Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Hauruck ist der Kapitän der erfolgreichen Fußballmannschaft der 7. Klasse von Wummersdorf. Die Mädchen aus der Klasse spielen sehr gut Handball, aber die Patenbrigade hat der Klasse einen sehr teuren Fußball geschenkt. Um den auszuprobieren, schwänzten die Jungen die Musikstunde. Und damit begann das Unglück. Der Klassenlehrer Herr Renner und die Mädchen wollen den Fußball verwahren und entscheiden, wann die Jungen damit trainieren dürfen. Das wollen die Jungen auf keinen Fall zulassen und Hauruck hat eine Idee, wie sie den Ball für immer bekommen können. Es klappt wunderbar, auf der Rückfahrt von einem Spiel im 15 Kilometer entfernten Bollenstädt „verliert“ Hauruck den Ball. Nun gehen die Probleme erst richtig los. Wo sollen die Jungen heimlich mit dem Ball trainieren? Sollen sie zulassen, dass die Brigade und alle Schüler der Klasse den Erlös einer Sonderschicht für den Kauf eines neuen Balles einsetzen? Hauruck hat immer neue Einfälle zur Vertuschung des Balldiebstahls, die zu großen, lobenswerten Projekten führen. Sogar in der Trommel, der Kinderzeitung der DDR, soll er als Vorbild herausgestrichen werden. Wenn nur das schlechte Gewissen nicht wäre … Außerdem hat Hauruck den anderen Jungen geschworen, niemandem von dem Ball zu erzählen. INHALT: Der Graue muss spurlos verschwinden Deine Rechnung geht auf, Hauruck! Es muss einen Ausweg geben Zum Kuckuck, was soll Hauruck bei der Brigade! Drücken ist zwecklos Hier verirrt sich keine Puseratze her Bärbel hat ihren Zorn vergessen Das ist ein großes Rätsel Die Luft erzittert von Geschrei Die Woche fängt gut an! Wer aus der Reihe tanzt, wird ausgeschlossen Wieder ein Pluspunkt mehr Der graue Tag bringt eine Sommerschwalbe Ab morgen macht Eddi blau Ein Truthahn vor einer roten Schürze Lass den Bummler sausen! Keine Bange, ich sterbe nicht! Rache für Feger! Es riecht nach Arzt Mollenkarl hat den Mut Schlimm, dass Unschuldige mitleiden müssen! Schwing dich auf den Feuerstuhl! Sonntagsschicht Eingesperrt wie der Fuchs im Hühnerstall Noch mal gut ausgegangen Hauruck lässt alle Vorsicht fallen Ein abgerissenes Stück Papier Darf er reden? Er steht vor einer verschlossenen Kammer Der große Hauruck wollte er nie sein
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 179
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Hildegard und Siegfried Schumacher
Entscheidung in der Schlangenbucht
ISBN 978-3-95655-223-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 im Kinderbuchverlag, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Mit schnellen Schritten kommt Herr Renner in die Klasse, knallt seine Aktentasche auf den Tisch und stützt sich mit beiden Fäusten darauf. „Was habt ihr euch dabei gedacht?“ — Falsch war es, die Musikstunde bei Herrn Summer zu schwänzen. Das hat Hauruck schon gestern gewusst. Aber die dicke Wolkenhenne brütete ein Gewitter aus. Sie mussten den neuen Fußball ausprobieren, bevor der Regen herabstürzte. Kann Herr Renner das nicht verstehen?
„Denkt ihr, die Brigade hat der Klasse den Ball geschenkt, damit ihr Dummheiten anstellt? Erst zankt ihr euch seinetwegen mit den Mädchen, danach verschwindet ihr heimlich mit ihm.“
Hauruck ärgert sich. Glatter Unsinn ist das! Die Jungen haben nicht gezankt, sondern ihr Recht verteidigt. Was haben schließlich Mädchen mit einem Fußball zu schaffen? Dazu mit diesem: zweiunddreißigteilig, mausegrau. Für vierundsiebzig Mark fünfzig! Papa Wühle hat es extra betont, als er den Ball dem Gruppenrat übergab. Deutlich war zu sehen, es hat ihm nicht gepasst, dass er den Mausegrauen in Mädchenhände legen musste, weil kein Junge im Gruppenrat sitzt. Außerdem: Wer hat für den Ball gesorgt? Er, Hauruck, und sein Freund Feger, der Mittelstürmer der Klassenelf. Sie haben ihre Väter, die in der Baubrigade der Genossenschaft arbeiten, von der Notwendigkeit eines solchen Freundschaftsgeschenks überzeugt.
„Peter Stein!“
Hauruck schiebt das linke Bein in den Seitengang, stemmt seine Handballen auf und drückt sich langsam hoch. Er mustert beharrlich den Fußboden. Immer muss Herr Renner ihn, den Kapitän, fragen. Warum fragt er nicht Feger oder Hechter, den Torwart? Sie gehören auch in den Mannschaftsvorstand.
„Nun?“
„Sag doch einen Ton“, flüstert Bärbel neben ihm. Hauruck schielt seitwärts. Sie dreht an ihren Ponyfransen und nickt ihm zu. Gestern war sie ganz Gruppenratsvorsitzende und tat, als haben die Mädchen mitzubestimmen über den Ball. Heute ist sie wieder vernünftig. Es gibt Hauruck Mut, dass seine Freundschaft mit Bärbel keinen Knacks bekommen hat. „Das ... das in Musik ... war ... war nicht richtig.“
„Ist das alles?“
Krampfhaft überlegt Hauruck, was Herr Renner noch will.
„Entschuldigen“, haucht Bärbel.
Richtig. „Ent... entschuldigen Sie, Herr Renner, bitte!“ So, nun soll er sagen, wie sie die Schwänzerei auslöffeln sollen. Hauruck ist bereit zu löffeln. Wenn es nur nicht so viel wird! Dass ihnen gestern die Zehen nach dem Mausegrauen gejuckt haben, müsste ein Fußballer wie ihr Klassenlehrer doch begreifen. Rackert er nicht selbst Sonntag für Sonntag im Wummersdorfer Traktor mit?
„Entschuldigen müsst ihr euch bei Herrn Summer.“
Hauruck nickt.
„Und dann?“
„Wir ... wir holen die Stunde nach.“
„In Ordnung. Weiter.“
Weiter? Genügt das nicht? Hauruck guckt Bärbel an. Auch sie weiß keinen Rat.
„Ich glaube, wir müssen mit dem Ball etwas verändern.“
Hauruck wird misstrauisch. Was hat Herr Renner vor? Wie von einer Schnur gezogen, heben alle Jungen ihren Blick.
„Vielleicht schwänzt ihr deshalb morgen wieder oder übermorgen oder ...“
„Bestimmt nicht! Nein, nein, bestimmt nicht! Nie wieder!“, ruft Hauruck schnell.
„Das sagst du so einfach! Wenn es brennt, verspricht man leicht, was gewünscht wird. Erst musst du, müssen alle Jungen beweisen, dass ihr es ehrlich meint. Die Mädchen durften den Klassenball gestern nicht einmal anfassen. Ich bin dafür, dass sie ihn bis auf Weiteres kontrollieren, auch eurer Hausaufgaben wegen.“
Hauruck brennt das Gesicht. „Herr Renner, lassen Sie uns den Ball, bitte! Sie werden sehen, wir halten mein Wort.“
Petra meldet sich. Hauruck kennt seine Schwester. Sicher ist sie für Herrn Renners Vorschlag. „Du“, schreit er los, „misch dich nicht ein! In Fußballfragen seid ihr Mädchen völlig Luft! Der Ball gehört uns! Verstanden?“ Die Jungen nicken. Hauruck reckt sich, die Mannschaft steht zu ihm.
Bärbel springt auf. „Luft sollen wir sein? Wenn es so ist, Herr Renner, dann bin ich für Ihren Vorschlag!“
Hauruck starrt sie an. Tiefschlag! Nie hätte er das von ihr erwartet. Er beißt sich auf die Lippen. Wie durch Watte dringt Häschens hohe Stimme an sein Ohr: „Ich stelle den Antrag, dass Sie den Ball verwalten, Herr Renner. Die Jungen luchsen ihn uns doch gleich ab.“
„Stimm ab, Bärbel!“, ruft Petra. „Wer dafür ist, steht auf.“
Bärbel, Petra und Häschen, das ist der Gruppenrat. Sie haben sich gegen die Jungen verschworen, reißen die anderen Mädchen mit, natürlich. Da stehen sie: dreizehn Stück, die Mehrheit. Was können die Jungen dafür, dass sie nur zwölf sind? Aber sie sind einstimmig dagegen, keiner steht. Sie halten zusammen, eisenfest wie ...
„... zwölf, dreizehn, vierzehn“, zählt Bärbel.
Vierzehn? Einmal lässt Hauruck den Blick über der Klasse kreisen, sucht den Verräter. Erschrocken fällt Hauruck auf seinen Platz, schreit: „Ich bin dagegen!“
„Trotzdem dreizehn.“
„Die Mehrheit!“
Das weiß er allein. Petra braucht gar nicht so unverschämt zu lachen. Der Zorn treibt ihm das Wasser in die Augen. Will Herr Renner nicht für Ordnung sorgen? Aber nein, er bleibt stumm wie ein Fisch. Dem passt das, der freut sich noch darüber! Hauruck reicht es. Er dröhnt seine Faust auf den Tisch. „Wir machen da nicht mit!“
„Jungen gegen Mädchen: eins zu eins!“, ruft Feger laut, dreht sich um und gibt Hauruck die Hand.
„Nein, dreizehn zu zwölf“, verbessert Bärbel.
„Schluss mit dem Streit! Ich bin dafür, der Gruppenrat entscheidet.“
„Schiebung! Lauter Mädchen“, beknurrt Hechter Herrn Renners Vorschlag.
„Schiebung? Ihr selbst habt die Mädchen gewählt.“
Leider! Aber wer hat damals geahnt, dass sich der Gruppenrat einmal in Fußballfragen mischen würde. Hauruck nickt, als Feger ihm zuflüstert: „Bald sind Neuwahlen.“ Der versteht ihn. Sie werden einen Posten übernehmen und in Zukunft solchen Pannen vorbeugen. Bärbel soll sich nicht einbilden, dass sie ihren Dickkopf durchsetzen kann. Hauruck rückt an das äußerste Ende seines Platzes, recht weit ab von ihr. Nie mehr guckt er sie an, nicht mit einem halben Auge! Sie passt genau auf, wie Herr Renner an der Tafel mit relativen Zahlen jongliert. Hauruck interessiert sich heute nicht für Mathe. Er überdenkt die Lage. Gut, sie entschuldigen sich bei Herrn Summer, holen die Stunde nach, ohne das Gesicht zu verziehen, den Ball ...
Feger schiebt einen Zettel nach hinten. Hauruck birgt ihn in der Handhöhle, entfaltet ihn und liest: „Wir geben den Ball nicht her! Alle Jungen haben unterschrieben, auch Mätzchen, der Ersatzspieler.“
„In Ordnung!“, kritzelt Hauruck und steckt den Zettel Feger wieder zu.
Zum Nachmittag wird er die Mannschaft in die Schlangenbucht bestellen. Dort, an ihrem geheimen Beratungsort, sind sie abgeschirmt gegen fremde Ohren. Hauruck grübelt sich einen Plan zurecht und verteilt im Kopf schon die Rollen. Morgen fahren sie nach Bollerstädt. Die Jungen spielen Fußball, die Mädchen Handball. Auf dieser Fahrt wird der Graue verschwinden, spurlos!
Hauruck hockt auf der Schulhofmauer und lutscht an einem Pflaumenstein. Sein Blick schweift über die Jungen neben ihm bis zu den Mädchen, die unter der dicken Kastanie laut und wortreich Ratschläge für das Spiel in Bollerstädt austauschen. Er bleibt an den weißen Sommerfäden hängen, nimmt ihr Tanzen in der warmen Herbstsonne wahr.
Gestern haben sie ihren Beschluss gefasst, abseits im grünen Unterschlupf. Nur die Jungen und die Schlangenbucht kennen den Plan, der gleich anlaufen wird. Werden die Mädchen, wird Herr Renner sich überlisten lassen? Die Mannschaft sich nicht verraten? Überlisten ...
Hauruck spuckt den Pflaumenkern aus.
Die Geräusche auf dem Schulhof kehren an sein Ohr zurück.
„Denen ist ein mächtiger Schreck in die Hosen gefahren!“ Häschen überschreit alle Mädchen. Schnattergänse! Keinen Ton sagt Bärbel dagegen. Hauruck rutscht von der Mauer und dreht ihnen den Rücken zu.
Da kurvt Herr Renner durch das Hoftor. Hauruck greift nach seinem Rad und schiebt es zur Kastanie.
„Alle hier? Aufstellen, du fährst als erster wie immer!“ Hauruck schwingt sich in den Sattel und tritt an. Im Fahren werden sie sich hinter ihm einordnen: Feger, Hechter, Werner ... als letzter Junge Mätzchen, dann die Mädchen und Herr Renner. Links — rechts, links — rechts, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Das Ortsausgangsschild gleitet vorüber: Bollerstädt 15 km. Kaum hat er das gelbe Schild im Rücken, zieht Feger an ihm vorbei. „Zurück“, zischt Hauruck, „willst du unsern Plan verderben?“ Feger bremst, verschwindet. Vorsichtig schaut sich Hauruck um. Herr Renner hat nichts bemerkt. Auf keinen Fall dürfen sie auf der geraden Strecke zwischen Dorf und Wald beginnen! Reißt die Kette aber bei der Steigung am Backenberg, verliert Herr Renner die Übersicht. Dann die Abfahrt, ins Kurvenlabyrinth hinein und weg! Weg ... Hauruck zuckt es in den Waden, einen Zahn zuzulegen. Aber er ist der Kapitän, er beherrscht sich, rollt gleichmäßig im Schatten der Chausseebäume dahin. Links — rechts, links — rechts, vorbei an umgeschälten Getreideschlägen. Am Kartoffelmeer knabbert eine Vollerntemaschine. Traktoren schleppen hoch beladene Hängerwagen dorfwärts. Eine gute Ernte trägt das Jahr. Endlich! Der Harzgeruch des Kiefernwaldes steigt Hauruck in die Nase. Wie von selbst bewegen sich seine Beine flinker. Ungeduld treibt ihn. Er stampft bergan, blickt sich um. Jetzt hat der Wald die Schlange geschluckt. Hauruck steigt aus dem Sattel, wiegt sich schneller den Berg hinauf. Eins — zwei, eins — zwei ... Hier fällt es nicht auf. Jeder ist froh, wenn er oben ist. Noch hundert Meter! Schweißtropfen brennen in den Augenschlitzen. Hauruck nimmt keine Hand vom Lenker, wischt nur mit der Stirn an der Schulter vorbei. Gleich hat er es geschafft. Noch einmal sieht er zurück. Mätzchen hat die Kolonne zerreißen lassen wie verabredet. Freiwillig bot er sich an, Notbremse zu spielen, weil niemand zurückbleiben wollte. Zwischen ihm und seinem Vordermann gähnt ein Loch. Kein großes, gute zwanzig Meter. Das reicht. Bergab wächst der Abstand im Handumdrehen. Wenn Mätzchen weiter so bremst, geht alles in Ordnung.
Auf der Kuppe steht das rot geränderte weiße Dreieck mit dem schwarzen Z. Auf 8 km kurvenreiche Strecke. Feger schießt an Hauruck vorbei. „Mir nach!“, schreit er. Hechter überholt.
Schrillt da Herrn Renners Trillerpfeife? Ach was! Hauruck lässt sein Rad abfletschen wie einen Schleuderstein, jagt Feger und Hechter nach. Vorsicht, Rechtskurve! Nicht zu stark schneiden. Durch. Für einen Augenblick sieht er Feger und Hechter. Sie tauchen in die scharfe Biege vor ihm. Hauruck versucht aufzuholen. Ein Auto! Blitzschnell reißt er den Lenker zur Seite, schleudert durch losen Sand, hält mit aller Gewalt das Rad. Werner und Hanne rasen vorbei.
Hauruck presst die Lippen zusammen. Er darf sich nicht abhängen lassen, er, der Kapitän! Treten — Kurve, treten — Kurve. Wie ein Wilder prescht er den Berg hinunter. Vor ihm Werner und Hanne. Ran und vorbei!
Der nächste Knick. Haurucks Beine wirbeln. Kurve. Da sind sie! Er schiebt sich an Feger und Hechter heran, gewinnt mehr und mehr an Boden, ist auf gleicher Höhe, lässt sie hinter sich. Hauruck weiß, er darf nicht langsamer werden, und wenn seine Lunge noch so pfeift. Herr Renner darf sie nicht einkriegen! Die Autobahnbrücke. Der Wald ist zu Ende. Zwei Kilometer bis Bollerstädt. Treten — treten.
Nass wie eine Katze steigt Hauruck vom Rad. Seine Knie zittern. Er lässt sich in den Schatten der Haselnusshecke fallen. Seine Freunde sind ebenso abgejachtert. Sie liegen noch im Gras, als die anderen auf dem Sportplatz anlangen.
Herr Renner ist ganz ruhig. Zu ruhig! Wie er das Rad hinstellt, die beiden Klemmer von den Hosenbeinen zieht und in die Tasche steckt! Nichts deutet auf den Ärger hin. der in ihm gären müsste. Dann setzt er sich zu ihnen. „Ich will es kurz machen. Peter, du hättest die Jagd verhindern können. Du hast es nicht getan. Für das heutige Spiel bist du gesperrt.“
Hauruck schluckt. Gesperrt! Seine Freunde springen auf, er bleibt wie angenagelt sitzen. Gesperrt ... Das war in den Plan nicht einberechnet.
„Herr Renner, ich, wir ... Hauruck hat keine Schuld, tatsächlich nicht. Ich bin ausgerissen ... ich ...“, stottert Feger.
Herr Renner blickt über ihn hinweg. „Eigentlich müsste ich euch alle sperren, aber die Bollerstädter freuen sich auf das Spiel. Los, Mätzchen, zieh dich um!“
Der Ersatzspieler guckt von Herrn Renner zu Hauruck und von Hauruck zu Herrn Renner. „Lassen Sie Hauruck spielen, bitte! Es war meine Schuld. Ich ... ich habe auf dem Berg schlappgemacht.“
„Lasst die Ausreden!“, sagte Herr Renner. „Es bleibt dabei! Und nachher fahre ich vorn, die Jungen hinten. Also umgekehrte Ordnung.“ Er geht auf den Bollerstädter Lehrer zu.
Feger boxt Hauruck in die Seite, flüstert: „Du, deine Rechnung geht auf.“
Hauruck hört die Anerkennung. Sein Plan läuft, gewiss. Auf dem Rückweg wird er mit Feger unbeobachtet als letzter fahren, gedeckt von der Mannschaft. Aber das Spielverbot! Doch ist das der Graue nicht wert? „Beim nächsten Spiel bin ich wieder dabei. Bis dahin ist der Ball unser“, sagt Hauruck und steht auf. Er klopft Mätzchen auf den Rücken. „Dolle Leistung, dein Bremsen! Hast dir das Spielen verdient.“
Mätzchen strahlt.
Ansteckend wirkt das. Die Gesichter hellen sich auf. Als Kapitän muss Hauruck seine Mannschaft ermutigen. Ihm ist angst, wenn er sie ansieht. Die Raserei hat sie genauso mitgenommen wie ihn. Er darf gar nicht an nachher denken! Das Handballspiel der Mädchen dagegen rollt. Sie haben sich auf der Fahrt nicht abgehetzt. Seine Freunde aber liegen ausgestreckt im Gras oder hocken mit müdem Rücken am Spielfeldrand. Ihre Torrufe klingen dünn. Hauruck spürt auch wenig Kraft in der Kehle. Die Mädchen brauchen das Anfeuern nicht. Sie gewinnen haushoch 9:2. Dann fangen die Jungen an. Hauruck ist immer auf Ballhöhe, schreit Anweisungen aufs Feld. Doch Hechter bleibt der beschäftigtste Spieler. Schon zum zweiten Male zappelt der Ball im Netz.
Bärbel kommt angerannt. Hauruck dreht sich weg. Kein halbes Auge! Sie ist ihm in den Rücken gefallen. Ihre Schritte ... Sie übertönen für ihn den Spiellärm. „Entschuldige dich bei Herrn Renner!“
Nein, er guckt sie nicht an, redet nicht mit ihr!
„Frage, ob du mitspielen darfst. Los! Ist es dir gleich, wenn wir verlieren?“
„Ihr ... ihr habt doch gewonnen“, stößt er hervor. „Und bei uns ... Freut’s dich nicht?“
„Such keinen neuen Zank, du!“
„Ich?“
„Komm schon!“
Sie zieht ihn in Herrn Renners Richtung. Allein wäre er nie gegangen. Doch es ist nötig. Werner und Kutti stecken auf.
Bärbel zupft Herrn Renner am Ärmel. „Hauruck will sich entschuldigen“, sagt sie hastig. „Bitte, lassen Sie ihn spielen!“
Haurucks Hand ist feucht. Er wischt sie erst an der Hose ab, bevor er sie seinem Lehrer hinstreckt. „Es soll nicht wieder vorkommen, bestimmt nicht!“
„In Ordnung!“
Herr Renner nimmt Haurucks Hand.
„Darf er?“
„Nein, er darf nicht.“
Hauruck senkt den Kopf. Gleich darauf zuckt er zusammen. Zum dritten Male bauscht sich das Tornetz. Er ist für den Plan verantwortlich. Die Niederlage kommt auf sein Konto.
Wieder stürmen die Bollerstädter. Selbst die Verteidiger wollen sich am Schützenfest beteiligen. Da fliegt ein verirrter Ball über die Mittellinie. Mätzchen stürzt hinterher. Einen winzigen Moment zögern die Bollerstädter. Das genügt. Mätzchen entwischt. Der Bollerstädter Torwart rennt der Gefahr entgegen. Mätzchen stolpert, tritt den Ball und fällt dem Torhüter in die ausgebreiteten Arme. Der Graue trudelt ... Wenige Zentimeter hinter der Torlinie bleibt er liegen, prall und rund. Tor! Wummersdorf jubelt, Bollerstädt protestiert. Der Schiedsrichter zeigt: Anstoß. Wütend wuchtet ein Verteidiger den Ball zur Mitte.
Als die zweite Halbzeit angetrillert wird, ist der Bann gebrochen. In den Schlussminuten schießt Feger sogar das zweite Tor. Hauruck ist mit dem 3:2 zufrieden. Wenigstens die Ehre haben sie gerettet.
Nun startet der letzte, der entscheidende Teil des Plans. Hauruck klopft das Herz. Er lässt den Grauen in den Campingsack rutschen.
„Soll ich ihn nehmen?“, fragt Feger. „Du hast schon genug abgekriegt!“ Er deutet heimlich auf Herrn Renner.
„Nein!“, sagt Hauruck und bindet eine feste Doppelschleife. Er will sich nicht vor der Verantwortung drücken. Den Beutel knippert er so auf dem Gepäckständer fest, dass er hin und her schlingert. Dann fährt er ein paarmal auf der Aschenbahn an den Mädchen vorbei, die mit dem Umziehen noch nicht fertig sind.
„Verlier nicht deinen Campingbeutel!“, ruft Petra. Hauruck bremst und stellt sein Rad achtlos zu den andern. Der Zweck ist erreicht. Wenn nun der Campingsack verloren geht, wird seine Schwester sich erinnern und schimpfen.
Links — rechts, links — rechts. Gleichmäßig drehen sich die Räder. Hier und da lässt die Sonne Speichenbündel silbern aufblitzen. Jetzt fährt Herr Renner als erster, dann die Mädchen, die Jungen und ganz zum Schluss Hauruck, wie er es geplant hat. Vor ihm strampelt Feger. Wieder windet sich die Riesenschlange durch den Wald. Noch zwei Kurven. Zu beiden Seiten der Chaussee breitet sich eine Lichtung aus. Wo sie fast zu Ende ist, wuchert dichtes Gestrüpp am Straßenrand. Hauruck sieht die letzten Mädchen in der Biegung verschwinden. „Aufpassen, Feger, fahr langsamer!“
Sofort entsteht eine Lücke zu Hechter hin. „Beeilt euch!“, ruft der noch halblaut über die Schulter zurück.
Feger und Hauruck springen ab, zerren die Campingbeutel von den Gepäckständern, lassen die Räder in den Chausseegraben kippen und verbergen sich hastig hinter dem Hagebuttengewirr.
„Was ist das?“, fragt Hauruck, als aus Fegers Sack ein dickes Heubündel hervorquillt.
„Tarnung.“ Feger schüttelt, damit die letzten Halme herausfliegen. „Denkst du, es fällt nicht auf, wenn mein Campingbeutel plötzlich anschwillt wie eine Liesenwurst?“
Hauruck stochert mit einem dünnen Ästchen am Patentverschluss. Die Luft zischt heraus. Eilig wickelt er den schlappen Grauen in sein sauberes Jersey. Feger stopft ihn und Haurucks Beutel in seinen eigenen, schnürt zu und schnallt ihn auf sein Rad.
„Geschafft!“ Hauruck wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Los, hinterher!“ Sie müssen die verlorene Zeit herausfahren, ehe Herr Renner und die anderen bergab sausen. Wenn vorn etwas schiefgegangen, ihr Fehlen entdeckt worden ist! Hauruck klebt das Hemd am Leibe. Sein Herz pocht zum Zerspringen. Er stampft den Berg hinauf, höher, immer höher. Feger hechelt neben ihm. Lärm. Endlich! Eins — zwei, eins — zwei, hart und kräftig. Die letzte Kurve vor der Abfahrt. Hauruck sieht Hechter gerade abwärts tauchen. Gleich darauf hängt er mit Feger wieder an der Kolonne wie zwei Glieder an einer Kette.
Das Herzklopfen will und will nicht aufhören. Hauruck bemüht sich, tief durchzuatmen. Seine Unruhe darf ihn nachher nicht verraten. Noch einmal überlegt er, wie er sich anstellen soll.
„Wummersdorf“ steht schwarz auf gelbem Grund. An der Schule löst Herr Renner immer die Fahrerschlange auf. Schon sieht Hauruck das Backsteinrot durch die Kastanien leuchten. Nicht aufregen, harmlos tun. Erzählen, irgendetwas erzählen. „Das sag ich dir“, schreit er für Feger so unvermutet los, dass der beinahe vom Sattel gerutscht wäre, „beim Rückspiel! Zehn Schoten hauen wir den Bollerstädtern an, die decken wir ein!“
„Zusammenkommen!“, ruft Herr Renner.
Nun wird er nach dem Ball fragen. Am liebsten würde Hauruck verschwinden, aber er darf nicht kneifen. Er lehnt sein Rad gegen die Mauer und drängt sich zwischen Feger und Hechter.
„Der Ball“, erinnert Häschen.
„Ja richtig“, sagt Herr Renner. „Hauruck, hol ihn her!“ Hauruck dreht sich um, geht zu seinem Fahrrad. Der Mund ist ihm staubtrocken, die Beine sind schwer wie Raupenketten. Stumm steht er vor seinem Rad, starrt auf den Gepäckständer.
„Der Campingsack!“, schreit Feger. „Wo ist dein Campingsack?“
Hauruck bringt keinen Ton heraus.
„Der Campingsack! Der Campingsack!“ Feger schreit den Mädchen den Schreck in die Glieder. Die Jungen schweigen. Es ist am besten, wenn sie keinen Ton sagen, entsetzt tun und stumm sind wie ihr Kapitän.
„Sei still!“, fährt Herr Renner Feger an. „Dein Campingbeutel ist fort, Hauruck?“
Er nickt.
„Jetzt hast du es erst gemerkt?“
Er nickt.
„Der Ball?“
Und wieder nickt Hauruck.
„Warum hast du nicht auf Petra gehört?“, fragt Bärbel leise.
„Jawohl!“, schreit Petra los. „Du hattest keine Ohren dafür! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst den Beutel richtig festbinden?“
„Wir müssen suchen“, entscheidet Herr Renner. „Alle Jungen kommen mit!“
„Wir auch“, sagt Bärbel.
Hauruck klettert mit steifen Beinen auf sein Rad. Weder Herr Renner noch die Mädchen schöpfen Verdacht. Der Ball ist gerettet, jawohl! Der Plan ist goldrichtig. Sie werden sich doch nicht einfach den Grauen wegnehmen lassen, auch nicht von Herrn Renner! Aber erfahren darf er es nie. Wenn das Bärbel wüsste! Ach was, der Graue ist gerettet, und das ist die Hauptsache.
Der neue Tag schickt grau den Morgen auf die Reise. Hauruck kneift die Augen zusammen und peilt auf den Wecker. Noch nicht sechs. Petra schläft murmelfest. Er hat sich die ganze Nacht hin und her gewälzt: die viele Aufregung um den Grauen. Schwer haben sie ihn verdient. Richtig verdient? Hauruck wirft sich auf die andere Seite. Aber dass er ein echter Kapitän ist, hat er bewiesen. Heute Nachmittag jagen sie hinter dem Grauen her. Heute treffen sie sich, spätestens um drei auf dem Sportplatz.
Sportplatz ... Steil richtet sich Hauruck auf. Mit dem Ball auf den Sportplatz? Und wenn sie gesehen, gefragt werden? Dann können sie ihr Geheimnis auch gleich an die Wandzeitung schreiben! Nein, der Sportplatz ist für sie Sperrgebiet. Hauruck lässt sich auf das Kissen zurückfallen. Ein Ball und kein Platz! Gestern hat ihn die Mannschaft bewundert. Heute werden alle schreien: Ein schöner Kapitän, ein glatter Versager bist du! Sucht euch einen andern, wird er sagen. Oder ... oder ... Es muss doch einen Ausweg geben! Immer gibt es einen Ausweg.
Mit Feger wird er beraten. Noch vor der Schule. Sie wohnen ja in einem Haus, auf demselben Flur. Feger? Der hat Spielhemd, Hose und — den Campingbeutel mit dem Grauen. Wenn Feger nun klingelt, Petra aufmacht, und er hält den verlorenen Campingsack in der Hand? Dann ist alles aus.
Mit einem Satz springt Hauruck aus dem Bett, reißt sich die Schlafanzugjacke ab, die Hose, zieht sich an, lauscht. Vaters Rasierer surrt. In der Küche rauscht der Wasserhahn. Mutter stellt das Kaffeewasser auf. Hauruck setzt sich hin, schließt die Augen. Nur nicht kopflos handeln, überlegen, gut überlegen! Wenn er aus dem Fenster springt, zu Feger schleicht? Oder er schlendert ganz einfach über den Korridor, sagt zur Mutter, er wolle die Kaninchen füttern? Unsinn! Wann füttert er sonst morgens? Halt! Er nimmt den Wecker und dreht den Zeiger eine Stunde vor. Dann rüttelt er Petra. „Aufstehen, sieben durch!“ Sie gähnt und reckt sich, klettert aus dem Bett und zieht ab ins Badezimmer. „Was ist denn mit dir los?“, fragt die Mutter, als er in der Küche auftaucht.
„Mit mir?“
„Du stehst doch sonst nicht so früh auf. Es ist noch nicht halb sieben.“
„So?“ Er tut erstaunt. „Aber Petra wäscht sich schon.“
Und indem er sich zur Tür verdrückt, sagt er rasch: „Dann werd ich mal das Viehzeug versorgen.“
Fix stopft er den Stallhasen Grünfutter in die Buchten und schummelt sich um das Haus. Wühles Schlafzimmerfenster ist zu, aber Fegers steht offen. Das ist günstig. Hauruck pfeift. Nichts rührt sich. Lauter. Endlich hört er Feger knurren. Füße tappen. Die Gardine wird beiseite gewedelt.
„Unerhört wichtig! Komm in unsern Stall, bring gleich meine Sachen mit, aber vorsichtig!“
„Jaja!“ Feger gähnt kräftig, reibt sich die Augen und verschwindet.
Inzwischen öffnet Hauruck die Hühnerluke. Flügelschlagend stürzt sich das Gakelvolk auf die Gerstenkörner im Drahtzwinger, den sein Vater und Papa Wühle als Schutz vor dem rotpelzigen Räuber gemeinsam gebaut haben. Als Hauruck wieder um die Stallecke biegt, trottet Feger quer über den Hof. Den Campingsack schlenkert er sorglos hin und her.
„Du Schlafmütze! Den hab ich doch verloren.“ Und hastig schubst Hauruck seinen Freund in den Stall. „Wenn das einer gesehen hätte!“