Wie sich die Sorgen und Nöte einer Dame an einem einzigen Tag alle auflösten - Franziska König - E-Book

Wie sich die Sorgen und Nöte einer Dame an einem einzigen Tag alle auflösten E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den September 1998 in einen Roman verwandeln. Das Leben selber führt Regie.

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Für meinen lieben Onkel Hartmut

Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton in Wien

Aus dem Leben einer Geigerin

Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.

Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.

Willst Du mich einen Monat lang begleiten?

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buch

Hier die Familie vorweg:

Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich (*1909)

Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des Vorhergehenden (*1910)

(Die Großeltern mütterlicherseits)

Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in Grebenstein (*1913)

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Lindalein, (*1973) unsere Kusine aus Amerika, die von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte

Ein Buch ohne Vorwort. Du kannst gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

September 1998

Dienstag, 1. September Hohnerstadt Trossingen

Mittwoch, 2. September

Donnerstag, 3. September

Freitag, 4. September Trossingen - Schwende bei Appenzell (Schweiz)

Samstag, 5. September Schwende - St. Gallen – Trossingen

Sonntag, 6. September

Montag, 7. September

Dienstag, 8. September

Mittwoch, 9. September

Donnerstag, 10. September

Freitag, 11. September

Samstag, 12. September

Sonntag, 13. September

Montag, 14. September

Dienstag, 15. September

Mittwoch, 16. September

Donnerstag, 17. September

Freitag, 18. September Trossingen - Frankfurt

Sonntag, 19. September Frankfurt – Butzbach

Sonntag, 20. September Frankfurt – Trossingen

Montag, 21. September

Dienstag, 22. September Trossingen - Rottweil - Zavelstein bei Calw

Mittwoch, 23. September Zavelstein – Trossingen

Donnerstag, 24. September

Freitag, 25. September

Samstag, 26. September Trossingen - Mönchweiler - Rottweil

Samstag, 27. September Rottweil – Trossingen

Montag, 28. September

Dienstag, 29. September

Mittwoch, 30. September

Personenverzeichnis:

September 1998

Dienstag, 1. September Hohnerstadt Trossingen

Verhangen.

Zur Mittagsstund auf verschwiemelte Weise sonnig und schwül.

Die Sonne strahlte angestrengt unter einer vergilbten Wolkendecke hervor.

Als ich vom Joggen heimkehrte, regnete es leise.

Zur Dämmerstund färbten sich die Wolkenbäusche orange und rosa

Als um viertel vor sieben der Wecker tönte, schien mir die Nacht im Nachhinein derart vollgepackt mit Träumen über Lady Di und Örl Spencer! (Ich weiß, daß man den Namen ein wenig anders schreibt, doch so sieht er viel lustiger aus, finde ich)

In der Bäckerei Link bestellte eine alte Dame, die sich auf staksigen Haxerln durch den Rest des Lebens mühte und einen sahnigen Haarkranz auf dem Haupt trug, eine Geburtstagstorte bei dem freundlichen, leicht orientalisch wirkenden Bäckereifräulein. Die Oma hatte jedoch offenbar vergessen, ihr Hörgerät einzustöpseln und redete beständig an dem höflichen Fräulein vorbei.

Das Fräulein stellte eine fachkundige Frage und erhielt eine unpassende Antwort.

„Bis wann brauchöt Sie die Torte?“

„Wissöt Sie...i hab Geburzztag!“

„Wie schön! Vorher gratulierö darf ma ja net! (Bezauberndes mädchenhaftes Gelächter) Und wann isch es so weit?“

„I werd fünfoachzg! No kommd dr Bür’germoi‘sch‘dr!“ Ich werde 85. Da kommt der Bürgermeister!

(Das Trossinger Schwäbisch klingt zuweilen wie ein hängendes Tonbändchen: Dort wo ich die kleinen Häkchen in das Wort Bürgermeister eingebastelt habe, stockt der Trossinger eine Mikrosekunde lang, bevor er das Wort fortführt.)

Nachdem ich mir mein Sackerl mit duftenden Brötchen hab füllen lassen, kaufte ich mir bei Woolworth eine neue Jogginghose - und was für eine schöne! Eine silbergraue, so wie Ming eine trägt, und sahneweiße Söckchen noch hinzu. Meine spinatgrüne Hos hat ausgedient, so wie wir wahrscheinlich alle eines Tages ausgedient haben werden.

In unserem Innenhof traf ich meine liebgewonnene Nachbarin Sabine wohl zum allerletzten Mal im Leben. Sie ist bereits weggezogen und war nur nochmals gekommen, um zusammen mit hilfreichen Freunden ein paar verbliebene Möbelstücke abzuholen.

Dem letzten Aufeinandertreffen in diesem irdischen Leben haftete so gar nichts Besonders an. Wir sagten nichts Spezielles. Ich stand ein wenig unschlüssig auf der Treppe, weil ich gemeint habe, sie mache vielleicht noch ein paar Abschiedsworte, die eine verdeckte Kernbotschaft jener Art umranken würden, daß man sich doch mal besuchen solle! Doch inmitten der kleinen Herde stieg sie nur in den Keller hinab und hatte anderes im Kopf.

Mittags widmete ich mich dem Tonmeister Rost, und schrieb ihm gar ein zärtliches kleines Brieflein als Dank für seine Mühen, meine Bach-Sonaten zusammenzuschneiden. „Die Schnitte sind allesamt gut verheilt,“ humörlte ich weltfremd und doch rührend, so daß man aus mir nicht ganz schlau wird, „bis auf einen: Ein nackter Schnitt, der selbst einem gänzlich unmusikalischen Menschen sauer aufstoßen könnte, und dies inmitten eines unterhaltsamen Tanzsatzes!“ Doch dies klang, wie ich hoffte, weder anklagend noch vorwurfsvoll – sondern lediglich neckisch und lustig.

Ich schnürte den Brief und die entsprechende CD zu einem Päckchen zusammen und schickte mich an, selbiges hinfortzubringen, wenn auch in häßlich schwüler Wetterlage unter diesigen Wolkengebilden auf einem nicht eben kurzen Weg.

Die Gegend, wo Herr Rost mit seiner Frau Bettina sehr im Glücke wohnt, liegt am anderen Ende der Stadt: In einer Seitenader der Schwarzwaldstraße, wo das Studentenheim steht, in dem ich zu Beginn meines Studiums ein ganzes Semester lang gewohnt habe.

Die Zimmer waren etwas eng und hinzu äußerst karg möbliert, aber die Aussicht durch das große, meist blankgeputzte Fenster über meinem Schreibtisch gefiel: Man blickte über ein güldenes Feld hinweg mitten in den Wald mit seinen verknorzelten Bäumen und all seinen Geheimnissen hinein.

Wenn es nach mir gegangen wäre, so würde ich noch heut dort wohnen, überlegte ich, da ich nicht so gerne umziehe.

Herr Rost lebt in einer Reihenhaushälfte. Auf mein zaghaftes Läuten reagierte niemand. Ich stopfte das Päckchen in den Briefkasten und füllte selbigen damit vollkommen aus.

Am Ende sind die Eheleute eine Woche lang verreist, wichtige Briefe passen nicht mehr in den Kasten, der grenzdebile Postbote legt sie unter die Hausmatte, worunter sich der Schlüssel befindet. Mit klammen Gefühlen nimmt er den Schlüssel an sich, und ohne daß er dies möchte, bilden sich in seinem Kopf Ideen, was sich damit nun wohl alles anstellen ließe. („Will ich denn wirklich als Briefträger enden???“ Kurz dachte ich einfach mit seinem Kopf weiter... – oder aber: Er gibt die Post bei der Nachbarin ab, die Nachbarin kann ihre Neugier nicht bezähmen, öffnet die Briefe unter heißem Wasserdampf und erfährt Geheimnisse, die sie besser nicht erfahren hätte! Beim Weiterlaufen quollen die abenteuerlichsten Geschichten auf, doch wie man es auch dreht und wendet: Unbescholtene Bürger werden in Versuchungen geführt, die zu nichts Gutem führen, und all dies ist meine Schuld.

Am Roten Türmle versuchte ein LKW-Fahrer mich dazu zu bewegen in sein Auto zu steigen. Ich sei genau sein Typ, ließ er wissen und öffnete gar die Beifahrertüre. Doch ich lief zielstrebig, fast verdrossen weiter. „Du nicht mitkomme?“ rief er mir aufdringlich hinterher, „warum? Wo du wohne??“ Vor mir lief eine zierliche, gebräunte, federleichte und eingeschnurrte Dame ebenso zielstrebig ins Nirgendwo - scheinbar nicht wissend, wohin mit sich.

Um zwanzig vor fünf stieg ich erstmals freudig in die neuen Trainingsbüx, um darin loszujoggen.

Mittlerweile gibt es die ersten Äpfel. Genußfreudig zupfte ich einen kleinen grünen, den mir ein weit ausschwingender Ast liebevoll zu servieren schien. Zwiefach bewunk ich mich sehr herzlich mit der Küchenhilfe Kornelia aus der Musikhochschule, die täglich dreimal mit ihrem vertrockneten Hunderest spazierengehen muß.

Um viertel nach neun machte ich Feierabend. Da es mir meine preußische Ader verbietet, einfach herumzusitzen und fernzuschauen, vertrieb ich mir den Abend auf Buzesart mit Telefonaten.

Um meine alte Freundin Mireille machte ich mir große Sorgen. Seit mehreren Wochen hebt niemand mehr den Telefonhörer in ihrer Wohnung ab. Ich habe das Gefühl, sie ist ein Opfer des Frankfurter Stadtwaldmörders geworden.

Außer von mir wird die Mireille von niemandem vermisst. Ihr Chef, der Doktor Nayman, hatte sie schon einmal wegen Langsamkeit gefeuert - den wird´s somit nicht groß genieren, wenn sie nicht mehr kommt. Die Liste jener, die auf Mireilles Pöstchen in der Arztpraxis spitz sind, ist lang.

Wohl aber erwischte ich Herrn Bloser, der leider sehr verschnupft klang.

„Fräulein König, ich rufe Sie zurück!“ rief er wie alle Tage und legte eilig auf, da er es nicht so gerne sieht, daß die Studenten mit ihrem welken Börsel unnötig Geld ausgeben. Augenblicklich rief er auf seine Kosten zurück, und wir plauderten zirka 35 Minuten lang.

Herr Bloser erzählte, daß seine Eltern nun in der Seniorenresidenz in Öschlbronn leben, und wer weiß? Vielleicht war Vati Bloser in unserem Konzert?

Wir sprachen ein wenig über das Eremitendasein, das wir beide zur Zeit führen, und ich kann mir nicht denken, daß sich daran jemals etwas ändern soll, zumal ich das gar nicht wirklich will.

„Da müsste man schon bis zum Wahn verliebt sein!“ sagte ich, „und aus diesem Alter sind wir nun weiß Gott heraus. Ich habe meine Musik, und die ist immer für mich da: Zum Beispiel die erste Symphonie oder aber die Haydn-Variationen von Brahms.“

Mittwoch, 2. September

Vernebelt und trüb. Nachmittags zeitweise Regen

Heut träumte mir vom Meer: Ich stieg in grünlich warmes Wasser und genoss das Naturbehagen. Bloß klebte mir hernach eine sonderbare Meeresschnecke am Fuß, die sich gar nicht mehr abstreifen ließ, so daß ich mit diesem Fuß nicht mehr auftreten konnte, da sonst das kostbare und filigrane Schneckengehäuse auf unschöne Weise zersplittert wäre.

Dann lief ich am Abend mit Rehlein und Ming an jener Stelle vorbei, wo die Auricher Kreuzstraßen Pizzeria steht.

„Ein sehr nettes Lokal!“ sagte ich auf Buzesart warm, und so begab sich Rehlein mit uns Kindern hinein. Innen blies Hans-Martin Linde für die Gäste ein Konzert auf der Flöte, doch das Klappern der Geschirre und das Geschabe auf den Tellern störte den sensiblen Musiker. Nach einer Weile gebärdete er sich wie Arnold Schwarzenegger, bließ mit entblößtem Oberkörper weiter und ließ währenddessen die Muskeln spielen.

„Reines Imponiergehabe!“ sprach Rehlein in einer Weise über den Musiker, als psychologisiere man über einen Gorilla im Zoo.

Nachdem wir das Lokal verlassen hatten, weil Rehlein sich von dem Imponiergebe befremdet fühlte, erhob ich mich in einen leider schon wieder graubedeckten Tag hinein, an dem die Wolkenmasse still zu stehen schien, so daß keinerlei Wetterverbesserung zu erwarten war.

Zum Frühstück schaute ich ein Diana-Video mit dem Titel Die Geheimnisse der Todesnacht.

Man rekonstruierte den letzten Tag im Leben von Dodi und Di:

Nach einem Besuch im Hotel Ritz befand man sich auf dem Wege in Dodis Wohnung, und Dodis Wohnung schaute so prunkvoll aus, daß man hätte toll werden mögen. Besonders einprägsam schienen mir die beiden, wahrscheinlich vorgewärmten, sahneweißen und appetitlichen Baderöcke, die maßgeschneidert an der Wand im Badepalast hingen. Eigentlich wartete auf Di und Do ein fast schon paradiesisches Leben, und nun ist es eben ein ganz paradiesisches geworden.

Und doch hatte das jähe Lebensende im Tunnel die dramatische Kraft einer Brahms Symphonie.

Überraschenderweise rief Herr Bloser erneut an. Er wolle seinen alten Vater fragen, ob er wohl unser Konzert besucht habe? Eine Frage, die uns beiden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen heraus, Bauchgrimmen bereitete.

Was, wenn der Vater, selber Pianist, Klavierlehrer und Dirigent - in seinem Metier ein kritischer alter Fuchs wie der Opa - Worte findet wie diese hier: „Eine entsetzliche Pianistin! Geigerin hat Talent und doch auch gewisse Mängel…“ Andererseits wäre es aber auch eine Enttäuschung, wenn er nicht dagewesen oder es gar vergessen hätte. So mußte ich Herrn Bloser allerlei pikante Details offenbaren: Zum Beispiel auch, wie die Pianistin geheißen habe?

Den ersten Satz von der zweiten Ysaye Sonate habe ich heut auswendig gelernt. Nun muß er nur noch Patina ansetzen, und dies geht wohl am besten, wenn man das Werk im Geiste jemandem vorspielt, und die Latte dieser imaginären Jemands immer höher schraubt: Als erste Kandidatin - Stufe I, weil sie ja eh immer alles gut findet - mußte die Mireille herhalten, von der ich nicht einmal weiß, ob sie überhaupt noch lebt.

Mittags bereitete ich mir ein Hirsegericht mit Gemüse zu und schaute „Wallfahrt zu Diana“. Eine Herde rührender älterer Damen fuhr im Bus zu allerlei Stationen in Dianas Leben. Ob ich vielleicht auch mal so eine Kultfigur werde? hoffte und frohlockte ich. Ob sich die Touristen dann plötzlich für das scheinbar so unscheinbare graue Mietshaus in der Eberhardstraße in Trossingen interessieren würden?

Um 16.45 stürmte ich zum Joggen auf.

Zweierlei an meinem stupiden Herumgejogge, das in erster Linie dem Zwecke dienen soll, meinen üppigen Pfunden zu Leibe zu rücken, hat sich geändert: 1.) die schmucke graue Hose und 2.) daß ich vor den Apfelbäumen sehnsuchtsvoll innehalte.

Auf einen grünen Apfel robbte sich soeben eine Nacktschnecke drauf und meldete Besitzansprüche an. Ich griff mir den Apfel, dem Opa nicht unähnelnd, trotzdem. Dann wusch ich ihn in einem Brunnen am Wegesrand und aß ihn auf.

Dort, wo der wütende Hund lebt, der immer so heimtückisch, wie aus dem Nichts heraus keifend loskläfft, wenn man an seinem Haus vorbeiläuft, wollte ich den Apfelbuzen über die Hecke werfen. Auf diesen Hund habe ich einen Hass, und stellte mir nun genüsslich vor, wie er vor Zorn fast platzt, wenn man ihm den Apfelbuzen an den Kopf wirft und ihn dabei empfindlich an der Nase trifft. Er wird zum fanatischen Moslem, der sich eine Schmähung über den Mohammed anhören muß, nimmt eine drohende Gebärde ein und fletscht die Zähne. Aber dann traute ich mich doch nicht.

Ich war sehr einsam, und als das Telefon mal aufschrillte, bin ich hingeschnellt wie Opas Helferin Frau Moser in Wiener Neustadt. Es handelte sich jedoch nur um einen Vermögensberater, der nicht mich, sondern lediglich mein vermeintliches Vermögen im Visier hatte. Ich war aber trotzdem nett zu ihm, obwohl ich durchsickern ließ, daß dies nicht mein Thema sei.

Am späten Nachmittag, als die leicht verheulte Dämmerung in die Dunkelheit hineinmündete, habe ich auf der Geige richtig geackert. Die vierte Seite vom Dvořák-Konzert stand auf der Agenda. Ich übte so lange, bis sie hieb- und stichfest saß.

Die schönen Sonnenblumen, die mir so viel Freude bereitet haben, standen nur wenige Tage nach dem Kauf bereits welk und verdörrt auf dem Tisch herum: Wie Schüler, die einen wüsten Tadel über sich ergehen lassen mussten.

Ich hörte mir die Haydn-Variationen von Brahms an, und die eine unglaublich expandierende Tonleiter erinnerte mich an jene Stelle, als Mendel Singer * in Ergriffenheit die Arme so weit in die Höhe reckte, als wolle er den Himmel berühren.

*Im Roman „Hiob“ von Joseph Roth

Donnerstag, 3. September

Regen. Verquollen und bewölkt.

Beim Joggen dunkle und hellgraue Quellbewölkung.

Nach einem intensiven Duschregen lugte zärtlicher Sonnenschein hinter den Wolkenbänken hervor

Im Traum war Frau Kettler nach Ostfriesland gereist, und Rehlein erzählte am Telefon: „Die ist aber ganz schön aus dem Leim gegangen, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen habe. Füfüüüüjuuu!“ (Ein Pfiff Rehleins, der allerhand zu beinhalten pflegt) Sie habe Geburtstag gehabt und trug ein weißes, nackenfreies Kleid, in dem sie einfach unmöglich ausgesehen habe. Wie Hefeteig, sei der speckige Nacken aus dem Kleidungsstück hervorgequollen und sah an einer Seite von der Sonne rotgebraten aus.

„Weißt du, woran es liegt, daß alle meinen, sie habe eine tolle Figur...?“ begann Rehlein bedeutsam und holte ein gerahmtes Gruppenfoto hervor. Mein Auge saugte bei dem kurzen Blick allerdings nur den verstaubten Tastenhengst Mershanow auf, der neben einer mir unbekannten Babuschka saß.

„Tatjana Sergejewa!“ murmelte Ming, der soeben aus Moskau zurückgekehrt war und seinen Mantel an den Haken hängte.

Ferner erzählte Rehlein, daß man gemeinsam mit Frau Kettler die frisch eröffnete Sauna in Sandhorst besucht habe.

Im wirklichen Leben hörte man bereits im Morgengrauen den Regen plätschern. Heute hätte ich auf Baltrum konzertieren müssen, doch die vielen Regengüsse haben den Sommergästen die Ferien gänzlich verdorben, und so sind die meisten enttäuscht wieder abgereist.

Und dennoch fühlte es sich erbärmlich an, nicht hingereist zu sein. Direkt ein wenig so, als sei heut der Geburtstermin, doch man habe zuvor abgetrieben, weil das Kind nicht ins Lebenskonzept passte.

Jetzt konnte ich Frau Kettler verstehen: Ihr Lebtag lang hat sie sich gewünscht, mal zu einem richtig schönen Konzert in wunderbarem Ambiente vor interessiertem und erlesenem Publikum eingeladen zu werden, und eines Tages war es so weit: Ein ehemaliger Student war zum Intendant eines Musikfestivals emporgestiegen und hatte sich auf seine alte Lehrerin besonnen. Doch Frau Kettler hatte das Klavierspiel schleifen lassen und konnte nicht mehr an die Qualitäten junger Jahre anknüpfen. Nach einer durchwachten Nacht sagte sie das Konzert kurzerhand ab und hat sich nicht mehr von dieser Schmach erholt. Ekel und Abscheu vor sich selber bestimmen fortan ihr Leben.

Ich spielte Musik-Roulette, indem ich die drei unbeschrifteten Kassetten mischte, die ich gestern in der Hochschule mit Meisterwerken hab vollaufen lassen. Mit bebenden Gefühlen der Spannung legte ich eine ein - nicht wissend, was mich nun erwartet. Die zweite Symphonie von Brahms brandete auf. Zu Beginn dachte ich noch: „Das kann doch kein erster Satz sein??“ Aber nach einer Weile ertönte dann doch jene charakteristische Stelle, die den Hörer in einen Empfindungsstudel saugen möchte: Die drei ersten aufsteigenden Töne einer Tonleiter in Zigeuner-Moll und eine lange Quint wieder hinab. Eine Stelle, die ich von Mireilles Kassette bereits gekannt habe.

„Damals, als die Mireille noch gelebt hat!“ bin ich mittlerweile schon so weit zu denken, denn die Mireille in Frankfurt ist einfach spurlos verschwunden.

Natürlich habe ich mir einige Theorien zurechtgelegt, was aus ihr geworden oder wo sie verblieben sein könnte: Am wahrscheinlichsten scheint mir, daß sie Opfer des Frankfurter Vorstadtwürgers geworden ist, der bereits die Sekretärin Britta P. auf dem Gewissen hat. Vielleicht aber auch des Frankfurter Stadtwaldmörders, der die Stewardess Karin Holtz-Kacer ermordet hat. Eine Dame, die sehr gerne wanderte, um ihr anstrengendes und unerfreuliches Leben eine Weile lang hinter sich zu lassen. Doch auf einer ihrer Wanderungen begegnete sie ihrem Mörder, der ein unglaublich schlechter Mensch sein soll. Spaziergänger, die ihm aller Wahrscheinlichkeit nach begegnet sind, berichteten von einem derart bösen Ausdruck auf seinem Gesicht, daß ihnen ganz kalt geworden sei.

Aber natürlich böten sich auch etwas weniger dramatische Theorien zu Mireilles Verbleib an: Vielleicht wurde sie von Mutti Annerose nach Thailand zurückgepfiffen? Oder aber, es ist alles beim Alten: Tag für Tag nimmt sie sich vor, sich mal zu melden, aber immer kommt ihr etwas dazwischen und so vergehen die Jahre. Eigentlich hatten wir uns am 20. Juni 1990 zusammen mit Herrn Reimer und Frau Kettler vorgenommen, uns heut in dreißig Jahren, sprich, dem 20. Juni 2020, um Punkt 18 Uhr auf Gleis 1 des Ulmer Hauptbahnhofs zu treffen.

Ich reise hin und muß lesen: „Gleis 1 ist gesperrt“.

Dann versickere ich wieder im Menschengewühl. Enttäuscht und traurig.

Beim allmorgendlichen Weg in die Bäckerei mußte ich sogar den Schirm aufspannen. Der Regen trommelte darauf herum, ich lief dahin und malte mir aus, daß es im hohen Alter von über achtzig Jahren doch noch ein Wiedersehen mit der Mireille gibt. Wir schreiben den 13. Juni 2046:

In meinem Kasten liegt ein Brief:

„Liebe Jasmine* (Während eines Urlaubs zu dritt in Japan im Jahre 1994 hat die Mireille Ming und mich kurzerhand umbenannt, da sie unserer Namen überdrüssig geworden war: Jean-Claude und Jasmine. (Schoou Kloood und Tschasmöa). Namen, die sich Gerhard Polt für die Kinder einer bayrischen Familie ausgedacht hatte.) Schlage mich! Erst heute komme ich dazu, mich wieder zu melden. Irgendwann war einfach zu viel Zeit vergangen, so daß es mir letztendlich doch lieber gewesen wäre, Du hieltest mich für tot. Nun aber, da sich die einst von Udo Jürgens so kunstvoll besungene Ziellinie des Lebens zeigt...

Ich lebe seit geraumer Zeit wieder in Deutschland und würde mich freuen, wenn wir das Treffen in Ulm mit einer 26-jährigen Verspätung nun doch noch nachholen könnten. Herr Reimer und Frau Kettler liegen mit Sicherheit schon seit Jahren auf dem Gottesacker, und wenn nicht, so dörren sie womöglich in einer Seniorenresidenz ihrem Ende entgegen. Wenn ich es recht bedenke, müsste Herr Reimer bis dahin 105 Jahre alt sein – wenn auch gerade erst geworden. Ich erinnere, daß er im Juni seinen Geburtstag zu feiern pflegte. Aber auch Frau Kettler dürfte sich bereits in ihren Neunzigern befinden.

Langer Rede kurzer Sinn: Heut in einer Woche warte ich um Punkt 18 Uhr auf Gleis 1 des Ulmer Hauptbahnhofs. Bitte enttäusche mich nicht und komme! Gewiss gibt es Romane zu erzählen! Einen herzlichen Gruß von Mireille.

Ich brachte mein Kleid zur Reinigung und verstand mich wunderbar mit der mütterlichen Reinigungsfee. Ansonsten aber fühle ich mich von Feinden umgeben, sobald ich das Haus verlasse.

Beim Joggen zur Nachmittagsstund ereilte mich genau jene Ärgerlichkeit, die mich in diesem Jahr schon öfters ereilt hat. Ich wurde nassgeduscht. Ein prasselnder Regen! Petrus hatte den Duschhahn wieder mal bis zum Anschlag aufgedreht. Mein roter Pullover war hernach so nass, daß er sogar ausgewrungen werden mußte.

Daheim nahm ich ein heißes Wannenbad und stellte mich geistig auf die Krögers ein, die ich in einer lächerlichen Röllchenfrisur empfangen mußte.

Inzwischen schien wieder strahlend die Sonne und die Wetterlage erinnerte im Nachhinein an ein plärrendes Kleinkind, das nicht aufhört zu jammern und zu lärmen, und wenn man schließlich beim Arzt eintrifft, strahlt es den Arzt plötzlich an.

„Was haben Sie für schöne Zähne!“ empfing ich Mutti Kröger freudestrahlend, da Frau Kröger sich von fachkundiger Hand die Zähne hatte richten lassen.

Der kleine Matthias war bis unter die Haarwurz mit frischen Eindrücken von Wien befüllt. Unsere Gespräche modulierten ein wenig von Wien hinweg, über die vergrätzten Professoren und die saure Zeit als Zivildienstleistender, die womöglich auf den armen Knaben wartet.

Leider hab ich heute nicht so toll unterrichtet, wie ich kann. Ich hatte einfach keinen Nerv, die staksige Wiedergabe von Mozarts Violinkonzert KV 218 zu entstaksisieren. Um Punkt 18 Uhr sagte ich: „Dann wollen sie jetzt aufhören, dich zu peinigen!“