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Kann man sich einen Indianer mit Brille vorstellen? Eigentlich nicht. Indianer haben keine Brille. Das stellen die beiden Autoren am Anfang klar: Du kennst doch Indianerfilme noch und noch, und was sahst du da? Geritten wurde, geschossen, geschlichen, geschwommen, Friedenspfeife rauchte man, grillte ganze Bären am Spieß, Tomahawks wirbelten durch die Luft, scharfäugig spähten Indianer nach dem Feind aus, oder sie blickten voller Verachtung vom Marterpfahl auf ihre Gegner. Eine Brille aber, nein, eine Brille trug niemand! Es hatte auch keiner Sommersprossen. Niemand lag einfach so auf der Wiese und träumte in die Wolken. Und hast du auch nur einen gesehen, der am Fluss saß und rein zum Spaß die Beine ins Wasser baumeln ließ? Und doch gibt es zumindest eine Ausnahme – Otto, ein nachgemachter Indianer aus dem fünften Stock, der erst einen Tag zuvor mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Elle in einen Neubaublock am Stadtrand eingezogen war. Heute war er zum ersten Mal in seiner Indianeruniform unterwegs. Aber lag vor dem Neubau Indianerland? Unser Held hat jedenfalls viel Fantasie, Indianerfantasie. Und das hat auch mit seiner Brille zu tun. Bei seinem ersten abenteuerlichen Erkundungsgang in der neuen Umgebung lernt er die drei großen Jungen Branco, Mäcki und Olaf kennen, die nicht so recht wissen, was sie mit Otto anfangen sollen und sich erstmal beraten müssen. Plötzlich aber soll Otto einer von ihnen sein und wird in ihrer Bande begrüßt. Nachdem er einen Blaubeersammelausflug mit seiner neuen Freundin Antje absolviert hat und davon träumt, Häuptling zu werden, bekommt Otto bald Probleme mit den drei großen Jungen, weil sie nämlich auch Probleme mit Leuten in der wirklichen Welt haben. Otto kommt immer mehr in Schwierigkeiten. Mit Geheimhaltung und Zigarettendiebstahl und Schnapstrinken, Aussagen zwischen Lüge und Wahrheit. Ob Indianerhäuptling Otto, der sich schon darüber ärgert, sich mit den drei Großen eingelassen zu haben, etwas passiert? Plötzlich packte ihn jemand. Otto wusste sofort, das war Brancos Hand. „Wen hast du hier hergeschleppt?“ Otto wollte schreien, aber er brachte keinen Ton heraus, so hatte er sich erschreckt. „Du hast geschworen, die Klappe zu halten.“ Otto atmete tief durch. „Aber bloß von der Burg“, verteidigte er sich und drehte den Kopf zur Seite. Hinter Branco stand Mäcki. Olaf konnte er nirgendwo entdecken. „Los, der wird gekidnappt“, schlug Mäcki vor, „und dann aber“
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Seitenzahl: 195
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Hildegard und Siegfried Schumacher
Der Brillenindianer
ISBN 978-3-95655-219-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1982 beim Kinderbuchverlag, Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Hast du jemals einen Indianer mit Brille gesehen?
Du kennst doch Indianerfilme noch und noch, und was sahst du da? Geritten wurde, geschossen, geschlichen, geschwommen, Friedenspfeife rauchte man, grillte ganze Bären am Spieß, Tomahawks wirbelten durch die Luft, scharfäugig spähten Indianer nach dem Feind aus, oder sie blickten voller Verachtung vom Marterpfahl auf ihre Gegner. Eine Brille aber, nein, eine Brille trug niemand! Es hatte auch keiner Sommersprossen. Niemand lag einfach so auf der Wiese und träumte in die Wolken. Und hast du auch nur einen gesehen, der am Fluss saß und rein zum Spaß die Beine ins Wasser baumeln ließ?
Unmöglich — sagst du, und du kennst dich mit diesen Filmindianern aus —, da kommen weder Wolkenträumer noch Beinebaumler vor, und eine Brille — sagst du —, wie sieht denn das aus: Federkrone, Adlerblick und ’ne Brille davor! Außerdem gibt es von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf der Prärie keinen Optiker, das weiß doch jeder, und jedermann weiß auch, Indianer haben fortwährend kühn und unheimlich aktiv zu sein.
Aktiv ist unser Indianer. Er rennt — nein, er hüpft gerade die Treppe hinunter, und obwohl gar nicht Frühling, sondern herrlich heiße Sommerzeit ist, pfeift er „Alle Vögel sind schon da“. Mal wirft er das linke, mal das rechte Bein beim Hüpfen vor.
Das ist kein echter Indianer! Er sieht nur so aus. Aber dich kann er nicht täuschen, schon darum nicht, weil er eine Brille trägt und, statt zu schleichen oder sich sonst nach weit und breit bekannter Indianerart fortzubewegen, vergnügt vor sich hin pfeifend Stufe für Stufe abwärts hopst. In einem Neubau dazu! Nein, und hätte er sich sieben Häuptlingsfederkronen auf den Kopf gestülpt, dich täuscht er nicht!
Der nachgemachte Indianer ist Otto aus dem fünften Stock.
Gestern war Otto eingezogen im Neubaublock am Stadtrand von Eichberge. Natürlich nicht allein, sondern mit seinen Eltern und Elle, der kleinen Schwester. Das heißt, Elle war einstweilen bei Onkel Udo und Tante Gitta in Drosseldorf. Kleine Kinder stören beim Umzug. Otto sollte auch dort bleiben. Er hatte abgelehnt und seine Armmuskeln spielen lassen, der Vater musste sie abfühlen, und dann hatte er beschlossen: Gut, weil Onkel Udo der Ernte wegen beim Umzug ausfällt, machst du mit. Ein bisschen hilft es doch.
Ein bisschen! Darüber konnte Otto nur lachen. Er hatte sich nicht geschont, war treppauf, treppab gelaufen, hatte keuchend Kisten und Kasten geschleppt, an die zehn Liter Schweiß verloren und zum Ausgleich mindestens zehn Brausen getrunken. Todmüde war Otto abends ins Bett gefallen. Auch am Morgen blieb noch viel zu räumen und einzurichten. Trotzdem hatte die Mutter ihm beim Frühstück zugeredet: „Guck dich draußen um, geh spielen, Junge!“ Zuerst wollte Otto das weit von sich weisen. Wie gesagt, er war ja kein kleines Kind wie Elle, aber nach kurzem Überlegen gelangte er zu der Einsicht, dass man Eltern nicht durch zu große Hilfsbereitschaft verwöhnen dürfte. Also hatte er sich dem Willen der Mutter gefügt und war in seiner Indianeruniform samt Pfeil und Bogen und Kriegsbeil frohgemut abgezogen. Die Sonne schien, wie es sich in den großen Ferien gehört, die Eltern hatten ihre Beschäftigung, und Otto fühlte sich frei, so frei wie ein Adler in den Lüften. Was kann der Mensch mehr verlangen!
Otto hatte seine Indianeruniform bisher nur in Drosseldorf getragen. Dort hatte er eine Menge Freunde, und der Wald begann gleich hinter der Wiese, die an den großen Garten grenzte. Es war nur ein Katzensprung ins freie Indianerleben mit den Drosseldorfer Rothäuten.
Während der Schulzeit war an solch ein Leben nicht zu denken gewesen. Otto hatte vor dem Umzug auch in der Stadt gewohnt. Links lauter hohe Häuser, Typ 1900, rechts dasselbe, unten Geschäft an Geschäft und vor der Nase der Busbahnhof. Dort passten Indianer wie er und seine Stammesbrüder aus Drosseldorf nicht hin. Schade, dass die Freunde so weit weg wohnten, denn hier in Eichberge lag der Wald genau wie bei Onkel Udo und Tante Gitta hinterm Haus, sogar noch dichter. Vom Balkon im fünften Stock hatte Otto direkt in die Baumkronen gucken können. Endlich im Grünen! Die Mutter freute sich, doch der Vater hatte gesagt, dass in den nächsten Jahren abgeholzt und weitergebaut werden sollte. Vorläufig fehlte jedes Anzeichen dafür, weder Planierraupen noch Turmdrehkran und Zementsilo. Jahre — eine Ewigkeit.
Vor der Haustür lag kein Indianerland. Überall machten sich Sandberge breit. Bis zur festen Straße füllte man sich die Schuhe voll. Otto fand, die Gegend vorm Haus sah nach halbhohen Ostseedünen aus, nur das Meer war nicht da. An seiner Stelle reihte sich Neubau an Neubau, und wo ihre Balkons die erste Sommerbleiche hinter sich hatten, durchquerten rechteckig angelegte Plattenwege und abkürzende Trampelpfade die Rasenflächen. Dahinter die große Kaufhalle und der Komplex mit Sparkasse, Friseur und Restaurant. Zivilisation also und uninteressant.
Otto schickte einen Späherblick zu den Dünen hinüber. Dort buddelten Kleinkinder im Sand. Auch uninteressant. Elle würde natürlich sofort hinrennen. Dem Findlingsstein vorm nächsten Block spendeten drei von den Bauleuten verschonte Kiefern spärlichen Schatten. Ein paar Halbgroße hockten auf dem Findling. Die Jungen gaben an, und die Mädchen kicherten. Albern! Otto hielt alle Halbgroßen für albern. Weit und breit kein vernünftiger Mensch, denn die beiden Weiber mit dem Dackel an der Leine, die so alt wie er sein mussten, zählte Otto nicht. Indianerleben ist Männersache. Tokei-ito und Chi'ngachgook hatten keine Squaw, wie man auf der Prärie höflich zu Weibern sagt, und die wussten, warum. Sie mochten sich vor ihrem Tipi nicht dauernd die Schuhe abputzen und immerzu Hände waschen müssen.
„Hallo“, sagte die mit den langen blonden Haaren.
Otto sah sich um. Meinte sie ihn? Ohne es zu wollen, sagte er ebenfalls: „Hallo!“
„Wohnst du im Fünften? Ich wohne im Dritten und heiße Antje, und das ist Manuela aus dem Zweiten.“ Sie zeigte auf die Dunkelhaarige neben sich, die eine Kaugummiblase vor ihrem Mund zerknallen ließ und dann auch „hallo“ sagte.
Aufdringliche Weiber! Otto wandte sich ab, wie es ein Häuptling zu tun pflegt, wenn er seine Verachtung zeigen will, und schritt davon. Was sie hinter ihm her tuschelten, konnte er nicht verstehen, nur dass Antje sagte: „Süß sieht der aus mit seinen Sommersprossen!“ Der Dackel, diese Leberwurst auf vier krummen Beinen, kläffte. Otto interessierte alles so wenig wie Fliegengesumm.
Er umging das Haus und steuerte den Wald an. Kiefern, Blaubeerkraut ohne Beeren, mageres Gras. Er nahm den Bogen von der Schulter und hielt einen Pfeil schussbereit. Man konnte nie wissen, vielleicht lief ihm ein Büffel über den Weg. Da hieß es blitzschnell den Bogen spannen, und zack! Was würde aber die Mutter sagen, wenn er mit einem ganzen Büffel angeschleppt käme? Bestimmt: Junge, der passt doch nie und nimmer in den Kühlschrank! Otto beschloss, lieber einen Hasen zu erlegen und gar nicht erst Kühlschrankprobleme zu verursachen. Schwerer als riesige Büffel sind Hasen jedoch zu treffen. Außerdem rennen sie ungeheuer schnell und schlagen auch noch Haken. Du schießt, zack! schlägt der Hase einen Haken, und du schießt vorbei. Büffel war sicherer.
Otto spannte den Bogen,, um sich einzuschießen. Die dicke Kiefer war ein Büffel. Zielen. Der Pfeil schnellte von der Sehne! Er flog an der Kiefer vorbei. „Treffer!“, schrie Otto. Klar, Treffer! Eine Kiefer kann kein Büffel sein, aber hinter der Kiefer hervorschielen, das konnte der Büffel gut und gern, und wäre er dort gewesen, hätte Otto ihn mitten zwischen die Hörner getroffen. Glatter Kopfschuss! Otto war mit sich zufrieden und las den Pfeil vom Boden auf.
Von den Neubauten kaum noch ein heller Schimmer. Laubbäume und Unterholz mischten sich zwischen die Kiefern, der Wald wurde dichter. Um sich eine Rückspur zu markieren, wollte Otto mit seinem Kriegsbeil Zeichen in die Baumstämme schlagen. Doch nicht mal Rinde ließ sich mit dem Plasteding abschaben. Er musste sich auf der nächsten Handelsstation oder zur Not im Küchenschrankkasten etwas Schärferes eintauschen. Nach alter Indianertradition, fiel ihm ein, konnte er auch ab und zu einen Zweig als Wegzeichen knicken. Zweimal überquerte Otto eine Schneise. Wege waren langweilig. Tiefer und tiefer drang Otto in den schweigenden Dschungel ein.
Halt, den gab es nicht im Indianerland, aber Otto fand, dass sich Dschungel so verdammt gut anhörte, und wenn er auf einen Tiger traf, war das nicht weiter schlimm. Bevor solch ein Vieh loslegt, peitscht es eine Weile mit dem Schwanz die Erde, sodass man in aller Ruhe zielen kann, und wenn es abspringt, zischt ihm der Pfeil in den weit aufgerissenen Rachen. Es überschlägt sich, bleibt liegen, zuckt kurz und ist mausetot. Otto brauchte ihm nur noch das Fell abzuziehen, um es als Siegestrophäe über die Schulter zu hängen. Die beiden Weiber, die Blonde und die Dunkle, würden ganz schön gucken, käme er so dahergeschlendert. Und die anderen Indianerstämme erst! Die wollten das Tigerfell bestimmt für sich erbeuten. Sollten sie kommen!
Otto sah, wie sie in Scharen auf ihn zustürmten. Er hob den Bogen, schoss und schoss. Ohne Pfeil schoss er und traf. Haufenweise purzelten die Beutejäger ins Gras, doch der Ansturm war so gewaltig, dass Otto mal links, mal rechts, mal vorwärts durch die Büsche preschte und mit seinem Beil dazwischenhauen musste, und als er den letzten Feind in die Flucht geschlagen hatte und sich verpusten konnte, befand er sich auf einer Waldwiese.
Otto warf sich lang hin. Er schwitzte, und er hörte das Herz in seiner Brust. Es pochte wie doll von dem Kampfgetümmel. Als es sich beruhigt hatte, nahm er das Gesumm und Gesirr der Käfer in den Gräsern wahr. Der Wind fächelte ihm Kühlung zu. Otto sah in den blauen Himmel. Eine weiße Wolke schob sich heran. Erst sah sie wie ein riesiger Eisberg aus, dann wurde sie ein dicker Elefant, und schließlich segelte sie als stolzes Schiff von dannen.
Kapitän war Otto auch schon gewesen. Als sie im vergangenen Sommer an der Ostsee zelteten, hatte die Mutter ihm eine Kapitänsmütze gekauft, und er hatte mit des Vaters Fernglas über das Meer geschaut und seinen Matrosen Befehle gegeben, sodass sein Schiff sicher durch alle Stürme kam. Honolulu hatte er es genannt, weil das geheimnisvoll nach Palmen und fernen Küsten klang.
Überhaupt hatte Otto schon eine Menge ausprobiert. Ihm fiel genug ein — die Welt war groß und bunt —, und er brauchte nur ein bisschen Ausrüstung. So war er Traktorist wie Onkel Udo gewesen und Sherlock Holmes, Pilot, im Sommer Cowboy und im Winter Polarforscher, auch Fotoreporter, Postbote, Schornsteinfeger und natürlich Rennfahrer und Soldat. Hier auf der Waldwiese war Otto nur Otto. Er träumte der weißen Wolke nach, die hinter den Bäumen verschwunden war, ohne dass er im Augenblick zu sagen gewusst hätte, wovon er träumte. Der Geruch der Gräser und Kräuter, das Summen und Sirren ringsumher, all das war schön. War da nicht auch ein leises Gluckern wie von Wasser? Otto setzte sich auf und sah über die Wiese. Ein feiner Strich wie ein Einschnitt zog sich durch das Gras, eine Weide winkte mit ihren beweglichen Zweigen, dort musste Wasser sein.
Als Otto an dem Fließ anlangte, das über hellen Sand und Kiesel plätscherte, merkte er, wie warm ihm vom Liegen in der Sonne geworden war. Er zog die Sandalen aus. Die Beine im Wasser, ließ Otto seine Gedanken wandern. Sie wanderten nach Drosseldorf, und er wurde wieder Indianer. Adlerauge hatten ihn seine roten Stammesbrüder dort genannt. Ohne Brille war er blind wie ein Maulwurf, aber mit Brille sah er adlerscharf. Wer hatte stets als erster heranpirschende Feinde entdeckt? Den Fuchs, der durch die Wiese schnürte? Den Eismann, der dreimal die Woche mit seinem Auto ins Dorf klingelte? Adlerauge! Otto dachte daran, wie er sich über seinen Namen gefreut hatte. Und Onkel Udo und Tante Gitta auch. Hinten im Garten hatten sie für alle Indianer ein Lagerfeuer angezündet. Sie hatten Apfel und Brotscheiben auf lange Stöcke gespießt und über dem Feuer gebraten. Bratäpfel und Röstbrot. Ottos Magen begann zu knurren, er brauchte Futter.
Keine drei Schritte war Otto im Wald, als er schon stehen blieb. Wo entlang ging es nach Hause? Aus welcher Richtung war er gekommen? Er spähte in die Runde und fand keinen Anhaltspunkt. Hätte er einen Fährtenhund, den Dackel von dieser Antje etwa, wäre die Rückspur eine Kleinigkeit! Die Wegzeichen! Doch die hatte er angebracht, bevor er den Tiger erlegt und die große Schlacht geschlagen hatte. Überhaupt, wer sollte einen winzigen geknickten Zweig zwischen all dem Grün entdecken!
Kein Weg, kein Steg, nichts. Vor ihm der Wald und hinter ihm die Wiese. Otto lauschte. Schweigen. So tiefes Schweigen, dass er glaubte, der einzige Mensch auf der weiten Welt zu sein, und das erschreckte Otto. Plötzlich knallte es. Ein Düsenjäger war durch die Schallmauer gebrochen. Sein mächtiges Dröhnen erfüllte die Luft. Otto sah ihn, silbern in der Sonne blitzend, am blauen Himmel dahinjagen. Nein, Otto war nicht allein auf der Welt, er musste nur den Weg nach Hause finden. Am besten, er tat so, als wüsste er ihn, und ging einfach los, dann kamen seine Füße sicher von selbst darauf, wo sie hin mussten.
Otto ging und ging, und der Wald nahm kein Ende. Unheimlich warm wurde ihm mit der Zeit. Unheimlich, das war das richtige Wort. Er fächelte sich mit dem Kriegsbeil Luft zu. Zu irgendetwas musste das Ding doch zu gebrauchen sein. Dann rannte er. Ihn kümmerten weder Indianer noch Büffel oder Tiger. Nach Hause wollte Otto, nur nach Hause. Der Boden senkte sich. Eine Wiese schimmerte durch die Bäume. Es wurde sumpfig. Ehe Otto es in seiner Hast bemerkte, hatten sich die Sandalen voll Schlamm gefüllt. Nässe schwabbelte zwischen den Zehen. Mit großen Schritten, dass das Sumpfwasser um die Beine spritzte, eilte Otto zurück in den Wald. Ein im Gras kaum wahrnehmbarer Pfad war plötzlich unter seinen Füßen. Otto rannte darauf entlang, bis er stolperte und stürzte. Ein Draht, an Holzpflöcke gespannt, hatte ihn zu Fall gebracht. Mühsam rappelte sich Otto hoch, und da sah er, dass vor ihm der Wald dünner wurde. Eichberge, die Neubauten! Wie ferngesteuert hatten die Füße doch den richtigen Weg gefunden.
Als Otto den Waldrand erreicht hatte, keine Neubauten. Eine Lichtung, mit dürrem Gras und Gestrüpp bedeckt, breitete sich vor ihm aus. Traktorenspuren hatten sich längs des Waldrandes in den Sand gegraben. Sie waren zerfallen und zeigten kaum noch eine Spur der breiten Profilreifen. Es musste lange her sein, dass diesen Weg ein Traktor entlanggefahren war. Erschöpft setzte sich Otto hin. Sollte er links oder rechts weitergehen?
Im Gras bewegte sich etwas. Otto bemerkte es zuerst kaum, doch dann fuhr ihm der Schreck in alle Glieder. Ein großes graugelbes Vieh! Es beobachtete ihn, ließ ihn nicht aus den Augen. Ein Wolf, dachte Otto. Unsinn, wo sollte hier ein Wolf herkommen? Ein umherstreunender Hund musste es sein. Otto fand auch das schlimm genug. Vorsichtig stand er auf. Mit jedem Schritt, den er rückwärts tat, machte der Hund einen vorwärts. Otto linste nach hinten über die Schulter — zwei Meter bis zum nächsten Baum — und sprang zurück. Ihm war wohler, als er den dicken Stamm, der viel breiter als er war, zwischen sich und seinen Verfolger gebracht hatte.
Otto stand bewegungslos. Vielleicht dachte das graugelbe Vieh, dass er weg wäre, aufgelöst in Luft, und verzog sich. Er wartete lange. Dann guckte er mit einem Auge hinter dem Baum hervor. Langsam, aber unaufhaltsam schlich das Biest auf ihn zu. Noch fünfzehn Schritte — noch zwölf — noch zehn. Otto schloss die Augen, machte sich steif wie ein Stock und hoffte, das Untier würde vorbeischleichen, ohne ihn zu bemerken. Als er die Augen einen Spalt öffnete, lag drei Schritte vor dem Baum der Köter. Geduckt zum Sprung lag er, seine Schwanzspitze klopfte den Boden.
Ein Knüppel! Wo war ein Knüppel? Natürlich ist nie einer da, wenn man ihn braucht. Was konnte sonst helfen? Ein Schrei! Das Biest erschreckt sich und rennt weg. Jawohl, das gab es, irgendwo hatte Otto es gelesen. Er stieß einen gewaltigen Schrei aus. Tatsache, der Köter hatte sich erschreckt. Er war zur Seite gesprungen, doch nun knurrte er Otto an. Ein dumpfes, grollendes Knurren. Bestimmt hatte er sich zu sehr erschreckt.
Vielleicht ging es mit Überreden, dass er fortgehen sollte. Noch besser einschläfern. Mit ganz sanfter Stimme, wie die Mutter es manchmal bei Elle tat. „Du“, sagte Otto, und er bemühte sich, dass seine Stimme nicht zitterte, „du bist ein artiger, ein ganz guter Hund, aber nun schlaf ein bisschen. Du bist doch müde, du Hund.“
Der Köter streckte sich aus, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen, blinzelte kurz und rekelte sich noch bequemer hin.
Der ging in Schlafstellung. Es klappte! „Brav“, sagte Otto noch leiser, „so ist es brav. Schlaf ein und träume schön. Träum von einer feinen Bockwurst.“
Der Köter hob den Kopf. Erwartungsvoll, schien es Otto. Bockwurst durfte er nicht noch einmal sagen. Bestimmt war es ein Reizwort. Doch das Vieh beruhigte sich wieder. Es riss das Maul auf, als wollte es Otto vorm Einschlafen noch alle seine Zähne zeigen, und gähnte.
„Gleich kommt der Sandmann. Siehst du, nun machst du die Augen wieder zu. Ja, so ist es richtig. Schlaf ein, mein Guter, schlaf endlich.“
Eine Weile wartete Otto. Das Biest rückte und rührte sich nicht mehr. Er hatte es geschafft. Die Augen auf den großen graugelben Hund gerichtet, zog sich Otto vorsichtig ein Stück zurück. Wieder wartete er. Alles blieb unverändert. Da warf er sich herum und preschte los. Keine zehn Schritte, und der Hund hatte ihn eingeholt und umgeworfen.
Aus, dachte Otto, jetzt ist es aus. Im Blaubeerkraut blieb er liegen. Er spürte die Schnauze des Hundes hinten in seinem Genick. Gleich würde er die Zähne fühlen! Nein, der beschnupperte ihn nur. Otto wagte kaum, Luft zu holen. Ganz ruhig musste er bleiben. Vielleicht war das die Rettung. Wenn es dem Biest zu langweilig wurde, verzog es sich. Das war doch möglich. Otto hoffte es mit allen Gedanken, mit jeder Faser seines Körpers. Er stellte sich tot.
„Rex, wo bist du? Rex!“
Der Hund gab Laut und setzte seine Pfoten auf Ottos Rücken. Das drückte. Gewaltig drückte es. Otto rührte sich nicht. Rex? Der Hund musste so heißen. Sein Besitzer hatte ihn gerufen. Schritte näherten sich. Otto atmete auf. Gleich würde er frei sein. Ein paar Augenblicke noch. Vor seinem rechten Auge hingen ein paar dicke Blaubeeren. Sie zerplatzten, als er sein Gesicht beruhigt in das Kraut legte, und hinterließen einen verschmierten blauroten Saftfleck.
„Na, Rex, was für ’nen Vogel hast du uns gefangen?“ Der Hund ließ von ihm ab. Otto richtete sich auf, glücklich, dass er gerettet war. Drei Jungen standen vor ihm. Größere Jungen waren es. Otto sah sie wie durch einen Schleier. Er griff sich ins Gesicht. Die Brille fehlte. Er musste sie beim Sturz verloren haben. Suchend tastete er den Boden ab. Als er an die Brille stieß, trat ein Fuß auf seine Hand. „Hoch, du Blaubeerbematschter!“Otto stand auf. Mit denen schien so wenig zu spaßen zu sein wie mit dem Hund. Die Jungen lachten. Sie lachten ihn aus.
„’n Häuptling in Kriegsbemalung“, sagte der Kleinste der drei. Er bückte sich und gab Otto die Brille. Als er sie aufgesetzt hatte, verbeugte sich der Kleine grinsend und sagte: „Tag, großer Häuptling. Ist das Licht wieder angeknipst?“ Er haute Otto auf die Schulter und wollte gar nicht aufhören zu lachen.
„Schluss, Mäcki!“, befahl der Größte der Jungen. Der Kleine verstummte. Otto lief eine Gänsehaut über den Rücken. Der Große hatte ihm auf die Hand getreten. Er zog Otto dicht zu sich heran. Ein breites rosig glänzendes Gesicht hatte er, und wie schwarz lackiert sahen seine kurzen Haare aus. Der Große glänzte im Ganzen wie ein frisch gepelltes Ei. „Was bist du für einer?“, fragte er.
„Ich ... ich“, stotterte Otto, „ich bin Otto.“
„So siehst du auch aus“, sagte der Große. Er schien der Chef der drei zu sein.
„Vom Stamm der Brillenschlangen!“, rief der Kleine und begann wieder zu lachen.
Der Große nahm Otto beim Kragen und begann ihn zu schütteln. „Du spionierst hier rum!“
„Hör auf, Branco“, mischte sich der dritte ein, doch es hörte sich matt und unentschlossen an. Er war fast so groß wie der Chef, nur furchtbar dünn.
Branco ließ Otto tatsächlich los, aber so plötzlich, dass er zu Boden stürzte. Was hatten die mit ihm vor? Es passierte jedoch gar nichts. Die drei setzten sich zu Otto. „Wo wohnst du?“, fragte der Dünne.
„Waldstraße zwei“, antwortete Otto wahrheitsgemäß, „seit gestern. Gestern sind wir eingezogen.“
„Was willst du hier?“
„Gar nichts. Ist bloß aus Versehen.“ Otto begann zu erzählen, erst überstürzt, dann ruhiger. Die drei hörten ihm zu und der graugelbe Köter, dieser Rex, auch. Die Gefahr schien vorüber zu sein. Als Otto alles erzählt hatte, stand er auf und sagte: „Jetzt muss ich aber gehen.“
„Und wo lang?“, fragte der Chef. „Hiergeblieben!“
„Der ist harmlos, lasst ihn laufen“, sagte der Dünne.
„Quatsch!“, rief Mäcki. „An den Marterpfahl!“
„Marterpfahl?“ Otto wich entsetzt zurück.
Branco packte ihn jedoch am Fuß. „Setzen! Und rühr dich nicht vom Fleck!“ Er erhob sich. Breit und herausfordernd stand er da. Er stand ein wenig zu lange so, als dass man glauben konnte, er wüsste, wie es weitergehen sollte. Schließlich machte er eine Kopfbewegung. „Los, Beratung!“
Sie zogen sich ein Stück zurück und redeten leise miteinander. Otto war sterbensangst. Nirgendwo ließ sich ein Mensch erblicken, der ihm helfen konnte. Am liebsten hätte Otto geheult, doch die Angst war so groß, dass er sich selbst das nicht traute. Er durfte die drei nicht reizen. Vor allem diesen Branco nicht. Der war am gefährlichsten. In seiner Not und Verlassenheit begann Otto den Hund zu streicheln, der friedlich neben ihm lag. Rex schien es zu gefallen. Er schmiegte sich an Otto und leckte ihm die Hand. So merkwürdig es war, ein bisschen tröstete es.
Die drei berieten immer noch. Mäcki redete mit Händen und Füßen und jetzt so laut, dass Otto mithören konnte. „Der war da! Der Stolperdraht ist rausgerissen, und seine Sandalen sind dreckig vom Sumpf.“ Der Dünne stand mit krummem Rücken, die Hände in den Hosentaschen. Was er sagte, war nicht zu verstehen. Von Branco schnappte Otto nur ein Wort auf: Probe. Branco schnipste dabei ein unsichtbares Stäubchen von seinem Hemd. Erst jetzt fiel Otto auf, dass der Große das fast alle fünf Minuten tat.
Otto bemühte sich, seine Angst zu verstecken, als die drei sich vor ihm aufbauten. Der Dünne guckte mürrisch wie vorher, aber der Chef und Mäcki machten freundliche Gesichter. Branco lächelte sogar. Er war ein hübscher Junge, wenn er lächelte. „Hast Schiss gehabt, was?“, fragte er, und das Messerscharfe war aus seiner Stimme wie fortgeblasen. Otto atmete auf. Die drei schienen wieder normal zu sein. Sie kamen ihm nicht mehr so überaus groß vor. Siebente, höchstens achte Klasse, schätzte er, während er vorher gedacht hatte, sie wären mindestens fünfzehn Jahre alt. „Na, dann geh mal voran“, sagte Branco.
Otto beschloss, den Traktorenweg zu nehmen. Vielleicht führte er doch ins Eichberger Neubauviertel.
„Aber nein“, sagte Branco, „da lang, von wo du gekommen bist. Ist nämlich kürzer.“
Gehorsam ging Otto auf den schmalen, kaum sichtbaren Pfad zu.
„Na bitte!“, meldete sich Mäcki. Was sollte das? Otto wurde es wieder unheimlich. Warum sollte er als erster gehen mit den dreien im Rücken? Sie blieben jedoch normal. Rex trabte neben Otto her. Ab und zu stupste er ihn mit der Schnauze an, als wollte er mit ihm spielen. Nach kurzer Zeit sah Otto die Stelle, wo er über den Draht gestolpert war. Der schlängelte sich rostig durch das Gras. Mäcki räusperte sich bedeutungsvoll. „Schschsch“, machte Branco. Spannung war plötzlich da. Otto sah, was ihm vorher nicht aufgefallen war: Der Pfad gabelte sich am Draht. Um keine Unsicherheit zu zeigen, ging Otto rechts weiter. Dabei war er von der anderen Seite auf den Draht gestoßen, doch das wusste er nicht mehr. Die drei folgten ihm, ohne etwas gegen den eingeschlagenen Weg einzuwenden.
„Klar“, sagte Mäcki sogar.
Branco fuhr ihn an: „Halt endlich die Klappe!“ Der Pfad endete an der Sumpfwiese. In der Mitte wuchsen auf einer kleinen Erhebung Bäume und Büsche. Otto blieb stehen.
„Weiter!“
Wieder bekam Otto furchtbare Angst. Sie wollten ihn doch nicht etwa im Sumpf ersäufen! Nein, selbst wenn sie ihn prügelten, freiwillig kriegten sie ihn nicht dort hin.
„Ich hab’s euch gesagt“, quasselte Mäcki los, „der weiß alles, der war auf der Insel. Bloß die richtige Spur hat er verfehlt. Nicht umsonst hat er so dreckige Beine.“
„Warst du hier?“, fragte Branco.
Otto nickte. Er traute sich nicht zu lügen. Er war ja vorhin in die sumpfige Wiese hineingeraten, und er glaubte nun auch, dass es an dieser Stelle gewesen sein musste.
„Mist, verdammter!“, sagte Branco. Der Dünne zuckte mit den Schultern. Er ging hinter Mäcki her auf die Wiese hinaus. Branco schleppte Otto mit, so stark der sich dagegenstemmte. „Hilfe!“, schrie er. „Hilfe!“ Branco lachte. „Denkst du, wir fressen dich?“