Tödliche Absicht - Lee Child - E-Book

Tödliche Absicht E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Jack Reacher, legendärer Spitzen-Ermittler bei der Militärpolizei, quittierte vor Jahren den Dienst. Seither ist er »abgetaucht«, führt ein rastloses Leben als Einzelgänger ohne festen Wohnsitz. Dennoch wird er eines Tages von der ehemaligen Lebensgefährtin seines verstorbenen Bruders aufgespürt. Und sie überrascht ihn mit dem Anliegen, er möge im Auftrag des Secret Service ein Attentat auf den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten vorbereiten …

Jack Reacher greift ein, wenn andere wegschauen, und begeistert so seit Jahren Millionen von Lesern. Lassen Sie sich seine anderen Fälle nicht entgehen. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 620

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LEE CHILD

Tödliche Absicht

Ein Jack-Reacher-Roman

Ins Deutsche übertragen von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Without Fail« bei Bantam Press, Transworld Publishers/The Random House Group Ltd, London.

Copyright © der Originalausgabe 2002 by F. Paul Wilson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published by arrangement with Lee Child

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: www.buerosued.de

ISBN 3-89480-891-8

123456789101112131415161718Über das BuchÜber den AutorCopyright

Dieses Buch ist gewidmet meinem Bruder Richard in Gloucester, England, meinem Bruder David in Brecon, Wales, meinem Bruder Andrew in Sheffield, England, und meinem Freund Jack Hutcheson in Penicuik, Schottland.

1

Sie erfuhren im Juli von ihm und blieben den gesamten August über zornig. Im September versuchten sie, ihn zu ermorden. Aber das war viel zu früh. Sie waren nicht gut genug vorbereitet. Der Anschlag schlug fehl. Das hätte eine Katastrophe sein können, aber tatsächlich war es ein Wunder. Weil niemand etwas bemerkte.

Sie wandten ihre übliche Methode an, um durch den Sicherheitskordon zu gelangen, und gingen dreißig Meter von dem Rednerpult, an dem er unter freiem Himmel sprach, in Stellung. Sie benutzten einen Schalldämpfer und verfehlten ihn nur um Zentimeter. Die Kugel musste genau über seinen Kopf hinweggegangen sein. Vielleicht sogar durch sein Haar, denn er hob gleich danach eine Hand und glättete es, als habe ein Windstoß es zerzaust. Diese Szene sahen sie anschließend immer wieder in der Videoaufzeichnung der Fernsehübertragung: Er hob eine Hand und glättete sein Haar. Mehr tat er nicht. Er setzte ahnungslos seine Rede fort, denn eine Kugel aus einem Gewehr mit Schalldämpfer ist per definitionem zu schnell, um gesehen, und zu leise, um gehört zu werden. Sie verfehlte ihn also und flog weiter. Sie verfehlte alle, die hinter ihm standen. Sie traf auf keinerlei Hindernisse, schlug in kein Gebäude ein. Sie flog unbeirrbar geradeaus weiter, bis ihre Energie aufgezehrt war und sie endlich in der Ferne, wo es nur leeres Grasland gab, von der Schwerkraft zu Boden gezwungen wurde. Es gab kein Echo. Keine Reaktion. Niemand bemerkte etwas. Es war, als sei die Kugel nie abgefeuert worden. Sie schossen kein zweites Mal. Der Schock saß zu tief.

Also: ein Fehlschlag, aber ein Wunder. Und eine Lektion. Sie verbrachten den Oktober damit, sich wie die Profis zu verhalten, die sie waren – sie fingen wieder von vorn an, dachten nach, lernten dazu, bereiteten ihren zweiten Anschlag vor. Dies würde ein besserer sein, sorgfältig geplant und fachgerecht ausgeführt, auf Methodik, Nuancierung und Raffinesse basierend und durch entsetzliche Angst verstärkt. Ein lohnendes Attentat. Und vor allem eines, das nicht fehlschlagen konnte.

Dann kam der November, und die Spielregeln änderten sich grundlegend.

Reachers Tasse war leer, aber noch warm. Er hielt sie leicht schräg und beobachtete, wie der Kaffeesatz auf ihn zufloss: langsam und braun wie Flussschlamm.

»Wann muss es gemacht werden?«, fragte er.

»Möglichst bald«, antwortete sie.

Er nickte. Rutschte aus der Sitznische und stand auf.

»Ich rufe Sie in zehn Tagen an«, sagte er.

»Wie Sie sich entschieden haben?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, um Ihnen zu sagen, wie’s gelaufen ist.«

»Ich werde wissen, wie’s gelaufen ist.«

»Okay, um Ihnen zu sagen, wohin Sie mein Geld schicken sollen.«

Sie schloss die Augen und lächelte. Er blickte auf sie hinab.

»Dachten Sie, ich würde ablehnen?«, fragte er.

Sie öffnete die Augen. »Nein, aber ich habe befürchtet, Sie würden etwas schwieriger zu überreden sein.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie Joe Ihnen gesagt hat, kann ich keiner Herausforderung widerstehen. In solchen Dingen hat Joe meist Recht gehabt. Er hat in vielen Dingen Recht gehabt.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer Ihnen zu danken.«

Er schwieg. Wollte gehen, aber sie stand neben ihm auf und hinderte ihn so daran. Jetzt folgte eine verlegene Pause. Sie standen sich einen Augenblick lang gegenüber. Sie streckte ihre Hand aus, und er schüttelte sie. Sie hielt seine Hand ein bisschen zu lange fest, dann reckte sie sich und küsste ihn auf die Wange. Ihre Lippen waren weich. Ihre Berührung durchzuckte ihn wie ein leichter Stromstoß.

»Ein Händedruck ist nicht genug«, meinte sie. »Sie tun uns einen großen Gefallen.« Dann schwieg sie einen Augenblick. »Und Sie wären beinahe mein Schwager geworden.«

Er nickte nur, kam hinter dem Tisch hervor und sah sich noch einmal um. Dann stieg er die Treppe hinauf und trat auf die Straße hinaus. Der Duft ihres Parfüms haftete an seiner Hand. Er ging in die Cabaret Lounge und hinterließ in der Garderobe seinen Freunden eine Notiz. Als er sich danach auf den Weg zum Highway machte, hatte er volle zehn Tage Zeit, um eine Möglichkeit zu finden, den am viertbesten bewachten Menschen auf diesem Planeten zu ermorden.

Begonnen hatte alles acht Stunden zuvor: Teamführerin M. E. Froelich kam an diesem Montagmorgen – dreizehn Tage nach der Wahl, eine Stunde vor der zweiten Strategiebesprechung und sieben Tage, nachdem das Wort Attentat erstmals erwähnt worden war – zum Dienst und traf ihre endgültige Entscheidung. Sie machte sich auf die Suche nach ihrem nächsten Vorgesetzten und traf ihn im Vorzimmer seines Büros an: offenbar irgendwohin unterwegs, offensichtlich in Eile. Er trug einen Ordner unter dem Arm und hatte einen deutlich abweisenden Gesichtsausdruck. Sie holte tief Luft und machte ihm begreiflich, sie müsse sofort mit ihm reden. Dringend. Inoffiziell und natürlich unter vier Augen. Also machte er abrupt kehrt und ging in sein Büro zurück. Er ließ sie an sich vorbei ins Zimmer gehen und schloss die Tür hinter ihr – leise genug, um dieser außerplanmäßigen Besprechung etwas Verschwörerisches zu geben, aber doch nachdrücklich genug, um zu signalisieren, wie sehr ihn diese Unterbrechung seiner gewohnten Routine irritierte. Das Klicken des Schlosses war zugleich eine deutliche Botschaft, die in allen Bürohierarchien der Welt verstanden worden wäre: Ichwill nur hoffen, dass Sie mit Ihrem Anliegen nicht meine Zeit vergeuden.

Er war ein Veteran mit über fünfundzwanzig Dienstjahren: längst in der Schlussrunde vor der Pensionierung, schon über Mitte fünfzig, ein Relikt aus der guten alten Zeit. Noch immer groß, ziemlich schlank und sportlich, aber er wurde rasch grau und im Gesicht voller. Er hieß Stuyvesant. Wie der letzte Generalintendant von Neu-Amsterdam, pflegte er zu sagen, wenn jemand ihn nach der Schreibweise fragte. Um zu demonstrieren, dass er mit den Realitäten der modernen Welt vertraut war, fügte er dann hinzu: wie die Zigarette. Er trug nur Anzüge von Brooks Brothers, aber er galt als Mann, der in seiner Taktik flexibel sein konnte. Er hatte noch nie versagt. Niemals, obwohl er seit langem dabei war und überdurchschnittlich viele Schwierigkeiten zu bewältigen gehabt hatte. Aber es hatte keine Misserfolge und auch keine Pechsträhnen gegeben. Deshalb galt er nach den strengen Maßstäben von Organisationen in aller Welt als Mann, für den es sich gut arbeiten ließ.

»Sie sehen etwas nervös aus«, bemerkte er.

»Das bin ich auch«, gab Froelich zu.

Sein Büro war klein und ruhig, spärlich möbliert und blitzsauber. Die Wände waren in leuchtendem Weiß gestrichen und von Halogenlampen erhellt, die Lamellen der Jalousie vor dem Fenster halb geschlossen, um das graue Novemberwetter auszusperren.

»Weshalb sind Sie nervös?«, fragte er.

»Ich muss Ihre Genehmigung einholen.«

»Wofür?«

»Für etwas, das ich ausprobieren möchte«, sagte Froelich. Sie war zwanzig Jahre jünger als Stuyvesant, genau fünfunddreißig. Eher groß als klein, nur etwa drei bis vier Zentimeter größer als die Durchschnittsamerikanerin ihrer Generation, aber angesichts der Intelligenz, Energie und Vitalität, die sie ausstrahlte, verbot der Ausdruck Mittelmaß sich von selbst. Sie wirkte geschmeidig, muskulös und sah mit ihrem makellosen Teint, den glänzenden Augen und den kurzen blonden Haaren wie eine Sportlerin aus. Sie erweckte den Eindruck, als habe sie sich rasch umgezogen, nachdem sie zuvor bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewonnen und danach kurz geduscht hatte. Froelich wirkte sehr kompetent, aber auch sehr bescheiden.

»Worum geht’s also?«, fragte Stuyvesant. Er drehte sich um und legte den Ordner, den er unter dem Arm getragen hatte, auf den großen Schreibtisch. Dieser war ein hochwertiges Büromöbel, das zwanghaft geputzt und wie ein antikes Stück poliert wurde. Stuyvesant war dafür berühmt, dass kein Stück Papier darauf lag. Diese Angewohnheit erweckte den Eindruck von ungeheurer Effizienz.

»Ich möchte, dass ein Außenstehender es tut«, sagte Froelich.

Stuyvesant richtete den Ordner an einer Ecke der Schreibtischplatte aus und ließ seinen Zeigefinger über den Rücken und eine Kante gleiten, als wollte er sich davon überzeugen, dass der Winkel stimmte.

»Halten Sie das für eine gute Idee?«, fragte er.

Froelich schwieg.

»Sie denken vermutlich an jemand Bestimmten?«, fragte er.

»Eine ausgezeichnete Wahl.«

»Wer?«

Froelich schüttelte den Kopf. »Sie sollten lieber nichts davon wissen«, sagte sie. »Das ist besser.«

»Ist er empfohlen worden?«

»Oder sie.«

Stuyvesant nickte wieder. Die moderne Welt.»Ist die Person, an die Sie denken, empfohlen worden?«

»Ja, von einer ausgezeichneten Quelle.«

»Im Dienst?«

»Ja«, sagte Froelich wieder.

»Dann wissen wir bereits davon.«

»Nein, diese Quelle ist nicht mehr im Dienst.«

Stuyvesant wandte sich erneut ab und richtete den Ordner parallel zur langen Kante der Schreibtischplatte aus. Dann verschob er ihn wieder parallel zur kurzen Kante.

»Lassen Sie mich den Advokaten des Teufels spielen«, sagte er. »Ich habe Sie vor vier Monaten befördert. Vier Monate sind eine lange Zeit. Sich dafür zu entscheiden, jetzt einen Außenstehenden hinzuzuziehen, könnte auf einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen hindeuten. Finden Sie nicht auch?«

»Darüber mache ich mir keine Gedanken.«

»Sollten Sie aber«, entgegnete Stuyvesant. »Die Sache könnte Ihnen schaden. Ihren Job wollten auch sechs Männer haben. Ziehen Sie diese Sache durch, und sie wird bekannt, haben Sie echte Probleme. Es gibt ein halbes Dutzend Aasgeier, die für den Rest Ihrer Karriere Ich hab’s gleich gesagt! krächzen werden. Weil Sie angefangen haben, Ihre eigenen Fähigkeiten in Frage zu stellen.«

»Bei dieser Sache muss ich meine eigenen Fähigkeiten in Frage stellen, glaube ich.«

»Glauben Sie?«

»Nein, ich weiß es. Ich sehe keine Alternative.«

Stuyvesant schwieg.

»Ich bin nicht glücklich darüber«, fuhr Froelich fort. »Das können Sie mir glauben. Aber ich denke, dass es getan werden muss. Das ist meine persönliche Einschätzung.«

Stuyvesant sagte nichts.

»Genehmigen Sie’s also?«, fragte Froelich.

Stuyvesant zuckte mit den Schultern. »Das sollten Sie gar nicht fragen. Sie hätten’s einfach tun sollen.«

»Nicht meine Art«, meinte Froelich.

»Gut, dann erzählen Sie niemandem davon. Und halten Sie nichts schriftlich fest.«

»Das habe ich ohnehin nicht vor. Es würde unsere Effektivität mindern.«

Stuyvesant nickte vage. Dann sprach er als der gute Bürokrat, der er geworden war, die wichtigste Frage an.

»Wie viel würde diese Person kosten?«

»Nicht viel«, antwortete Froelich. »Vielleicht überhaupt nichts. Möglicherweise nur die Spesen. Ich habe eine Art Biografie zusammengestellt. Theoretisch. Gewissermaßen.«

»Die Sache könnte Ihre Karriere blockieren. Keine Beförderungen mehr.«

»Die Alternative würde meine Karriere beenden.«

»Sie waren meine Wahl«, sagte Stuyvesant. »Ich habe Sie ausgesucht. Deswegen schadet alles, was Ihnen schadet, auch mir.«

»Das ist mir klar, Sir.«

»Holen Sie also tief Luft, und zählen Sie bis zehn. Dann sagen Sie mir noch einmal, dass diese Sache wirklich notwendig ist.«

Froelich nickte, atmete tief durch und schwieg zehn bis elf Sekunden lang.

»Sie ist wirklich notwendig«, bestätigte sie.

Stuyvesant nahm den Ordner vom Schreibtisch.

»Okay, machen Sie’s«, sagte er.

Sie begann unmittelbar nach der Strategiebesprechung, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass die Umsetzung der schwierige Teil war. Die Genehmigung einzuholen war ihr als solche Hürde erschienen, dass sie diesen Teil in Gedanken als die schwierigste Etappe des gesamten Projekts eingeschätzt hatte. Aber jetzt kam es ihr wie ein Kinderspiel im Vergleich zu dem Problem vor, ihre Zielperson tatsächlich aufzuspüren. Sie besaß lediglich einen Nachnamen und eine lückenhafte Biografie, die vor acht Jahren zutreffend und auf dem aktuellen Stand gewesen sein mochte, falls sie sich überhaupt richtig an die Details erinnerte. Ihr Liebhaber hatte sie damals spätnachts beiläufig erwähnt – als Bestandteil ihres Bettgeflüsters. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie aufmerksam zugehört hatte. Deshalb beschloss sie, nicht auf die Details zu vertrauen, sondern allein auf den Namen.

Sie schrieb den Namen in großen Druckbuchstaben auf das erste Blatt eines gelben Blocks. Er rief viele Erinnerungen wach – manche schlecht, die meisten gut. Sie starrte ihn lange an, dann strich sie ihn durch und schrieb stattdessen UNBEKANNT hin. Das würde ihre Konzentration fördern, weil es die ganze Sache unpersönlich machte. Es ließ ihr Denken routinemäßig ablaufen, versetzte sie sozusagen in die Grundausbildung zurück. Ein UNBEKANNTER war jemand, der identifiziert und aufgespürt werden musste.

Ihr wichtigster operativer Vorteil war Computerpower. Sie hatte Zugang zu weit mehr Datenbanken als der normale Bürger. Der UNBEKANNTE war beim Militär, das wusste sie sicher, deshalb fragte sie beim National Personnel Records Center an. Es befand sich in St. Louis, Missouri, und seine Datenbank enthielt Angaben über buchstäblich jeden Mann und jede Frau, die jemals irgendwo eine amerikanische Uniform getragen hatten. Sie gab den Nachnamen ein und wartete, bis die Auskunftssoftware mit drei Kurzmeldungen antwortete. Eine davon eliminierte sie sofort wegen des Vornamens. Ich weiß bestimmt, dass er das nicht ist. Eine andere schied wegen des Geburtsdatums aus. Eine ganze Generation zu alt. Also musste der Dritte der UNBEKANNTE sein. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie starrte den vollständigen Namen einen Augenblick lang an und notierte sich Geburtsdatum und Sozialversicherungsnummer auf dem Schreibblock. Dann klickte sie das Icon Details an und gab ihr Passwort ein. Der Bildschirm baute sich neu auf.

Schlechte Nachrichten. Der UNBEKANNTE war nicht mehr beim Militär. Seine Laufbahnbeschreibung endete vor fünf Jahren mit einer ehrenhaften Entlassung nach dreizehn Dienstjahren. Der letzte Dienstgrad war Major gewesen. Zu den aufgeführten Auszeichnungen gehörten ein Silver Star für Tapferkeit und ein Purple Heart für eine Verwundung. Sie las die Begründungen für die Verleihungen, notierte sich die Details und zog auf ihrem Schreibblock einen Querstrich, um das Ende einer Ära und den Beginn einer neuen zu kennzeichnen.

Der nächste logische Schritt war ein Blick ins Sterberegister der Sozialversicherung. Grundausbildung. Es war sinnlos, jemanden aufspüren zu wollen, der bereits tot war. Sie gab die Nummer ein und stellte fest, dass sie unwillkürlich den Atem anhielt. Aber ihre Anfrage blieb unbeantwortet. Der UNBEKANNTE lebte nach Kenntnis des Staates noch. Dann folgte eine Anfrage beim National Crime Information Center. Wieder etwas aus der Grundausbildung. Es war sinnlos, jemanden anwerben zu wollen, der beispielsweise eine Haftstrafe verbüßte, obwohl sie das im Fall des UNBEKANNTEN ausschloss. Aber man konnte nie wissen – manche Persönlichkeitstypen waren in dieser Beziehung mehr gefährdet als andere. Die NCIC-Datenbank arbeitete wie immer langsam, deshalb verstaute sie Akten, die sich bei ihr angesammelt hatten, in Schubladen und verließ dann ihren Schreibtisch, um sich einen Kaffee zu holen. Als sie zurückkam, stand auf dem Bildschirm die Meldung, der UNBEKANNTE sei nie verhaftet oder verurteilt worden. In einer Fußnote wurde erwähnt, das FBI habe unter seinem Namen eine Akte angelegt. Interessant. Sie meldete sich beim NCIC ab und loggte sich bei der FBI-Datenbank ein. Dort fand sie die Akte, konnte sie aber nicht öffnen. Aber sie kannte das FBI-Klassifizierungssystem gut genug, um den Dateinamen entschlüsseln zu können. Die Akte enthielt nur einen Bericht, war nicht aktiv. Das war alles. Der UNBEKANNTE war nicht auf der Flucht, stand nicht auf der Fahndungsliste, hatte keine Schwierigkeiten mit der Bundeskriminalpolizei.

Sie notierte sich alles, dann arbeitete sie sich zur Datenbank der US-Verkehrsbehörde durch. Wieder schlechte Nachrichten. Der UNBEKANNTE hatte keinen Führerschein. Sehr merkwürdig. Und sehr lästig. Denn kein Führerschein bedeutete: kein aktuelles Foto und keine aktuelle Anschrift. Sie klickte sich zur Datenbank der Veterans’ Administration in Chicago durch. Suchte nach Name, Dienstgrad und Personenkennziffer. Ihre Anfragen blieben ergebnislos. Der UNBEKANNTE bezog kein Ruhegehalt oder sonstige staatliche Leistungen und hatte keine Nachsendeadresse angegeben. Weshalb nicht? Wo zum Teufel steckst du? Sie kehrte zur Sozialversicherung zurück und fragte nach Beitragsunterlagen. Es gab keine. Der UNBEKANNTE war seit seinem Ausscheiden aus dem Militär nicht mehr beschäftigt gewesen, zumindest nicht legal. Sie fragte zur Kontrolle bei der Finanzbehörde an. Das Ergebnis blieb gleich: Der UNBEKANNTE hatte seit fünf Jahren keine Steuern mehr gezahlt, nicht mal eine Steuererklärung abgegeben.

Okay, jetzt wird’s ernst. Sie setzte sich aufrecht hin, verließ die staatlichen Seiten und rief illegale Software auf, die ihr direkten Zugang zum nichtstaatlichen Bankensektor verschaffte. Genau genommen hätte sie die Software nicht für diesen Zweck – oder für irgendwelche Zwecke – verwenden dürfen. Das war ein klarer Verstoß gegen offizielle Verhaltensregeln. Aber sie rechnete nicht mit irgendwelchen Reaktionen. Und sie erwartete ein Ergebnis. Besaß der UNBEKANNTE irgendwo in einem der fünfzig Bundesstaaten auch nur ein einziges Bankkonto, würde es auftauchen. Selbst ein bescheidenes kleines Girokonto. Sogar ein leeres oder aufgegebenes Bankkonto. Viele Leute kamen ohne Bankkonto aus, das wusste sie, aber sie spürte instinktiv, dass der UNBEKANNTE nicht zu ihnen gehörte. Nicht jemand, der Major in der U. S. Army gewesen war. Mit Orden.

Sie gab die Sozialversicherungsnummer doppelt ein: einmal im Versicherungsfeld, einmal im Steuerzahlerfeld. Sie tippte den Namen ein. Sie klickte Suche an.

Hundertachtzig Meilen weit entfernt zitterte Jack Reacher vor Kälte. Mitte November war Atlantic City nicht gerade der wärmste Fleck auf Erden. Der vom Atlantik wehende Wind brachte genügend Salz mit, um alles feucht und klamm zu halten. Er peitschte und blies Abfälle die Straßen entlang. Fünf Tage zuvor war er in Los Angeles gewesen – und er hätte dort auch bleiben sollen. Im November war Südkalifornien ein sehr attraktiver Aufenthaltsort. Die Luft war warm, und die vom Meer hereinkommende Brise glich einem sanften Zephyr. Er sollte dorthin zurückgehen.

Oder aber er blieb hier, weil man ihn darum gebeten hatte, und besorgte sich eine warme Jacke.

An die Ostküste zurückgekommen war er in Begleitung einer alten schwarzen Frau und deren Bruder. Von L. A. aus wollte er sich einen Tag lang die Mojavewüste ansehen. Das Geschwisterpaar hatte ihn mit seinem klapprigen Buick Roadmaster mitgenommen. Zwischen den Koffern im Laderaum entdeckte er ein Mikrofon, ein primitives Lautsprechersystem und einen Karton mit einem Yamaha-Keyboard. Die alte Lady erzählte ihm, sie sei Sängerin und zu einem kurzen Engagement in Atlantic City unterwegs. Ihr Bruder begleite sie auf dem Keyboard und fahre den Wagen, aber er sei kein guter Gesprächspartner und auch kein guter Fahrer mehr, und der Roadmaster tauge als Auto nicht viel. Das stimmte. Der alte Mann sagte kein Wort und brachte sie allein auf den ersten fünf Meilen mehrmals in Lebensgefahr. Die alte Lady begann zu singen, um sich zu beruhigen. Als sie ein paar Takte von Dawn Penns You Don’t Love Me sang, beschloss Reacher, bis zur Ostküste mitzufahren. Er erbot sich, den Wagen zu lenken. Sie sang weiter. Sie hatte eine weiche, rauchige Stimme, mit der sie längst ein Blues-Star hätte sein müssen, wenn sie nicht vermutlich immer wieder zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre. Der alte Wagen hatte eine defekte Servolenkung, mit der man kämpfen musste, und gab alle möglichen Tick-, Klapper- und Quietschgeräusche von sich. Das Autoradio war altersschwach und empfing für jeweils ungefähr zwanzig Minuten eine endlose Reihe von Lokalsendern. Die alte Frau sang mit, wenn Lieder zu hören waren. Ihr Bruder blieb schweigsam und schlief die meiste Zeit auf dem Rücksitz. Reacher fuhr drei Tage lang achtzehn Stunden pro Tag und fühlte sich bei der Ankunft in New Jersey, als sei er gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt.

Der Auftritt in Atlantic City sollte in einem drittklassigen Nachtklub stattfinden. Der Manager sah nicht gerade vertrauenswürdig aus. Deshalb ließ Reacher es sich angelegen sein, jeden Abend die Gäste zu zählen und zu überschlagen, wie viel Geld am Ende der Woche in der Lohntüte stecken sollte. Das tat er bewusst auffällig. Der Manager nahm ihm das immer mehr übel und fing an, kurze geheimnisvolle Telefongespräche zu führen, bei denen er die Sprechmuschel mit einer Hand verdeckte und Reacher nicht aus den Augen ließ. Reacher starrte ihn seinerseits unverwandt an und blieb ruhig sitzen. Er hörte sich an zwei Wochenendabenden alle drei Auftritte an, aber dann begann er unruhig zu werden. Und zu frieren. Als er am Montagmorgen beschloss weiterzuziehen, setzte sich der alte Keyboardspieler beim Frühstück an seinen Tisch und brach endlich sein Schweigen.

»Ich wollte dich bitten, noch zu bleiben«, sagte der Alte. Er sagte wolldedich, und in seinen trüben Augen leuchtete eine Art Hoffnung auf. Reacher schwieg.

»Bleibst du nicht, bescheißt der Manager uns todsicher«, sagte der alte Mann gottergeben, als sei die Nichtauszahlung vereinbarter Gagen etwas, das Musikern einfach zustoße – wie Reifenpannen und Erkältungen. »Aber bezahlt er uns, haben wir Benzingeld, um nach New York zu fahren, können vielleicht ’nen Auftritt bei B. B. King am Times Square kriegen, unsere Karrieren wieder aufleben lassen. Ein Kerl wie du könnte Eindruck machen, das steht fest.«

Reacher sagte nichts.

»Ich merk natürlich, dass du dir Sorgen machst«, sagte der Alte. »Bei so ’nem Management gibt’s im Hintergrund bestimmt ein paar zwielichtige Gestalten.«

Reacher lächelte.

»Was bist du überhaupt?«, fragte der Alte. »’ne Art Boxer?«

»Nein«, antwortete Reacher.

»Ringer?« Er sagte Ringa. »Wie im Kabelfernsehen?«

»Nein.«

»Groß genug bist du, das steht mal fest«, meinte der Alte. »Groß genug, um uns zu helfen, wenn du wolltest.«

Er sagte heff’n. Keine Schneidezähne mehr. Reacher schwieg.

»Was bist du überhaupt?«, wiederholte der Alte.

»Ich war Militärpolizist«, erwiderte Reacher. »In der Army, dreizehn Jahre lang.«

»Du hast gekündigt?«

»Bin gekündigt worden.«

»Danach hat’s für euch Leute keine Jobs mehr gegeben?«

»Keine, die ich wollte«, erklärte Reacher.

»Du wohnst in L. A.?«

»Ich wohne nirgends«, entgegnete Reacher. »Ich bin viel unterwegs.«

»Fahrendes Volk sollte zusammenhalten«, meinte der Alte. »So einfach ist das. Einander helfen. Immer auf Gegenseitigkeit.«

Einanner heff’n.

»Hier ist’s scheißkalt«, sagte Reacher.

»Das stimmt«, stellte der Alte fest. »Aber du könntest dir ’nen Mantel kaufen.«

Deshalb stand er an dieser windigen Straßenecke, wo der stürmische Seewind ihm die Hosenbeine gegen die Waden drückte, und traf die endgültige Entscheidung. Der Highway oder ein Bekleidungsgeschäft? Er stellte sich kurz vor, wie es in Südkalifornien, vielleicht in La Jolla wäre: ein billiges Zimmer, warme Nächte, helle Sterne, kaltes Bier. Dann: Die alte Sängerin tritt in B. B. Kings neuem Club in New York auf, irgendein retro-besessener junger A&R-Mann kommt zufällig vorbei, gibt ihr einen Vertrag. Sie nimmt eine CD auf, bekommt eine Amerikatournee, eine Seitenspalte in Rolling Stone, Berühmtheit, Geld, ein neues Haus. Ein neues Auto. Er kehrte dem Highway den Rücken zu, zog wegen des Windes die Schultern hoch und ging auf der Suche nach einem Bekleidungsgeschäft nach Osten weiter.

An diesem speziellen Montagmorgen arbeiteten in den Vereinigten Staaten fast zwölftausend lizenzierte und beim Einlagensicherungsfonds FDIC versicherte Bankgeschäfte, die über eine Milliarde Einzelkonten führten, aber nur eines davon wurde unter dem Namen und der Sozialversicherungsnummer des UNBEKANNTEN geführt. Es war ein schlichtes Girokonto bei einer Filiale einer Regionalbank in Arlington, Virginia. M. E. Froelich starrte die Adresse der Bankfiliale überrascht an. Keine vier Meilen von dem Schreibtisch entfernt, an dem ich jetzt sitze. Sie notierte sich die Einzelheiten auf ihrem gelben Schreibblock. Griff nach dem Telefonhörer und rief einen Kollegen in leitender Stellung auf der anderen Seite der Organisation an und bat ihn, bei der betreffenden Bank genauere Angaben zum Inhaber dieses Kontos einzuholen. Vor allem seine Privatanschrift. Sie bat ihn, so schnell wie irgend möglich, aber zugleich sehr diskret zu arbeiten. Und natürlich inoffiziell. Dann legte sie auf und wartete: sorgenvoll und frustriert, weil sie im Augenblick nichts tun konnte. Das Problem war, dass die andere Seite der Organisation einer Bank ohne weiteres diskrete Fragen stellen durfte, während es als äußerst ungewöhnlich gegolten hätte, wenn sie von Froelich selbst gekommen wären.

Drei Straßenblocks weiter in Richtung Atlantik fand Reacher einen Discountladen und verschwand darin. Das Geschäft war schmal, reichte aber mindestens sechzig Meter tief ins Gebäude hinein. Die Decke hing voller Leuchtstoffröhren, und Kleiderständer zogen sich in langen Reihen durch den Raum. Offenbar gab es links Frauenkonfektion, in der Mitte Kindersachen und rechts Männerklamotten. Er fing ganz hinten an und arbeitete sich langsam nach vorn.

Hier gab es Jacken und Mäntel aller bekannten Marken. An den beiden ersten Ständern hingen kurze Daunenjacken. Unbrauchbar. Reacher hielt sich an einen Tipp, den ein alter Kamerad ihm einmal gegeben hatte: Ein guter Kurzmantel ist wie ein guter Anwalt. Er schützt deinen Arsch. Die dritte Ständerreihe war viel versprechender. Dort hingen Kurzmäntel in gedeckten Farben und mit dickem Flanellfutter, das sie leicht unförmig machte. Vielleicht enthielt das Futter sogar etwas Wolle. Schwer genug waren sie jedenfalls.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Er drehte sich um und sah dicht hinter sich eine junge Frau stehen.

»Taugen diese Mäntel fürs hiesige Wetter?«, fragte er.

»Sie sind ideal«, antwortete die Frau. Sie war sehr lebhaft und sprach über eine spezielle Imprägnierung, die auf den Drillich gesprüht wurde, um ihn wasserabweisend zu machen, und das Thermofutter. Sie versicherte ihm, es werde ihn bei Temperaturen bis zu minus zwanzig Grad Celsius warm halten. Er ließ seine Hand über die Kleiderbügel gleiten und zog einen dunkelolivgrünen Kurzmantel in Größe XXL heraus.

»Okay, ich nehme den hier«, sagte er.

»Wollen Sie ihn nicht anprobieren?«

Er zögerte, dann schlüpfte er hinein. Der Mantel passte ziemlich gut. Nur um die Schultern schien er ein bisschen eng. Und die Ärmel waren zwei bis drei Zentimeter zu kurz.

»Sie brauchen einen in 3XLT«, erklärte die Frau. »Was sind Sie, ein Hundertzwanziger?«

»Hundertzwanzig was?«

»Brustumfang.«

»Keine Ahnung. Ich hab ihn noch nie gemessen.«

»Größe ungefähr einsfünfundneunzig?«

»Müsste hinkommen«, antwortete er.

»Gewicht?«

»Hundertzehn«, entgegnete er. »Vielleicht hundertfünfzehn.«

»Also brauchen Sie eindeutig eine Übergröße«, meinte sie. »Probieren Sie die 3XLT.«

Der Kurzmantel in 3XLT, den sie ihm hinhielt, besaß dieselbe gedeckte Farbe wie der, den er ausgesucht hatte, und passte viel besser. Eher ein bisschen weit, was er mochte. Und die Ärmel waren lang genug.

»Eine Hose dazu?«, fragte die Frau. Sie trat an einen anderen Kleiderständer und ging schwere Drillicharbeitshosen durch, während sie prüfende Blicke auf seine Taille und seine Beinlänge warf. Sie zog eine Hose in einer Farbe heraus, die einer der Farben im Flanellfutter des Mantels entsprach. »Und sehen Sie sich diese Hemden an«, sagte sie. Sie flitzte zu einem kleineren Ständer und zeigte Reacher Flanellhemden in allen Farben. »Ziehen Sie ein T-Shirt darunter, dann sind Sie wetterfest. Welche Farbe mögen Sie?«

»Irgendwas Gedecktes«, erwiderte er.

Sie breitete alles auf einem der Kleiderständer aus: den Mantel, die Hose, das Flanellhemd, das T-Shirt. Die Sachen passten gut zusammen, lauter schlammige Oliv- und Khakifarbtöne.

»Okay?«, fragte sie gut gelaunt.

»Okay«, sagte er. »Haben Sie auch Unterwäsche?«

»Dort drüben«, antwortete sie.

Er wühlte in einer Kiste mit Boxershorts herum und entschied sich für eine weiße. Dann für ein Paar melierte Socken, hundert Prozent Schurwolle.

»Okay?«, fragte die Frau wieder. Als er nickte, führte sie ihn zur Kasse im vorderen Teil des Ladens und las alle Preisschilder unter dem roten Lichtpunkt einer piepsenden Laserpistole ein.

»Hundertneunundachtzig geradeaus.«

Er starrte die roten Leuchtziffern auf der Anzeige der Registrierkasse an. »Ich dachte, dies wär ein Discountladen«, sagte er.

»Das ist unglaublich preiswert, wirklich«, meinte sie. Er schüttelte den Kopf, wühlte in einer Hosentasche und zog einen Packen zerknitterter Geldscheine heraus. Zählte hundertneunzig Dollar ab. Mit dem Dollar, den sie ihm herausgab, hatte er noch vier Scheine in der Hand.

Der Kollege in leitender Stellung auf der anderen Seite der Organisation rief Froelich nach fünfundzwanzig Minuten wieder an.

»Haben Sie seine Privatadresse?«, fragte sie ihn.

»Einhundert Washington Boulevard«, antwortete er. »Arlington, Virginia. Die Postleitzahl ist 20310–1500.«

Froelich schrieb alles mit. »Okay, danke. Das müsste genügen, denke ich.«

»Ich glaube, Sie brauchen noch etwas mehr.«

»Wieso?«

»Kennen Sie den Washington Boulevard?«

»Führt zur Memorial Bridge, stimmt’s?«

»Er ist nur eine Schnellstraße.«

»Ohne Gebäude? Dort muss es Gebäude geben.«

»Es gibt ein Gebäude. Sogar ein ziemlich großes. Ein paar hundert Meter östlich der Straße.«

»Welches?«

»Das Pentagon«, erwiderte der Mann. »Das ist eine erfundene Adresse, Froelich. Am Washington Boulevard liegt auf einer Seite Arlington, der Friedhof, und auf der anderen das Pentagon. Das war’s dann. Sonst nichts. Die Hausnummer hundert existiert nicht. Dort gibt’s überhaupt keine Privatadressen. Ich hab bei der Post nachgefragt. Und diese Postleitzahl gehört dem Department of the Army im Pentagon.«

»Wunderbar«, sagte Froelich. »Haben Sie das der Bank erzählt?«

»Natürlich nicht. Sie haben mich gebeten, diskret vorzugehen.«

»Danke. Aber ich muss wieder von vorn anfangen.«

»Nicht unbedingt. Die Sache mit dem Konto ist ziemlich absurd, Froelich. Ein sechsstelliges Guthaben, aber statt Zinsen zu verdienen, liegt alles auf einem Girokonto. Und der Kunde nimmt Abhebungen nur über Western Union vor. Er kommt nie selbst vorbei. Das Ganze läuft telefonisch ab. Der Kunde ruft mit einem Kennwort an, die Bank überweist ihm das Geld über Western Union telegrafisch an jeden gewünschten Ort.«

»Keine Karte für Geldautomaten?«

»Überhaupt keine Karten. Der Kunde hat sich auch nie ein Scheckbuch geben lassen.«

»Ausschließlichüber Western Union? Das habe ich noch nie gehört. Gibt’s irgendwelche Unterlagen?«

»Geografisch buchstäblich überall verteilt. Mindestens vierzig Staaten in fünf Jahren. Gelegentliche Einzahlungen und viele kleine Auszahlungen – sämtlich über Western-Union-Filialen in der Provinz, in Großstädten, überall.«

»Absurd.«

»Wie ich gesagt habe.«

»Können Sie noch irgendwas tun?«

»Das hab ich schon. Die Bank gibt mir Bescheid, wenn der Kunde das nächste Mal anruft.«

»Und dann rufen Sie mich an?«

»Schon möglich.«

»Gibt’s eine Häufigkeitsverteilung?«

»Die Frequenz wechselt. In letzter Zeit liegen die größten Abstände bei einigen Wochen. Manchmal ruft der Kunde alle paar Tage an. Montage sind beliebt. Am Wochenende haben die Banken geschlossen.«

»Ich könnte also heute Glück haben.«

»Klar«, bestätigte der Mann. »Die Frage ist nur: Werde ich auch Glück haben?«

»Nicht so viel«, antwortete Froelich.

Der Manager des Nachtklubs beobachtete, wie Reacher den Eingangsbereich seines Motels betrat. Dann verschwand er nach draußen auf eine Seitenstraße und schaltete sein Handy ein. Verdeckte die Sprechmuschel mit einer Hand, sprach halblaut und drängend, aber auch so respektvoll, wie es verlangt wurde.

»Weil er mir auf den Keks geht«, sagte er als Antwort auf eine Frage.

»Heute wär ein guter Tag«, erklärte er, um eine weitere Frage zu beantworten.

»Mindestens zwei«, sagte er als Antwort auf die letzte Frage. »Er ist ziemlich groß.«

Reacher ließ sich am Empfang einen seiner vier Dollar in Quartermünzen wechseln und ging damit ans öffentliche Telefon. Wählte die Nummer seiner Bank, die er auswendig wusste, nannte sein Kennwort und beauftragte die Bank, ihm noch heute bis Geschäftsschluss fünfhundert Bucks telegrafisch zur Western Union in Atlantic City zu überweisen. Dann ging er in sein Zimmer, riss alle Preisschilder ab und zog seine neuen Klamotten an. Anschließend warf er seine Sommersachen in den Abfall und begutachtete sich in dem hohen Spiegel im Kleiderschrank. Lass dir einen Bart wachsen, und kauf dir eine Sonnenbrille, dann kannst du so bis zum Nordpol marschieren, sagte er sich.

Froelich erfuhr von dem Überweisungsauftrag elf Minuten später. Schloss eine Sekunde die Augen, ballte triumphierend die Hände zu Fäusten, griff dann hinter sich und zog eine Karte der Ostküste aus dem Bücherregal. Ungefähr vier Stunden, wenn der Verkehr mitmacht. Ich könnte es gerade noch schaffen. Sie nahm ihren Mantel und die Umhängetasche und lief in die Garage hinunter.

Reacher vertrödelte eine Stunde in seinem Zimmer, dann verließ er das Motel, um die Isoliereigenschaften seines neuen Mantels zu testen. Felderprobung, hätten sie früher bei der Army dazu gesagt. Er marschierte gegen den Wind in Richtung Atlantik. Spürte irgendwie, dass jemand hinter ihm war, den er nicht sah. Nur das typische leichte Kribbeln im Nacken. Er ging langsamer und benutzte ein Schaufenster als Spiegel. Nahm eine verschwommene Bewegung etwa fünfzig Meter hinter sich wahr. Zu weit entfernt, als dass er Einzelheiten hätte erkennen können.

Er ging weiter. Der Mantel wärmte ziemlich gut, aber er hätte sich auch eine Mütze besorgen sollen. Das war klar. Sein Kamerad, der sich zu Mänteln geäußert hatte, war auch der Ansicht gewesen, die Hälfte des gesamten Wärmeverlusts beim Menschen erfolge über die Schädeldecke. Der eisige Wind pfiff durch sein Haar und ließ ihm die Augen tränen. An diesem Novembertag an der Küste von New Jersey wäre eine Militärwollmütze genau das Richtige gewesen. Reacher nahm sich vor, auf dem Rückweg von der Western-Union-Filiale Ausschau nach einem Geschäft für Militärwaren zu halten. Seiner Erfahrung nach lagen sie oft in denselben Stadtvierteln.

Als er den Broadwalk erreichte, wandte er sich nach Süden und spürte wieder das leichte Kribbeln im Nacken. Er drehte sich abrupt um, sah aber niemanden. Ging nach Norden zu seinem Ausgangspunkt zurück. Die Bretter unter seinen Füßen waren in gutem Zustand. Auf einer Tafel wurde erklärt, sie bestünden aus einem speziellen Hartholz, dem härtesten Holz, das es gab. Das Kribbeln in seinem Nacken blieb. Er bog ab und marschierte auf die Central Pier hinaus. Dies war noch die sorgfältig konservierte ursprüngliche Konstruktion. Er vermutete, dass sie vor vielen Jahrzehnten, als sie erbaut worden war, genauso ausgesehen hatte. Sie war menschenleer, bei diesem Wetter kein Wunder, und verstärkte so die surreale Atmosphäre. Die Pier erinnerte an ein historisches Foto in einem Geschichtsbuch. Aber einige der kleinen Antiquitätenläden hatten geöffnet und verkauften alle möglichen Sachen, einer auch Kaffee in Styroporbechern. Er ließ sich einen Becher mit schwarzem Kaffee geben, der ihn sein letztes Geld kostete, ihn aber wärmte. Während er ihn trank, schlenderte er bis ans Ende der Pier, warf den Becher in einen Abfallkorb, blieb stehen und beobachtete eine Zeit lang das graue Meer. Dann machte er kehrt, ging über die Pier zurück und sah zwei Männer auf sich zukommen.

Es waren Kerle in handlicher Größe, klein, aber breit, die fast identische blaue Bootsmannsjacken, graue Jeans und Mützen trugen. Aus grauer Wolle gestrickte Rundmützen, die tief heruntergezogen auf ihren Quadratschädeln saßen. Sie wussten offensichtlich, wie man sich im hiesigen Klima anzog. Sie hatten ihre Hände in den Taschen vergraben, weshalb er nicht sehen konnte, ob sie zu den Mützen passende Handschuhe trugen. Da die Taschen ihrer Jacken hoch angesetzt waren, wurden ihre Ellbogen nach außen gedrückt. Ihre Füße steckten in schweren Stiefeln, die einem Stahlkocher oder Hafenarbeiter alle Ehre gemacht hätten. Sie schienen beide etwas O-beinig zu sein, aber vielleicht versuchten sie nur, ihn mit ihrem Gang einzuschüchtern. Von früheren Schlägereien herrührende Narben um die Augenbrauen zierten ihre Gesichter. Sie sahen aus wie Jahrmarktsrausschmeißer oder Hafenviertelschläger von vor fünfzig Jahren. Reacher drehte sich kurz um und sah niemanden hinter sich, weshalb er einfach stehen blieb. Er machte sich nicht die Mühe, sich mit dem Rücken zum Geländer zu stellen.

Die beiden Kerle kamen heran, blieben etwa zweieinhalb Meter vor ihm stehen und bauten sich vor ihm auf. Reacher bewegte probeweise die Finger, um festzustellen, wie kalt sie waren. Zweieinhalb Meter waren eine interessante Entfernung. Sie bewies, dass sie erst reden und dann raufen wollten. Er bewegte den Kopf nach links und rechts, dann leicht vor und zurück, um die Nackenmuskulatur zu lockern, und atmete durch die Nase. Der Wind kam von hinten. Der Kerl links vor ihm nahm seine Hände aus den Taschen. Keine Handschuhe. Und er hatte eine schlimme Arthritis oder hielt in beiden Händen je eine Rolle Münzen.

»Wir haben ’ne Nachricht für dich«, begann er.

Reacher warf einen Blick aufs Geländer der Pier und das Wasser dahinter. Die See war grau und aufgewühlt. Vermutlich eisig kalt. Die beiden Kerle hineinzuwerfen wäre Mord gewesen.

»Von diesem Klubmanager?«, fragte er.

»Von seinen Leuten, yeah.«

»Er hat Leute?«

»Wir sind in Atlantic City«, erklärte der Kerl. »Ist doch logisch, dass er Leute hat.«

Reacher nickte. »Okay, lasst mich raten. Ich soll abhauen, Leine ziehen, verduften, aus der Stadt verschwinden, nie mehr zurückkommen, mich nie wieder blicken lassen, vergessen, dass ich jemals hier war.«

»Cleveres Kerlchen!«

»Ich kann Gedanken lesen«, sagte Reacher. »Hab früher in einer Jahrmarktsbude gearbeitet. Gleich neben der bärtigen Lady. Wart ihr beiden nicht auch dort? Drei Buden weiter? Die hässlichsten Zwillinge der Welt?«

Auch der Kerl rechts nahm jetzt seine Hände aus den Taschen. Er hatte entweder auch schwere Arthritis oder ebenfalls zwei Rollen Quarter in den Händen. Reacher lächelte. Er mochte Münzrollen. Eine gute altmodische Technik. Und sie ließ auf die Abwesenheit von Schusswaffen schließen. Niemand umklammert Rollen mit Geldstücken, wenn er eine Pistole in der Tasche hat.

»Wir wollen dir nicht wehtun«, sagte der Typ rechts.

»Aber du musst verschwinden«, meinte der linke. »Wir können keine Leute brauchen, die sich in die wirtschaftlichen Abläufe dieser Stadt einmischen.«

»Also nimm den bequemen Ausweg«, fuhr der Rechte fort. »Lass dich von uns zum Busbahnhof begleiten. Sonst könnten auch die alten Leutchen zu leiden haben. Und nicht bloß finanziell.«

Reacher hörte eine völlig unpassende Stimme in seinem Kopf. Geradewegs aus seiner Kindheit, die Stimme seiner Mutter, die ihn ermahnte: Bitte, fang keine Prügelei an, wenn du neue Sachen anhast. Dann hörte er seinen Nahkampfausbilder in der Grundausbildung sagen: Schnell, kräftig und erbarmungslos zuschlagen. Er bewegte seine Schultern. Plötzlich war er der jungen Frau in dem Laden sehr dankbar, weil sie ihn dazu gebracht hatte, die nächste Größe zu nehmen. Während er die beiden Kerle ausdruckslos betrachtete, lag in seinem Blick nur leichte Belustigung und eine Menge Selbstvertrauen. Er machte einen halben Schritt nach links, und sie taten es ihm gleich. Dann trat er etwas näher auf sie zu und verkleinerte so das Dreieck. Er hob eine Hand und strich sein vom Wind zerzaustes Haar glatt.

»Besser wär’s, wenn ihr jetzt abhauen würdet«, sagte er.

Aber das wollten die beiden natürlich nicht. Sie reagierten auf seine Herausforderung, indem sie unmerklich etwas näher an ihn heranrückten – durch eine winzige Gewichtsverlagerung nach vorn. Sie müssen für ungefähr eine Woche außer Gefecht gesetzt werden,überlegte er. Am besten die Wangenknochen. Ein harter Schlag, Kompressionsbrüche, vielleicht mit zeitweiliger Bewusstlosigkeit, starke Kopfschmerzen. Keine allzu schweren Verletzungen. Er wartete den nächsten Windstoß ab, hob die rechte Hand und strich seine Haare hinter das linke Ohr. Dann ließ er die Hand mit hochgerecktem Ellbogen am Kopf, als sei ihm gerade etwas eingefallen.

»Könnt ihr schwimmen, Jungs?«, fragte er.

Keinen Blick aufs Meer zu werfen hätte übermenschlicher Selbstbeherrschung bedurft. Die beiden waren keine Übermenschen. Sie drehten die Köpfe wie Roboter zur Seite. Er traf den Kerl rechts im Gesicht, riss den Ellbogen nochmals hoch und traf den links, als er den Kopf ruckartig dem knackenden Geräusch zuwandte, mit dem die Knochen seines Kumpels brachen. Sie gingen zusammen zu Boden; ihre Münzrollen platzten auf, und Geldstücke rollten und kreiselten durcheinander. Reacher hustete und rekapitulierte den Ablauf: zwei Kerle, zwei Sekunden, zwei Rammstöße, Schluss der Vorstellung. Du kannst es noch immer. Er atmete tief durch und wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. Dann ging er davon. Trat von der Pier auf den Broadwalk und machte sich auf die Suche nach der hiesigen Western-Union-Filiale.

Er hatte die Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen, aber eigentlich brauchte er sie nicht. Eine Western-Union-Filiale konnte man nach Gefühl finden. Das war ein einfacher Algorithmus. Man stand an einer Straßenecke und fragte sich: Liegt sie von hier aus gesehen eher rechts oder links? Dann ging man je nach Antwort rechts oder links weiter, gelangte ziemlich rasch ins richtige Viertel und stand ziemlich bald vor der Western Union. Vor dem Eingang dieser Filiale parkte ein zwei Jahre alter Chevy Suburban direkt neben einem Hydranten. Der frisch gewaschene Van war schwarz, hatte dunkel getönte Scheiben und war auf Hochglanz poliert. Aus seinem Dach ragten drei kurze Funkantennen. Besetzt war er mit einer blonden Frau am Steuer. Nach einem ersten flüchtigen Blick sah Reacher noch einmal genauer hin. Die Blondine wirkte locker und zugleich wachsam. Das war daran zu erkennen, wie sie den linken Arm auf die Türverkleidung stützte. Und sie war attraktiv, gar kein Zweifel. Von ihr ging eine Art Magnetismus aus. Er sah wieder weg, betrat die Filiale und holte sein Geld ab. Steckte die Scheine zusammengefaltet ein, kam wieder heraus und traf die Frau auf dem Gehsteig an, wo sie sich vor ihm aufbaute und ihn anstarrte. Und zwar so, als vergleiche sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit einem vor ihrem inneren Auge stehenden Bild. Das war ein Vorgang, den er kannte. So war er schon mehrmals gemustert worden.

»Jack Reacher?«, fragte sie.

Er kramte nochmals in seinem Gedächtnis, weil er sich nicht irren wollte, obwohl er das für wenig wahrscheinlich hielt. Kurzes blondes Haar, schöne Augen, die ihn unverwandt ansahen, Selbstbewusstsein in ihrer Haltung. Sie besaß Eigenschaften, an die er sich erinnert hätte. Aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Folglich hatte er diese Frau noch nie gesehen.

»Sie haben meinen Bruder gekannt«, sagte er.

Sie wirkte überrascht und leicht erfreut. War im Augenblick um Worte verlegen.

»Das kenne ich«, fuhr er fort. »Wenn Leute mich so ansehen, denken sie, dass wir uns sehr ähnlich sehen, aber doch ganz verschieden sind.«

Sie schwieg.

»Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben«, sagte er und ging davon.

»Warten Sie!«, rief sie ihm nach.

Er blieb stehen, drehte sich um.

»Können wir miteinander reden?«, fragte sie. »Ich habe Sie gesucht.«

Reacher nickte. »Wir könnten im Auto reden. Hier friert man sich den Arsch ab.«

Sie blieb noch einen Moment stehen, während sie sein Gesicht musterte. Dann setzte sie sich plötzlich in Bewegung und öffnete die Beifahrertür.

»Bitte«, sagte sie. Er stieg ein. Sie ging um den Wagen herum und nahm auf ihrer Seite im Auto Platz. Ließ den Motor an, damit die Heizung lief, bewegte sich aber nicht von der Stelle.

»Ich habe Ihren Bruder sehr gut gekannt«, begann sie. »Wir sind miteinander ausgegangen, Joe und ich. Tatsächlich mehr als nur das. Wir waren eine Zeit lang ein Paar. Bevor er gestorben ist.«

Reacher sagte nichts. Die Frau errötete.

»Nun, natürlich bevor er gestorben ist«, verbesserte sie sich. »Eine dumme Bemerkung.«

»Wann?«, fragte Reacher.

»Wir waren zwei Jahre zusammen. Ein Jahr vor seinem Tod haben wir uns getrennt.«

Reacher nickte.

»Ich bin M. E. Froelich«, sagte sie.

Sie ließ eine unausgesprochene Frage in der Luft hängen: Hat er je von mir gesprochen? Reacher nickte erneut, als sage ihm dieser Name etwas. Aber das stimmte nicht. Nie von dir gehört, dachte er. Schade.

»Emmy?«, fragte er. »Wie der Fernsehpreis?«

»M. E.«, erwiderte sie. »Ich benutze nur die Anfangsbuchstaben.«

»Was bedeuten sie?«

»Das verrate ich Ihnen nicht.«

»Wie hat Joe Sie genannt?«

»Froelich«, antwortete sie.

Reacher nickte. »Ja, das sieht ihm ähnlich.«

»Er fehlt mir noch immer.«

»Mir auch«, sagte Reacher. »Also, wollen Sie mit mir über Joe reden, oder geht’s doch um irgendwas anderes?«

Sie schwieg noch einen Moment. Dann schüttelte sie sich leicht und wurde wieder geschäftsmäßig.

»Beides«, antwortete sie. »Nun, hauptsächlich über etwas anderes.«

»Nämlich?«

»Ich möchte Sie für etwas engagieren«, sagte sie. »Sozusagen auf Grund einer postumen Empfehlung von Joe. Wegen der Geschichten, die er von Ihnen erzählt hat. Er hat manchmal von Ihnen gesprochen.«

Reacher nickte. »Wofür engagieren?«

Froelich überlegte kurz, dann lächelte sie zaghaft. »Ich habe diesen Satz eingeübt«, sagte sie. »Mehr als nur einmal.«

»Dann heraus damit!«

»Ich möchte Sie dafür engagieren, den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden.«

2

»Guter Text«, sagte Reacher. »Interessanter Vorschlag.«

»Wie lautet Ihre Antwort?«, fragte Froelich.

»Nein«, sagte er. »Das ist die im Augenblick sicherste Antwort, glaube ich.«

Sie lächelte wieder zaghaft und griff nach ihrer Umhängetasche. »Vielleicht sollte ich Ihnen erst mal meinen Ausweis zeigen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, wehrte er ab. »Sie sind beim United States Secret Service.«

Froelich sah ihn an. »Sie sind ziemlich schnell.«

»Das ist ziemlich offensichtlich«, meinte er.

»Tatsächlich?«

Er nickte. Berührte seinen rechten Ellbogen. Die Prellungen taten ihm weh.

»Joe hat dort gearbeitet«, erklärte er. »Und da er viel gearbeitet hat und ein bisschen schüchtern war, muss jede Frau, mit der er ausgegangen ist, aus dem Dienst gekommen sein; sonst hätte er sie nie kennen gelernt. Und wer außer einer Behörde pflegt zwei Jahre alte Suburbans so penibel? Und parkt neben Hydranten? Und wer außer dem Secret Service hätte mich so effizient über meine Bankverbindung aufspüren können?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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