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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den März 1998 in einen Roman verwandeln sollen. Das Leben selber führt Regie.
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Seitenzahl: 167
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Meinem lieben Onkel Hartmut als ideale Einschlafslektüre zugeeignet
Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton in Wien
Aus dem Leben einer Geigerin
Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.
Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.
Willst Du mich einen Monat lang begleiten?
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich (*1909)Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des Vorhergehenden (*1910) (Die Großeltern mütterlicherseits)Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in Grebenstein (*1913)Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)Lindalein, (*1973) unsere Kusine aus Amerika, die von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte
Ein Buch ohne Vorwort. Du kannst gleich anfangen zu lesen…
März 1998
Sonntag, 1. März
Montag, 2. März
Dienstag, 3. März
Mittwoch, 4. März
Donnerstag, 5. März
Freitag, 6. März
Samstag, 7. März
Sonntag, 8. März
Montag, 9. März
Dienstag, 10. März
Mittwoch, 11. März
Donnerstag, 12. März
Freitag, 13. März
Samstag, 14. März
Sonntag, 15. März
Montag, 16. März
Dienstag, 17. März
Mittwoch, 18. März
Donnerstag, 19. März
Freitag, 20. März
Samstag, 21. März
Sonntag, 22. März
Montag, 23. März
Dienstag, 24. März
Mittwoch, 25. März
Donnerstag, 26. März
Freitag, 27. März
Samstag, 28. März
Sonntag, 29. März
Montag, 30. März
Dienstag, 31. März
Personenverzeichnis
Aurich
Höchst aprilös! Zum Teil wildes Geschneie, dann wiederum Sonnenschein, als sei nichts gewesen
Zum Frühstück legte Buz eine CD ein. Alsbald wurde die Stube mit Kirchenmusik von Heinz-Werner Zimmermann gefüllt, einem alten Freund und Weggefährten von Omi Mobbl, der sich seinen ansprechenden Kompositionsstil von Gospelgesängen abgelauscht zu haben scheint. Man spürte das Bestreben des Komponisten, die jungen Leute aus der Disko wieder in die Kirche zu locken, oder aber - anders formuliert - die Kirchen in Diskotheken zu verwandeln.
Mein großer Tag heut: Um 17 Uhr ein Konzert in der Lambertikirche in Aurich.
Über mein Violinspiel mußte ich mir allerdings allerhand anhören: Daß ich ein paar ganz dumme Fehler habe, sagte Buz, auf dem Sofa sitzend, gönnerhaft: Wenn ich schnelle Striche absäbele, so wackeln meine Hüften mit.
Noras Vater, der ebenfalls Geigenlehrer von Beruf ist, - im Gegensatz zum stets freundlichen und sonnigen Buz hingegen ein grämlich regentrüber - hätte an Buzens Stelle wohl gesagt: „Da schwabbelt dein Hüftspeck mit!“ Dies, so führte Buz in meine Gedanken hinein weiter aus, weil ich nicht frei genug im Ellenbogen sei. „…Kann man doch ganz einfach lernen!“ meinte Buz.
Mittlerweile hatte sich Rehlein zu uns gesellt, und ich erfuhr etwas zum Hintergrund von „unserem Hotel auf Island“, von dem Buz und Rehlein immer wieder geheimnisvoll sprechen: Unsere Vuillaume-Geige wurde von Herrn G. aufpoliert, um sie zum horrenden Preis von 120 000 DM zu verkaufen.
„Und davon wollt ihr ein Hotel in Island bauen?“ gab ich mich überrascht und sah Buz im Geiste bereits als Liftboy mit einer buntbestickten Kappe auf dem Kopf, während Rehlein am Tresen Schlüssel überreichte und gute Ratschläge erteilte.
Wachgerüttelt von den Worten über mein Geigenspiel, verbrachte ich den ganzen Vormittag übend. Aus zweierlei Gründen war ich aufgeregter als sonst: Angst vor der entsetzlichen Enttäuschung, wenn trotz Rehleins unermüdlichem Einsatz nur 32 Hörfreudige den Weg in die Kirche fänden, aber auch weil Buz dabei sitzen würde. Und Buzens Argusohren entgeht bekanntlich nichts.
Buz & Rehlein sind am Vormittag zur Wahl geschritten (Schröder und „die Grünen“).
Zur Mittagsstund hörten wir das Violinkonzert von Mendelssohn, interpretiert von einem Professor, dessen Namen mir entfallen ist. Schmerzlich stieg mir ins Bewusstsein, und dies sprach ich sogar aus, daß die in die Jahre kommenden Interpreten zwar immer nach Gefühlen ringen, aber vielleicht ringen sie nach etwas verloren Gegangenem, da ihnen das Violinkonzert mittlerweile aus den Ohren quillt - so oft hat man es bereits gespielt. Gefühle bleiben da ebenso auf der Strecke wie in der Ehe. Rehlein meinte jedoch, sie habe noch immer sehr viel Gefühl – auch eheliches.
Hernach hörten wir „Tosca“ mit der Callas und zur wilden Schlußszene hat Rehlein gelacht, weil wir alle unsere Teller abschleckten, aber es handelte sich nur um ein mißglückendes Tränenvertreibungslachen, weil Rehlein so gefühlvoll ist und von der schönen Musik so ergriffen war.
Extra mir zu Ehren gab es ein saftiges Rumpsteak und Spiralnudeln, und es war so rührend, wie meine Eltern mich beide mit Teilen ihres Steaks gefüttert haben, als ob ich ein kleines Vöglein wäre. Nur damit ich am Abend kraftvoll spiele.
Joggen war ich auch noch, und der verschnieselte kneippatmosphärig schubberige Wolkenhimmel war an einigen Stellen aufgerupft. Doch wohl an den falschen, denn nirgends flutete das Gold der Sonne herab.
Rehlein war hochmotiviert und radelte beizeiten los, um Kasse und Programmzettel aufzubauen.
Etwas später fuhr ich mit Buzen nach. Buz fuhr vor lauter Aufregung ein wenig schnittig.
Eine herbe Enttäuschung erlebte ich, als ich vom Künstlerzimmer in den Saal hineinspitzte: Rechts saß nur eine Handvoll Leute und links sah man überhaupt nur leere Stühle.
Dann spielte ich los, und vorne sind allerdings doch einige Interessierte gesessen.
Mit einer neuen Frisur bestülpt saß auch unser alter Freund Marcel dabei. Ein junger Mann aus Süddeutschland, der sich äußerst antiquiert zu kleiden pflegt und in freier Wildbahn einen Zylinder auf dem Kopf trägt, den er höflich lüftet, sobald ihm eine Dame entgegentritt.
Leider fühlte ich mich zu Beginn etwas befangen. Vorallem der Ausdruck auf meinem Gesicht, betrachtet durch die Augen von Rehlein und Buz, fühlte sich unpassend an, und beim Verbeugen hatte ich etwas Mühe, meine Linkischkeit zu verbergen.
Zum Schluß der Darbietung bereitete man mir stehende Ovationen. Irgendjemand hatte netterweise den Herdentrieb ausgelöst.
Die erste Gratulantin war die ehemalige Musikschulleitergattin Wiltrud W., gefolgt von Rehleins Ballettlehrerin Frau Mürdel, die mir sogar Blümchen brachte. Zwei Jünglinge aus Rehleins Klasse wünschten ein Autogramm. Und dann zeigte sich die lebensfrohe und feierfreudige Christiane und lud uns für den Abend zu sich ein.
Daheim wurden die Scheine gezählt und bei diesem Konzert habe ich immerhin 1400 Mark verdient.
„Das Spitzengehalt einer Chefsekretärin!“ rief ich freudig aus.
Abends bei Christiane und Johann:
Mutti Christiane hatte Spiralnudeln mit einer pikanten Soße aus dem Glas zubereitet. Wir waren nicht die einzigen Gäste, und im Banne der vielen durcheinanderschnatternden Leute und des Kindergeschreis fühlte ich mich etwas stimmungsarm.
Die kleine Evi weinte laut und barmend, weil ihr lustiger Pumuckel-Teller in die Brüche gegangen war.
Nach einer Weile wurden die Kinder zusammengetrommelt und auf ihr Zimmer geschickt.
Zum Abschied gab der kleine Hendrik allen Anwesenden ein Küßchen auf die Nasenspitze, dann stürmten beide Kinder unter Gejohle die Stiegen hinauf, und auch Vati Johann schien sich wie eine Wolke ins Nichts aufgelöst zu haben. Sein Stuhl am Tisch blieb leer.
Später erfuhren wir dann allerdings, daß er den Kindern ordnungsgemäß eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen habe.
Nun war er wieder zurückgekehrt, setzte sich auf den leeren Stuhl an meiner Seite und beplauderte mich auf die gekonnte Art eines geübten Gastgebers: Höchst interessant erzählte er, daß das Verhältnis zu seiner Mutter am Gefrierpunkt angelangt sei. Seine Mutter sei unfähig sich zu freuen und sieht grundsätzlich an allem nur das Negative. Als der Johann mit Ach und Krach sein Examen geschafft hatte, sagte sie bloß: „Sieh zu, daß du deine Doktorarbeit auch bald hinter dich bringst!“
Feucht, kneippig und weißwölkig
Heute träumte ich höchst beklemmend. Es ging um Mord, und bei „Mord im Traum“ werde ich von Gefühlen heimgesucht, die ich im normalen Leben überhaupt nicht kenne. Zwar hatte ich keinen direkten Mord begangen, aber ich hatte Folgendes getan: Einen Auftrag zur Leichenbeseitigung angenommen, zwei in Alumatten verschnürte Leichen im Silbersee versenkt und aus Zorn auf Herrn Reimer eine falsche Spur gelegt, die direkt ins Rektoramt führen sollte: An jenem Mietshaus, wo die Reimers unter der Woche abzusteigen pflegen, wartete ich so lange, bis ein anderer Mieter heraustrat, um den Müll zu entsorgen. Behende huschte ich ins Haus und klaute ein paar Herrenschuhe, die vor der Reimerschen Wohnung standen. Ich stürmte zum Seeufer und hinterließ dort jede Menge Fußabdrücke mit den geraubten Schuhen. Dann lief ich zum Mietshaus zurück, legte einen Schuh in die Mülltonne am Hause, und den anderen daneben, so daß es ausschauen mußte, als sei einer hinausgehüpft, da sich der Entsorger in Aufregung und Eile befunden haben mußte. Na, die Polizei würde sich wohl schon einen Reim drauf machen.
Auf Herrn Reimers Parkplatz in der Hochschulnische hatte ich ein Haarbüschel des einen Ermordeten hingelegt und solcherart drappiert, daß es direkt ins Auge springen mußte, und darüber hinaus ausschaute, als sei es gänzlich unbeabsichtigt beim Aussteigen aus einer Manteltasche hinausgehüpft.
Einmal schaute ich in den Spiegel und empfand mich als erschreckend unattraktiv: Käsige, großporige Haut, und auf meiner wulstigen Nase saß eine dicke Hornbrille, von der ich gar nicht gewußt hatte, daß sie sich überhaupt in meinem Besitz befand.
Somit erwachte ich, mich wundernd.
Am Morgen liebäugelte ich mit der Idee, zu Rehlein ins Bett zu kriechen, und mich Vogel-Strauß-Politik praktizierend unter Rehleins bergende mütterlichen Schwingen zu flüchten. So, als sei ich gar nicht mehr da. Es lag aber „bloß“ noch der ofenwarme Buz in Rehleins Bett.
In der Wohnstube hatte Rehlein unsere Teller liebevollst mit Zitrusfrüchten bebeigt.
Buz könnte glücklich sein, ist es aber nicht. Man merkt es daran, wie lang er duscht, um sich unter dem heißen Duschstrahl dem Alltag zu entziehen.
Ich bescherzte Rehlein damit, daß man doch eigentlich alle öffentlichen Telefonzellen, die es noch gibt, in öffentliche Duschzellen verwandeln könnte, falls mal jemand unterwegs zu muffeln beginnt? Und außerdem kann man sich dort seine Sorgen wegduschen. Kleidungsstücke und Handtuch legt man auf das Dach.
Kurz nach elf reisten Buz und ich nach Emden. Rehlein hatte wieder so rührend an alles gedacht: Eine Thermoskanne mit heißem Tee, hartgekochte Eier, Bananen, belegte Brote und Pulswärmer für die kalte Kirche.
Buz schaltete das Radio ein. Es lief Lalos Cello-Konzert, sehr gut interpretiert von Leonard Rose. „Auch eine Art Duschbehagen!“ überlegte ich laut, „ein gehobenes Duschbehagen, wenn man so will. Man lässt sich von Klängen beduschen!“ Dann wurde ich wie von einer Krabbe jäh von der Furcht bezwackt, die Geige könne sich gar nicht im Kasten befinden.
Unsere Fahrt trug uns ein kleines Eck übers Ziel hinaus. Wir landeten nämlich in einer Nachortsiedlung ohne Kirche. Beim Zurückfahren fanden wir die Kirche allerdings doch. Eine wunderschöne Kirche: Alttürkisfarbene Bänke, sahneweiße Wände.
Herr Ahrends werkelte bereits emsig herum.
Allein die Mikrophonaufstellung würde Stunden um Stunden dauern, brummte er stimmungskillend. Auf eine stürmische Weise redete er ganz viel, während ich die ganze Zeit herumübte, da ich das Gefühl hatte, einem eingefleischten Hifi-Spezialisten in meinem ungelenken Bestreben zur Hilfe zu eilen, nur im Wege stünd.
Einmal griff auch Buz nach seiner Violine und bereits nach dem ersten Ton sagte Herr Ahrends, dies höre er schon als Laie, daß dies das bessere Instrument sei. Buz bekam riesige Komplimente, und ich liebe es, wenn Buz mit Komplimenten bedacht wird und kann gar nicht genug davon hören: „Das darf man dem Fräulein Tochter gar nicht so sagen, aber der Vater hat doch noch eine ganz andere Intonation!“ geriet Herr Ahrends ins Schwärmen. Getragen auf dieser ganz und gar unverhofften Bewunderung spielte Buz den ganzen ersten Satz von Bachs g-moll Sonate auswendig, und Herr Ahrens fand es ebenso wie ich großartig und ergreifend.
„So hat das nicht einmal die Christiane Edinger bei Naxos hinbekommen!“ rief er im Schwunge der Begeisterung aus. Später fand er die Aufnahme von Christiane E. allerdings scheußlich. Über Buz sagte er: „Der spielt fantastisch!“ Und Buz tat so, als habe er es nicht gehört.
Über Mittag brachte Herr Ahrends ein Körbchen mit CDs zum Gegenhören mit. Beispielsweise von der zunächst besungenen und schließlich beschmähten Christiane E., die sehr langsam spielte, so daß man nach einem Schräubchen suchte, das die Aufnahme in einen Vorwärtsdrall versetzen könnte. Es klang zäh wie Hosenleder, erinnerte an den Feierabendverkehr in der Großstadt, aber heißt es nicht zuweilen - angesichts der Köstlichkeiten in Natur und Kultur - „Augenblick verweile!“? „Vielleicht steht grad dieses Motto über ihrem Violinspiel!“ mutmaßte ich nett und kollegial. Buz und ich hörten nur auf die Interpretin, aber Herr Ahrends rief mit einer ähnlichen Insistenz wie Ming als Kleinkind früher: „Schnee, Schnee! Guck doch mal!“ ausgerufen hatte, Dinge wie: „Das klang fiepsig! Hörense. Fiiiipsig!“
Die Mittagszeit verbrachte ich ganz alleine in der Kirche und nahm die vereinzelten Sätze auf. Besonders freute mich, daß sich inmitten dieser Kirche eine blitzblanke, wunderschöne Küche befindet. Man durfte sich nach Herzenslust Tee aufbrühen und auch von den köstlichen Spekulatiuskeksen nehmen.
Draußen war es bereits dunkel geworden. Ich nahm auch noch die a-moll Sonate und die d-moll Partita auf, aber besser geht´s allemal, wenn Buz mir Komplimente macht.
Abends:
Herr Ahrends erzählte, daß ihm die Zusammenarbeit mit Isabella Petrossjan keine Freude war, weil es einfach grausig klang und hinzu ein Theater war! Balsam für die Ohren verkannter Violinisten.
Zu vorgerückter Stund fuhren Buz und ich nach Hause. Heim zu Rehlein. Man hatte das Gefühl, das süßeste Rehlein seit Jahren nicht mehr gesehen zu haben.
Unglaublich wie ausgelaugt und verfröstelt ich mich nach nur einem Arbeitstag gefühlt habe. Ich sehnte mich so nach dem wärmenden Mutterbusen.
Wegen meinem hohen Verfröstelungsgrad brachte ich im Haushalt - zum Beispiel beim Tischdecken - so gar nichts zustande. Mich dabei fühlend, als sei ich die hauseigene Oma, die noch mit kleinen simplen Aufgaben betraut wird.
Zur Mitternachtsmahlzeit hörten wir meine neue und natürlich noch sehr unfertige CD an, und der süße Buz erstrahlte in mildem Stolz, der dem Sinne nach besagte: „Dies ist erst der Anfang!“
Rehlein setzte sich an den Flügel und spielte ganz allerliebst Tschaikowskis „Oktober“. Mir wurde auf wohlige Weise wehmütig zumute. Ich mußte an die jüngst verstorbene Konzertgängerin Frau Schrader denken, die doch noch gar nicht alt gewesen ist (vielleicht, wenn´s hochkam siebzig, so doch keinesfalls älter). Ob sie wohl an Einsamkeit starb? Kein Mensch interessierte sich für die alte Dame, niemand besuchte sie und wenn man sie sah, pflegte man einen Umweg zu nehmen, weil man keinen Bock auf die faden Erörterungen verspürte, mit denen sie ihr Gegenüber anzunageln pflegte.
Einmal dachte Rehlein beim Klavierspiel, Buz habe den Fernseher ausgedreht, und sagte so süß: „Das tut mir jetzt so leid!“
Auch Buz klimperte am Abend noch ein wenig Tschaikowski auf dem Klavier ohne in der Dunkelheit die Noten gescheit lesen zu können.
Regnerisch. Sturm (Stärke 9!) aber gerade dadurch höchst reizvoll
Schon am Vormittag erteilte mir Buz eine Lektion auf der Violine. Ich gab mir große Mühe, geduldig und aufmerksam zu sein. Als Rehlein von einem Besuch beim Dentisten zurückkehrte, war ihr einer Mundwinkel betäubt. Der Zahnarztsohn, Herr Hirthe Junior, hatte ein Stück Zahnfleisch entfernt, und mit den sauren Worten, daß es vielleicht unangenehm werden könne, wenn die Spritze nachlässt, war Rehlein in die Freiheit entlassen worden. Rehlein war aber ganz tapfer und steckte ihre ganze mütterliche Energie in ein fantastisches Mittagsessen für ihre Lieben.
Als zum Essen getrommelt wurde, war Buz jedoch aushäusig. Er besuchte Frau Seibl, die sich erboten hatte, eine Rezension über das vorgestrige Konzert zu verfassen, und Buz wollte sich bedanken und mit ihr Tee trinken. Sie, auch wenn sie trotz vorangeschrittenen Alters (etwa 51 Jahre alt) noch kein graues Haar auf dem Kopf hat, reihe ich in die Herde jener Frauen ein, die in das Beuteschema eines Dr. Udo Brinkmann (aus der Schwarzwaldklinik) passen würden. Dies erzählte ich Rehlein zum Mittagessen und genoss Rehleins Aura unendlich. Rehlein sieht derzeit so süß aus und gibt einem den Glauben an die Frau ab 50 zurück.
Zum Mittagsessen gab´s Folgenderlei: Einen großen Brokkolibusch, eine große Möhre, zarten Gulasch mit Zwiebeln ← unglaublich köstlich!
Nach einer Weile kehrte auch unser Familienoberhaupt von seinem Besuch zurück. Auf Buzens Teller lag ein herzförmiges Lorbeerblatt, so daß ich assoziativ die kleine Geschichte anbringen konnte, wie einst eine herzförmige Wolke über das Haupt von der hübschen Colette hinweggezogen ist. Dies geschah am Vorabend dessen, als ihr der Professor Kebap seine Liebe gestand.
Wieder hat Rehlein so nett ein Jausenpackerl für uns zubereitet, doch Buz meinte, Herr Ahrends habe gestern eine Andeutung gemacht, daß seine Frau so viel eingekauft habe.
„Sie führt was im Schilde! Ich glaube, sie will euch zum Mittagessen einladen!“ vermeinte Buz, Gedanken hinter der Stirne eines Herrn Ahrends erfühlt zu haben.
„Na, da wird sich seine Frau aber „bedanken“, wenn ihr Mann uns mit nach Hause bringt und dies als Freibrief nimmt, die ganzen Hifi-Geschichten auszubreiten, die Frau Ahrends als Ehefrau bereits gefühlte tausendmal gehört hat, und die ihr doch schon aus den Ohren heraushängen!“ bemerkte ich.
In gischtigem Küstenregenwetter fuhren Buz und ich wieder nach Emden. Ich erzählte vom Professor Wachtenberg, der durch die vielen Alimentszahlungen gänzlich verarmt sei, und mit seiner neuen Familie in äußerst beengten Verhältnissen lebt. So wie ich in meiner kleinen Besenkammer in Trossingen. Doch die neue Liebe sei noch so frisch, daß sich der Professor frohgemut einredet, man könne auch in einer Telefonzelle glücklich werden. So wie der Matthias, ein junger Priester in der „Lindenstraße“, der sich eines Tages wie im Wahn in eine junge Französin verliebte. „Dominique! Wir würden auch in einer Telefonzelle glücklich werden!“ rief er schwärmerisch aus, doch die Dominque war dieser Meinung nicht.
Wenn man aus dem Auto in die kalte, gischtende Wetterlage hinaustritt, so ist dies naturgemäß „Kneipp pur“.
Wieder hatten wir uns angeschickt, in der kalten Kirche Aufnahmen zu machen, von denen man gar nicht weiß, ob überhaupt etwas daraus wird? Sogar der Schirm wurde uns vom Winde nach außen gebogen, und dann war auch noch die Kirchenpforte abgesperrt!
„Der Frühling ist ausgebrochen!“ sagte Buz so süß zu einem ebenfalls mit einem Schirm der Wetterlage trotzenden Herrn, der des Weges kam.
Das Schönste an diesen Ausflügen ist das köstliche Vesperle, das uns das süßeste Rehlein allmorgendlich so liebevoll richtet. Voller Überraschungen. Meist schreibt Rehlein noch ein Brieflein dazu, und zwischen den Zeilen liest man den innbrünstig glühenden Wunsch heraus, daß wir eine fantastische Aufnahme hinbekommen mögen.
Buz und ich nahmen quer über den ganzen Nachmittag die h-moll Partita auf, und Buzens Stimme in der Ferne, wenn er beispielsweise: „O.K.“ rief, klang immer so frisch und freudig.
Um siebene herum erschien Herr Ahrends, doch kaum war er da, als bereits ein sehr höflicher junger Mann auf uns zutrat, um höflich anzufragen, wie lange wir den Raum wohl noch zu usurpieren gedenken? Um diese Zeit pflege der Gospelchor zu proben.
Den ganzen morgigen Tag noch, so hieß es.
Die Abendaufnahme - die d-moll Partita – war dann ein wenig deprimierend für mich, da Buz zumindest am ersten Satz so viel herumgemosert hat. Vorallem an der Stelle „di-dadl-dööö“, - na, der Leser ahnt´s - geriet Buz in einen pädagogischen Rausch.
Beim Spielen dachte ich an Oma Ellas Kollegin das Evchen, das sich ganz und gar den Verdrießlichkeiten verschrieben, und dessen Leben von Anfang an eine einzige Verarschung war. Komplikatessen pflastern Evchens Weg. Ich malte mir aus, wie das Leben wohl weitergegangen wäre, wenn der Storch meinen Eltern nicht mich, sondern das Evchen gebracht hätte? Das Evchen an meiner Stelle hätte sicher schon längst geschnieft: „Ich mach da nicht mehr mit!“, hochneurotisch die Tür von außen zugeschlagen und sich im Grundbestreben: „Ich drehe mich nie wieder um!“ verzupft.
Erst kurz vor Mitternacht fuhren Buz und ich unbefriedigt wieder heim. Trotz oder auch vielleicht gerade wegen des intensiven Sturms war die Luft ganz warm.
Rehlein hatte uns je so liebevoll eine Wärmflasche ins Bett gelegt.
Zunächst stürmisch und gischtig. Dann nur noch cremeweiß bewölkt. Am Nachmittag wurde es überraschenderweise lieblich
Dank Rehleins Wärmflasche schlief ich fantastisch und träumte ganz viel. Ich weiß aber nur noch, daß Heiner und Friedel einen Wettbewerb im Fach „Schlagergesangs Duo“ gewonnen haben, wofür der Friedel sich als Frau verkleidet hatte.