Susis sechs Männer - Hildegard Schumacher - E-Book

Susis sechs Männer E-Book

Hildegard Schumacher

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Beschreibung

Am Nachmittag hat sie ihr Abschlusszeugnis bekommen. Am Abend fordert Jiri, ihr Freund, dass jetzt sofort geheiratet wird. Aber Susi wünscht sich einen Mann, den sie anerkennt und der sie auch anerkennt. Sie hat ihre Erfahrungen und sie weiß nicht, ob Jiri der Richtige ist. Spannend schildern Hildegard und Siegfried Schumacher die Ehe von Susis Eltern und ihre sechs Liebesbeziehungen. Wie soll sich Susi entscheiden? LESEPROBE: "Bist du verrückt, so hier reinzukommen!", unterbrach er sie. Susi sah seinen entsetzten Blick, sah, wie er seinen Bademantel vom Stuhl riss und überwarf. "Bin ich hässlich?", fragte sie und wippte leicht mit dem Fuß, so dass das goldne Kettchen aufblinkte. Marc bemerkte es nicht. "Wenn Ma das mitbekommt!" "Ma schläft", sagte Susi. "Hast du eine Ahnung! Geh, sonst kriegen wir Ärger!" "Du auch?", fragte sie. "Ma ist in dem Punkt eigen. Ich darf sie nicht enttäuschen." Marc knotete den Gürtel seines Mantels zu. "Wenn sie uns hier so findet, du verstehst..." "Nein", sagte Susi. Sie wippte herausfordernder mit dem Fuß. Marc sah auf das Goldkettchen. "Im Haus meiner Eltern! Wie stellst du dir das vor!" "Ja, was stellst du dir eigentlich vor?", fragte Susi. "Denkst du, ich will dich fressen?" "Ma ist eigen in den Dingen." "Ich auch", sagte Susi. "Du wiederholst dich!" "Sie hat dich eingeladen..." "Wie meine Vorgängerinnen", fiel sie ihm ins Wort. "Nicht so laut!" Er hob tatsächlich einen Finger an die Lippen. Wie ein Schulanfänger stand der große Marc da. Kaum zu glauben, dass er unterm Licht des Strahlers ihr Verlangen geweckt hatte. "Schreib fleißig weiter deine Gedichte", sagte Susi. Sie hatte sich wieder völlig in der Gewalt. Kühl bis ans Herz hinan... Irgendwo hatte sie es gelesen. "Übrigens", sagte sie und hob als Alibi die Tasche mit ihrem Waschzeug, "übrigens bin ich nur gekommen, um zu fragen, ob du das Bad jetzt zu benutzen gedenkst." Unhörbar, wie sie gekommen war, öffnete sie die Tür, drehte sich noch einmal um und sagte leise: "Armer Junge." Genauso unhörbar schloss sie die Tür hinter sich und hatte das Bild vor Augen, wie Marc hilflos am Tisch stand.

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Impressum

Hildegard und Siegfried Schumacher

Susis sechs Männer

ISBN 978-3-86394-455-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1984 beim Verlag Neues Leben, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Susi ging Hand in Hand mit Jiri den breiten Dammweg entlang. Halb hing der Mond am Himmel, und der Sommerduft des Bruchs lag in der Luft, Geruch von Wiese und Wasser. Die Nacht war genau so, wie es sich für eine Juninacht gehört, in der man glücklich ist, und Susi fand, es war ihr gutes Recht, glücklich zu sein. Sie hatte einen Beruf und das Abitur dazu, alles nach Wunsch und Plan. Am Nachmittag hatte die Zeugnisausgabe stattgefunden, volles Haus, großer Aufwand. Die Eltern waren anwesend, Lehrer, Lehrmeister und der Direktor des Meliorationskombinats samt einem ganzen Schwarm von Mitdirektoren. Gemeinsam wurden sie nach vorn gerufen, sie und Jiri, und das war in Ordnung, denn seit vier Jahren gehörten sie zusammen.

Susi blieb stehen. Jiri drückte sie an sich und küsste sie. Sie gingen weiter, blieben aber dicht beieinander. Als sie als letzte nach vorn gerufen wurden, um ihre Zeugnisse in Empfang zu nehmen, hatten sie den normalen Abstand eingehalten. Ihr waren die Knie ein wenig weich geworden. Die Ohren schienen mit Wattepfropfen verstopft, sie hatte nichts gehört und nichts verstanden. Daran war die Aufregung schuld, die sie überfallen hatte, als Jiri auf seinen Platz zurückkehrte und sie allein am Rednerpult stehenließ.

Ihr war die Ehre zuteil geworden, die Dankesworte für die Klasse zu sprechen. Die Jungen hatten gegrinst, als sie ihr das antrugen. Sie mache das sowieso am besten und bei ihrem einzigartigen Abschluss, auch der Gleichberechtigung wegen, Mädchen in der Melioration wären eben Sonderartikel, das würde sie doch verstehen. Natürlich verstand Susi, dass die Jungen sich drücken wollten. Sie wusste, dass sie reden konnte, und hatte sich sicher gefühlt. Nicht einmal aufschreiben wollte sie sich etwas. Sie hasste das Ablesen von Reden und Diskussionsbeiträgen. Jiri hatte aber gesagt, Susi, das ist ein feierlicher Augenblick, da kriegt man leicht feuchte Hände und einen Kloß im Hals, schreib dir was auf, woran du dich festhalten kannst, besser ist besser.

Sie hatte nachgegeben, und Jiris Rat hatte sich als kluger Rat erwiesen. Bei ihren weichen Knien und den verstopften Ohren wäre sie womöglich ins Stottern gekommen oder hätte ganz und gar den Faden verloren, so aber konnte sie sich an ihr Blatt Papier klammern. Sie las, hob und senkte die Stimme und fühlte sich wie eine sprechende Puppe. Nach außen musste sie jedoch völlig souverän gewirkt haben. Jedenfalls hatten es nachher alle bestätigt, sogar die Jungen. Der Vater war stolz, und die Mutter hatte ihr wie in früheren Tagen wortlos den Arm gestreichelt, um sie zu beruhigen. Dass die Mutter hinter der Souveränität das Zittern gemerkt hatte, stellte eine seit langem nicht so deutlich gespürte Vertrautheit her, und das machte froh und ließ die Aufregung vergehen. Susi Sommer, du hast es geschafft, hatte sie sich gesagt und alle drei, Vater, Mutter und Jiri, auf einmal umarmt. Der Höhepunkt des Abends aber war, als der Vater sein Weinglas erhoben und gesagt hatte, na, dann prost, Frau Kollegin. Er meinte es ernst, obwohl er doch vorher nie ganz ernst genommen hatte, dass sie wie er Ingenieur in der Melioration werden wollte.

Beim Abschlussball hatten sie viel getanzt. Keinen Moment hatte Jiri sie allein fortgelassen. Ihr war es recht. Frei und glücklich hatte sie sich gefühlt, leicht wie eine Feder, und die Welt drehte sich nur um sie beide. Gegen Mitternacht hatte sie gehen wollen. Sie wollte mit Jiri allein sein. Gleich, hatte er gesagt und Wein eingegossen. Viele waren schon fort, auch ihre und Jiris Eltern. Wir können nicht als erste, hatte Jiri gesagt, denn aus der Klasse war noch niemand gegangen. Einige tanzten. Die andern saßen und hielten sich am Glas fest, mehr oder weniger weggetreten. Eine Gruppe Unermüdlicher, Lehrausbilder, Lehrer, ein paar vom Kombinat, bestellten Runde um Runde. Vorher hatte Susi darüber hinweggesehen. Nun ekelte sie das an. Sie hatte Jiri gemustert. Noch hielt er sich gerade. Er wusste, dass sie das Trinken nicht mochte. Uns vermisst keiner, hatte sie ihm zugeflüstert und sich an ihn geschmiegt, komm!

Sehr langsam waren sie auf dem Dammweg der Stadt entgegen gegangen. Pausen gab es, immer längere Pausen. Als ein Auto sie mit seinen Scheinwerfern aus der Dunkelheit riss, wollte Jiri den Dammweg verlassen. Die Wiesen dufteten nach Heu. Nicht hier, hatte sie gesagt, und sie waren schnell und ohne Zögern zu ihm nach Hause gegangen.

Susi wohnte am andern Ende der Stadt. Nicht das war der Grund, warum sie zu ihm gingen. Sie gingen immer zu Jiri. Ihr kleiner Bruder schlief mit in ihrem Zimmer. Sie hatte gewollt, dass er bei ihr schlief. Er ging schon in den Kindergarten. Manchmal, wenn sie in der nächtlichen Stille seine Atemzüge vernahm, stand sie auf und beugte sich über sein Bett und streichelte ihn. Natürlich hätte der kleine Thomas bei den Eltern schlafen können, aber Susi hatte gesagt, bei ihr sei doch Platz, und vielleicht war es den Eltern ganz lieb. Als sie das erste Mal bei Jiri geblieben war, hatte die Mutter noch einmal die Rede darauf gebracht. Susi wollte nichts ändern. Der Vater hatte das missverstanden, lange bliebe sie wohl sowieso nicht mehr bei ihnen. Ihr hatte das einen Stich versetzt, denn sie konnte und sie wollte es sich nicht vorstellen, woanders zu Hause zu sein. Zu Hause war sie bei den Eltern und bei ihrem kleinen Bruder.

Auch in dieser Nacht fühlte sich Susi in Jiris Armen wohl. Seine Eile beunruhigte sie nicht, weil sie selbst ungeduldig war, und es war schön wie immer. Dann lagen sie still nebeneinander. Als sie sich wieder an ihn schmiegte, denn erst jetzt war dieser einmalige Tag vollkommen, sagte er: "Und nun wird geheiratet."

"Geheiratet?" Sie lauschte dem Wort nach. Nichts erschien ihr in diesem Augenblick natürlicher, als immer mit Jiri zusammen zu sein, ein ganzes Leben lang.

"Sofort!", sagte er, drehte sich auf die andere Seite und schlief auf der Stelle ein. Das konnte nicht wahr sein! Susi beugte sich über ihn. "Jiri", sagte sie, "du kannst doch jetzt nicht schlafen!" Tief aus seiner Brust kam ein Grunzlaut, der nicht zu deuten war. Gleich darauf begann er zu schnarchen, dezent zwar, doch es bewirkte, dass sich Susi wieder zurücklegte. Sie rückte von Jiri ab, so weit sie konnte. Ein Bett ist nur eine kleine Endlichkeit. Susi spürte die harte Kante, und die drückte und versetzte sie in den Zustand totaler Nüchternheit.

Es war doch nicht möglich, dass der, der gerade gesagt hatte, er wollte sie sofort heiraten, neben ihr seelenruhig vor sich hin schnarchte. Susi erinnerte sich nicht, dass Jiri jemals geschnarcht hatte. Sonst war sie in seinen Armen eingeschlafen. Sie stieß Jiri an. Die Antwort war ein unwilliger Brummton. Stille. Und das Schnarchen begann von neuem, lauter sogar.

Susi stand auf. Sie ging ans Fenster, das weit geöffnet war. Der sommerliche Duft der Wiesen breitete sich bis in die Vorstadt aus, bis zu diesem Haus.

Waren sie sich überhaupt einig gewesen zu heiraten? Alle erwarteten es, aber sie hatten nie darüber gesprochen. Sie konnte ein gemeinsames Leben nicht so anfangen, dass der eine befahl und der andere tanzte. Susi sah zu Jiri hinüber. Da lag er, nicht ansprechbar. Dabei war das Heiraten ein ernster Entschluss. Sie hatte nicht die Absicht, heute Hochzeit zu machen, sich morgen scheiden zu lassen und das ein paar Mal zu wiederholen. Sie wollte nur einen.

Jiri schlief. Das tat weh und machte wütend. "Was er sich herausnahm! Der Heiratsbefehl stammte aus der prähistorischen Männerzeit. Keine Rede von Gleichberechtigung der Frau. Nie hätte sie geglaubt, dass ihr Jiri solche Rudimente der Vergangenheit mit sich schleppte. Eine Art Nashorn war er, ein Oldtimer der Natur. Die Schlussfolgerung erschreckte Susi so, dass sie zu schluchzen begann. Als die Tränen versiegten, war die Wut tot. Was blieb, war Trauer. Susi setzte sich auf das Fensterbrett. Es war breit und lang. Sie strich mit den Fingern über das Holz. Jiri, dachte sie, Jiri! Oft hatten sie sich beide hier gegenübergesessen, die Beine angewinkelt, den Rücken am Fensterflügel. Sie hatten sich gegenseitig die Hausaufgaben abgefragt. Das Abi war kein Pappenstiel. Mit Jiri lernte es sich gut. Susi hatte sich immer vorgestellt, es würde auch später beim Studium so sein, sie beide auf dem Fensterbrett in einer Studentenbude, ihrer ersten gemeinsamen Wohnung. Wenn Jiri jetzt beschlossen hatte, dass sie heiraten wollten, hatte er vorausgesetzt, sie wollte es auch. Wollte sie es wirklich?

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich entscheiden musste. Sie allein.

Vier Jahre lang hatte sie es als selbstverständlich angesehen, dass Jiri da war, wenn sie ihn brauchte. Sie konnte jedoch auch in ihrem eigenen Bett schlafen und zu Hause mit den Eltern und dem kleinen Bruder leben, allein lernen. Sie nahm sich die Freiheit, und Jiri hatte nie etwas dagegen eingewendet. So hatte ihr das Leben gefallen, und sie hatte geglaubt, es ginge immer so weiter.

Ihr wurde bewusst, die Zukunft mit Jiri hatte etwas Romantisches an sich. Sie mochte diesen Hauch Romantik. Es machte ihr Spaß, sich auszumalen, wie ihre Wohnung aussehen würde, was sie tun würden, wie sie Gäste empfinge. Es war ein Spiel. An eine Entscheidung hatte sie nicht gedacht. Natürlich machte es auch Spaß, sich zu lieben. Sie wollte nicht darauf verzichten, aber war Jiri der Mann, den sie ein Leben lang haben wollte? Da waren doch noch andere gewesen. Susi begann zu zählen. Die Finger einer Hand reichten nicht aus. Sie musste die andere zu Hilfe nehmen, den kleinen Finger davon. Jiri, das war der sechste Mann in ihrem Leben. Er hätte keine Hand zum Zählen gebraucht, sondern nur einen einzigen Finger. Susi wusste, sie war seine erste Liebe.

Sie hatte sich nicht verzählt. Sechs waren es. Herrn Janek rechnete sie nicht dazu. In der achten oder neunten Klasse hatte sie ihn kennengelernt. Dann erinnerte sie sich genau, sie hatte die achte Klasse hinter sich gebracht und die großen Ferien.

2. Kapitel

Alles begann an einem der scheußlichsten Tage, die ein Schüler im Laufe des Jahres erlebt. Wie Susi an ihrer Mutter beobachtet hatte, wirken selbst Lehrer, wenn sie es auch niemals laut zugeben würden, an diesem Tag leicht melancholisch.

Letzter Ferientag nach acht wunderbaren Sommerwochen!

So war das Leben. Kaum hatte man ein Schuljahr hinter sich gebracht, begann das ganze Theater von vorn. Und da soll der Mensch nicht bedrückt sein? Gegen miese Stimmung hilft Aktivität, man muss was unternehmen. Susi wollte mit Marianna zum EisCafé. Dort traf man immer ein paar aus der Klasse, und die hatten am einunddreißigsten August auch nur eins im Kopf, auf gar keinen Fall an die Schule zu denken.

Der Vater machte einen Strich durch die Planung. Er hatte Herrn Janek eingeladen, einen polnischen Kollegen mit unaussprechbarem Familiennamen, der seit einigen Wochen an einem Projekt im Meliorationskombinat mitarbeitete. Natürlich bestand der Vater darauf, seine ganze Familie vorzuführen. Wie im Zoo! Susi protestierte. Es half nichts. Der Vater sprach von RGW und Völkerfreundschaft, die Mutter von Anstand. Susi sollte an ihre gute Erziehung denken und sich feinmachen. Aus ihren Jeans sollte sie raus. Feinmachen, dass die Mutter solch ein lächerliches Wort überhaupt in den Mund nehmen konnte! Susi knallte die Tür hinter sich zu.

Wie konnte es anders sein, es war die karierte Bluse, die Susi zuerst aus dem Schrank nahm. Sie war neu und gerade das, was man zurzeit trug. Susi zog sie gern an, zu Jeans!

Sie nahm ihre zwei Röcke vom Bügel. Wer zog schon freiwillig einen Rock an! Längst hätte sie beide in den Lumpensack gestopft, wäre es nach ihr gegangen. Es ging nicht nach ihr. Der blaue Rock war zu klein geworden. Den war sie endlich los. Im grauen kam sich Susi lang und albern vor. Mit der karierten Bluse, nein, das konnte sie ihrer Lieblingsbluse nicht antun.

Kleider fand Susi genauso unmöglich. Sie besaß mehrere, fast ungetragen. Egal was, dachte sie und griff, ohne hinzusehen, in den Schrank, sie müssen mit dem zufrieden sein, was ich anhabe. Als Susi die Augen öffnete, bemerkte sie, dass sie ausgerechnet das weiße Kleid erwischt hatte. Die Mutter hatte es gekauft, weil es ihr so gut gefiel, aber Susi hatte es nur unwillig anprobiert. Doch egal was, dachte sie noch einmal, zog es an und musterte sich im Spiegel. Wie Papier mit Spucke sah sie aus, alle Sommerbräune war futsch. In diesem Aufzug setzte sie keinen Fuß aus der Wohnung. Gerade als sich Susi von ihrem Spiegelbild abwenden wollte, ging eine Veränderung damit vor. Susi lauschte in sich hinein und blickte dabei in den Spiegel. Das Bild blieb. Ihre Augen glänzten, die Sommerbräune war wieder da, das weiße Kleid hob sie sogar hervor, und es saß ganz auf Figur. Susi sah sich neu, wie sie sich noch nie gesehen hatte. Es war wie Zauber. Er geriet ins Wackeln, als die Mutter ins Zimmer kam. "Ganz Dame", sagte sie, "siehst du hübsch aus, Kind."

Erst Dame und dann Kind. Da hat der Mensch die Jugendweihe hinter sich gebracht, hoch und heilig wurde ihm versichert, er sei nun in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, und die Mutter redete, als hätte sie von alledem nichts mitbekommen. Sie blickte auf Susis Spiegelbild und sagte: "Nimm meine goldne Kette mit dem roten Stein."

Susi wartete, dass die Mutter das gewohnte "Kind" dazu setzte, aber es blieb aus. Darum schluckte sie ihren Ärger hinunter. Sie ließ sich die Kette umlegen. Wäre es der Mutter in diesem Augenblick eingefallen, nun nimm dich auch schön in Acht, Kind, zu sagen, hätte Susi trotz des Spiegelzaubers auf der Stelle das weiße Kleid samt goldner Kette abgelegt. Die Mutter sagte es nicht. So war der Hausfrieden gerettet. Der Vater konnte seine Familie vorführen.

Susi zog ihre Schuhe mit den hohen Absätzen an, die von der Jugendweihe. Irgendwann musste sie lernen, mit den Apparaten zurechtzukommen. Das war wie beim Radfahren oder Schwimmen, es gehörte eine Portion Überwindung dazu. Um sich einzulaufen, stakste Susi im Zimmer umher. Der Spiegel schien das zu missbilligen. Wie ein Kalb, dachte Susi, und ihr fiel ein, dass Marianna bei der Jugendweihe fast auf die Bühne gefallen war. Trotz der Feierlichkeit hatte jemand im Saal laut und unverschämt gelacht, und Marianna war knallrot geworden. Susi konzentrierte sich auf das Üben. Wenn dieser Herr Janek aufkreuzte und sie ihm aus Versehen um den Hals fiele, nicht auszudenken! Nach einiger Zeit hatte sie vergessen, dass die Schuhe nicht zu ihren Füßen gehörten.

Der Vater pfiff durch die Zähne, als er Susi zu Gesicht bekam. "Wie die schöne Galathee persönlich", sagte er. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Nein, er meinte es ernst. Wer aber war Galathee? Ein Popstar? Davon hatte der Vater keine Ahnung. Rein gefühlsmäßig tippte Susi auf klassisch. Sie hatte nicht unrecht. Meernymphe der griechischen Sage, so hieß es im Lexikon. Die Auskunft war mager. Da der Vater auf diesem Gebiet kein Experte war, ging Susi zur Mutter, die vorm Spiegel stand und Kleid und Frisur zurechtzupfte. Ehe sie ihre Frage vorbringen konnte, hupte ein Auto vor dem Haus.

Der Vater rannte zum offenen Fenster. "Janek!", schrie er. "Janek!" Wie ein Wilder ruderte er mit den Armen, als wollte er seinen Gast einweisen. Dann rief er: "Irene, Susi, macht hin!" Sie hörten ihn die Treppen hinunterjagen. Wahrscheinlich nahm er die letzten Stufen jedes Absatzes im Sprung, denn es krachte gewaltig in regelmäßigem Abstand. Kein Wunder, bei seinen einhundertachtzig Pfund. "Komm", sagte die Mutter. Sie sah Susi nicht an dabei, sondern kontrollierte nochmals im Spiegel, ob alles in Ordnung war. Susi musste plötzlich kichern. "Sei nicht albern", sagte die Mutter mit einer Schärfe, die ihre Erregung verriet. Susi presste die Lippen zusammen. Die Mutter dirigierte sie vor die Wohnungstür, und sie sahen den Vater mit seinem Gast die Treppe heraufkommen. In einem fort klopfte er Herrn Janek auf die Schulter, als müsste er dessen Jackett von Staub befreien, und er rief: "Da ist er! Na, habe ich euch zuviel versprochen?"

Er hatte überhaupt nichts versprochen, sondern nur gesagt, am Sonntag besucht uns Janek. Eine einfache Mitteilung also, die unausgesprochen die Forderung enthielt, stell was Anständiges zu essen auf den Tisch, Frau!

Herr Janek verbeugte sich vor der Mutter und küsste ihr die Hand. Die Mutter sagte, wie sie sich freue und wie gespannt sie beide, dabei zeigte sie auf Susi und sich, gewesen seien.

Susi hätte schon wieder kichern können. Sie hatte nicht geglaubt, dass der erste ausländische Gast ihre Eltern so verwirren würde. Vielleicht brachte die Mutter es noch fertig zu sagen, nun mach einen ordentlichen Knicks, Kind. Dazu kam es nicht, denn Herr Janek trat auf Susi zu. "Oh, das Fräulein Tochter, ich freue mich, Sie kennen zu lernen." Genau wie der Mutter küsste er ihr die Hand. Susi war so erschrocken, dass sie stillhielt. Das konnte doch nicht wahr sein, er hatte ihr die Hand geküsst, wie man einer Frau die Hand küsst. Ein richtiger Mann und ein fremder dazu! Sie spürte, dass ihr Gesicht zu glühen begann. Mehr im Unterbewusstsein vernahm sie, wie Herr Janek zu ihrer Mutter sagte, dass das Fräulein Tochter ganz ihr Ebenbild und schön wie eine weiße Lilie sei.

"Lilie?" Der Vater stutzte. "Wart mal, ich hab's, das mit Galathee: Willst rote Rosen du zu weißen Lilien..."

"Weiße Lilien zu roten Rosen", fiel ihm die Mutter ins Wort.

"Mein ich ja", sagte der Vater. Die Mutter sah ihn kopfschüttelnd an. "Wie kommst ausgerechnet du auf Galathee?"

"Wie bitte?", erkundigte sich Herr Janek. Die Mutter erklärte, es handle sich um ein Sinngedicht, das von Friedrich Logau stamme, siebzehntes Jahrhundert.

"Oh, Literatur", sagte Herr Janek. "Sie lieben die Literatur, Frau Sommer." Er bot der Mutter galant den Arm, und sie führte den Gast ins Wohnzimmer.

Susi hatte alles nur am Rande registriert. Sie war verwirrt. Für einen Moment musste sie in ihrem Zimmer allein sein. "Du", sagte sie zu ihrem Spiegelbild, "ein Mann hat dir die Hand geküsst, nun bist du erwachsen. Begreifst du das?" Die Schöne im weißen Kleid nickte. "Wirklich und wahrhaftig", bekräftigte Susi. "Fremde Männer sehen eben eher als Eltern, wann Töchter erwachsen sind." Ein Stück der Umgebung drängte sich ihrem Blick in den Spiegel auf: die Liege.

Am Morgen, sobald das Bett weggeräumt war, lagen nur ein buntes Kissen und der uralte braune Teddybär darauf. Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr Kram häufte sich auf und um Susis Lieblingsmöbel an. Sie hatte die Angewohnheit, alles, was sie aus der Hand legen wollte, dort fallen zu lassen. Dagegen half kein mütterliches Machtwort, aber die Befürchtung, dass die Eltern in ihrem Gastgeberstolz Herrn Janek die Wohnung bis in den letzten Winkel vorführen könnten, setzte Susi in Gang.

Sie raffte alle umherliegenden Kleidungsstücke zusammen und stopfte sie in den Bettkasten. Ihre zerlatschten Sandalen stieß sie unter die Liege. Mit einer Armbewegung fegte sie Kaugummis, Papierkram, Kugelschreiber und eine zur Hälfte aufgegessene Tafel Schokolade in den Schreibtischkasten. Zuletzt nahm sie den Teddy. Einen Augenblick lang sah sie ihn an. Sie besaß ihn, solange sie denken konnte. Dann stopfte sie ihn in den Schrank. Das Zimmer sah total aufgeräumt aus. Trotzdem war Susi nicht zufrieden. Sie versprühte ein wenig Parfüm und ließ ihren Fransenschal dekorativ über eine Sessellehne fallen. Das gab dem Ganzen einen Sibylle-Effekt. Der Handkuss verlangte geradezu danach. Bei einem letzten Blick in den Spiegel kam Susi das Gerede von Lilien und Rosen in den Sinn. Wer war dieser Logau und was ein Sinngedicht? Als ob nicht jedes Gedicht einen Sinn hätte, jedenfalls lernten sie ihn in der Schule immer mit.

Im Wohnzimmer setzte sich Susi Herrn Janek gegenüber, und mitten in das Gespräch der Erwachsenen hinein, zu denen sie nun auch zählte, sagte sie: "Ich darf Sie Herr Janek nennen, nicht wahr?"

Alle drei sahen sie an. Die Eltern verwundert, auch missbilligend, denn bisher war es nicht die Art der Tochter, ein Gespräch zu unterbrechen. Hatten sie sich nicht fünfzehn Jahre lang bemüht, sie zu einem höflichen Menschen zu erziehen? Schon wollte die Mutter sie zurechtweisen, aber etwas hielt sie zurück. Sicher war es die neue Susi im weißen Kleid, die sehr gerade im Sessel saß und Herrn Janek lächelnd anblickte. Eine junge Dame, dachte die Mutter und hörte mit noch größerer Verwunderung, dass Herr Janek antwortete: "Gewiss, Fräulein Susi. Sie gestatten mir, Sie so zu nennen?"

"Unnötig, Janek", sagte der Vater, "sag einfach Susi, sie ist doch noch ein Kind."

"Natürlich", stimmte die Mutter erleichtert zu, weil der Vater die Sache so schnell auf den richtigen Nenner gebracht hatte, und sie fragte: "Nicht wahr, mein Kind?"

Susi widersprach nicht. Sie zögerte mit der Antwort, obwohl sie keinen Fingerbreit nachzugeben gedachte. Herr Janek kam ihr zu Hilfe. "Nein, nein", sagte er, "das ist kein Kind, das ist ein Fräulein." Er blickte den Vater an. "Du merkst nur nicht, dass deine Tochter ein Fräulein ist." Danach wandte er sich an die Mutter. "Sie müssen sich daran gewöhnen, Frau Sommer."

Die Mutter zupfte nervös an ihrem Kleid. Der Vater lachte. Unsicher hörte es sich an. Auf einmal taten Susi die Eltern leid. Ein anderes Thema, dachte sie, und ihr fiel auf, dass der Vater noch nichts zu trinken angeboten hatte. "Soll ich den Wodka holen, Vati?"

"Der Wodka!", sagte der Vater. "Natürlich der Wodka! Ich wusste, ich hatte etwas vergessen."

Susi war schon unterwegs. Männer hielten ihrer Meinung nach viel von Wodka. Sie stellte Flasche und Gläser auf den Tisch. Vier Gläser, obwohl sie auf Eierlikör stand, doch ihr ging es um das Prinzip: Gleichen Schluck für alle!

"Bitte mir nicht", sagte die Mutter.

"Wenigstens zum Anstoßen", redete ihr der Vater zu.

"Aber nur ganz wenig." Susi respektierte den Wunsch der Mutter. Die Gläser der Männer füllte sie bis zum Rand. Sie selbst blieb bescheiden, schenkte sich jedoch einige Millimeter mehr ein als der Mutter.

Der Vater hob sein Glas. "Auf dein Wohl, Janek!" Herr Janek sagte: "Auf gute Freundschaft!"

"Auf gute Freundschaft", erwiderte Susi. Sie trank ihr Glas mit einem Zug leer, weil sich das bei einer guten Freundschaft wohl gehörte, und so schwer es ihr fiel, sie schüttelte sich nicht danach.

Eisern blieb Susi an diesem Tag erwachsen. Sie war freundlich und zuvorkommend und half der Mutter. In diesem Punkt hatte sie ihre Eltern bisher nicht verwöhnt. Sonst pflegte sie deren Gästen möglichst aus dem Weg zu gehen. Darum sagte die Mutter, als der Besuch gegangen und sie mit dem Vater allein war: "Sie wird doch erwachsen."

"Wer?" fragte er.

"Unsere Susi."

"Ach so", sagte er genauso abwesend wie nach der ersten Frage und schaltete den Fernseher ein, denn nun wollte er endlich in Ruhe seine Sportnachrichten sehen. Die Mutter blieb mit ihren Gedanken über die große Tochter allein.

Allein war auch Susi. Sie lag auf ihrer Liege, den Blick zur Decke gerichtet. Kein Zweifel, der letzte Ferientag war ein besonderer Tag. Trotzdem dachte Susi nicht an die Schule. Das lange Jahr des Lernens, das vor ihr lag, war nichts als ein kaum wahrnehmbarer Schatten hinter der wunderbaren Tatsache, erwachsen zu sein. Was für den Knappen der Ritterschlag, das war für sie Herrn Janeks Handkuss. Ein toller Mann! Völlig anders als der Vater, der höchstens stattlich, aber niemals interessant aussah. Wenn Susi sich vorstellte, ihr Vater würde einer jungen Dame die Hand küssen - sie dachte wirklich junge Dame, obwohl ihr das Wort noch am Morgen total überdreht und komisch erschienen wäre -, dann konnte sie nur lachen. In diesem Moment fiel ihr ein, dass er zu ihr gesagte hatte, wie die schöne Galathee persönlich. Erst Galathee und dann: Sie ist noch ein Kind. Wann gingen dem Vater endlich die Augen auf?

Der Mutter waren sie aufgegangen, ein wenig jedenfalls. Nachdem der Besuch fort war, hatte sie nicht wie sonst herumkommandiert. Gleichberechtigt machten sie sich an den Aufwasch, und als Susi zwischen zwei Tellern nach Logau und Galathee fragte, hatte die Mutter ihr sofort ein Buch geholt. Es war von Gottfried Keller, der laut Literaturunterricht zum kulturellen Erbe gehörte, und der Titel "Ein Sinngedicht" riss Susi nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Es handle von Liebe, hatte die Mutter gesagt. Mit mütterlicher Genehmigung ein Liebesbuch also. Längst kannte sich Susi in solchen Büchern aus. Theoretisch wusste sie glänzend Bescheid, was es mit der Liebe auf sich hatte, aber klassisch oder so war sie ihr noch nicht unter die Finger geraten. Susi drehte sich auf die Seite, stützte den Kopf in die rechte Hand und schlug das Buch auf, noch immer misstrauisch, denn Kulturerbe und Schullektüre waren für Susi Horror.

Ein junger Wissenschaftler brach auf, um das Leben zu entdecken. Dafür hatte Susi Verständnis. Die Welt war schließlich größer als die vier Wände, in denen man hauste. Sie las sich fest und stieß bald auf Logaus Sinngedicht:

Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küss eine weiße Galathee: Sie wird errötend lachen.

Der Spruch klang viel versprechend. Er gefiel ihr, noch mehr der junge Wissenschaftler. Sein Leben lang hatte er studiert und studiert, bis er eines Tages auf diesen Spruch stieß. Susi konnte sich gut hineindenken, wie er schlagartig begriff, dass es im Leben mehr gab, als immer nur zu lernen. Weil er Wissenschaftler und deshalb ein gründlicher Mensch war, beschloss er, den Spruch, der zunächst nichts als eine papierne Behauptung darstellte, in der Realität zu prüfen. Er nahm das Moped der damaligen Zeit, ein Pferd, und ritt los. Da ritt er nun, der Herr Reinhart, und alles, was ihm in den Weg kam und einen Hauch von Galathee an sich hatte, wurde getestet. Er küsste das Zöllnermädchen, die schöne Gastwirtin und die Pfarrerstochter, und bei Lux blieb er hängen. Susi war mitgeritten und nicht von seiner Seite gewichen, und eigentlich hatte sie all diese Küsse bekommen.

Das verwirrte sie, und sie versuchte sich Herrn Reinhart vorzustellen. Sie musste schließlich wissen, mit wem sie die ganze Zeit unterwegs gewesen war. Es gelang ihr nicht. Seine Gedanken kannte sie, aber das war ihr zuwenig. Sie wollte sein Gesicht sehen. Susi legte das Buch auf den Nachttisch und knipste die Lampe aus, um günstige Voraussetzungen dafür zu schaffen. Obwohl ihr Herr Reinhart sehr gefiel, spürte sie einen Stachel. Wozu musste Gottfried Keller einen Mann ausreiten lassen? Gut, sagte sie sich, das war vor hundert Jahren, da gab es noch keine Gleichberechtigung. Trotzdem ließ sich der Spruch genauso gut umgekehrt ausprobieren. Wenn sie zum Beispiel Jiri, der in der Klasse neben ihr saß, scharf anguckte, wurde er rot wie eine Signalleuchte, sogar ohne Kuss. Susi hing nicht länger Herrn Reinharts Bild nach. Sie war zum Ausreiten entschlossen. Versuchsobjekte gab es mehr als genug, und das kommende Schuljahr sah sie nun unter völlig neuem Blickwinkel. Zufrieden drehte sie sich auf ihre Schlafseite, stopfte einen Zipfel vom Kopfkissen unters Ohr und war im Handumdrehen eingeschlafen.

3. Kapitel

Am ersten Morgen des neuen Schuljahres erwachte Susi früher als gewöhnlich. Das passierte meist, wenn etwas Neues auf sie zukam, aber sie fühlte deutlich, mit der Schule hing es nicht zusammen. Sie schloss noch einmal die Augen, und da fiel ihr Herr Reinhart ein. Sie sah ihn auf sich zukommen, und er küsste ihr die Hand wie Herr Janek, nur dass er viel, viel jünger und schöner war und genau der Typ, den sie mochte. Er sah sie mit seinen braunen Augen an, sein Gesicht kam näher, und er küsste sie auf den Mund. Dazu hörte sie eine Stimme, volltönend wie die eines Schauspielers. Sie sprach den alten Spruch von den Lilien und Rosen. Susi lächelte, ihr Gesicht glühte. "Du bist ja noch nicht auf!"

Vom Aufschrei der Mutter geweckt, fuhr Susi aus den Kissen. Der wunderbare Traum verkroch sich vor den Forderungen des ersten Schultages. "Beeil dich! Du weißt doch, der Fahnenappell! Zieh das Blauhemd an! Blamier mich nicht!"

Susi sprang aus dem Bett. Es war wie an tausend anderen Morgen. Jeder hastete, steckte zur einen Hälfte noch zu Hause und dachte mit der anderen schon an die Arbeit. Auch Susi beeilte sich. Sie wollte an diesem Tag nicht zu spät kommen. Ihr war, als wartete nicht die Schule auf sie, sondern etwas außerordentlich Schönes, und das war gewiss nicht der Fahnenappell. Die Ansprache des Direktors kannte sie bereits aus den Vorjahren. Sie würde alle aus ihrer Klasse wieder sehen. Darauf freute sie sich, obwohl es nicht das Außerordentliche sein konnte, das sie in Spannung versetzte.

Susi musterte sich im Spiegel. Ein I-Tupfer auf der Schönheit fehlte. So spät es war, Susi rannte nach ihrem Kosmetiktäschchen, das sie seit langem besaß, weil man als Mädchen so etwas einfach besitzen musste. Benutzt hatte sie es kaum. Als sie Lippenstift aufgetragen hatte, stimmte alles. Schließlich konnte sie in der Neunten nicht wie ein Baby aufkreuzen.

Sie sah auf die Uhr. Zum Frühstück blieb keine Zeit, aber einmal musste sie vom Brötchen abbeißen, sie hatte plötzlich so ein tolles Hungergefühl, und einen Schluck Kaffee musste sie trinken. Sie griff nach der Mappe. Leicht wog sie. Am ersten Tag hat der Schüler das Recht, ohne Bücher in der Schule zu erscheinen.

Zum Glück hatte die Mutter die Frühstücksschnitte fertiggemacht. Die durfte nicht fehlen. Todsicher würde man bis zur sechsten Stunde durchziehen. Früher soll spätestens nach der vierten Schluss gewesen sein. Früher, da war die Volksbildung noch menschlich. Jetzt aber geizte man mit jeder Sekunde und stopfte die Schüler mit Wissen voll. Vor Zeiten hatte man Gänse mit Futter voll gestopft. Nudeln hieß das, und dagegen war der Tierschutzverein eingeschritten. Warum gibt es keinen Schülerschutzverein, dachte Susi.

Sie biss noch einmal vom Brötchen ab und nahm einen Schluck Kaffee. Für sechs Stunden brauchte der Mensch Kondition. Trotz der vorgerückten Zeit schaffte sie es noch. Man war gerade dabei, zum Fahnenappell Aufstellung zu nehmen. Das dauerte, da die Schüler mit ihrer Wiedersehensfreude beschäftigt waren und sich hunderttausend Sachen zu erzählen hatten. Sicher hätten die Lehrer das auch gern getan, doch der Direktor drängelte. Besuch war da, jemand vom Kreis. Darum unterstützten die Lehrer Direktor Lasahls Bemühungen, leise mahnend die einen, laut schimpfend die anderen, bis endlich alle Schüler ihren Platz gefunden hatten.

Das übliche Zeremoniell begann: melden, stillstehen, Augen zur Fahne. Üblich war, dass niemand stillstand, dass man sich weiter unterhielt. Ab und zu schimpfte ein Lehrer aus dem Hintergrund. Die meisten schonten ihre Nerven und redeten auch miteinander. Vorn bemühte sich Direktor Lasahl, den Schülern das neue Schuljahr schmackhaft zu machen. Er spornte sie zum Lernen an, und die Notwendigkeit dazu leitete er vom Klassenkampf ab.

Susi stand neben ihrer Freundin Marianna. Sie deutete mit dem Kopf zur Schulleitung hinüber, wo die neuen Lehrer standen. "Der da", flüsterte Marianna, "der muss unser neuer Mathelehrer sein, einer mit Bart." Sie begann zu kichern.

Dass der Mathelehrer wechseln würde, wusste Susi schon von der Mutter. Da sich Susi für Mathe herzlich wenig interessierte, war es ihr gleich, ob der Neue einen Bart hatte oder nicht.

"Einfach toll, wie der aussieht", stellte Marianna fest. Das verwunderte Susi, und sie beschloss, den Neuen ins Visier zu nehmen. Sie drehte den Kopf, und es war nicht zu fassen, sie glaubte zu träumen! Sie kniff die Augen zu, riss sie auf, nichts veränderte sich: Dort stand kein Mathelehrer, dort stand haargenau er, mit dem sie unterwegs gewesen war, der sie am Morgen geküsst hatte. Ob Traum oder nicht - spielte keine Rolle. Nur der Bart irritierte. Vielleicht hatte sie ihn übersehen, aber diese braunen Augen kannte sie. Dunkle Haare, fast schwarz, auch das stimmte, und dass er größer war, mehr als einen Kopf. Sie erinnerte sich genau, sie konnte sich bequem an seine Brust lehnen. Kein Zweifel, er war es! Ein Schwindelgefühl erfasste Susi.

"Ist dir schlecht?" fragte Marianna. Susi schüttelte den Kopf.

"Siehst aber so aus."

In dem Augenblick bat Direktor Lasahl die neuen Lehrer vorzutreten. Zuerst stellte er die Lehrerinnen vor. Sie interessierten Susi nicht. Dann kam er! "Herr Kirschbaum", sagte der Direktor, "er wird bei uns Mathematik und Physik unterrichten."

Einige lachten. Susi blickte sie wütend an. Was kann der Mensch für seinen Namen! Und doch passte er. Lippen, rot wie Kirschen. Susi musste die Augen schließen und flüsterte: "Herr Reinhart."

"Reinhart?", fragte Marianna. "Der heißt doch Kirschbaum, oder ist das sein Vorname?"

"Den mein ich nicht", sagte Susi.

"Welchen Reinhart meinst du? Kenn ich den?" Susi schüttelte den Kopf.

"Du glühst wie 'ne Rose", sagte Marianna. "Oder hast du Fieber?"

Direktor Lasahl ließ das Abschlusslied singen. Marianna sang gern. Sie hatte eine so kräftige Stimme, dass sie aus dem mageren Gesang der Neunten etwas fast Vollwertiges machte. Gut, dass Marianna beschäftigt war und nichts ahnte. Susi spürte noch die Glut in ihrem Gesicht. Mathe und Physik würde sie bei Herrn Kirschbaum haben, und plötzlich erschienen Susi beide Fächer in völlig neuem Licht. Jeden Tag würden sie zusammen sein, sie und ihr Herr Reinhart. Selbst wenn er die ganze Klasse vor sich hatte, würde er einzig zu ihr reden, und das war so wunderbar, dass Susi seufzen musste. Marianna legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Keine Angst, so schlimm wird das neue Schuljahr schon nicht werden."

"Du", sagte Susi, "ich freu mich richtig."

4. Kapitel

Sie hatten einen anderen Klassenraum bekommen. Das bedeutete einen neuen Platz. Den richtigen zu erwischen ist ungeheuer wichtig. Wer schlecht sitzt, der kann ein ganzes Schuljahr lang unglücklich sein.

Susi saß am liebsten weit vorn, möglichst am Fenster in der ersten Reihe. Vorderplätze sind wenig begehrt, aber die am Fenster umso mehr, wenn sie nicht mit Farbe oder Sichtwerbung verkleistert sind und etwas Ablenkung im Schuleinerlei garantieren. Deshalb steuerte Susi sofort auf den ersten Fensterplatz zu. Marianna nahm den in der zweiten Reihe. So besaßen sie immerhin eine gewisse Redefreiheit, denn Herr Schorn, ihr Klassenleiter, der sie in Geschichte und Geographie unterrichtete, hätte sie doch nicht nebeneinander sitzen lassen, weil er die Ansicht vertrat, sie wären dann zu aktiv, und sie wussten genau, wie er es meinte. Kaum dass Herr Schorn seinen Fuß in die Klasse gesetzt hatte, sagte er auch diesmal: "Die Sitzordnung." Dann erst bemerkte er, dass Susi und Marianna nicht an einem Tisch saßen. "Na endlich", sagte er, "spät ist besser als zu spät." Er ging zum gewohnten Stundenablauf über. Obwohl in der Neunten das Sie fällig gewesen wäre, duzte er sie. Susi fand das besser. Wenn plötzlich ein Mensch, den man eine Ewigkeit lang kennt, zum Sie übergeht, wäre ihr das lächerlich vorgekommen, so als gehörte man gar nicht mehr zusammen. Dazu verstanden sie sich mit Herrn Schorn zu gut.

Weil das Verhältnis zwölf zu zwölf sei, meinte er, sollte sich jedes Mädchen einen Nebenmann aussuchen. Die Jungen protestierten, aber Herr Schorn versprach, dass sie im nächsten Schuljahr das Recht der Wahl hätten. Damit gaben sie sich zufrieden. Herr Schorn ging alphabetisch vor. Als Susi an die Reihe kam, waren nur noch drei Jungen übrig. Ohne zu zögern, wählte sie wieder Jiri, den Herr Schorn schon im letzten Jahr neben sie gesetzt hatte. Jiri war ruhig und zurückhaltend, und in Mathe und Physik sah er durch. "Tag", sagte Jiri, als er sich neben sie setzte, obwohl das völlig blödsinnig war. Rot wurde er auch noch dabei. Schüchtern war genau richtig, da trat er ihr nicht fortlaufend auf die Nerven.

Wie befürchtet, wurde bis zur sechsten Stunde durchgearbeitet. Zwar hätte sich das jeder an seinen zehn Fingern abzählen können, doch die Neunte reagierte sauer. Nur Susi wartete seit der Bekanntgabe des neuen Stundenplanes gespannt auf die sechste Stunde, die erste bei ihm!

Direktor Lasahl begleitete Herrn Kirschbaum in die Klasse und stellte ihn noch einmal vor, als misstraute er der Wirkung seines Fahnenappells. Bei der Vorstellung hatten jedoch alle erfahrenen Schüler aufgepasst, um die Lehrerneulinge abzutaxieren. Dieser Neue hatte sogar schon seinen Namen weg: Kirschi. Bevor der Direktor ging, wünschte er Herrn Kirschbaum Freude und Erfolg und warf einen ermunternden Blick auf seine Neuner. Klar, dass dieser stumme Ruf wie ein Echo in der Ebene verloren ging. Herr Kirschbaum sah sich in der Klasse um. Die Jungen blieben gleichgültig und ließen sich auf keinen Kontakt ein. Die Mädchen musterten den Neuen abschätzend im Schutz ihrer Wimpern. Marianna kicherte. Immer musste sie kichern, dieses alberne Kalb! Susi zischte sie an. Diese ungewohnte Reaktion fand Marianna noch komischer, und sie kicherte lauter. All das waren Regungen, die ein Greenhorn auf dem schlüpfrigen Boden der Volksbildung nicht fröhlich stimmen konnten. Susi fand es gemein, wie sich die anderen verhielten. Bloß wegen der verdammten sechsten Stunde, um die sie sowieso nicht herumgekommen wären und weil sie ausprobieren wollten, wann dem Neuen der Geduldsfaden reißen würde, damit sie erst richtig loslegen konnten.

Aus der Nähe gefiel Susi Herr Kirschbaum noch viel besser. Den Platz rechts vom Lehrertisch hatte sie ausgesucht, um ihre Ruhe zu haben. In diesem Augenblick bereute sie es und wäre gern in Herrn Kirschbaums unmittelbares Blickfeld umgesiedelt, aber dazu war es zu spät. In kribbelnder Spannung wartete sie darauf, wann er sie endlich ansehen würde. Nach all den sturen Holzböcken in der Klasse sollte er von ihr nicht enttäuscht werden, und sie lächelte ihr schönstes Lächeln für ihn. Als Herr Kirschbaum es bemerkte, erschien es ihm wie ein Rettungsanker. Nein, mehr wie ein Leuchtfeuer, welches der Seemann nach endloser Irrfahrt erblickt. Einige Herzschläge lang hielt er sich an ihrem Lächeln fest. Als Susi rot wurde, hob das sein Selbstgefühl. Er atmete auf und sagte: "Nehmen Sie bitte Ihre Mathematikbücher vor!"

Bücher? Großes Grinsen. Doch nicht am 1. September, Herr Kirschbaum, wer schleppt sich denn da krumm und gibt die letzte kleine Freiheit nach den Ferien preis! Er begann mit der Wiederholung. Was sollte er auch sonst tun? Sicher war es sogar günstig, die Schwachpunkte seiner Kontrahenten schnell zu erkennen. Herr Kirschbaum stieß auf wenig Gegenliebe. Um die Neuner zu aktivieren, trug er Zensuren in die noch unschuldig weißen Seiten des Klassenbuchs ein. Am ersten Tag und in der sechsten Stunde und als Greenhorn!

Von hinten wurde die Parole durchgegeben: Passiven Widerstand leisten! Susi meldete sich jedoch. Marianna boxte sie in den Rücken und flüsterte, ob sie nicht richtig ticke. Susi kümmerte sich nicht darum. Sie kratzte all ihre Kenntnisse zusammen und verstärkte trotz anhaltender Missfallenskundgebungen der anderen ihre Mitarbeit. Die Konzentration förderte manch verloren geglaubtes Körnchen Wissen zutage. Susi staunte über sich selbst. Sie wusste mehr, als sie gewusst hatte. Als Herr Kirschbaum sie an die Tafel rief, konzentrierte sie sich noch mehr. Die kleinste Hilfe, die er ihr gab, begriff sie mit traumwandlerischer Sicherheit und brachte die Aufgabe gut über die Runden. Herr Kirschbaum nickte anerkennend, und da er sich bereits nach ihrem Namen erkundigt hatte, sagte er zu den anderen: "Nehmen Sie sich ein Beispiel an Susi Sommer."

Er schrieb ihr eine Eins ein. Susi strahlte. Eine Eins! Dass sie gerade von Herrn Kirschbaum kam, erschien Susi als gutes Vorzeichen. Jiri flüsterte: "Gratuliere!" Susi bedankte sich zwar, hatte aber ihren Nebenmann im selben Moment schon vergessen.

"Sie sind wohl die Klassenbeste in Mathe, Susi?", fragte Herr Kirschbaum, denn die Vorjahreszensur fehlte noch im Klassenbuch.

"Die Klassenallerbeste", rief der lange Arno, der die Matheeins gepachtet hatte. Lachen kam auf. Susi wurde wieder rot, diesmal vor Wut. Herr Kirschbaum ärgerte sich über das spöttische Gelächter und besonders über den Zwischenruf. Sofort durchgreifen, sagte er sich, zeig ihm, wer hier der Meister ist. Er rief Arno nach vorn, und der verhedderte sich tatsächlich bei seiner Aufgabe. Das war dem Langen bisher nie passiert. Er wurde nervös. Die Zwischenfragen halfen nicht, sondern machten das Chaos perfekt. Am Ende sagte Herr Kirschbaum: "Ich verzichte auf eine Zensur, ich nehme Sie morgen noch einmal heran."

Der Verzicht trug dazu bei, dass die Stunde ruhiger auslief, als sie begonnen hatte. Eine neue Parole wanderte durch die Reihen, und sie lautete: Eine fiese Graupe ist er nicht!

Zeit wurde es, dass die anderen das endlich begriffen, die Welt kam wieder ins Lot, und Susi war glücklich. Vielleicht war sie am Ende gar nicht solch mathematisches Huhn, wie Frau König drei Jahre lang behauptet hatte. Die hatte sowieso die Jungen vorgezogen. Herr Kirschbaum war gerecht. Er hatte ihr verschüttetes mathematisches Talent entdeckt. Mein Kolumbus, dachte Susi.

"Bei Kirschi bist du Nummer eins", stellte Marianna auf dem Heimweg fest.

Susi hörte es nicht ungern, obwohl sie es mit einer Handbewegung abtat.

"Todsicher", sagte Marianna, "und nicht nur in Mathe."

"Du spinnst!" Susi beflügelte ihren Schritt, damit sie vor Marianna kam, denn sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. Bei aller Freundschaft mochte sie Marianna nichts merken lassen, und sie erzählte schnell von Herrn Janeks Besuch und dem Handkuss und wie rot sie dabei geworden war.

"Renn doch nicht so!" Marianna hielt sie fest und schaute ihr ins Gesicht. "Rot bist du immer noch."

"Klar", sagte Susi, "so 'n Handkuss von 'nem richtigen Mann, das hält an."

"Gib zu, wegen Kirschi!", sagte Marianna.

"Quatsch, 'n Lehrer!" Susi tat so entrüstet, dass Marianna sich tatsächlich ablenken ließ. Herr Kirschbaum, der wie Herr Reinhart aussah, war allein ihr Geheimnis, und ihr Geheimnis sollte es bleiben. Nur mit halbem Ohr hörte Susi zu, was Marianna von einem Gernot erzählte, den sie gestern bei der Schülerdisko im Jugendklub kennen gelernt hatte. Er war aus Rietzow, ging in die Zehnte und sollte eine scharfe Maschine haben. "Und dann", sagte Marianna und legte eine Spannungspause ein, in der sie Susi bedeutsam anblickte, "dann haben wir uns vor der Haustür geküsst."

Vor der Haustür bestimmt nicht, dachte Susi, denn sie kannte Mariannas Vorsicht, eher hinter der Hecke bei den Müllcontainern, dort sah einen niemand. Was war schon solch ein Gernot mit Moped, der noch zur Schule ging! Susi fühlte sich ihrer Freundin haushoch überlegen.

Als Marianna nach Hause abgeschwenkt war, ging Susi trotzdem nicht allein. Herr Reinhart begleitete sie. Er sah sie mit seinen braunen Augen an und war erst verschwunden, als die Mutter ihr die Tür öffnete. Natürlich erkundigte sie sich gleich, wie es in der Schule gewesen sei. Susi war daran gewöhnt. Schließlich war die Mutter Lehrerin, und da gehörte diese Frage zum Geschäft. Oft genug hatte Susi geantwortet, Schule sei doof wie warme Milch. Deshalb konnte die Mutter es gar nicht fassen, dass Susi ausgerechnet am ersten Schultag nach den Ferien sagte: "Wunderbar!" Ohne eine Pause einzulegen, erzählte sie von ihrer Eins bei Herrn Kirschbaum und wie gemein sich die Klasse in Mathe verhalten habe.

"Eine Eins?" Die Mutter meinte, nicht richtig gehört zu haben. Sie überprüfte das Gesicht ihrer Tochter, ob sie ihr auch kein Märchen erzählte. "Du in Mathe?" "Ja", sagte Susi, "ich in Mathe."

Das war kaum zu glauben. Die Mutter freute sich und dachte, schau an, dieser junge Kollege, gerade frisch von der Uni! Und wie begeistert Susi war! Hoffentlich hielt das an, damit die Mathematiksorgen aufhörten. "Mach weiter so", sagte die Mutter. Sie hängte nicht einmal das sonst fällige "Kind" an. Susi bemerkte es mit Genugtuung. "Geht klar", sagte sie so bestimmt, als sei die Sache hundertprozentig sicher.

Die Mutter wunderte sich darüber. Was die erfahrene Kollegin König nicht geschafft hatte, gelang dem Neuling auf Anhieb.

Susis Phantasie hatte ein Ziel. Dafür lohnte es sich, etwas zu tun. Susi tat das Nächstliegende, sie setzte sich an die Matheaufgaben. Eines Tages, ihr rieselte es wohlig über den Rücken, würde es wie in Gottfried Kellers Geschichten geschehen. Ihr Herr Reinhart erkannte, dass er sie liebte. Soviel älter war er schließlich nicht. Susi rechnete: Abi, Armee, Studium. Sie kam auf höchstens vierundzwanzig. Neun Jahre machten so gut wie nichts aus. Bei Keller waren die Männer meist älter. Susi übersah, dass ihr bisher alle Leute über zwanzig uralt erschienen waren. Sie schnörkelte ein großes K auf den Heftdeckel und ein S dazu. Als ihr klar wurde, wie verräterisch das war, übermalte sie die Buchstaben. Sie schloss die Augen und zauberte sich ihren Herrn Reinhart herbei. Gerade als er sie in die Arme nehmen wollte, hörte sie die Mutter rufen: "Susi, schnell!"

Susi ging ins Wohnzimmer. "Was soll ich denn?" fragte sie ärgerlich.

Die Mutter sah von ihren Vorbereitungen auf. "Ich hätte es beinahe vergessen, du musst Kuchen holen, Herr Kirschbaum kommt auf eine Tasse Kaffee vorbei."

Susi stand wie erstarrt. Er kam! Kam er gar ihretwegen? "Beeil dich, er muss gleich hier sein."

Keine Sekunde seines Besuches wollte Susi versäumen. Sie flitzte los, das Portemonnaie der Mutter in der Hand, im Treppenhaus immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Auf dem Weg zur Konditorei fiel ihr ein, dass sie überhaupt nicht wusste, was er gern aß. Kuchen, Torte? Krem oder Obst? Vielleicht mochte er gar keinen Kuchen, sondern aß lieber Bockwurst, Schinken oder Käse? Dann musste sie etwas mit Quark nehmen. Susi entschloss sich jedoch für Windbeutel, die aß sie selbst am liebsten, und sie war überzeugt, dass er einen genauso guten Geschmack hatte. Sie kaufte ein Dutzend, damit es bestimmt reichte.

Der Heimweg war anstrengend. In der Eile hatte Susi den Einkaufskorb vergessen, und das Kuchenpaket musste nun vorsichtig auf der Hand getragen werden. Sie brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit dazu. Deshalb wäre sie an der Haustür fast mit Herrn Kirschbaum zusammengestoßen. Er rettete die ins Rutschen gekommenen Windbeutel. "Hallo, Susi", sagte er, "wohnen Sie hier?"

Vor Schreck bekam sie kein Wort heraus. Sie nickte und merkte, dass ihr Gesicht zu glühen begann. Darüber ärgerte sie sich.

Er stieg vor ihr die Treppen hinauf. "Sie hier zu treffen, habe ich wirklich nicht erwartet", sagte er. "Ohne Sie wäre meine erste Stunde total danebengegangen. Wissen Sie, dass Sie so was wie mein guter Stern sind?"

Sie war sein guter Stern, wie poetisch! Und ehrlich war Herr Kirschbaum und selbstkritisch. Und das als Lehrer!

Er machte beim Namensschild Sommer halt, und Susi drückte auf den Klingelknopf. "Ja, aber", sagte Herr Kirschbaum, "Sie klingeln hier einfach?"

Susi lachte. Er guckte sie an, als wäre in ihrem Kopf nicht alles in Ordnung. Bevor er das Rätsel lösen konnte, öffnete die Mutter die Tür. "Wie schön, Kollege Kirschbaum, bitte treten Sie näher."

Der Kollege trat nicht näher, er zögerte auf der Schwelle. Sichtlich nervös machte er eine Handbewegung zu Susi hin, die nicht von seiner Seite wich. Susi hatte längst begriffen, er wusste nicht mehr, dass sie Sommer hieß. Hauptsache, dass er ihren Vornamen behalten hatte. Das allein war wichtig, wenn man sich liebte. Bei anderer Gelegenheit wäre es Susi ungeheuer komisch vorgekommen, wie sie zu dritt an der Tür standen, die Mutter mit der Hand wedelnd, um Herrn Kirschbaum in die Wohnung zu lotsen. "Bitte schön", sagte die Mutter noch einmal und lauter und wedelte noch einladender. Da schob Susi unauffällig von hinten, und Herr Kirschbaum landete endlich dort, wo er erwartet wurde.

"Meine Tochter ist ganz begeistert von Ihnen", sagte die Mutter, um den nach ihrer Ansicht recht schüchternen Kollegen aufzumuntern.

"Ihre Tochter?" Herr Kirschbaum sah Susi an und sagte: "Natürlich, dass ich das nicht gleich bemerkt habe!" Er begann zu lachen, die Mutter stimmte ein, und Susi dachte, wie wunderbar er lachen kann.

Die Mutter zog sich mit Herrn Kirschbaum auf den Balkon zurück. Sie redeten über die Achte, die er als Klassenleiter übernommen hatte. Dort unterrichtete die Mutter seit Jahren Deutsch und Russisch. Susi sah durch die Gardine, dass sich Herr Kirschbaum Notizen machte. Vielleicht würde er öfter kommen, denn die Mutter konnte ihn sehr gut beraten, und vielleicht kam er nach einiger Zeit nicht nur seiner Klasse wegen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand Susi es vorteilhaft, dass sie dort zur Schule ging, wo die Mutter arbeitete.

Susi hörte dem Gespräch auf dem Balkon zu, während sie im Wohnzimmer den Tisch mit dem besten Geschirr deckte. In die Kaffeemaschine gab sie ein paar Löffel Kaffee mehr als gewöhnlich. Die meisten Lehrer tranken gern und viel starken Kaffee, weil er für sie das Betriebsgetränk war. Wenn Herr Kirschbaum zu Hause über seinen Korrekturen saß und sich über zu viele Fehler ärgerte und müde wurde, sollte er sich so nach ihrem Kaffee sehnen, dass er nur eins wünschte: Und jetzt eine Tasse Kaffee von Susi!

Susi überprüfte den Tisch, in dessen Mitte der Windbeutelberg prangte. Irgendetwas fehlte. Als sie sich im Zimmer umblickte, wusste sie, was es war. Blumen! Ein Blumenstrauß gab ihrem exquisiten Kaffeetisch die absolute Krönung. Susi drückte die Windbeutel zur Seite und stellte den Asternstrauß von der Anrichte an ihre Stelle. Dann setzte sie sich zur Probe auf ihren Stuhl. Für Herrn Kirschbaum hatte sie gegenüber gedeckt, damit sie sich laufend in die Augen blickten konnten. Der Strauß versperrte die Sicht. So schön Blumen sind, stören dürfen sie nicht. Susi schob den Strauß vor den Platz der Mutter und die Windbeutel wieder in den Mittelpunkt. Gut, dass sie probegesessen hatte!

Nachdem Susi die Mutter und Herrn Kirschbaum gerufen hatte, wartete sie gespannt, was sie sagen würden, aber die beiden hatten nach wie vor die achte Klasse beim Wickel. Der wunderbare Kaffeetisch blieb unbemerkt. Sie hätte ihnen stattdessen genauso gut Plastteller und Pappbecher hinknallen können. Da gibt sich der Mensch Mühe, und das war der Dank dieser beiden Pädagogen. Dauernd redeten sie über Erfolgserlebnisse, die sie ihren Schülern vermitteln wollten, und vor lauter Bäumen sahen sie den Wald nicht. Zuerst muss sich der Lehrer um den Schüler kümmern, der da ist. Sie war da, greifbar nahe, tausendmal greifbarer als jeder aus der verdammten Achten! Diese Missachtung duldete sie nicht länger. Mit abgespreiztem kleinem Finger führte Susi ihre Tasse an die Lippen. Natürlich bekam das keiner der beiden mit. Wie ein Verkoster ließ sie den Kaffee auf der Zunge zergehen, als die Mutter gerade sagte: "Sie dürfen nie die Psychologie außer acht lassen, Kollege Kirschbaum." Susi räusperte sich daraufhin, nahm noch einen Schluck und sagte mit Nachdruck: "Da fehlt doch etwas." Kein Lehrer auf der Welt kann überhören, dass irgendwo etwas fehlt. Die Mutter und Herr Kirschbaum sahen auf. Mit zweifelnd gekrauster Stirn sah Susi in ihre Tasse, und langsam trank sie den beiden einen Schluck vor. Die Mutter und Herr Kirschbaum kosteten auch.

"Vorzüglich, der Kaffee", lobte er.

"Der ist doch gut", sagte sie. Die Achte musste ihrem Kaffee weichen. Susi jubelte innerlich, äußerlich veränderte sie ihre Haltung nicht. Nach einem bedachtsamen Schluck sagte sie: "Nein, da fehlt wirklich etwas.

"Unsinn!" Die Mutter probierte weiter, um in ihrem Urteil völlig sicher zu sein, und fasste das Ergebnis zusammen, indem sie sagte: "Was du nur hast, Kind!"

Euch habe ich, dachte Susi, und ihr merkt es nicht. "Eine Prise Salz fehlt", stellte sie nach erneutem Kosten fest.

"Salz?" Die Mutter konnte sich nicht erinnern, dass jemals ein Familienmitglied beim Kaffeekochen mit Salz gearbeitet hätte.

Susi ließ ihr keine Zeit, sich lange zu wundern. "Schmeckt irgendwie lasch."

Herr Kirschbaum schüttelte den Kopf. "Wenn der lasch schmeckt, da steht der Löffel drin!"

"Eine kleine Prise!" Susi holte Salz, streute ein paar Körnchen in die Kanne und rührte um.

"Wir kochen den Kaffee doch nie mit Salz", sagte die Mutter.

"Wir sollten aber." Susi ließ sich beim Umrühren nicht stören. Sie probierte und sah triumphierend auf. "So ist er richtig", sagte sie, obwohl kein Unterschied zu vorher festzustellen war, aber das machte nichts. Hauptsache, Herr Kirschbaum und die Mutter waren überzeugt. Die beiden tranken ihre Tasse leer, ließen sich wieder einschenken und kosteten ebenfalls. "Tatsache, der schmeckt noch besser", sagte Herr Kirschbaum, "meine Mutter würde ihn auch ausgezeichnet finden, und sie versteht etwas davon."

Susi ließ die beiden im Unklaren über das psychologische Experiment, das sie gerade angestellt hatte, und fragte: "Ist Ihre Mutter eine so gute Köchin?"

Das Stichwort erwies sich als richtig. Herr Kirschbaum begann von seiner Mutter und seinem Zuhause zu erzählen. Als er die Tasse in seiner Hand genauer betrachtete, sagte er: "Wir haben ein ähnliches Service."