Sommerinsel - Hildegard Schumacher - E-Book

Sommerinsel E-Book

Hildegard Schumacher

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Beschreibung

Stephan und Fine müssen sich auf zweierlei vorbereiten: auf ihr Abitur und auf ihr Kind. Sie haben ein schweres Jahr durchzustehen, und es geht nicht ohne familiäre und schulische Konflikte, nicht ohne Spannungen und Zerwürfnisse vorüber. Aber Stephan und Fine verteidigen ihre Liebe, wahren ihre Rechte, lassen sich nicht von Erwachsenen verwalten und beißen sich durch. Auch haben sie natürliche Verbündete: den Klassenlehrer, die Klasse und Leute, von denen sie Verständnis gar nicht erwartet haben. Ganz abgesehen von der sexuellen und schulischen Bedeutung der Worte, bestehen Stephan und Fine in diesem klaren und kritischen Buch eine Reifeprüfung, bei der sie allerdings auch hätten durchfallen können. Ist Stephan leichtfertig und Fine unmoralisch? Haben die Eltern recht, wenn sie den jungen Leuten nichts zutrauen? Liebe fordert Bewährung, und Fine und Stephan bestehen die Probe. Sie möchten keinen Tag des Jahres in Ellerstädt streichen.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Abend

Erstes Erinnern

I

II

III

IV

V

VI

Nacht

Zweites Erinnern

VII

VIII

IX

X

Morgen

Drittes Erinnern

XI

XII

XIII

XIV

Tag

Hildegard und Siegfried Schumacher

E-Books von Hildegard und Siegfried Schumacher

Impressum

Hildegard und Siegfried Schumacher

Sommerinsel

ISBN 978-3-96521-007-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1971 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2020 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Abend

Sechs Schritte hin und sechs Schritte her, von der Tür zum Fenster und vom Fenster zur Tür. Hin und her auf dem Läufer, über Grün und Schwarz. Sonderbar: ein Läufer, dabei liegt er. Aber ich bin nicht liegengeblieben oder – wie man so sagt – auf der Strecke geblieben. Ich nicht und Fine nicht. Nur jetzt und hier kommt nach sechs Schritten die Wendung um einhundertachtzig Grad. Ich mache vor keinem Hindernis kehrt. Vater muss das begreifen. Nicht nur er. Fine braucht mich.

Wieder sechs Schritte vom Fenster zur Tür. Ich könnte sie aufstoßen, fortgehen auf die Straße. Durch die Nacht könnte ich marschieren, über Chausseen, durch Städte und Dörfer, nach Berlin. Das wäre Flucht, ein Triumph für Vater. Das hieße Kehrtmachen. Mein Weg führt geradeaus. Darum wieder die Wendung um einhundertachtzig Grad, die sechs Schritte hin und her, über Grün und Schwarz.

Schwarz. Schwarz ist der Tod. Manche Frauen sollen sterben dabei. Unsinn, wir leben nicht im Mittelalter. Semmelweis, Retter der Mütter, Doktor der Hoffnung. Grün. Grün ist die Farbe der Hoffnung. Grün war das Wasser in unserm See. Sonnengrün, klar und still, eine tiefe Atempause zwischen zwei Abschnitten unseres Lebens. Fine, unsere Farbe ist Grün.

Nutzlos ist das Laufen. Es verändert nichts. An den Tisch da könnt ich mich setzen, eine Zigarette rauchen, mein Nichtraucherdasein durchbrechen. Zehn Pfennig, blauer Rauch, wieder zehn Pfennig und wieder blauer Rauch. Meine sechs Schritte sind billiger, die kann ich mir leisten.

Auch in Dorette Brunn steckt die Unruhe. Jeder Mutter wird das so gehen. Nun hockt sie allein im Wohnzimmer und belauert das Telefon. Oder sie läuft jetzt auch hin und her. Solange ich bei ihr war, wollte sie ihre Unruhe verstecken. Sie floh in die Arbeit. Auf dem Schreibtisch lag unser Aufsatz, der letzte Aufsatzder 12 a. Die Flucht misslang, Dorette Brunn kam nicht von der Stelle, auf das Papier starrte sie nur. Was soll ich da erst in die Arbeit fliehen? Mathe? Physik? Nein, heute nicht. Ich laufe, ich bin allein, ich brauche niemand Ruhe vorzutäuschen.

Vorhin im Wohnzimmer bin ich auch gelaufen. Das hat Dorette Brunn noch mehr nervös gemacht. Vielleicht, weil sie es auf dem Stuhl nicht mehr aushielt. Vielleicht hätte sie am liebsten angerufen und nach Fine gefragt. Ich störte. Sie wollte die Unruhe nicht mit mir teilen.

Warum findet sie kein Wort für mich? Wir müssen reden über das Morgen und das Übermorgen. Bald liegt das Abi hinter mir. Und dann? Was dann?

Der Studienplatz ist mir sicher. Kann ich ihn jetzt überhaupt annehmen? Leichtfertig werf‘ ich den Platz nicht hin. Aber muss ich nicht Geld verdienen? Ich geh auf den Bau, später Fernstudium. Wäre das nicht der beste Weg? Ich will für Fine und das Kind einstehen. Vater wirft mir vor, dass ich verantwortungslos handle. Ich bin hier, weil ich für Verantwortung bin. Ja, weil ich für Verantwortung bin! Über meinen Kopf hinweg lass ich nicht über mich bestimmen. Ich bin achtzehn, fast neunzehn. Mündig, verantwortlich für mein Tun, ein vollwertiger Staatsbürger. Studium? Es sieht alles anders aus als vor einem Jahr. Fine soll studieren. Ich habe doch nichts dagegen, ich bin dafür. Weicht Dorette Brunn darum einem Gespräch aus? Sagte sie darum nur: Gehen Sie schlafen, Stephan.

„Sie“ sagte sie zu mir. Immer wieder dieses Sie. Gern würde ich sie Dorette nennen, wie Fine zu ihr sagt, oder Mutter meinetwegen. Doch es bleibt bei Frau Brunn. Die ganzen sechs Monate, die ich in ihrer Wohnung lebe: Frau Brunn. Wäre es heute nicht an der Zeit, die Konvention über Bord zu schmeißen? Wenn wir in der Klinik stehen und die Schwester das Kind hochhält, soll ich dann sagen: Ihr Enkel, Frau Brunn?

Ja, ich kann sie verstehen. Das zwischen Fine und mir war ein Tiefschlag für sie. Kein Tiefschlag, ein Tief, eine breite Schlechtwetterfront, und Dorette Brunn sieht es noch nicht ab, wann das Sonnenwetter, das Hoch, die Lage bestimmt wird. Gehen Sie schlafen, hat sie zu mir gesagt und mich ins Bett schicken wollen wie einen kleinen Jungen. Nein, wie einen Fremden. Ein Fremder bin ich für sie, obwohl sie mich aufgenommen und uns verteidigt hat. Und das hat sie etwas gekostet in Ellerstädt, wo Augen und Ohren die feinsten Sinne sind, Antennen der Neugier. Aber ich, ich bin Dorette Brunn noch immer ein Fremder. Und Fine ist fort.

Wie kalt das Fensterglas ist. Ich sehe hinaus, hinaus in die Nacht. Eine einsame Laterne. Schwarz fast alle Fenster. Was geschieht hinter denen, die noch hell sind? Vielleicht sitzt da auch eine sorgenvoll. Oder es rennt einer auf und ab. Oder es lieben sich zwei.

Fine, auch du liegst hinter einem hellen Fenster, fremd in diesem Licht und in der Welt der Weißbekittelten, im Geruch medizinischer Reinheit. Du wirst keine Zeit haben, dich fremd zu fühlen. All deinen Mut und deine Kraft wirst du brauchen, wenn unser Kind geboren wird. Du bist allein. Ich kann deine Hand nicht nehmen, um dir zu zeigen, dass du nicht allein bist. Am Fenster stehe ich und starre in die Nacht. Die Sterne scheinen nicht, der Mond ist fort. Nicht, weil wir ihn ausgesperrt haben wie damals am See auf unserer Sommerinsel. Es ist eine Nacht ohne Mond. Aber du wirst an mich denken, Fine.

Als der Krankenwagen vorm Haus hielt, hab ich gesagt: Sei tapfer. Du auch, hat sie geantwortet. Sie wollte lächeln, es ging nicht.

Nein, sie wird nicht an mich denken können. Sie muss sich konzentrieren, den auf- und abwellenden Schmerzen ihren Willen entgegensetzen. Ihren Körper und ihren Atem wird sie beherrschen, sie hat es trainiert. Schmerzarme Geburt. Aber doch Schmerzen, wenn sich das Kind von der Mutter löst.

Endlos die Zeit. Alle Geräusche klingen laut in der Nacht. Alte Leute sollen nicht schlafen können, weil sie den Holzwurm ticken hören. Die Totenuhr, so sagen sie. Unablässig tickt er die Zeit weg, die sie vom Grab trennt. Sie haben Angst. Vielleicht, weil sie ihr Leben nicht richtig gelebt haben. Fine und ich, wir sind ohne Furcht. Ich horche in die Nacht und warte auf einen Schrei, einen Kinderschrei.

Hinter meinem Rücken der Lichtfleck. Durch das Mattglas der Wohnzimmertür fällt er auf den Flur, dringt bis zu mir ins Zimmer. Und diese Stille. Dorette Brunn läuft nicht auf und ab. Noch immer wird sie am Schreibtisch sitzen, und vielleicht denkt sie zurück. Vor einem Jahr war ihr Fine eine sehr gute Tochter, nur ihre Tochter, nicht mehr. Ein Jahr ist eine kurze Spanne Zeit. Aber diese Spanne kann ein Leben verändern. Von Berlin kam ich nach Ellerstädt. Das Leben ist bloß ein Rummel, mir kann keiner was vormachen, so etwa dachte ich. Ellerstädt, dieses Kaff, nehmen wir es als Durchgangsstation für Familie Wege, Sohn eingeschlossen. Aus der Durchgangsstation wurde ein Knotenpunkt.

Viel Wasser ist in dieser Zeit den Fluss hinuntergeflossen. Viele Schiffe hat es zum Meer getragen. Sie brauchen sich nicht mit dem Fluss treiben zu lassen, fortspülen zu lassen wie Schwemmholz. Sie haben Steuer und Ruder, und stromauf fahren sie aus eigener Kraft. Ich bin mit Fine auch stromauf geschwommen.

Als das Auto kam, wollte ich mitfahren zur Klinik. Lassen Sie es, Sie machen es Fine nicht leichter, sagte Dorette Brunn. Ich müsste anrufen, aber sie würde mir den Hörer aus der Hand nehmen und sagen: Es hat noch keinen Sinn.

Sechs Schritte hin und sechs Schritte her, vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster. Hinter mir schimmert der Lichtfleck. Zwei Menschen wachen, jeder allein in seiner Unruhe. Dorette Brunn hätte jetzt mit mir reden müssen.

Wenn ich die Augen zumache, sehe ich den Lichtfleck nicht mehr. Ich kann an Fine denken. Hier in diesem Zimmer bin ich kein Fremder. Wenn ich Vater nachgegeben hätte, säße ich in Berlin an meiner alten Schule, wie er es wollte, warm und trocken und mit Familienanschluss untergebracht. Materiell würde ich dann keine Sorgen haben, ich hatte sie bei Vater nie. Es würde mir an nichts fehlen. Nur Fine würde mir fehlen. Ich wäre ein Schuft, hätte ich Vaters Angebot angenommen. Ich lass mich nicht an eine Geldscheinkette legen.

Nein, in diesem Zimmer bin ich kein Fremder, ich bin zu Gast bei Fine, sechs Monate schon. Und ein Vierteljahr davor hatte ich sie eingeladen zum Eisbecher. Es war Sommer, heißer Sommer.

Erstes Erinnern

I

Während des Praktikums floss viel Schweiß. Sie mischten Mörtel, pendelten Betonfertigteile ein, setzten sie aufeinander. Und tagein, tagaus brannte die Sonne. Die Luft flimmerte. Hitze und Staub machten durstig, und je mehr sie tranken, die dreiundzwanzig Mädchen und Jungen, die gerade in die 12a versetzt worden waren, desto mehr perlte der Schweiß aus der Haut, aber die Ställe für die Genossenschaft wuchsen. Wilhelm Buller konnte zufrieden sein. Und er war es.

Dem Alter nach hätte er ihr Großvater sein können. Die Rente wirkte schon, doch er scheuerte mit seinen Händen die Hosentaschen nicht von innen entzwei. Er packte überall als erster zu. Als Lehrausbilder hätte er es nicht nötig gehabt, aber er war mehr als nur Lehrausbilder. Wenn einer nicht weiterwusste, stand der Alte plötzlich neben ihm, kriegte kaum die Kiemen auseinander, nahm aber die Kelle, zeigte einen Handgriff, einen Kniff. Dass sie ihm in ihrem Schulwissen überlegen waren, das wusste Wilhelm Buller, aber er warf es ihnen nicht vor. Die praktische Erfahrung und die sichere Einschätzung der Verhältnisse und Menschen hatte er ihnen voraus, und davon gab er ihnen ab ohne Geiz.

Als das Praktikum zu Ende ging, ließ Wilhelm Buller seine Pfeife in der Tasche. Er gab Heule sechzig Pfennig, eine „Echte“ solle er holen. Mit seinen langen gelben Zähnen biss Buller vorsichtig die Zigarrenspitze ah, spuckte sie weg und sagte: „Aus dem Gröbsten wären wir raus!“ Dann bot er Feierabend.

Heule und Wolfgang schleppten den Abschiedstrank heran. Einen Kasten Halbundhalb, halb Helles, halb Brause. „Prost!“, sagte Heule und wollte nach dem Hellen greifen.

„Prost“, sagte Wilhelm Buller und drückte ihm eine Brause in die Hand, „sollst nicht trocken dasitzen.“ Mit dem Flaschenhals zeigte er zur MZ. „Aber du hast ’ne Maschine hier.“

Eine Ansprache hielt Wilhelm Buller an diesem Feierabend auch noch. Sie wussten, ein großer Redner, einer von vielen Worten war er nicht. Darum sahen alle auf, als er sich räusperte und mit dem Handrücken über den Mund wischte. Die Mütze schob er in den Nacken, musterte sie der Reihe nach und räusperte sich noch einmal. „Ihr seid gar nicht so dämlich, wie ihr ausseht“, sagte er. „Mit euch kann man schon was schaffen. Also aufs nächste Jahr. Prost!“

Das ging ihnen ein wie Honig, dieses Mit-euch-kann-man-was-schaffen und Prost-aufs-nächste-Jahr, und sie labten sich noch daran, als sie die Flaschen in den Kasten zurückstellten und die Campingbeutel packten.

Heule stülpte sich seinen Sturzhelm auf und rief schallend über die Baustelle: „Ferien!“

Na und? dachte Stephan. Seine Freunde, ja, die hatten große Pläne. Aber er? Über Nacht hatte sich die Familientour durch Ungarn zerschlagen. Dafür saßen seine Eltern irgendwo in der Sowjetunion zu einem Erfahrungsaustausch über landwirtschaftliche Bauten.

„Schöne Ferien, ich hab mich umsonst gefreut“, sagte Fine. Ach ja, die Ostseereise fiel ins Wasser, weil ihre Mutter plötzlich zu einem Lehrgang delegiert und am Vortag abgefahren war. Auch versetzt.

Stephan hätte sich Heule und Wolfgang anschließen können. Zelten, ungezwungen leben. Es hatte für ihn keinen Grund gegeben abzulehnen. Doch irgendetwas musste ganz hinten in seinem Gehirn, in so einer vorletzten Windung, dieses Nein signalisiert haben. Darüber dachte er noch nach, als Heule mit seiner MZ abgebraust war und die anderen unter großem Lärm auf ihren Fahrrädern davonklingelten.

Er stand mit Fine allein auf dem Marktplatz. Sie hatten den gleichen Weg. Die Hitze brannte in den Straßen. „Kommst du mit auf ein Eis?“, fragte Stephan. Er lud Fine ein, weil es heiß war und weil zu Hause nur die leere Wohnung auf ihn wartete.

In der kleinen Eisdiele am Stadtgraben erwischten sie zwei Plätze unter einem Sonnenschirm. Ohne zu reden, hockten sie da, Fine löffelte Erdbeer mit Vanille, Stephan mochte Erdbeer nicht, er löffelte Zitrone. Er starrte in seinen Metallbecher und sah, wie das Eis abnahm. Komisch, dachte er, wir sind stumm wie die Fische. Dabei reden wir manchmal viel zu viel, wenn wir mit Heule, Wolfgang, Steffi und Martina zusammen sind. Zuerst wollten sie mich nicht haben, aber Fine hat sie überzeugt, dass sie den Neuen nicht allein lassen dürfen. Wie war Heule zuerst gegen mich, weil ich von dem Platz neben Fine nicht gewichen bin. Das ist längst vergessen. Doch Fine hat jenen Frühlingsabend, an dem ich achtzehn wurde, noch nicht vergessen. Seit damals, seit dem Hab-dich-nicht-so ist es das erste Mal, dass wir wieder allein zusammensitzen. Stephan löffelte das Eis in sich hinein, ohne den Zitronengeschmack wahrzunehmen.

„Bring mir morgen deine Maurersachen“, hörte er Fine sagen, und damit zerriss der Faden zur Vergangenheit. Stephan blickte auf. Hatte er sich verhört?

„Ich wasche“, sagte sie, „da werfe ich dein Zeug gleich mit in den Kessel.“

Er nickte, und er war froh, dass er nicht mit Heule und Wolfgang fahren würde.

Noch am Vortag hatte sich Stephan vorgenommen, weit in den Morgen hineinzuschlafen und mit allen Fasern das Gefühl auszukosten: Es sind Ferien. Doch er erwachte zur gewohnten Zeit, als hätte ihn der Wecker zur Baustelle herausgeklingelt. Er rekelte und reckte sich. Im Bett hielt er es nicht mehr aus. Bring mir morgen deine Maurersachen, hatte Fine gesagt. Aber es war der reinste Unsinn, so früh aufzustehen. Er saß auf der Bettkante und sagte laut vor sich hin: „Es ist noch nicht sechs, um diese Zeit kannst du bei ihr nicht aufkreuzen. Da schläft sie noch. Was wird dir übrig bleiben, als auf dem Treppenabsatz zu warten.“ Ein Bild würde das für Mutter Matz sein. Sie wird den Kopf durch die Türritze schieben und fragen: Na, junger Herr Wege, auf was wartest du hier? Als wenn sie es nicht wüsste! Immer wenn er Fine zur Schule abholte, hatte sich ihre Gardine bewegt. Niemand konnte in das Haus rein oder raus, ohne dass er von Mutter Matz unter die Lupe genommen wurde und sie in kürzester Frist über seine Lebensdaten informiert war. Eine Antwort würde sie von ihm nicht erwarten, sondern gleich weiterreden : Fräulein Fine schläft noch, sind doch Ferien, da soll sich der Mensch Ruhe gönnen, viel Schlaf gibt gute Haut. Oder so was Ähnliches würde sie sagen. Und sollte er sich nachreden lassen, dass er Fine die zarte Haut verdorben habe? Ist er ein Barbar? Er sprang auf, rannte ins Badezimmer und schrie dabei: „Ich bin kein Barbar! Auf der Treppe werd‘ ich sitzen, bis sie aufwacht, trotz Mutter Matz!“

Nachdem er seine Maurersachen in den Campingbeutel gestopft hatte, nahm er die Wartburgschlüssel aus dem Schreibtisch. Sein Vater hatte sie ihm dagelassen als Pflaster für die verpatzten Ferien. Ein wirklich großzügiges Pflaster, und das Geld war das zweite. Für jedes Auge eins: Geld, Wartburg. Essen kannst du gehen, mach’s gut, Junge, tschüs! Ab und zu wird eine Karte kommen. Viel Arbeit, wenig Zeit, so steht darauf. Er könnte darauf schwören. Wenig Zeit – hatte er je etwas anderes von seinen Eltern gehört? Und vorn wird eine Fotografie irgendeinen malerischen Park zeigen oder ein Baudenkmal oder was sich sonst ein Ausländer in der Sowjetunion angesehen haben müsste, aber nicht mal dazu werden sie Zeit haben. Viel Arbeit, eine Ausrede war das nicht. Und trotzdem – Stephan warf die Autoschlüssel von einer Hand in die andere – ein billiger Trost. Bei Fine konnte er bei den paar Schritten nicht mit dem Wartburg vorfahren.

Angeber, würde sie denken. Ein Angeber war er nicht, er bildete sich nichts auf die Wohlstandssphäre ein, in der er lebte. Man bekam, worauf man mit dem Finger tippte. Es war angenehm, aber kühl. Zu kalt für ihn. Stephan ließ die Schlüssel in das Fach zurückfallen.

Auf der Straße war es warm. Die Sonne heizte schon die Pflastersteine und Häuserwände an. Die Nacht hatte kaum eine Abkühlung gebracht. Da würden die Maurersachen schnell trocknen. Vielleicht schneller, als ihm lieb war. Und dann würde Fine sie bügeln und ihm zurückgeben. Aus. Nein, daran wollte er nicht denken. Er schlenderte die Straße entlang – nur nicht so früh bei Fine sein –, die Schritte langsam wie ein Urlauber. Und noch einmal ums Karree marschieren.

Da kam Frau Ullermann. Jetzt grüßen! „Guten Morgen“, rief er über den Fahrdamm. Und: „Morgenluft macht frisch!“ Sie war ja auch früh auf den Beinen. Warum sollte das bei ihm ungewöhnlich sein? Wieder grüßen. Wie viele Leute auf der Straße waren. Ellerstädt ist ein rühriger Ort.

Das mit dem Grüßen hatte ihm Fine beigebracht. Grüß jeden, sonst denken sie, du bist eingebildet, hatte sie gleich auf ihrem ersten Schulweg damals im Winter gesagt, als er sich über das dauernde „Guten Morgen“ lustig gemacht hatte. Nun war er als höflicher junger Mann bekannt, sammelte Tag für Tag Ellerstädter publicity, und sein Vater profitierte auch davon: Ach, das ist Ihr Sohn? Ein freundlicher Mensch. Seitdem grüßte Vater genauso oft. Dass der Rat von Fine stammte, wusste er nicht, sonst hätte er ihm vielleicht auf die Schulter geklopft und gesagt: Kleinstadtpsychologie, ein kluges Mädchen, deine Freundin. Dieses Wort aus Vaters Mund wäre Stephan so peinlich gewesen, wie es das ganze Kapitel Vater und Freundin war.

Lange war Stephan in einer Familie ohne Knacks aufgewachsen, sechzehn Jahre lang. Mit sechzehn ging man schon seine eigenen Wege, wollte sich nicht so viel hineinreden lassen. Man eroberte sich ein Stück Freiheit, bewachte und verteidigte es. Da konnte es zu harten Worten kommen. Bei ihnen gab es keinen Streit. Seine Eltern hatten andere Probleme. Beim Vater war es blond und hätte Stephans ältere Schwester sein können. Für die Mutter war das Problem ihr Mann. Stephan hatte einen Logenplatz, war Beobachter, Zuschauer. Nein, sie ließen sich nicht vor ihrem Sohn gehen. Vater wollte sein Gesicht nicht verlieren. Er bestrich die Fassade mit sozialistischer Moral. Doch der dunkle Punkt auf seiner Weste blieb.

Dieser dunkle Punkt hatte Unruhe, Ärger und Tränen bei Mutter verursacht, und er hatte Vaters Versetzung nach Ellerstädt gebracht. Aber ohne Ellerstädt keine Fine. Fine, und Stephan fühlte sein Herz klopfen. Gut, dass er nicht mit Heule und Wolfgang gefahren war! Um vier wollten sie los, dann wäre er schon über hundert Kilometer von ihr entfernt.

Stephan ging an der Bäckerei vorüber. Er roch das frische Brot. Richtig, er hatte noch nicht gefrühstückt. Ob er sich ein paar Schnecken kaufte? Schnellimbiss auf der Straße? Unsinn, Brötchen und mit zu Fine nehmen. Butter und das übrige wird sie bestimmt haben. Allein schmeckt es nicht, und vielleicht geht es Fine genauso. „Wir gründen eine Kooperation“, sang er leise im Takt seiner Schritte vor sich hin, schneller sang er und vergaß zu grüßen.

Die Treppe hinauf, immer zwei Stufen mit einem Schritt. Was man an Weg spart, muss man an Kraft zusetzen. Aber es war nicht das physikalische Gesetz, das sein Herz so heftig schlagen ließ.

Unten quietschte eine Tür. Mutter Matz hatte ihn schon erspäht. „Guten Morgen“, rief er hinunter, damit sie ganz sicher wusste, wer es war.

„Fräulein Fine ist in der Waschküche.“

„Danke!“, rief er, polterte die Treppe hinab und schwenkte vor Mutter Matz seinen Campingbeutel. Da trödelte er den ganzen Morgen herum, und Fine wartete auf ihn!

„Ausgeschlafen?“, fragte sie.

Ihre Sachen schwammen bereits im Kessel. Gleich schwimmen meine daneben, dachte Stephan, einträchtig in einem Topf, ihre und meine Sachen. Wir beide müssten auch so einträchtig nebeneinander schwimmen in der Ostsee oder irgendwo in einem See.

„Fall nicht in den Kessel“, sagte Fine. Und: „Fein, dass du etwas zu essen mitgebracht hast, ich hab vielleicht einen Hunger. Aber erst hilfst du waschen.“

So entmündigte Fine ihn und stellte ihn für niedere Hilfsdienste an: Wasser hin- und hertragen, ablassen und nachfüllen, Stephan hier und Stephan da. Keine Arbeit für einen intelligenten Menschen, da müsste man kündigen auf der Stelle. Mit dem Auswringen, ja, das war schon anders, dazu brauchte man Kraft. „Lass, Fine“, sagte er, „das mach ich allein.“

Zwei Hosen und zwei Jacken schaukelten auf der Leine. Sie hatten sie schön weiß bekommen. So sollte man mit allem verfahren können. Einen Fleck? Heißes Wasser, Waschpulver, Bürste und im Handumdrehen wie neu, fleckenlos.

Fine hatte ihn schon tüchtig durchgewaschen. Die Arbeit in ihrer Gruppe war ihm gut bekommen. In Berlin hatte er nicht viel Mühe auf die Schule verwandt, Babs und Doris steckten andere Sachen im Kopf. Das war vorbei. Wenn ihm seine Mutter früher den Kopf gewaschen hatte, brannten ihm die Augen, es tat weh. Fines Wäsche war ohne Schmerzen vor sich gegangen. Eigentlich hatte er es gar nicht gemerkt.

Keine Wolke am Himmel, das Thermometer kletterte, aber Brunns Balkon lag noch im Schatten. An den Blättern der Geranien hingen Wassertropfen, es roch nach der feuchten Erde in den Blumenkästen. Hier ließ es sich aushalten.

Fine hatte mir das Geschirr auf ein Tablett gebaut, und ich machte mir Gedanken über die Tischordnung: Sollten wir uns gegenüber oder nebeneinandersetzen? Gegenüber, dann hatte ich Fine vor mir.

„Guten Appetit, Stephan“, sagte sie, beugte sich über den Tisch und goss mir Kaffee ein.

Das rote Kleid mit dem rechteckigen Ausschnitt stand ihr gut. Jeder Mathematiker interessiert sich für angewandte Geometrie. Der Kaffeeduft stieg mir in die Nase. „Guten Appetit“, sagte ich, trank den ersten Schluck, und mir wurde klar, wie schön diese Ferien werden könnten. Ich wusste, warum ich den Vorschlag von Heule und Wolfgang abgelehnt hatte und dass ich Fine nicht gleichgültig war, wenn sie auch hundertmal so tat.

„Gehen wir baden?“, fragte sie.

„Hm“, machte ich und legte den Kopf zurück und sah auf zum Himmel. Hauchzarte Federwolken waren hoch oben in das Blau gewebt. Ich sagte, mit meinen Augen am Himmelsblau hängend: „Ein Wetter ist das!“ An die Wartburgschlüssel dachte ich und an den Tank, der voller Benzin war. Irgendwo halten und baden, irgendwo im Gras in der Sonne liegen. Schön muss das mit Fine sein. „Ach, gehen“, sagte ich, „fahren!“

Fine fiel nichts weiter ein als unsere Fahrräder. Zum Teufel mit den Rädern! Ich sah immer noch auf zum Himmel und sagte fast nebenbei: „Vater hat mir die Wagenschlüssel überlassen. Fahren wir ein Stück. Mach du einen Vorschlag, es kann auch weiter weg sein.“

„Mit dem Auto? Wirklich mit eurem Wartburg?“

Da ließ ich den Himmel Himmel sein und sah sie an. Fine überlegte. Ich überlegte mit. „Wir könnten zum Langen See fahren. Der ist ein Stück weg“, sagte ich, „so hundert Kilometer.“

„Da müssen wir morgen früh fahren, ganz früh, sonst lohnt es nicht.“

„Wir könnten es lohnend machen und unser Zelt nehmen. Das verschimmelt bloß auf dem Boden.“

„Hm“, machte Fine, und über ihrer Nasenwurzel kerbten sich zwei Falten ein.

„Hör zu, Fine, ein Auto ist da und ein Zelt auch. Das haben wir nicht alle Tage. Der See ist schön. Niemand kennt uns dort. Wir kochen selbst. Das machst du, ich angle Fische.“

„Also Jäger und Sammler, Stephan?“

Ich wich ihrem Blick nicht aus. „Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Wenn wir eine Gruppe wären …“

„Sind wir nicht ’ne Gruppe?“

„’ne verdammt kleine“, sagte sie.

Ich sprang auf, raste die Treppe hinunter und brach im Vorgarten Grünzeug von einem Strauch. Hinauf nahm ich drei Stufen auf einmal. Ich drückte Fine den Zweig in die Hand und sagte: „Grün ist die Hoffnung!“

Sie strich über die Blätter.

„Hast du Angst?“

„Ach!“

„Du kannst dich auf mich verlassen“, sagte ich noch einmal und hielt ihr meine Hand hin.

Fine nahm sie und sagte: „Würde ich sonst mit dir fahren?“

Stephan packte ein: Zelt, alles, was an Ausrüstung herumstand und was die Speisekammer hergab. Die Ungeduld ließ ihn auf die Uhr sehen. Es war noch zu früh. Er steckte sich eine Zigarette an. Fine würde sicher erst auf ihrem Koffer hocken, bemüht, die Schlösser einschnappen zu lassen. Große Koffer, das wusste er von Babs und Doris, brachten die Mädchen immer angeschleppt. Die Jungen konnten sich die Ungetüme dann auf den Ast stemmen und damit abbuckeln, auch wenn sie so taten, als mache es ihnen nichts aus. Und es waren damals drei Kilometer von der Bahnstation gewesen. Nein, Babs und Doris weinte er keine Träne nach. Für Fine würde er sich zwei Riesenkoffer aufladen.

Ob sie wohl schon bei Mutter Matz war, um die Wohnungsschlüssel abzugeben? Nanu? würde Mutter Matz fragen. Nach Bernwalde, zu Martina, eine gute Woche vielleicht, wollte Fine antworten, denn das würde Mutter Matz verständlich sein. Richtig, würde sie sicherlich sagen, fahr nur und erhol dich schön, ich pass auf die Wohnung auf.

Stephan schaute wieder auf die Uhr. Fine musste gerade auf dem Weg zum Bahnhof sein. Da mühte sie sich mit dem Koffer in der sengenden Mittagshitze ab! Stephan ging auf die Veranda. Das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad im Schatten und Fine mit dem Riesenkoffer! Breit, mit gelben Lederecken und einem Riemen, damit das Ding nicht aufplatzt, so sah ihn Stephan vor sich. Diese Schlepperei konnte er nicht zulassen. Er raste aus dem Haus, schloss ab und sprang ins Auto. Als er starten wollte, ließ er sich jedoch auf den Sitz zurücksinken. Das wäre gegen die Vorsicht. Fine mit dem Koffer! Wer von all den Leuten, die sie beide in Ellerstädt kannten, würde an harmlose Märchen glauben, wenn sie zu ihm in den Wagen stieg? „Ruhig, alter Junge“, sagte er zu sich, „Fine ist kräftig. Fahr wie verabredet nach Bernwalde, bring nichts in Unordnung.“

Er scheuchte die Bernwalder Hühner aus ihren Schattenkuhlen, als er auf dem Bahnhofsvorplatz bremste. Nach einem Blick auf seine Uhr peilte er die große, altmodisch verschnörkelte über der Eingangstür an. Sie ging genau, zu genau. Sechzig Sekunden, dann ruckte der Zeiger vor, und wieder sechzig Sekunden, und wieder ruckte er vor.

Noch fünfundzwanzigmal musste er mit seinem in dieser trägen sommerlichen Ruhe nicht zu überhörenden Knacken vorspringen. Stephan lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er würde mindestens zehn Minuten vergehen lassen, ehe er wieder hinsah. Er hätte später fahren sollen. Doch man kann eine Panne haben, zu spät kommen und dann als unzuverlässig dastehen. Es liegt ihm nichts an mir, könnte Fine denken. Quatsch, das würde sie nicht denken, und er war ja schon in Bernwalde, und der Wagen war so intakt wie die Bahnhofsuhr.

Vorsichtig blinzelte Stephan durch die Lider. Vier Minuten waren erst um. Noch einundzwanzigmal Knack, bis Fine da war. Er schloss wieder die Augen. Fine, dachte er, Fine. Er lauschte auf das metallische Knacken, das die Stille in so unerträglich lange, gleichmäßige Abstände teilte, das leiser wurde, immer leiser …

Sein Name ließ ihn aus der Tiefe des Schlafs auftauchen.

„Hallo, Stephan!“ Fine beugte sich durch das heruntergelassene Wagenfenster und rüttelte ihn leicht. „Wartest du schon lange?“

Er fuhr auf und sagte, noch ganz benommen: „Bin gerade erst angekommen.“

„Du Spinner“, sagte sie und lachte. „Da bist du wohl mit geschlossenen Augen gefahren? Und ich soll mich dir anvertrauen? Ich nehm‘ den nächsten Zug zurück.“

„Nein!“, schrie er und sprang aus dem Wagen und hielt sie fest. „Wo hast du deinen Riesenkoffer?“, fragte er.

Aber es war nur eine karierte Reisetasche, die er auf die hinteren Sitze legte, und der Campingbeutel mit den Badesachen.

Und dann guckte Stephan sie richtig an. „Fine“, sagte er, „siehst du schick aus!“

Sie drehte sich einmal um sich selbst, wiegte sich mit ein paar Mannequinschritten über das holprige Vorplatzpflaster und quäkte: „Beachten Sie bitte dies maritime, direkt azurne Blau, Modefarbe des Jahres! Dazu der modisch gefällige Schnitt des Kostüms! Die Dame von Welt trägt weiße Lackschuh dazu.“

„Du bist verrückt“, sagte er. „Mit deinem Geschrei weckst du ganz Bernwalde aus seinem Dornröschenschlaf, die Schlosswache wird dich arretieren. – Was hast du da in der Zeitungspapiertüte?“

„Gegen Skorbut, gestrenger Herr“, flötete sie. „Ihr habt gesagt, Ihr räumt alle Konserven aus dem Kühlschrank.“ Und mit richtiger Finestimme sagte sie: „Nimm sie bloß, Stephan, gleich platzt sie auf.“

Aber als er die Tüte hatte, langte sie schnell hinein, angelte zwei Zwillingskirschen heraus und hängte sie ihm über die Ohren.

„Rein ins Auto!“, befahl er. „Wir müssen los, ehe sie uns festnehmen.“ Dann ließ er den Tacho über die Sechzig klettern. Der ABV von Bernwalde schlief in der heißen Mittagsstunde wohl genauso tief wie das kleine Nest.

Stephan stellte das Radio an und suchte Musik. Fine sang. Ab und zu stopfte sie sich Kirschen in den Mund und spuckte die Steine aus dem Fenster.

„Das Fräulein sind wohl noch nicht oft Auto gefahren?“, fragte er.

„Selten, gestrenger Herr, selten. Meist nur mit der Postkutsche.“

„Ja, ja, die Postkutsche, das waren noch Zeiten!“, sagte er und gab Gas.

Fine konnte vor Freude nicht still sitzen, und ihre Beine sahen sehr lang aus. Machten das die matt glänzenden Strümpfe? Stephan wurde unruhig. Du lieber Himmel, dachte er, Fine ist furchtbar aufgeregt. Er lenkte den Wagen in einen Waldweg und stoppte.

„Zieh dich auf Camping an“, sagte er. „Du knautschst dir dein schickes Kostüm.“ Und er ging, ohne sich umzudrehen.

Was sollte aus seinem Versprechen werden? Eine Woche würde er mit ihr allein sein, beim Baden, beim Schlafen, im Wald und am Wasser, jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang. Ihm wurde heiß und kalt. Du lieber Himmel, dachte er wieder, du lieber Himmel.

Er hörte sie rufen, und als er sich umwandte, kam sie ihm entgegengeschlendert. Nun, da sie nicht mehr das neue azurblaue Mädchen war, sondern die gewohnte Fine, fühlte er sich erleichtert.

Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht, und als sie dicht vor ihm stand, streckte sie ihm ihre geschlossene Hand entgegen. „Rate, was da drin ist.“

Stephan besah sich die Faust von allen Seiten, „’ne Blindschleiche“, sagte er endlich.

„Falsch“, sagte Fine, „ganz falsch!“ Langsam geben ihre Finger die Handfläche frei, darauf lagen zwei glatte goldglänzende Ringe.

Stephan sah Fine an. Sie war erstaunlich, seit sie ihn in Bernwalde geweckt hatte. Sie steckte so voller Überraschungen, dass ihm seine gerade erst gefundene Ruhe wieder abhandenkam. Fine sagte: „Wenn wir sie tragen, wird niemand neugierig werden. Überleg doch mal, zwei so junge Leute und schon mit Wartburg! Mit Ring wirken wir älter und uninteressanter. Probier mal, ob er passt.“

Eifrig steckte sie ihm den Ring an den Finger. Er saß, als wäre er nach Maß angefertigt. Dann hielt sie ihre Hand neben seine. „Wie echt verheiratet“, sagte Fine, „wie Hochzeitsreise.“

Stephan besah sich unschlüssig den Ring, der einen leichten und ungewohnten Druck ausübte. Ungewohnt, aber deshalb doch willkommen, weil er daran erinnerte, dass es keine Hochzeitsreise werden durfte. Fine war so unbekümmert. Zu unbekümmert, fand er. Sie verließ sich zu sehr darauf; dass er gesagt hatte, du kannst dich auf mich verlassen. Glaubte sie, es sei mit diesen paar Worten abgetan? Es fiel ihm schwer genug, sie nicht in die Arme zu nehmen für ihr Lachen, für ihre verrückten Einfälle, für die Tage am See, die vor ihnen lagen. Dafür, dass sie eben Fine war. Aber er würde es nicht tun. „Ich weiß nicht“, sagte er und bemühte sich, seine Stimme frei klingen zu lassen. „Und Hochzeitsreise?“

„Ach so“, rief sie, „ich hab noch etwas vergessen!“ Sie tupfte ihre Lippen auf seine, warme und im Eifer ein wenig feuchte Lippen. „Sind wir nun ein Ehepaar oder nicht?“

„Ja“, sagte Stephan, und es war ihm, als habe dieser kaum spürbare Hauch ihn von seinem Verlangen erlöst. Er fasste Fines Hand und rannte, sie hinter sich herziehend, zum Auto zurück. Es war noch weit zum Langen See, und ehe sie einen guten Platz gefunden, das Zelt aufgebaut und eingeräumt hatten, würde der Abend heran sein.

Sie schliefen lange in den ersten Tag hinein. Die Sonne durchleuchtete die Zeltwände, und so fanden sie im warmen grün schimmernden Halbdunkel aus dem Schlaf. Fine sah zur Uhr und sagte erschrocken: „Schon neun!“

„Erst neun“, sagte Stephan und reckte sich. Er lauschte den Stimmen vom Ufer und vom Wasser her. Wie waren sie rührig, diese Zeltler im Urlaub. Krochen schon bei Sonnenaufgang aus der Koje! Bei ihm nicht, er hatte Ferien, Ferien mit Fine. Um sie anzusehen, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich und wahrhaftig neben ihm lag, dass es kein Traum war, wandte er sich ihr zu, doch sie kroch schon aus der Schlafkabine. Stephan konnte Fine nur noch am Fuß erwischen und daran ziehen. „Guten Morgen“, brummte er. „Ist das eine Art, sich so davonzustehlen?“

Sie strampelte sich los und sagte: „Sei artig, schlaf noch fünf Minuten.“

Er hörte sie im Vorraum und ahnte ihren Schatten. Stephan blieb liegen und rührte sich nicht. Sie öffnete das Zelt, ließ das Licht hineinfluten und lief hinunter ans Ufer, ohne auf ihn zu warten.

Stephan stieg in seine Badehose und bummelte hinterher. Als er bis zu den Knien ins Wasser gewatet war, kam Fine ihm tropfnass entgegen und überschüttete seine schlafwarme Haut mit kalten Spritzern. Bevor er sich rächen konnte, rannte sie kreischend davon.

Die Sonne goss eine glitzernde Bahn über den See. Stephan schwamm in dieser Sonnenbahn bis zum gegenüberliegenden Ufer und kletterte den steilen Abhang hinauf, bis sich über ihm nur noch der Sommerhimmel wölbte. Und nun stand er dort oben, sah zurück, sah die Bahn entlang, auf der er hergeschwommen war, und wenn er über die Wiese drüben ihre Seitenbegrenzung verlängerte, fand er genau im Schnittpunkt das grüne Zelt, in dem Fine auf ihn wartete. Im Schnittpunkt.

Sie waren ihren Weg allein gegangen, Fine und er. Zwei Linien waren es, die sich näherten, jeder Tag in Ellerstädt hatte das Seine dazu getan. Er war nicht mehr der Gleichgültige, der sich durch kleines, zu kleines Vergnügen von der Arbeit ablenken ließ. Er schätzte das Lernen jetzt, auch weil es Lernen mit Fine war, weil er dadurch wuchs in ihren Augen und in den Augen seiner Ellerstädter Freunde. Er schätzte es, weil es ihn reicher und selbstständiger machte als alles andere davor. Mit dem Lernen veränderte sich sein Leben und sein Verhalten zu allem, was ihn umgab. Das erkannte er in diesem Augenblick. Und ebenso klar war ihm auf einmal, dass es auch Fine wusste, ja, dass sie es eher erkannt hatte als er.

Nicht, weil es der Zufall ergab, sondern weil sie es gewollt hatte, war sie ihm entgegengekommen. Und wenn sie sich in ihrem Schnittpunkt trafen, dann würde er die Mathematik verändern, die Mathematik ihres Lebens. Ihre Wege sollten sich nicht kreuzen, um sich dann wieder einsam in der Unendlichkeit zu verlieren. Sie sollten ein Weg werden. Fine, dachte er, du sollst dich auf mich verlassen können, immer.

Er schwamm durch das sonnengrüne klare Wasser zurück, ging über die Wiese zum grünen Zelt und stand vor Fine. „Wir werden die Mathematik verändern“, sagte er und küsste sie. Zuerst hingen ihre Arme links und rechts herunter, als wüsste sie nichts damit anzufangen, dann aber umfasste sie Stephan. Es wurde ein Kuss, ein richtiger Kuss.

„Guten Appetit“, sagte jemand.

Sie fuhren auseinander und sahen, dass ihnen der Nachbar mit dem Strohhut zuwinkte.

„Aber Stephan“, sagte Fine und wurde rot bis über die Ohren.

„Schließlich sind wir ja verheiratet!“ Und er gab ihr schnell noch einen Kuss.

„Natürlich“, rief der Nachbar, „wozu auch ein Geheimnis daraus machen!“

Beim Frühstück erst wurde es Stephan bewusst, was dieser Kuss bedeutete. Fine hatte ihn erwidert und damit besiegelt, was er seit dem Morgen auf dem Balkon immer stärker gespürt hatte: Sie hatte ihn gern. Hochzeitsreise, so hatte sie der Ringe wegen gesagt. Nur wegen der Ringe, das wusste er. Sie hatte es aber auch gesagt aus Lust am Spiel. Also gut, spielen wir Hochzeitsreise.

„Frau Wege“, fragte er, „kann ich noch ’n Kuss kriegen?“ Er beugte sich über den Tisch, und sie küsste ihn hörbar und mit spitzen Lippen. Dann half er ihr als guter Ehemann beim Abwaschen und Aufräumen.

Nachts lagen sie im Zelt aneinandergeschmiegt, jeder in seinem Schlafsack verpackt. Heldenhafte Abstinenz, dachte Stephan, und er fühlte sich trotz aller guten Vorsätze seiner selbst nicht sicher.

Der Zeltplatz schlief, das Wasser schwappte im Schilf, und der Wind raschelte in den Blättern, er flüsterte in den Sträuchern und Bäumen. In ihren wachen Ohren hörte sich alles überlaut an. Sie spürten das Pochen und Dröhnen ihrer Herzen, es erschreckte sie. Nur zaghaft holten sie Luft, um sich durch ihr schnelles Atmen nicht zu verraten. So lagen sie nebeneinander und sahen durch die Dunkelheit auf zum Zeltdach, bis ihnen die Augen zufielen und der Schlaf in ihr Gespanntsein tropfte. Am hellen Tag wich die Unruhe von ihnen. Sie tobten im Wasser oder lagen faul in der Sonne. Wie große Forschungsreisende gingen sie auf Expedition, durchwateten das Röhricht, erkletterten die Uferterrassen, auf denen sich Eidechsen sonnten. Und sie fanden, einsam wie ein Atoll in der Südsee, ihre Sommerinsel.

Eine schmale Landzunge schob sich in den See. Wir schwammen darauf zu und wanden uns durch den raschelnden Schilfwald ans Ufer, das Weiden wie ein Dach überschatteten. Es war dämmrig und kühl, ein Schauer lief mir über den Rücken.

„Wir drehen um“, sagte ich zu Fine, „oder du musst mich wärmen.“ Da legte sie ihre Arme um mich, und ich spürte sie so nass und nah auf meiner Haut, dass es mir eine heiße Welle durch alle Adern jagte.

„Stephan, da ist ein Weg!“ Fine zwängte sich durch das Weidendickicht. „Es geht in die Sonne, komm!“

Ein schmaler Pfad schlängelte sich den Abhang empor durch sperriges, ineinander verhaktes Gestrüpp. Vögel schwirrten vor uns auf, und bläuliche Falter tanzten im Licht. Durch hohe Himbeerhecken gelangten wir auf ein kleines Plateau. Wir sahen auf den See hinab, ohne dass uns jemand von dort in dieser dichten grünen Festung aus Zweigen und Ranken und Dornen erspähen konnte. Es war, als sei hier noch nie ein Mensch gegangen, wir waren so allein wie auf einer unentdeckten Insel.

Ich streckte mich dicht neben Fine in das kurze Gras, sie legte ihren Kopf auf meinen Arm und schloss die Augen. So rösteten wir in der Hitze, bis sie sagte: „Ich möchte braun werden.“

„Wirst du doch“, murmelte ich kurz vorm Einschlafen.

„Ganz braun vom Kopf bis zum Zeh.“

Da war ich mit einem Schlag wach. Ich richtete mich auf und sah sie an, aber sie hielt die Augen noch immer geschlossen. Mit ziemlich kratziger Stimme sagte ich: „Bitte, hier kannst du braun werden.“ Dann drehte ich mich auf den Bauch, schob die Arme unter den Kopf und rührte mich nicht mehr, doch meine Ruhe war dahin. Ich richtete mich auf einen Dauerschlaf ein, den ich vergeblich herbeisehnte. Sie rückte von mir fort. Warum? Sie konnte sich auf mich verlassen.

Wie eine an Land gestiegene Nixe lag sie in der Sonne. Ich hab dich lieb, wollte ich zu ihr sagen, komm, Fine, wollte ich sagen, aber ich blieb stumm. Wir hatten ein Verbotsschild gesetzt, und allein durfte ich es nicht umstoßen. Mir war heiß, sehr heiß, und ich verfluchte das Verbot ohne einen Laut.

Wenn wir uns lieben, warum warten wir? Wir bleiben doch zusammen für immer. Warum wollen wir es aufsparen, bis es ein Dienstsiegel erlaubt, bis uns das Standesamt das Signal stellt: Für Liebe freie Fahrt!

Das Verbotsschild, wer glaubt es uns? Steffi und Martina würden Fine mit komischen Blicken betrachten, wenn sie uns so sähen, und Heule und Wolfgang würden leise durch die Zähne pfeifen. Wir könnten versichern, dass nichts geschehen sei. Sie würden es für unwahr halten, weil sie es sich nicht vorstellen können. Dabei sind es unsere Freunde, die uns kennen, die ohne bösen Willen urteilen, aber sie haben ihre Fantasie und ihre Träume wie alle, wie ich. Und darin lebt unser Verlangen. Jeder Junge wünscht sich ein Mädchen. Auch Fine wird von Sehnsucht und Verlangen wissen, denn die Mädchen haben ihre Wünsche und Träume wie wir.

Alle Menschen haben sie: die Stillen und die Lauten. Alle besitzen ihre geheimen Wünsche. Viele werden Träume träumen, wild und zügellos, nur für die Dunkelheit gemacht. Aber es gibt auch andere, in denen Wunsch und Wirklichkeit eins sind. Da gibt es nichts, was das Licht zu scheuen hätte.

Fine öffnete ihre Augen. „Stephan“, sagte sie und streckte mir eine Hand hin.

Ich strich ihren Arm hinauf, über ihre Schulter. Mit spitzen Fingern schrieb ich meinen Namen wie eine Zauberrune darauf. Nun gehört sie mir, meine Fine. Ich schrieb: Ich hab dich lieb.

„Ja“, sagte sie leise. Und nach einer Weile: „Ich dich auch.“

Ich beugte mich über sie, und als ich ihren Mund suchte, kam sie mir entgegen, küsste mich schnell und sagte: „Bitte nicht, Stephan.“

Ich sprang auf, rannte den schmalen Pfad hinunter, durch Zweige und Ranken und Dornen. Ich hechtete in den See und kraulte weit, weit fort. –

„Bist du böse?“, fragte Fine am Abend.

„Nein“, sagte ich.

Fine zog den Reißverschluss dicht und ließ den Mond draußen. Sie ging schlafen. Ich blieb im Dunkeln sitzen. Die Minuten verrannen in der Stille.

Wie konnte ich Fine böse sein? Ich kroch in meine Koje und wollte ihr Gute Nacht sagen wie immer.

Sie lag nicht in ihrem Schlafsack. Sie zog mich zu sich, und ich fühlte ihre Haut.

„Fine“, sagte ich.

Wir hatten den Mond ausgesperrt. Wir ließen das Wasser und den Wind mit dem Schilf spielen.

II

Die Nacht am See lag noch fern, lag noch verborgen hinter winterlichen Tagen, Frühlingsstürmen und hellen Sommerwolken, als Stephan das erste Mal in Ellerstädt aus dem Zug stieg. Natürlich kein Taxi, weil in diesem Kaff um 22 Uhr kaum jemand erwartet wurde. Aber Stephan fand die Lindenstraße, wo seine Eltern wohnten, nach der Beschreibung des einzigen Reisenden, der mit ihm den Bahnhof verlassen hatte.

Eine alte Laterne zirkelte ihren Lichtkreis auf den Schnee, ließ die Eiskristalle glitzern und machte die Nacht noch gläserner und kälter. Stephan setzte seinen Lederkoffer und die Reisetasche ab. Er stand in dem Lichtkreis und überlegte, ob er wieder umkehren sollte.

Den Einzug in Ellerstädt hatte er von Tag zu Tag, über Wochen hinaus verzögert. Er wollte nicht weg aus Berlin. Er war wütend auf seinen Vater: fremdgehen, sich kriegen lassen und schließlich Sack und Asche. Sicher hatte er tüchtig Selbstkritik geübt, Besserung gelobt, um einen Bewährungsauftrag irgendwo im tiefsten Urwald gebeten. Urwald, der Ellerstädt hieß. Stephan wusste es nicht, er war nicht dabei gewesen, und seine Eltern hatten sich darüber ausgeschwiegen.

Wieder kam ihm der Fernsehfilm in den Sinn, den er zufällig eingestellt hatte und der ihn dann fesselte des Problems wegen, es war das Problem der Familie. Er war von der Lösung enttäuscht. So also ging das vor sich. Aber er glaubte nicht, dass sich sein Vater unterkriegen lassen würde. Und doch hatte der Film einen Stachel in sein Inneres versenkt. Es blieb eine geheime Bewunderung für den Helden, der für seine Fehler einstand. Stephan ließ diese Regung nicht laut werden und tat sie ab. Kino war das nicht und nicht Wirklichkeit, nicht für Stephan Wege, den es mit allen Fasern in Berlin festhielt. Sein Wunschdenken nahm er als Gewissheit, und er erwachte böse, als der Vater vom Ministerium weg nach Ellerstädt ging.

Er hat den hämischen Gesichtern und den Gesprächen, die verstummen, wenn er ins Zimmer kommt, ausweichen wollen, hatte sich Stephan gesagt. Vater ist nicht stark genug, ihnen die Stirn zu bieten, aber als Direktor des Ellerstädter Landbaukombinats, das wie ein alter Gaul auf allen Füßen hinkt, wird er ganze Arbeit leisten und seiner neuen Aufgabe alles Persönliche unterordnen. Für Stephan war der Vater nach Ellerstädt gefallen und hatte ihn und die Mutter mitgerissen.

Da stand Stephan im Laternenlicht am letzten Abend der Februarferien, gerade vom letzten Zug gekommen und wissend, dass ihn die Eltern bereits am Vortag erwartet hatten. Seit Weihnachten hatte er sie nicht gesehen. Er hatte es sich ertrotzt, erst nach diesen Ferien in der Ellerstädter Schule anzufangen.

Es war ihm gut gegangen bei seinem Freund Michael. Mehr Freiheit als je zuvor hatte er besessen, so viel wie Michael, und das hieß fast unbeschränkte Freiheit, hieß Klub, heiße Musik, großzügige Mädchen. Und da waren Babs und Doris. Sie machten nicht viel Umstände, ließen mit sich machen, was er wollte und sie im Grunde auch. Die Ellerstädter Jungfrauen aber würden sich bestimmt als genauso verschlafen und öde wie das ganze Kaff erweisen. Michael hatte ihm noch auf dem Bahnhof geraten: Wenn dich die Urwaldhummeln langweilen, komm her, hier findest du, was du brauchst.

Einen Freund wie Michael wird er hier nicht finden. Michael hat Verstand und sieht gut aus. Beides weiß er zu gebrauchen. Außer dem Wochenendhaus an der Spree, wo sie ungestört waren, besitzt er die größte Plattensammlung, die besten Einfälle und eine überlegene Sicherheit und Ruhe, auf die sich jeder Klubfan verlassen kann.

Sich von Berlin zu trennen, das war wie ein trockener Leberhaken. Aber Michael hatte zu ihm gesagt: Du musst fahren, Alter, dein Erzeuger sperrt dir sonst die Diäten. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich von diesem Ellerstädt wieder loskommst, aber nicht ohne seinen Segen. Ohne ihn trabst du in der Talsohle der finanziellen Krise.

So war Stephan gefahren, und nun sah er schon das nicht aus dem kleinstädtischen Rahmen fallende Einfamilienhaus seiner Eltern. Einige Fenster waren hell. Aber riefen sie ihn? Sollte er nicht doch umkehren? Fort aus dem Bannkreis der Laterne, zurück zum Bahnhof, nach Berlin? Seine Eltern würden auch ohne ihn auskommen. Vielleicht bedauerten sie es nicht einmal, frei und für sich und ohne Rücksicht auf den Sohn leben zu können.

Oder ob seine Mutter ihn doch vermisst hatte? Wenn sie auch in Berlin als Ingenieur in der Projektion kaum Zeit für ihn hatte, das neue Sportrad hatte sie bis in sein Zimmer geschleppt. Und einmal hatte sie ihm die Haare zerstruwelt und gesagt: Na, Großer, gehst du auch mal mit deiner alten Mutter ins Theater? Er fand sie nicht alt, er fand sie wunderbar, als er ihr in der Garderobe den Mantel abnahm.

Das war vor dem Fleck auf Vaters Weste gewesen. Oder Mutter hatte es noch nicht gewusst.

Später war sie müde vom Kampf um Vater und zufrieden, dass sie ihn zurückhatte. Ihm zuliebe gab sie ihre Selbstständigkeit auf und wurde seine Sekretärin, um ihm den Start in Ellerstädt zu erleichtern. Sie hatte sich in die Verhältnisse geschickt.

Stephan ging auf das Haus zu.

„Endlich“, sagte seine Mutter, als sie ihm öffnete. Für heute, so erzählte sie, während sie ihm Tee eingoss und einen Teller mit belegten Broten zurechtstellte, habe der Vater seinem Sohn zuliebe auf seine Sekretärin verzichtet. Er sei allein zu einer Sitzung. Aber morgen früh, da fahre er mit zur Schule. Der Vater habe dort Verbindungen angeknüpft, Produktionstag, Praktikum, Berufsberatung, alles neu organisiert und in Schwung gebracht. Was sie auch sagte, alles drehte sich um den Vater.

Stephan sah, wie froh seine Mutter war, fast glich sie der Frau vom Theaterabend. Sie hat Vater wieder, dachte er, aber mich fragt sie nicht, wie es mir ergangen ist. Er stand auf und sagte: „Ich bin müde.“

Sie zeigte ihm das Haus, das er annehmbar fand. Sein Zimmer war geräumig, größer als das in Berlin. „Hier“, sagte sie, „Vaters Geschenk für dich. Freust du dich darüber?“

Er besah sich die Stereotruhe. Es war die gleiche, die er mit seiner Mutter bei einem Einkaufsbummel in Berlin bewundert hatte. „Ja, sehr“, sagte er.

Stephan schaute noch auf die Tür, als er allein war. Seine Mutter hatte auf ihn gewartet, endlich! hatte sie gesagt, sie erinnerte sich seiner Wünsche, aber der Vater bedeutete ihr viel mehr.