange?«

»Bis zu drei Monaten.«

»Enthält das Register die Namen und Adressen?«

»Ja.«

»Mehr brauche ich eigentlich nicht.«

»Das stimmt wohl, wenn Sie sich wirklich nur das Haus ansehen wollen.«

»Mehr hab ich nicht vor.«

»Sind Sie nicht neugierig?«

»Worauf?«

»Ihr Leben. Wer sie waren und was sie gemacht haben.«

»Nicht neugierig genug für drei Monate Wartezeit.«

»Okay, dann brauchen wir den Namen und die Adresse.«

»Wenn das Haus noch steht«, wandte er ein. »Vielleicht ist es inzwischen abgerissen worden. Achtzig Jahre kommen mir auf einmal wie eine sehr lange Zeit vor.«

»Bei uns ändern sich die Dinge langsam«, meinte sie.

Sie klickte und scrollte wieder, erst schnell, als ginge sie durchs Alphabet nach unten, dann langsam und aufmerksam, als wäre sie bei dem Buchstaben R angelangt, und anschließend ebenso langsam und aufmerksam wieder nach oben. Danach erneut schnell nach oben und unten, als versuchte sie, etwas loszuschütteln.

Dann sagte sie: »In Laconia hat es vor achtzig Jahren keinen Grundbesitzer namens Reacher gegeben.«

4

Auch Patty Sundstrom wachte um acht Uhr morgens zum zweiten Mal auf, später, als ihr lieb war, aber sie hatte sich zuletzt ihrer Müdigkeit ergeben und fast weitere fünf Stunden fest geschlafen. Sie spürte, dass der Platz im Bett neben ihr leer war, wälzte sich zur Seite und sah, dass die Tür offen stand. Shorty befand sich draußen im Freien und redete mit einem der Motelleute. Vielleicht mit Peter, dachte sie. Mit dem Kerl, der sich um die Quads kümmerte. Die beiden standen neben dem Honda, dessen Motorhaube geöffnet war. Die Sonne schien strahlend vom Himmel.

Sie stand auf und huschte gebückt ins Bad, damit Peter – oder wer sonst bei dem Honda stand – sie nicht sehen konnte. Sie duschte und zog die Sachen vom Tag zuvor an, weil sie nichts zum Wechseln mitgenommen hatte. Sie kam aus dem Bad. Sie war hungrig. Die Tür stand weiter offen. Die Sonne schien noch immer. Shorty war jetzt allein. Der andere Mann war weggegangen.

Sie trat ins Freie und sagte: »Guten Morgen.«

»Der Motor springt nicht an«, sagte Shorty. »Der Kerl hat dran rumgefummelt, und jetzt ist er tot. Gestern Abend war er noch okay.«

»Na ja, richtig okay eigentlich nicht.«

»Gestern Abend ist er angesprungen. Jetzt nicht mehr. Der Kerl muss was kaputtgemacht haben.«

»Was hat er getan?«

»Mit einem Schraubenschlüssel und einer Kombizange rumgefummelt. Ich glaube, dass alles schlimmer geworden ist.«

»War das Peter? Der Typ, der sich um die Quads kümmert?«

»Angeblich ja. Wenn das stimmt, wünsche ich ihnen alles Gute. Wahrscheinlich brauchen sie nur deshalb neun Quads, damit sichergestellt ist, dass immer zumindest eins funktioniert.«

»Der Motor ist gestern Abend angesprungen, weil er warm war. Jetzt ist er kalt. Das macht einen Unterschied.«

»Verstehst du jetzt was von Autos?«

»Du vielleicht??«

»Ich glaube, dass der Kerl was kaputtgemacht hat.«

»Und ich glaube, dass er uns zu helfen versucht, so gut er kann. Wir sollten ihm dankbar sein.«

»Dafür, dass er unser Auto kaputtgemacht hat?«

»Es war schon kaputt.«

»Gestern Abend ist der Motor angesprungen. Sofort.«

Sie fragte: »Hast du ein Problem mit der Zimmertür gehabt?«

Er fragte: »Wann?«

»Als du heute Morgen ins Freie gegangen bist.«

»Was für ein Problem?«

»Ich wollte nachts ein bisschen frische Luft schnappen, aber ich konnte sie nicht aufkriegen. Sie hat geklemmt.«

»Ich hatte kein Problem«, sagte Shorty. »Sie ist gleich aufgegangen.«

Fünfzig Meter entfernt sahen sie Peter mit einer braunen Segeltuchtasche in der Hand aus der Scheune treten. Die Tasche sah schwer aus. Werkzeug, dachte Patty. Um unse­ren Wagen zu reparieren.

Sie sagte: »Shorty Fleck, hör mir jetzt zu. Diese Gentlemen versuchen uns zu helfen, und ich möchte, dass du dich so benimmst, als würdest du das anerkennen. Als absolutes Minimum verlange ich, dass du ihnen keinen Grund gibst, ihre Hilfe einzustellen, bevor sie fertig sind. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Jesus«, schimpfte er. »Du führst dich auf, als wär das meine Schuld oder was.«

»Yeah, irgendwas«, gab sie zurück. Dann hielt sie den Mund und wartete auf Peter mit seiner Werkzeugtasche. Der fröhlich lächelnd herangeklappert kam, als könnte er es kaum erwarten, sich in die Arbeit zu stürzen.

Sie sagte: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Er sagte: »Überhaupt kein Problem.«

»Hoffentlich ist’s nicht zu kompliziert.«

»Im Augenblick ist er mausetot. Was meist auf ein elektrisches Problem schließen lässt. Vielleicht ist irgendwo ein Kabel durchgeschmort.«

»Kriegen Sie das hin?«

»Wir könnten ein neues Stück einspleißen, um die defekte Stelle zu überbrücken. Aber das müssten Sie früher oder später fachmännisch reparieren lassen. Sonst kann die Verbindung sich wieder losrütteln.«

»Wie lange dauert so ein Spleiß?«

»Erst müssen wir die durchgeschmorte Stelle finden.«

»Gestern Abend ist der Motor gleich angesprungen«, entgegnete Shorty. »Dann ist er zwei Minuten gelaufen und wieder abgestellt worden. Die ganze Nacht über ist er mehr und mehr abgekühlt. Wie kann da was durchschmoren?«

Peter schwieg.

»Er hat bloß gefragt«, sagte Patty. »Für den Fall, dass das Durchschmoren die falsche Fährte ist. Wir möchten Ihre Zeit nicht übermäßig beanspruchen. Dass Sie uns helfen, ist sehr nett von Ihnen.«

»Schon okay«, sagte Peter. »Das war eine berechtigte Frage. Stellt man den Motor ab, arbeiten Kühlerventilator und Wasserpumpe nicht mehr. Dann steigt das heißeste Wasser von allein nach oben. In der ersten Stunde kann die Temperatur an der Oberfläche sogar höher sein. Vielleicht hat ein Kabel den Motorblock berührt.«

Er streckte den Kopf unter die Motorhaube und sah sich die Kabel an. Fuhr Kabelstränge mit dem Finger nach, zog prüfend daran, klopfte auf andere. Er begutachtete die Batterie. Er benutzte einen Schraubenschlüssel, um sicherzustellen, dass die Polschuhe Kontakt hatten.

Dann richtete er sich wieder auf und sagte: »Versuchen Sie’s noch mal.«

Shorty hockte sich halb hinein, ließ die Füße draußen. Er schaute, mit einer Hand am Zündschlüssel, nach vorn. Peter nickte. Shorty drehte den Schlüssel nach rechts.

Nichts passierte. Überhaupt nichts. Nicht mal ein Klicken oder ein Surren oder ein Husten. Als hätte Shorty den Zündschlüssel gar nicht angefasst. Inert. Mausetot. Toter als das ­toteste Ding, das jemals verendet war.

Elizabeth Castle sah von ihrem Bildschirm auf und starrte ein bisschen ins Leere, als ginge sie in Gedanken mehrere Möglichkeiten durch und überlegte, welche Schritte sie jeweils erforderten. Reacher vermutete, dass sie mit der Annahme begin­nen würde, er sei ein Idiot, der sich in der Stadt geirrt habe, worauf der nächste Schritt darin bestand, dass sie ihn abwimmelte – zweifellos höflich, aber bestimmt.

Sie sagte: »Wahrscheinlich wohnten sie zur Miete. Das taten viele Leute. Die Grundsteuer zahlten die Hausbesitzer. Also müssen wir sie woanders finden. Waren sie Farmer?«

»Das glaube ich nicht«, sagte Reacher. »Ich kann mich an keine Storys erinnern, in denen er im Winter bei Tagesanbruch rausmusste, um die Hühner zu füttern, bevor er zwanzig Meilen weit durch den Schnee zur Schule gestapft ist – in beiden Richtungen bergauf. Solches Zeug erzählen einem doch Farmer, stimmt’s? Aber so was habe ich nie gehört.«

»Dann weiß ich nicht recht, wo wir anfangen sollten.«

»Der Anfang ist meist gut. Das Geburtenregister.«

»Das wird beim County geführt, nicht von der Stadt. In einem ganz ande­ren Gebäude, ziemlich weit von hier. Vielleicht sollten Sie lieber mit den Unterlagen von Volkszählungen beginnen. Ihr Vater müsste zweimal erfasst worden sein: mit ungefähr zwei und dann mit zwölf Jahren.«

»Wo liegen die?«

»Ebenfalls beim County, aber in einer ande­ren Dienststelle, die etwas näher liegt.«

»Wie viele Dienststellen hat das County?«

»Ziemlich viele.«

Sie gab ihm die Adresse und beschrieb ihm den Weg dorthin sehr detailliert. Er verabschiedete sich und marschierte los. Er kam an dem kleinen Hotel vorbei, in dem er die Nacht verbracht hatte. Er kam an einem Lokal vorbei, das er mittags vermutlich aufsuchen würde. Er bewegte sich in südöstlicher Richtung durch die Innenstadt, manchmal auf abgetretenen, bestimmt achtzig oder sogar hundert Jahre alten Klinkergehsteigen. Oder sogar hundert. Die Geschäfte wirkten aufgeräumt und sauber, viele auf Haushaltswaren und Geschirr, Tisch­wäsche und allen möglichen ande­ren Küchenbedarf spezialisiert. Andere waren Schuhgeschäfte oder verkauften Koffer.

Das Gebäude, das er suchte, erwies sich als moderner niedriger Flachbau, der sich über zwei Grundstücke erstreckte. Er hätte besser von Computerlabors umgeben auf einen Technologiecampus gepasst. Was er in Wirklichkeit auch war. Reacher hatte lange Regale mit modrigen Akten erwartet, die mit verblassender Tinte beschriftet und mit Bindfäden verschnürt waren. Die gab es bestimmt noch, aber nicht hier. ­Solche Dinge lagerten im Archiv, drei Monate entfernt, nachdem es von einem Computer kopiert, katalogisiert und registriert worden war. Hervorholen ließ es sich nicht mit einer kleinen Staubwolke und einem Wägelchen, sondern mit einem Mausklick und dem Surren eines Druckers.

Die moderne Welt.

Er ging hinein und stand vor einem Empfangstresen, der in ein hippes Museum oder eine teure Zahnarztpraxis gepasst hätte. Dahinter saß ein Mann, der den Eindruck machte, hierher strafversetzt zu sein. Reacher sagte Hallo. Der Mann sah auf, ohne zu antworten. Reacher erklärte ihm, er wolle die Unter­lagen zweier Volkszählungen einsehen.

»Für welchen Ort?«, fragte der Typ, als wäre ihm das völlig egal.

»Hier«, sagte Reacher.

Der Mann sah ihn verständnislos an.

»Laconia«, sagte Reacher. »New Hampshire, USA, Nordamerika, Welt, Sonnensystem, Galaxie, Universum.«

»Warum zwei?«

»Warum nicht?

»Welche Jahre?«

Reacher sagte es ihm: erst das Jahr, in dem sein Vater zwei gewesen war, dann genau ein Jahrzehnt später, als er zwölf war.

Der Kerl fragte: »Wohnen Sie im County?«

»Wozu müssen Sie das wissen?«

»Wegen der Kosten. Dieses Zeug ist nicht umsonst. Aber für Einheimische kostenlos.«

»Ich bin schon ziemlich lange hier«, erwiderte Reacher. »Mindestens so lange, wie ich in letzter Zeit anderswo gelebt habe.«

»Welchen Grund haben Sie für Ihre Suche?«

»Ist der wichtig?«

»Wir müssen Kästchen abhaken.«

»Familiengeschichte«, sagte Reacher.

»Jetzt brauche ich Ihren Namen«, fuhr der Kerl fort.

»Wozu?«

»Wir müssen Listen führen. Wir benötigen die Namen, sonst denken sie, dass wir die Zahlen aufblasen.«

»Ich könnte den ganzen Tag lang Namen erfinden.«

»Wir müssen einen Ausweis verlangen.«

»Warum? Sind diese Sachen nicht allgemein zugänglich?«

»Willkommen in der realen Welt«, sagte der Kerl.

Reacher zeigte ihm seinen Reisepass.

Der Mann sagte: »Sie sind in Berlin geboren.«

»Korrekt«, sagte Reacher.

»Aber nicht in Berlin, New Hampshire.«

»Ist das ein Problem? Halten Sie mich für einen ausländischen Spion, der hier Ereignisse beeinflussen soll, die vor neunzig Jahren stattgefunden haben?«

Der Kerl schrieb Reacher in ein Kästchen auf einem Vordruck.

»Kabine zwei, Mr. Reacher«, erklärte er und deutete auf eine Tür in der Wand gegenüber.

Reacher betrat einen stillen, indirekt beleuchteten Raum mit langen Arbeitstischen aus Ahorn, die durch senkrechte Trennwände in Arbeitsplätze unterteilt waren. In jeder Kabine gab es einen mit Tweed in gedämpften Farben bezogenen Stuhl, einen Flachbildschirm mit Tastatur, einen frisch gespitzten Bleistift und einen dünnen Schreibblock mit dem wie auf Hotel­brief­pa­pier geprägten Namen des Countys. Auf dem Fußboden lag ein hochfloriger Teppichboden. Die Trennwände waren mit grobem Leinen bespannt. Alles Holz war qualitätsvoll verarbeitet. Reacher schätzte, dass der ganze Raum eine Million Dollar gekostet haben musste.

Als er in Kabine zwei Platz nahm, leuchtete der Bildschirm vor ihm gleichmäßig blau auf. In der oberen rechten Ecke wa­ren zwei briefmarkengroße Icons zu sehen. Reacher war kein erfahrener Computernutzer, aber er hatte sich einige Male selbst an PCs versucht und oft zugeschaut, wie andere ­daran arbeiteten. Heutzutage verfügten selbst billige Hotels über Computer am Empfang, und er konnte häufig beobachten, wie eine Rezeptionistin klickte, scrollte und tippte. Vorbei war die Zeit, in der man ein paar Scheine auf die Empfangstheke klatschte und dafür sofort einen großen Messingschlüssel erhielt.

Er bewegte die Maus und schickte den Zeiger zu den Icons hinauf. Er wusste, dass das Ordner oder Dateien waren. Man musste sie anklicken, damit sie sich öffneten. Aber er wusste nie, ob das ein einfaches Klicken oder ein Doppelklicken erforderte. Er kannte beide Methoden vom Sehen und klickte selbst lieber zweimal. Das funktionierte immer und schien nie zu schaden. Als würde man jemanden in den Kopf schießen. Zwei Schüsse nacheinander hatten sich bewährt.

Als er mit dem Mauszeiger auf die Mitte des linken Icons zielte und zweimal klickte, wurde der Bildschirm schlachtschiffgrau. In seiner Mitte tauchte wie eine brillante Fotokopie das schwarz-weiße Deckblatt einer amtlichen Veröffentlichung in altmodischer Druckschrift auf. Ganz oben stand: U.S. Handelsministerium, R. P. Lamont, Minister; Amt für Volkszählung, W. M. Steuart, Direktor. In der Mitte hieß es: Fünfzehnte Volkszählung der Vereinigten Staaten, Ergebnisse (Auszug) für die Stadtgemeinde Laconia, New Hampshire. Ganz unten stand: Verkauf durch Bundesdruckerei, Washington, D. C. Preis: ein Dollar.

Unter dem Deckblatt war bereits ein Streifen von Seite zwei sichtbar. Dorthin gelangte man durch Scrollen. Das war klar. Wohl am besten, stellte er sich vor, mit dem Rädchen auf der Oberseite der Maus. Unter seinem Zeigefinger. Bequem. Intuitiv. Er überflog die Einführung, die hauptsächlich von den vielen methodischen Verbesserungen seit der vierzehnten Volkszählung handelte. Nicht direkt angeberhaft, sondern schon damals mehr von Fachmann zu Fachmann. Zeug, das einen interessierte, wenn man es liebte, das Volk zu zählen.

Dann folgten die Listen mit schlichten Namen und alten Berufen, sodass die Welt vor neunzig Jahren für Reacher aufzuerstehen schien. Es gab Knopf- und Hutmacher, Handschuhmacher und Terpentinfarmer, Landarbeiter und Tagelöhner, Stallknechte und Lokführer, Seidenspinner und Zinngießer. Es gab einen eigenen Abschnitt mit der Überschrift Ungewöhn­liche Tätigkeiten für Kinder. Die meisten wurden euphe­mis­tisch als Lehrlinge bezeichnet. Oder als Helfer. Es gab Schmiede und Maurer, Rangierer sowie Berg- und Hüttenarbeiter.

Aber es gab keine Reachers. Nicht in Laconia, New Hamp­shire, in dem Jahr, in dem Stan zwei gewesen war.

Er scrollte wieder nach oben und begann erneut, wobei er diesmal besonders auf die Spalte Kinder in Familien achtete. Vielleicht war ein schrecklicher Unfall passiert und der kleine Stan als Vollwaise von gütigen, aber nicht mit ihm verwandten Nachbarn aufgenommen worden. Vielleicht hatten sie bei der damaligen Volkszählung seinen Geburtsnamen angegeben.

Es existierte kein in einer Familie lebendes Kind, das individuell als Stan Reacher identifiziert wurde. Nicht in Laconia, New Hampshire, in dem Jahr, in dem er zwei gewesen war.

Reacher zielte auf ein kleines Symbol in der linken oberen Bildschirmecke, das mit drei Schaltflächen in Rot, Gelb und Grün einer auf der Seite liegenden Verkehrsampel glich. Ein Doppelklick auf Rot ließ das Dokument verschwinden. Er öffnete das rechte Icon und fand die Sechzehnte Volkszählung mit anderem Minister und anderem Direktor, aber mit ebenso wichtigen Verbesserungen im Vergleich zur vorigen. Dann folgten die Listen, jetzt nicht mehr neunzig, sondern achtzig Jahre alt, was sich andeutungsweise auch darin widerspiegelte, dass es jetzt mehr Jobs in Fabriken und weniger in der Landwirtschaft gab.

Aber weiterhin keine Reachers.

Nicht in Laconia, New Hampshire, in dem Jahr, in dem Stan zwölf gewesen war.

Er klickte zweimal auf die kleine rote Schaltfläche, und das Dokument verschwand.

5

Shorty versuchte es erneut mit dem Zündschlüssel, aber auch diesmal passierte nichts. Zu hören war nur ein leises mechanisches Klicken, das vom Schlüssel selbst kam, der im Zündschloss in der Steuersäule gedreht wurde. Ein leises kleines Klicken, das man sonst nie hörte, weil das Geräusch des anspringenden Motors es sofort übertönte. Nicht anders als das Klicken eines Abzugs, bevor der Schuss fällt.

Aber nicht an diesem Morgen. Der Honda fühlte sich tot an. Wie ein kranker alter Hund, der nachts verendet war. Jetzt in einem ganz ande­ren Zustand. Keine Reaktion mehr. Als wäre ein Lebensfunke erloschen.

Patty sagte: »Ich denke, wir sollten lieber einen Mechaniker holen.«

Peter schaute über ihre Schulter. Als sie sich umdrehte, sah sie die drei ande­ren Männer auf sie zukommen. Aus dem Haus oder aus der Scheune. Der Macker wie immer voraus. Mark, der sie am Abend zuvor eingecheckt und zum Abendessen eingeladen hatte. Der Kerl mit dem Lächeln. Hinter ihm kam Steven, an dritter Stelle Robert. Als sie haltmachten, erkundigte sich Mark: »Na, wie geht’s uns heute Morgen?«

Peter antwortete: »Nicht so toll.«

»Was ist los mit dem Motor?«

»Weiß ich nicht. Er ist mausetot. Ist vermutlich irgendwas durchgeschmort.«

»Wir sollten einen Mechaniker holen«, meinte Patty. »Wir wollen nicht noch mehr von Ihrer Zeit beanspruchen.«

»Gestern Abend ist er angesprungen«, sagte Shorty. »Gleich beim ersten Versuch.«

Mark nickte lächelnd. »Ja, das stimmt.«

»Jetzt ist er tot. Ich meine ja nur. Ich kenne diesen Wagen. Ich hab ihn seit vielen Jahren. Er hat gute und schlechte Tage, aber er ist nie tot.«

Mark schwieg lange nachdenklich.

Dann lächelte er wieder und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was Sie andeuten wollen.«

»Vielleicht wurde durch das Gefummel am Motor alles noch schlimmer.«

»Glauben Sie, dass Peter ihn kaputtgemacht hat?«

»Irgendwie hat er zwischen gestern Abend und jetzt den Geist aufgegeben. Mehr behaupte ich nicht. Vielleicht durch Peters Schuld, vielleicht auch nicht. Das spielt überhaupt keine Rolle mehr. Weil ihr Jungs dran rumgepfuscht habt, liegt jetzt praktisch die Verantwortung bei euch. Denn ihr seid ein Motel. Ich bin sicher, dass es für Beherbergungsbetriebe entsprechende Vorschriften gibt. Zum Schutz des Eigentums von Gästen, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Mark schwieg wieder.

»Er meint’s nicht so«, sagte Patty. »Er ist nur verärgert, das ist alles.«