Drei Tage Bedenkzeit - Franziska König - E-Book

Drei Tage Bedenkzeit E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebenswege zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den August 2003 in eine Symphonie verwandeln sollten. Der Alltag selber diktiert die Handlung.

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Seitenzahl: 166

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Journal

Realdoku aus dem wahren Leben

Meinem lieben Onkel Hartmut gewidmet!

Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.

„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.

Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.

Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.

Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Ein Buch ohne Vorwort.

Sie können gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

August 2003

Freitag, 1. August

Samstag, 2. August

Sonntag, 3. August

Montag, 4. August

Dienstag, 5. August

Mittwoch, 6. August

Donnerstag, 7. August

Freitag, 8. August

Samstag, 9. August

Sonntag, 10. August

Montag, 11. August

Dienstag, 12. August

Mittwoch, 13. August

Donnerstag, 14. August

Freitag, 15. August

Oskar Brüsewitz

Samstag, 16. August

Sonntag, 17. August

Montag, 18. August

Dienstag, 19. August

Mittwoch, 20. August

Donnerstag, 21. August

Freitag, 22. August

Samstag, 23. August

Sonntag, 24. August

Montag, 25. August

Dienstag, 26. August

Mittwoch, 27. August

Donnerstag, 28. August

Freitag, 29. August

Samstag, 30. August

Sonntag, 31. August

Personenregister

August 2003

Freitag, 1. August

Aurich – Bad Bramstedt – Hamburg

Sonnig. Zum Teil sehr heiß

Vorwissen: Es tobte unser Musikfestival,

der „Musikalische Sommer in Ostfriesland

Mir schien´s, als wollten mir meine Träume ins Bewusstsein rufen, daß es weitaus verdrießlichere Lagen gibt, als jene, in der ich im wahren Leben stak: Zum Konzert nach Bad Bramstedt reisen zu müssen - im Gepäck die Ungewissheit, ob man wohl genügend geübt hat, und auf der Reise womöglich im Elbtunnel stecken bleibt?

Im Traume standen wir vor einer großen Reise nach China. Das Auto befand sich jedoch in einem geschlossenen sehr hohen Raum ohne Türen. Aus einem Dachfenster gleißte in schrillem Weiß die Sonne herein, so daß man kaum etwas sah. Der Weg schien weit – bis über die sieben Berge hinweg, wo einst Schneewittchen lebte - und wir kamen einfach nicht los.

In einer Ecke kauerte lauernd eine Spinne mit spitz in die Höhe gefalteten Beinen, und einem boshaften, verschlagenen Ausdruck im Gesicht. Plötzlich bewegte sie sich in unvorstellbarem Tempo auf mich zu. Ming schrie auf, und ich war wie gelähmt… Filmriss!

Dann wiederum spielte ich den langsamen Satz von Vivaldis „Herbst“ auf meiner Violine.

Ich fand mein Violinspiel völlig normal, und hätte gar nicht gewusst, was man anders machen solle? Doch in Buzens Gesicht spiegelte sich eine Fassungslosigkeit, aus der ein Buzeskundler lesen konnte: „Was habe ich ihr eigentlich in all den Jahren beigebracht?? – Nichts!“, und Rehlein bekam sogar einen ganz konsternierten Ausdruck ins Gesicht, der besagen sollte, daß es ihr völlig schleierhaft sei, was ich mir wohl dabei gedacht hätte, den Herbst derartig zu interpretieren?

Ich straffte mich innerlich, und nahm mir vor, es beim nächsten Anlauf besser zu machen. Allerdings sah ich beim zerknirschten Blättern in den Noten, daß sich im letzten Satz viele pittoreske Verzierungen befanden, die mir völlig neu waren, und die ich beim Einstudieren offenbar übersehen hatte.

Und dies, wo doch morgen abend um 20 Uhr in China bereits die Premiere stattfinden sollte, von der es hieß, sie sei seit Wochen bis auf den letzten Platz ausverkauft.

Nachdem ich aus diesen grotesken Traumgebilden hervorgetaucht war, erhob ich mich, und übte sofort, und hinzu mit einer ungekämmten Frisur auf dem Haupt los.

Ming, der zur Zeit bei seinen neuen Schwiegereltern, den Müllers, logiert, hatte sein gestriges Versprechen wahr gemacht, und war zum Frühstück erschienen.

Unserem derzeitigen Sommergast, einer Geigerin mit Namen Sharon aus New York, war über Nacht die Idee gekommen, uns süße Gebäckstücke zu kaufen, und so wies ihr Ming den Weg zum Bäcker – mehr noch: Als galanter Herr begleitete er sie dort bin, und später lagen zuckerverkrustete Schneckennudeln herum. Solcherart, wie sie der Erwachsene eigentlich nicht so gerne mag.

Vor der Türe standen immer noch die schönen weißen Rosen von Frau Lüvers, einer Dame, die von manischem Schwung getrieben, den ganzen Tag für uns durch Aurich wetzt.

Von Buz hatten wir erfahren, daß Frau Lüvers die Mitarbeiter der „Ostfriesischen Landschaft“ (Buzens Untergebene) den ganzen Tag mit Kuchenstücken und kleinen Überraschungen zu verwöhnen pflegt.

Wie in der Geschichte vom gekochten Brei nehmen die Kuchenspenden kein Ende.

Zum Frühstück gerieten wir in einen Rückblicksphasenrausch, und schleppten Fotoalben herbei, um die Sharon an unserer Vergangenheit nippen zu lassen. Bei so manch einer Fotografie lachte sie verzückt und fröhlich auf: Zum Beispiel jener aus meiner Babyzeit, wo ich vergnügt in einem Teller sitze.

Nach einer Weile kam der Nachbar, Herr Groll, extra um die weitgereiste Sharon zu begrüßen.

Rehlein war es sehr peinlich, daß bei uns die BILD als nicht zu übersehender Zeitungssalat herumlag.

„Die hat die Franziska nur wegen dem Otto gekauft!“ sagte Rehlein beschwichtigend.

„Das sagen alle BILD-Leser!“ meinte Herr Groll. „Ein Grund findet sich immer!“

Herr Groll hat eine seltsame Ausstrahlung, so daß man in seiner Gegenwart nicht recht froh wird, doch ich bildete mir ein, er genösse es vielleicht unterschwellig, wenn man locker und lose zu ihm spricht?

Heute machte ich es mir mit der Packerei etwas leichter, indem ich mir ein reizvolles System ausgedacht habe. Auf der Ausloseliste stehen zehn Auslosepunkte solcherart:

1:Roten Koffer packen

2:Blauen Koffer packen

3:Rucksack mit Nützlichem befüllen

4:Haupthaar waschen u.a.

Dann drücke ich die Stopuhr, und tue das, was die letzte Ziffer der hundertstel Sekunden anordnet. Auf diese Weise wird natürlich eine Spannung erzeugt, die den Packreiz deutlich erhöht.

Im Musikzimmer probte Ming mit dem Schauspieler Theo S., und für ein köstliches Gedicht von Christian Morgenstern hatten sich die beiden Herren eine lustige Tuchhaube auf den Kopf gestülpt.

„Theo! Was ist deinem Zeigezeh widerfahren?“ rief ich ganz erschrocken. Tatsächlich sah Theos dicker Onkel unter dem Sandalenriemen kurz und verstümmelt aus, und der Nagel fehlte ganz.

Erst gestern hatte ich mir die bedrückende Frage gestellt, wie man sich nach der Amputation eines Zehes wohl fühlen mag, und gab mir die Antwort gleich selber: Nach einer kurzen Phase des Jammers, streckt man dem Alltag wieder die Hand entgegen und lässt sich von der Zeit aus dem tiefen Morast heraushelfen. Und genauso erging´s dem Theo, der mit dem Zeh in den Rasenmäher geraten ist, von dem er wohl irrtümlich für ein Schwammerl gehalten worden war?

Ganz zum Schluß, als ich schon abfahrbereit war, fielen Rehlein noch ganz viele wichtige Dinge ein: Z.B. Sonnenmilch und Sonnenbrille.

Rehlein hatte mir zudem noch liebevoll ein Picknickpäckchen geschnürt, so daß ich mich auf gemütliche Picknickstunden freuen durfte.

Kurz vor der Autobahn nach Hamburg geriet ich in einen zähen Stau.

Plötzlich dampfte es unter der Motorhaube hervor. Man roch´s, und aufmerksame Autofahrer machten mich durch Gestikulierungen darauf aufmerksam.

Ich fuhr gleich rechts ran.

„Nun ist alles aus!“ dachte ich seltsam gleichmütig, fast ergeben, als ich zur nahegelegenen ARAL-Tankstelle fuhr.

Die Verkäuferin konnte mir nicht so recht helfen, und so schleppte ich eine Gießkanne mit Kühlwasser zum Auto. Ein hilfsbereiter Bundeswehrsoldat aus Leer half mir. Das Wasser blubberte und kochte, und der junge Herr sagte Dinge wie: „Damit kommen Sie nicht mehr weit!“ und riet, den ADAC anzurufen.

Ich fühlte die Liebe meiner Lieben in Aurich so stark. Jetzt wäre ich fast ums Leben gekommen, - liegengeblieben auf dem Weg zum Konzert.

Hinten im Auto befand sich die Mineralwasserflasche, die mich vor dem Vertrocknungstod auf der Autobahn bewahren sollte. Rehlein hatte die Flasche so liebevoll mit Zitronensaft befüllt und verfeinert.

Ich fuhr weiter, und das, was ich nicht mehr für möglich gehalten hatte, geschah: Das Konzert in Bad Bramstedt fand statt.

Bei den Verbeugungsvorgängen (Beamtendeutsch) hatte ich das Gefühl, Christian und Erika seien gar nicht gekommen, und obwohl ich die Erika noch gar nicht kannte, hätte ich gerade diese beiden als Rettungsanker in der Fremde so sehr gebraucht! Sie fühlten sich an wie Onkel & Tante, die sich auf mich freuen, und mich lieben. Zwei liebe Menschen, die mir mit Freuden Einlass in Haus und Herz gewähren würden.

Nach dem Konzert schien´s zunächst so, als wolle mir niemand gratulieren. Einer Schildkröte gleich streckte ich fragend den Kopf aus dem kleinen Künstlerkabüff, und dabei lernte ich eine schüchterne Wissenschaftlerin kennen, und schwatzte ihr eine Visitenkarte ab, so daß ich sie jetzt jeden Tag anrufen könnte.

„Ich sammele Visitenkarten!“ verriet ich.

Plötzlich schoss der Christian um die Ecke. Ich breitete die Arme aus. Nach so langer Zeit umarmten wir uns lang und tief empfunden - fast wie Ertrinkende - und mir tat es so gut.

Ich war schon sehr gespannt auf Christians Frauengeschmack, und vor dem Kirchportal lernte ich schließlich die Erika kennen, die mir auf den ersten Blick sympathisch war, und die mich mit einem Doppelbussi begrüßte, da sie bereits so viel von mir gehört habe, daß man sich die ganze Anwärmephase und die anstrengenden Fragen nach dem „woher, wohin, wozu?“ schenken durfte. Ein gemütlicher Walrosstypus, wenn man sich etwas darunter vorstellen kann? Griffig und habhaft. Gutmütig und gemütlich.

Die Erika fuhr mit mir durch die Dunkelheit hinter dem Christian her. Unterwegs erzählte sie von ihrer Tätigkeit als Sprechstundenhilfe in einer Arztpraxis.

Schon bald trafen wir in einem Hamburger Randgebiet ein, und erklommen viele Stiegen zu einer kuscheligen Wohnung, in der es sich jedoch ein bißchen komisch und unbefriedigend anfühlt, daß dieses Ehepaar leider noch keine Kinder hat.

In der Kuschelecke löffelten wir ein köstliches Eis. Der Christian erzählte von seinem alten Vater, der schon 78 Jahre alt ist, und es am liebsten hat, wenn es draußen regnet, dieweil er leicht depressiv ist, und ihm der Sonnenschein als unpassende Kulisse für seine grämlichen und hadernden Gedanken scheint.

Samstag, 2. August

Hamburg – Aurich

Weißwölkig, zuweilen sonnig

Ich nächtigte in einem schlanken, kinderzimmerartigen Raum auf einer von der Erika so liebevoll bezogenen Matratze. An der Wand hingen Fotos und lustige Sprüche zur Hochzeit des reifen Paares vor einigen Jahren.

Die Erika lebte bis zu ihrem 35. Lebensjahr als Singlette und hatte gemeint, später im Seniorenheim vielleicht doch noch jemanden zu finden, der zu ihr passt. Doch dann begegnete ihr am Ende der Welt in Neuseeland überraschend doch noch das Glück in Form vom Christian.

Ich erhob mich äußerst mühsam. Meine Bewegungen für die Tageszurechtsattelungsauseinanderfaltung (Wort in Überlänge) schienen mir höchst langsam. Am liebsten wäre ich wie ein kleines Kind zu Christian und Erika ins Bett gekrochen. So wie es vielleicht bei den Ottens von gegenüber usus ist? Einmal in der Woche herrscht Familienkuscheltag? Und wer weiß? Vielleicht hatten Christian und Erika ähnliche Sehnsüchte?

Extra für mich, und weil ich aus Ostfriesland komme, brühte der Christian Tee auf. Hie und da spricht er in einer seltsamen, selbsterfundenen Sprache, die etwa so klingt, wie das Geklapper eines Vogels. Eine Sprache, die kein Mensch versteht. Scherzhaft meinte er, er habe das Tourette-Syndrom.

Die Erika ließ sich von ihrem „ChiMaxx“ durchmassieren, (einem staubsaugerartigen Gerät.) Man legt sich auf den Boden, zwängt die Waden in eine Wadeneinzwängungsdelle hinein und wird – quasi wie von Ming – durchgerüttelt. Ich war begeistert, und malte mir gleich aus, wie ich Rehlein zu Weihnachten einen ChiMaxx schenke.

„Du siehst aus, als seiest du Epileptikerin!“ sagte ich unreif, weil die Erika so durchgerüttelt wurde. Doch die unbedachten Worte reuten mich leicht, weil sie so wirkten, als wolle man sich über die Kranken und Gebeutelten hinter ihrem Rücken lustig machen.

Das Frühstück hielten wir auf dem Balkon ab. Man schaute auf eine riesige, gänzlich unbelebte Rasenfläche, umsäumt von vielen, eher länglichen Backsteinmietshäusern für die gehobene Unterschicht, und ich wunderte mich, daß man so gar niemanden sieht, und daß es so vollkommen leblos wirkte.

Obwohl Christian und Erika in einer so gemütlichen und kuschelig eingerichteten Wohnung leben, bauen sie dennoch zur Zeit für 105 000 €uro ein Fertighaus im Grünen.

Sie erzählten im Duett von ihren Freunden Sabine & Bernd, die eine total spannungslose Ehe führen, da sie beide so harmoniebedürftig sind. Die Erika geriet ins Tiefenpsychologisieren: Sabine lässt ihren Frust über die Haut hinaus (Neurodermitis), und der Bernd wird ebenfalls von einem Leiden geplagt: Morbus Bechterew, so daß man zu dieser Geschichte praktisch an allen Ecken und Enden ein betroffenes Gesicht machen mußte.

Ich entpuppte mich (wahrscheinlich mehr vor mir selber?) als Gast mit äußerst güldenem Sitzleder, indem ich nämlich so wirkte, als gefiele es mir bei denen. Als sei ich endlich angekommen, und hätte nicht die Absicht, mich jemals wieder zu entfernen. Hie und da machte ich zwar Worte drum, daß ich „bald“ gehen müsse, doch der Begriff „bald“ ist dehnbar wie ein Strapsbändel, und erinnerte an den Opa, wie er vielleicht sagt: „Jetzt geh i bald ins Bett!“ und dann noch stundenlang wach bleibt.

Spätestens beim dritten Ausruf dieser Art schaltet das Hirn des Gegenübers um, und denkt: „Hohle Worte. Nichts als hohle Worte!“

Die Erika strebte zum Markt, und wir Damen verabschiedeten uns ungewöhnlich herzlich, so als seien wir Schwägerinnen geworden. Völlig eifersuchtsfrei ließ mich die Erika mit ihrem „Göttergatten“ (ein Ausdruck wie aus dem Tagebuch von Ute M.) allein, so daß wir jetzt theoretisch wie zwei Ertrinkende hätten übereinander herfallen können.

Ich erfuhr, daß Christian und Erika gern ein Kind hätten, und nicht zuletzt auch aus diesem Grunde in das neue Haus zu ziehen gedenken.

Dann brachte mich der Christian zum Auto und wirkte beim Abschied ergriffen und gerührt.

Zuvor hatte er mir noch eine Wegbeschreibung zur Autobahn mit auf den Weg gegeben. Doch kaum war ich losgefahren, da hatte ich auch schon links und rechts durcheinandergebracht.

Wie froh ich dann war, als es doch stimmte! Doch die Freude währte nur eine Weile, da ich bald darauf vor dem Elbtunnel im Stau stak.

Kurz vor fünf war ich daheim in Aurich, als durch großen Zufall auch der süße Ming in seinem rotebete farbenen Auto vorfuhr.

Ich bewunk die alte Frau Priwitz auf ihrem Balkon, doch das in die Jahre gekommene Knochengestell wunk nicht (mehr) zurück.

Aus unserem Anwesen traten Rehlein und Frau Girardot, um mich zu begrüßen. Die zierliche Frau Girardot stak in einem luftigen Sommerfummel, doch man sah, daß sie mit ihren 68 Jahren stark gewelkt ist, so daß man sie - im Gegensatz zum knusprigen Rehlein - nur noch mit größter Mühe erotisch finden kann.

Einmal sagte ich despektierlich wie eine freche Neunjährige: „Du bist doch jetzt schon so alt. Wie kommt es, daß du niemals „Biddö?“ nach den Sätzen sagst?“

„Biddö??!“ scherzte Frau Girardot, die glaubte, sich verhört zu haben.

„Naaaaaaaaaaaaaaain!“ wetzte ich die gewagte kleine Unverschämtheit mit einem warmen Ausruf wieder hinweg.

Obwohl ich nur einen Tag lang aushäusig war, kam´s mir doch so vor, als sei ich ein ganzes Jahr lang weggewesen, und müsste mich jetzt mühsam wieder einleben.

Zu meiner Bestürzung mußte ich erfahren, daß Herr Budde von der gestrigen Aufführung ganz entsetzt gewesen sei. Er meinte, der Theo habe gar keine vernünftige Ausbildung genossen.

Rehlein berichtete weiter: Die Ulrike habe sich dem Theo gegenüber herrisch benommen. Rehlein will gar bemerkt haben, daß es die Ulrike nicht guthieß, als Rehlein auch einmal etwas Kritisches anmerkte, indem Rehlein mit einem leicht mißbilligenden Seitenblick bedachte wurde.

In jenem, wie dazwischengemogelten Stündlein des Tages, das man - auf einen sitzenden Menschen umgemünzt - jenem kleinen Stückchen Beinspeck, das mitunter zwischen Sockenende und Hosenbeinbeginn aufblitzt, gleichstellen darf, brachte Buz Herrn Budde mit, der wieder unentwegt vergnügt Schüttelreime aufsprach, und sich vor Heiterkeit schüttelte. (Satz in Überlänge).

Als Ming unsere Mozart Sonate übte, stand ich neben dem Flügel und sang die Violinstimme aus voller Brust heraus, wobei ich den Mund quadratisch öffnete wie eine Sängerin, die auf dem Musikmarkt hochgepuscht werden soll.

Sonntag, 3. August

Sagenhaft schön

Am Morgen erzählte Rehlein in freudiger Aufregung, daß ich heut ein Bauernfrühstück in Wiegboldsbur mitgestalten solle.

„Da spielt ihr euer Haydn-Duo – oder aber Du Deinen Ysaye!“ schlug Rehlein vor. Rehlein spricht den Namen „Ysaye!!“ immer so bezaubernd aus, da darin so viel Stolz mitschwingt, daß ich dererlei zu interpretieren verstehe.

So übte ich sofort los! Wir hatten gemeint, das Bauernfrühstück hübe um halb elf an, doch dann stellte sich heraus, daß das Spektakel erst um halb zwölf losginge.

„Aber dann ist es doch ein Bauernspätstück!“ sagte ich.

Ming war ein bißchen traurig, daß ihn sein eigener Onkel Hartmut gestern nur unverbindlich mit einem knappen Händedruck begrüßt hat.

Wenige Minuten später kam der Onkel zu Gast.

„Wenn ich gewusst hätte, daß du kommst, so hätte ich wenigstens mein Haupthaar gerichtet!“ rief ich verlegen, dieweil so ziemlich alles in unserer Wohnung – angefangen vom Frühstückstisch bis hin zur Aufmachung und meiner Vegetation auf dem Haupt den Vorstellungen eines Formalisten geradezu diametral entgegenlaufen dürften.

Wenig später fuhren Rehlein, Britta und ich nach Wiegboldsbur. Die Britta, die einen ansonsten so munter zu beschnuddeln pflegt, war heut sehr schweigsam und in sich gekehrt, so daß ich mich frug, ob ihr meine Logorröh wohl auf den Wecker fällt?

„Um meine Logorröh zu dämpfen sage ich jetzt nur noch jede zehnte Sache, die gesagt sein möchte!“ versprach ich in der Hoffnung, leicht witzig zu sein, und vielleicht ein Schmunzeln auf Brittas Gesicht zu zaubern – vergebens!

Schließlich fanden wir uns auf einem von der Sonne warmgebratenen Rasen wieder, auf dem einige Picknicktische und Büdchen aufgebaut waren.

Auch Buzens dralle Meisterschülerin Doris war herbeigereist, um Paganinis mörderische elfte Caprice zu interpretieren. Sie baue darauf, so erzählte sie, daß zu ihrer Darbietung laut geschwatzt würde.

An der Kasse saß eine sehr nette Frau, die ihr kleines Söhnchen mitgebracht hatte, das ganz artig in seinem Wägelchen saß: Eike, zehn Monate alt.

Wir alle bekamen einen Stempel mit einem Hühnchen auf den Handrücken gestempelt, der uns ermächtigte, am Büffée zu partizipieren.

Im Inneren einer Bude gab es allerhand zu bestaunen: Zum Beispiel einen künstlichen Sandstrand mit Schäufelchen und anderen kleinen Aufmerksamkeiten für die Jüngsten unter uns. So geschickt neben einem atemberaubenden Strandbild in glitzerndem Sonnenschein angebracht, daß man meinen könnte, man absolviere einen echten Traumurlaub am Strand.

Im Künstlerzimmer tümmelte sich Herr Kleinberg mit einer ganzen Riege an teigigen Japanerinnen, und der vermeintlich Arrogante begrüßte mich so herzlich und überschwenglich, daß wir jetzt zur Stund die dicksten Freunde sind.

An der Art wie der Herr meine CD lobte, erkannte man die Tiefe seiner ehrlichen Empfindungen, die in dieser Form fast ausschließlich bei Japanern vorkommt.

Später gesellte ich mich hie und da zu einer Plaudergruppe, doch da ich´s aus Höflichkeit tat, waren es meist die falschen Plaudergruppen, und einmal dabeistehend war es natürlich nicht so leicht, sich wieder zu entfernen ohne unhöflich zu sein.

Zuerst stand ich mit dem Hartmut und dem Pfarrer Röbel da, später mit Ming und Herrn Budde, und Ming genoss es, ein gebildetes Gespräch zu führen. Die Herren sprachen beispielsweise über Tizian und die Malerei. Ich blickte auf das süße Baby von der Kassiererin mit seinen dicken roten Bäckchen, die man so gerne zart bebusseln würde.

Hie und da stellte ich mich in der Schlange an, drang jedoch fast immer nur bis zum Ostfriesentee vor, da es ständig latent hieß, wir sollten bald mit unserem Duo anheben.

Doch Ming und Rehlein waren so aufmerksam, und hatten mir je so nett einen Teller mit Köstlichkeiten zusammengestellt.

Dann huben Britta & ich mit der Darbietung an. Ich hätte so gerne gesagt: „Das folgende Werk möchte ich für meinen lieben Onkel Hartmut spielen, der heute unter uns sitzt!“ Doch ich traute mich nicht. Stattdessen erlaubte ich mir einen anderen Scherz. Wie ein friesisches Mondkalb zählte ich knochenfrei: „Eins – zwei drei!“ und die Britta scherzte: „Tempo hast du?“

Unter johlendem Gelärme spielten wir zwei Sätze, und ein unartiger kleiner Junge rief zwiefach: „Aufhören!“ Hernach spielte die Doris Paganinis Elfte, und ich fand´s mittel bis gut.