Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Milieustudie oder Realdoku. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebenswege zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den März 2003 in eine Symphonie verwandeln sollten. Der Alltag selber diktiert die Handlung.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 152
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Dich!
Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.
„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.
Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.
Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.
Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939) Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…
März 2003
Samstag, 1. März Aurich/ Ostfriesland
Sonntag, 2. März
Montag, 3. März
Dienstag, 4. März
Mittwoch, 5. März
Donnerstag, 6. März
Freitag, 7. März
Samstag, 8. März
Sonntag, 9. März
Montag, 10. März
Dienstag, 11. März
Mittwoch, 12. März
Donnerstag, 13. März
Freitag, 14. März
Samstag, 15. März
Sonntag, 16. März
Montag, 17. März
Dienstag, 18. März
Mittwoch, 19. März
Donnerstag, 20. März
Freitag, 21. März
Samstag, 22. März
Sonntag, 23. März
Montag, 24. März
Dienstag, 25. März
Mittwoch, 26. März
Donnerstag, 27. März
Freitag, 28. März
Samstag, 29. März
Sonntag, 30. März
Montag, 31. März
Personenverzeichnis:
Samstag, 1. März Aurich/ Ostfriesland
Zunächst bewölkt. Am Nachmittag mühte sich die Sonne durch das scherenschnittartige und knorrige Geäst der Bäume – Ein wunderschöner Frühsommer schien Einkehr halten zu wollen?
In der Nacht träumte ich den Fall des verstorbenen kleinen Robert. Das Miss-Marple-Gen in mir – ererbt von Omi Ella – war aktiviert worden:
Roberts bitterböse Mutti, ehemalige Klavierschülerin Buzens, und eine Variante seiner Exschwägerin, dem bösen Uschilein, ging zur Polizei um Selbstanzeige zu erstatten:
„Vor etwa sechs Wochen habe ich meinem Sohn ein Kissen auf den Kopf gelegt. So lange, bis er endlich Ruhe gab!“
Als der diensthabende Polizeibeamte, der schildkrötenartig den Kopf aus einem kleinen Fenster hervorgereckt hatte zunächst einmal schwieg, während die große Wanduhr geräuschvoll die Sekunden vom Rest des Lebens hinwegschnippelte, fügte Roberts Mutti kleinlaut hintan: "Ich möchte mein Gewissen erleichtern und sühnen!“
Herr Kohl, der Beamte, zeigte keine große Lust, diese Worte zu protokollieren, zumal es sich um einen jener Fälle handelte, die sich nur mit Mühe beweisen ließen. Das Baby war längst eingeäschert. Mehr als das wichtigtuerische Geständnis einer sonderbaren Frau hatte man in diesem Falle nicht.
Was Herr Kohl nicht weiß – macht ihn auch nicht heiß:
Frauke P. hat daheim noch ein weiteres kleines Kind, das sich in großer Gefahr befindet, so wie einst zwei weitere etwas ältere Kinder, die beide bereits seit geraumer Zeit auf dem Gottesacker ruhen.
Hernach träumte ich, daß Buz und ich mit dem Ehepaar Wies aus Grebenstein einen ausgedehnten Urlaub in Fernost machen wollten. Es war vereinbart worden, sich in Moordorf/Ostfriesland zum Reiseantritt zu treffen.
Im Gemeindehaus von Moordorf durften wir uns nach Absprache mit der Pastorin noch einen Kaffee kochen, der in klobigen weißen Kolpingtassen eingenommen wurde. Hierzu gab es Büchsenmilch und Würfelzucker. Ich litt unter schrecklichem Pack- und Bedenkungsstreß, und die kleine Kaffeestunde mit den weit herbeigereisten Eheleuten sollte ein wenig davon ablenken.
Beim Erhöbnis zerstob sowohl die Vorfreude auf die Fernostreise als auch der Pack- und Bedenkungsstreß, und man fühlte lediglich noch ein paar verglühende Funken von alldem in den Lüften.
Vormittags tat ich etwas im Grunde Überflüssiges, aber mir war gerade danach:
Ich schnürte ein Päckchen für meine Lieben in Ofenbach zurecht, um ihnen die schöne CD mit den Beethoven-Trios zu schicken.
„Junger Beethoven, hervorragend interpretiert!“ schrieb ich auf ein Pickerl, und klebte es auf die CD.
Mitten in diese Aktion hinein rief mich meine neue Telefonfreundin Monika an, um einen kleinen Sonntagsplausch zu halten:
Ihr Schwager, der Spitalinsasse A. läge immer noch ein, und ihren beiden grippekranken Söhnen ginge es besser. Hie und da mußte sich Mutti Monika mitten im Telefonat über einen Blödsinn ihrer Kinder erbosen. Der Mats hat einfach ein Schild, das der Grischa gebastelt hat, besudelt und als Mutti Monika ihn streng nach dem „Warum?“ frug, antwortete er frech: „Darum!“
Über ihren Neffen, den kleinen Peter, das Söhnchen ihrer Schwester Thekla erfuhr ich, daß er schrecklich einsilbig sei. Wenn sich beispielsweise am Telefon jemand nicht meldet, so ist es er! Manchmal klingele er an der Haustüre und sagt ganz kurz angebunden: „Mats da?“ Ein Ausruf, als wolle man in kurzen und knappen Worten nach einer Automarke fragen.
Doch der Mats hat im allgemeinen keine Lust auf seinen einsilbigen Vetter.
Ich besuchte die Post.
Vor mir stand ein leicht unappetitlich wirkendes Liebespärchen: Sie mit schwarz gefärbtem Haar und rosa Augendeckeln, er mit gegelter Frisur und einer pubertären fettigen, und leicht verpickelten Haut, die laut unserem Freund Xie auf ungelöschtes Feuer schließen lässt? Einmal küssten sie sich zwiefach auf den Mund, und daß dieser Anblick, den sie der Allgemeinheit darboten, Jahre später einmal in einem Buch beschrieben wird, hätten sie in diesem Moment wohl kaum für möglich gehalten?
Auf dem Heimweg begegnete ich Herrn Möller, als ich dummerweise gerade den ganzen Mund mit Pfefferminzkügelchen befüllt hatte, so daß es mir nach einem kurzen Zugenicke ein bißchen weh tat, daß ich den Eheleuten Möller vom Hause gegenüber, mit denen ich mich doch so gerne etwas intensiver befreunden würde, immer in solch peinlichen Situationen begegne. Ihnen begegne ich ausnahmslos nur dann, wenn ich mir soeben etwas in den Mund gestopft habe, das sich auf die Schnelle nicht hinabschlucken lässt.
Herr Möller sagte auch nur etwas unpersönlich „Moin!" ohne sein Tempo auf dem Radl zu drosseln.
Daheim fühlte ich mich einsam, und wünschte irgendjemand würde mich anrufen. Doch das Telefon blieb stumm. Ich spürte es ganz deutlich, wie meine Lebensfreude sank. Die sinkende Lebensfreude zog eine Untüchtigkeit nach sich, und die Untüchtigkeit stimmte mich flügellahm. Ich fühlte mich wie ein kleines Vögelchen, das im Geäst eines Baumes sitzt, und nicht weiß, wohin mit sich?
Erst als ich wieder auf meine Stoppuhrmethode zurückgriff, mit deren Hilfe sich eine Tätigkeit auslosen lässr, ging´s mit mir wieder bergauf.
Auf der Liste mit zehn Auslosepunkten stehen meist neun nützliche Tätigkeiten und eine unnütze – und genau die kam zum Zuge: Meine liebe mütterliche Freundin Frau Lüvers im städtischen Hospital zu besuchen, wo ihr eine neue Hüfte eingebastelt worden war.
Ich machte mich auch gleich auf den Weg.
Das Wetter hatte eine herbe norddeutsche Schönheit angenommen, und beim Blick in die Goethestraße weht mich immer eine gewisse, süßliche Wehmut dahingehend an, daß das Leben für Herrn und Frau Berke dort offenbar nicht so schön gewesen ist, wie man sich das einst erträumt hatte, als man sich in jungen Jahren ebendort ein Nest gebaut hat.
Nun aber wandte ich mich in die andere Richtung, und betrat alsbald das Spital.
Frau Lüvers hatte schon wieder eine neue Zimmergenossin bekommen, die ich zunächst nur von hinten kennenlernte: Sie saß in weiße Stützstrümpfe verpackt am Fenster. Ich erfuhr, daß sich die beiden hüftkranken Damen durch einen großen Zufall bereits seit 40 Jahren kennen.
Frau Lüvers schickte mich auf den Flur hinaus, um am Kaffeeautomaten Kaffee zu zapfen.
Im Gewühl an Besuchern und Halbkranken - zu krank um entlassen zu werden, aber nicht krank genug um im Bett zu liegen – lernte ich ein sehr sympathisches Ehepaar kennen: Die Südmanns aus Norden, denen ich als Geigerin ein Begriff war.
„Damals waren sie noch nicht so bekannt wie heute!“ sagte der liebenswerte Herr freundlich.
Dieser Herr bewegt sich z.Zt. an Krücken fort, seine Lebensfreude hat er sich davon allerdings nicht nehmen lassen.
Durch die angeregte Plauderei mit diesem Ehegespann, – beide zirka 72 Jahre alt - war ich so lange hinweggeblendet, daß ich mich für Frau Lüvers im Nachhinein in eine Fata Morgana verwandelt zu haben schien. Man erzählte mir vom Chirurgen Herrn Dr. Messner, der fachlich so gut sei, daß sich die Hüftreparierten hernach wieder fühlen würden wie in jungen Jahren. Man sage ihm zwar nach, daß er gelegentlich auch Leuten eine Hüfte aufschwatze und einbaue, die gar keinen Hüftschaden haben.
Da aber die Versicherung zahlt, und man sich hernach wieder fühlt wie in jungen Jahren, hat sich bislang noch niemand beklagt.
Bepackt mit frisch Erlebtem, über das sich plaudern und psychologisieren ließ, kehrte ich in das Zimmer der beiden Damen zurück.
Ich plauderte mit Frau Lüvers, und nach einer Weile kam der Ehemann der anderen Dame zu Besuch, und beplapperte seine Frau mit allerhand Banalitäten, über die sich jedoch sagen lässt „Das ist das Leben, mit all seinen kleinen und großen Ärgerlichkeiten.“ Somit schwirrten zwei sich schnattrig anzuhörende Unterhaltungen durch den großzügigen Raum mit den blitzblank geputzten hohen Fenstern. Dem Ohr gelingt es scheinbar, alles Unpassende herauszufiltern? Frau Lüvers („Oh bitte nennen Sie mich Renate!“) erzählte, daß ihre böse Stiefmutter Anneliese heut schon angerufen habe.
„Hast Du was zu schreiben da?? Nimm bitte ein Stück Papier und ein Stift zur Hand!“ habe sie ihre Stieftochter durch den Hörer verdrossen und unschön angebarscht.
Frau Lüvers mußte bei dieser Geschichte ein bißchen weinen, weil sie ihr so nahe ging.
Die Anneliese diktierte wie folgt: „Anneliese Ohm, gestorben und eingeäschert am…“
"Warum diktierst du so etwas? Hast du den Moralischen?" habe die Renate gefragt. Doch es war nur so, daß die Anneliese heute so viele Traueranzeigen in der Zeitung gelesen hatte, und „so etwas“(?) mal schriftlich niedergeschrieben←(natürlich!) haben wollte.
Ich erfuhr auch, daß die Anneliese, die immer so hartgesotten war, langsam netter wird. Neulich saßen die Damen elf Stunden lang beieinander und erzählten sich etwas, und nach mehreren Stunden griff die Anneliese plötzlich nach Renates Hand, um sie eine Weile lang in der ihrigen zu wärmen.
Ich erzählte Frau Lüvers, daß es in der Tat stimme, daß heute ganz viele Todesanzeigen in der Zeitung gekommen waren. Nachdem tagelang niemand gestorben war, zeigte sich der Gevatter Tod plötzlich wieder voll motiviert. Dann wiederum meinte ich, daß jene Leute, die so ein Getue drum machen, daß sie wohl bald „abgeholt“ würden, meist sehr alt würden. Es könnte somit angehen, daß die Anneliese ihr in zwanzig Jahren wieder mit solch einem düsteren Diktat käme, wenn es bis dahin heißt, am 9. April würde sie 101 Jahr alt. Doch dann weint die Renate nicht mehr, sondern denkt bloß, „wenn es denn mal so wäre!“
Ich verabschiedete mich mit dem erhebenden Gefühl, nun schon den zweiten erfüllenden Besuch bei Frau Lüvers im Spital absolviert zu haben.
Das Wetter war so wunderschön vorsommerlich geworden, so daß ich bei meinen Auslosereien immer gehofft habe, ich könne nochmals etwas Aushäusiges betreiben. Doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht, und auch der Klub kam heute nicht zum Zuge. Darüber ist es dunkel geworden.
Sonntag, 2. März
Nieselnd trübe, aber nicht reizlos
Im Traume hatte der Christoph soeben ein Eck aus dem letzten Satz von Beethovens Frühlingssonate auf der Violine gespielt, und einen Ton so künstlerisch eingefärbt und rührend vibriert.
Im wahren Leben sollte ich den Christoph bald mal anrufen, um ihn bezüglich eines Orgel/ Violinprogramms um Ideen und Vorschläge zu bitten, auch wenn Bitten dieser Art bei einer einsamen Frau natürlich auch als "dünner Vorwand" ausgelegt werden können, und ein bißchen ist es natürlich auch so, daß ich die Frau vom Christoph verdächtige, mich zu verdächtigen, ein Auge auf ihren Mann geworfen zu haben. Ein lastender Verdacht, der im Weltgeschehen vielerorts immer wieder aufkommt, und worunter sich ein Ehemann, oft ohne es zu bemerken, wie ein Wurm zurecht komprimiert. (Ein jeder spürt etwas, und niemand wagt es auszusprechen.)
Am Morgen legte ich meine im Jahre 1995 interpretierte Chaconne von Bach ein, um der Darbietung durch die Ohren vom Professor Kebab in Trossingen zu lauschen.
In der Tat gibt es in der Mitte eine unglaubliche Temposchwankung zu beklagen, und der Anfang schien mir ebenso wenig geglückt. Ich stellte mir bildhaft vor, wie der Professor schmerzlichst, wie unter Peitschenhieben das Gesicht verzieht, um die Nicole mit der Meinung, daß dies einfach grauenhaft sei, zu infizieren.
Das „Hoch Helga“ hatte sich stillschweigend aus unserem Leben hinfort gestohlen. Es nieselte leicht, und auf mich wartete ein ungeheuer einsamer Sonntag. Dem Sport hatte ich auf der Ausloseliste eine 30 prozentige Chance eingeräumt, und tatsächlich dauerte es nicht sehr lange und er kam zum Zuge.
Auf dem Weg zum Klub dachte ich über den Opa nach: Der Opa hatte nicht gewußt, daß man seine innere Batterie nur dann aufladen kann, wenn man etwas schafft oder lernt. Er dachte irrtümlich, man müsse viel schlafen, um sie wieder aufzuladen – doch der Schlaf beraubte ihn seiner ganzen Energie.
Auch das stumpfsinnige Herumgeturne unter stumpfsinnigen Dudelmusiksklängen saugt einem eigentlich nur die Batterie leer.
Wieder daheim rief ich in Ofenbach an, doch niemand hob den Hörer ab, und dadurch fühlte ich mich einsam und vergessen.
Bis zum Abend hatte ich nur noch mit einem einzelnen Menschen Kontakt: Herrn Diederich vom Celler Künstlerverein.
Herr Diederich stotterte stark, und ist überhaupt ein sehr umständlicher Mensch, so daß ich schon um mein Tiefkühlessen, das auf dem Herd vor sich hinköchelte bangen mußte. Nun hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich als „Frau ohne Gesicht“ im Gewande irgendeines interessanten Charakters zu präsentieren, und mich demzufolge an einer Palette unterschiedlichster Wesensanstriche zu bedienen:
Die Skala des Möglichen ist üppig angelegt wie die Welt der Tonarten, und reicht von „kühl wie Buzens ehemalige Schwiegerschülerin Roswitha“, bis hin zu „warm wie Frau Picker“, einer Dame aus Linz. Doch auch dieses Telefonat, daß den Kern zu einem eventuellen Konzert mit Ming in Celle barg, stimmte mich nur mittelfroh, weil es hieß, dies sei noch keine verbindliche Zusage. Er müsse erst in der Programmbesprechung damit durchkommen, und nun hatten wir so lange herumtelefoniert, und das Essen war hernach ganz zerkocht.
Montag, 3. März
Bergend bewölkt
Ich wirbelte einem arbeitsbefüllten Alltag entgegen, obwohl ich theoretisch überhaupt nichts hätte tun müssen.
Beim Üben auf der Violine war ich sehr müde, bettete mein Kinn auf den Kindhalter, als handele es sich um ein Kissen, und schaute dazu müde aus dem Fenster.
Als die Stephanie, das Fräulein aus dem prachtvollen Altbau gegenüber, um zehn nach acht das Haus verließ, dachte ich über Passagen nach, die ich in einem Buch über den Dahmer – einen Mörder aus Amerika – gelesen hatte. Sein Leben im Gefängnis war so leer, daß sogar ein Haarschnitt zum Ereignis geriet. Und mein Leben wiederum ist so leer, daß ich es Tag für Tag gebannt verfolge, wie die Stephanie zum Dienst strebt.
Diese allmorgendliche Hinfortstrebung eines Fräuleins gerät in meinem Leben zum Ereignis, auch wenn in diesem Hinfortstrebungsvorgang niemals irgendeine Abweichung zum Vortag festzustellen ist. Doch grad dies wird zum Faszinosum – einer Konstante in meinem Leben. Eine Beruhigung mit der Kernbotschaft „Es ist alles beim Alten – übe du nur weiter!“ Ein langhaariges Fräulein, das sich auf ihrem zügigen Wege von der Haustüre bis zum Auto keinen Blick nach rechts oder links erlaubt, sich im Gegensatz zu Rehlein und mir von nichts aufhalten lässt, federnden Schrittes auf das kleine schwarze Auto zuschreitet, sich im Inneren eine Cigarette zwischen die Lippen steckt, den Motor zündet, und alsbald aus meinem in seiner Vieltönigkeit eintönigem Leben gesogen wird.
Dadurch, daß ich mich märzgemäß eine viertel Stunde früher erhoben hatte, lag nun eine, im Vergleich zu früher, leicht gedehnte Frühstückspause vor mir, und wer hätte jetzt gedacht, daß ich mich noch einmal eine viertel Stunde lang zu einem Kurzschlummer in Buzens Bett legte? Die Rolläden waren bereits emporgezogen, und somit fühlte ich mich, als würde ich in einem Glasgehäuse vor den Augen der Öffentlichkeit ins Bett steigen. Und dort war´s schön! Auch wenn die Straße vor dem Fenster um diese Uhrzeit meist wie leergefegt ausschaut, so fühlte ich dennoch hundert Augenpaare auf mir lasten, die verwundert auf dieses dornröschenartige Frauenzimmer blicken, das in tausendjährigem Schlafe versunken scheint? Man wird leicht wie Luft, und scheint sich ins süße Nichts aufzulösen.
Hernach war ich noch ganz erfüllt von diesem kleinen Umschlummer, und benutzte Worte von Herrn Herberger, die der nach außen hin so verschlossene alte Herr einmal über eine Brahms-Sonate verlauten ließ: „Es war unerhört schön!“
Da rief mein Freund, Herr Großmann an, um sich für die Geburtstagswünsche zu bedanken.
Ich gab mich äußerst plauderfreudig.
"Jetzt bist du alt!“ sagte ich wie eine aufgeweckte Siebenjährige.
Seit kurzem haben die Großmanns ein zweites Töchterlein, und ich erfuhr, daß das neue Baby so anders aussähe als einst die kleine Judith – doch man will ja nichts gedacht haben. Vielleicht wurde es auch vertauscht, wer weiß? Es sei laut, habe eine blecherne Stimme, die einem in den Ohren weh tut, und die großen familiären Empfindungen haben sich zur Stund´ leider noch nicht eingestellt.
Im Fernsehen lief der Karneval aus Rio. Vogelstraußartig zurechtgemachte Schönheiten, mit bunten Federboas garniert, warfen das Tanzbein in die Höh´, und in der Luft brummte Frohsinn und Übermut. Wehmütig dachte ich darüber nach, wie schön es jetzt wäre, wenn ich angesichts dieses Spektakels in einen begeisterten Rausch verfiele! Wenn ich einen freudigen Mitfeierungsgeist in mir pochen fühlte? Das Leben würde sich in ein buntes Abenteuer verwandeln, wenn ich all diese Empfindungen mobilisieren, und als Teil eines jubilierenden Miteinanders in der Anonymität von Rio versinken würde…doch im wahren Leben lockt mich nicht einmal die Fasnet in Hausach hinter dem Ofen hervor.
Hernach lief eine Reportage:
In einer Seniorenresidenz hatte sich eine 77-jährige Dame mit dem 92-jährigen geistig regen "Hans" angefreundet. Die Dame war schon etwas tütelich geworden, und hatte in der Aufregung, daß ein Reporter vom ZDF gekommen war, vergessen wie alt sie ist. Doch der Hans hat’s gewusst: „Am 25. Juni wird sie 77 Jahre alt!“ sagte er stolz und freudig, weil er dank seiner geistigen Frische, die er sich noch lange bewahren möchte, nicht so leicht etwas vergisst.
Dann schaute ich eine Reportage an, die mich sehr erschüttert hat: Eine ganz entzückende schwäbische Ehefrau mit weißen Röllchen auf dem Kopf verlor ihren Mann nach dreißig Ehejahren an eine Jüngere.
Um zu erfahren, wie sie ihn zurückerobern könne, besuchte sie einen Hellseher, und ging dabei einem Betrüger auf den Leim, da er dauernd noch mehr Geld brauchte, um noch besser hellsehen zu können. Nach und nach versank die verlassene Ehefrau in Schulden.