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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Oktober 1998 in einen Roman verwandeln. Das Leben selber führt Regie.
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Seitenzahl: 214
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Für Dich!
Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton in Wien
Aus dem Leben einer Geigerin
Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.
Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.
Willst Du mich einen Monat lang begleiten?
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buch
Hier die Familie vorweg:
Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich (*1909)
Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des Vorhergehenden (*1910)
(Die Großeltern mütterlicherseits)
Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in Grebenstein (*1913)
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Lindalein, (*1973) unsere Kusine aus Amerika, die von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte
Ein Buch ohne Vorwort. Du kannst gleich anfangen zu lesen…
Oktober 1998
Donnerstag, 1. Oktober Trossingen
Freitag, 2. Oktober
Samstag, 3. Oktober
Sonntag, 4. Oktober Trossingen - Täbingen -?
Montag, 5. Oktober
Dienstag, 6. Oktober
Mittwoch, 7. Oktober
Donnerstag, 8. Oktober
Freitag, 9. Oktober Trossingen - Frankfurt
Samstag, 10. Oktober Frankfurt - Braunschweig
Sonntag, 11. Oktober
Montag, 12. Oktober
Dienstag, 13. Oktober
Mittwoch, 14. Oktober
Donnerstag, 15. Oktober Grebenstein - Nürnberg
Freitag, 16. Oktober
Samstag, 17. Oktober Nürnberg - Ofenbach
Sonntag, 18. Oktober
Montag, 19. Oktober
Dienstag, 20. Oktober
Mittwoch, 21. Oktober
Donnerstag, 22. Oktober
Ofenbach - Nürnberg
Samstag, 24. Oktober Nürnberg - Hennef (NRW)
Sonntag, 25. Oktober Hennef - Aurich
Montag, 26. Oktober
Dienstag, 27. Oktober
Mittwoch, 28. Oktober
Freitag, 29. Oktober Aurich - Grebenstein
Freitag, 30. Oktober
Samstag, 31. Oktober
Personenverzeichnis
Meist versüppelt oder verhangen. Gegen Abend leichte Wetterbesserung
Beim Ankleiden am Morgen dachte ich über meine Freundin Mireille in Frankfurt nach: Ständig macht sie aus einer Mücke einen Elefanten und zerbröselt alles, was man in jugendlichem Schwung in Angriff nehmen sollte, mit zersetzenden Worten.
Unlängst hatte ich ihr die höfliche Anfrage einer Familie aus Ostfriesland überbracht:
Ob sie gewillt sei, einen ganz lieben und unauffälligen 13-jährigen Jüngling eine Woche lang in ihrer unbewohnten Wohnung in Trossingen logieren zu lassen? Er säße immer nur ganz unauffällig in der Ecke, liest in seinen Heldenromanen, und bereite keinerlei Mühe. Daraufhin zeigte sich auf Mireilles Gesicht eine ganze Palette an Verzweiflungsnuancen: Besonders die Bekümmerung darüber unhöflich sein zu müssen überzog ihre Miene wie ein Schatten und beraubte Mund und Nase ihrer natürlichen Form. Ober- und Unterlippe versanken ineinander und verkeilten sich zu einem welligen Gebilde, während sich die Nase ein wenig in die Höhe kräuselte, als hielte ihr jemand ein Döschen mit Nießpulver darunter.
„Ich möchte nicht direkt absagen....“, sagte sie somit indirekt ab.
Nach dem Frühstück lief ich durch den Park und begegnete Tonmeister Rost, der mir berichten konnte, daß er gestern eine Aufnahme mit dem Kürscher-Quartett begonnen hat. Es dauerte jedoch nicht lang, und das junge Streichquartett geriet in Zank.
Der Meinung des versierten Tonmeisters zufolge handelte es sich um einen Zank jener Art, der die Vermutung nach sich zieht, dies sei wohl erst der Anfang einer langen Kette an Sitzungen, die schließlich in einen Dauerzwist münden, in dessen Verlauf die Arbeit vorzeitig und verärgert beendet wird. Dererlei ist der brave Tonmeister gewöhnt: Er setzt sich ins Tonstudio, die Musiker nehmen auf der Bühne Platz, packen eine unfertige Arbeit aus und hoffen auf ein Wunder. Man setzt sich ein Monokel auf die Ohren, durch das einem keine Nuance mehr entgeht, fühlt sich wie auf Eiern und wird aggressiv.
Nun aber hat sich das aus vier ungaren Jünglingen bestehende Quartett beim Geigenbauer Leubner eingenistet. Na, dessen Frau wird schäumen! Dies dachte ich - sagte aber nichts.
Nach etwa drei Tagen, wenn der Gast zu stinken beginnt, klopft Frau Leubner vorsichtig auf den Busch, wie lang die Herrschaften wohl noch zu bleiben gedächten, und der Bratscher sagt: „Mir saan no net amoi mit dem ersten Satz durch!“ Wir sind noch nicht einmal mit dem ersten Satz durch Wobei das „rch“ von „durch“, der Tiroler Mundart zufolge, wie das harte Räuspern eines Greises klingt, der ausspucken möchte.
Durch das trübe Wetter trugen mich meine Füße Richtung Supermarkt. Ich nahm mir Herrn Ahrends zum Vorbild, und die Mireille wiederum nahm ich mir zum Vorbild dessen, wie ich nicht sein möchte.
Herr Ahrends nimmt sich Großes vor: Mit aufgepumpten Muskeln schiebt er jeden Knüppel, den ihm böse Hände in den Weg geworfen haben beiseite, und schreitet stolz und erhobenen Hauptes seinem Ziel entgegen. Die Mireille wiederum tendiert dazu, auch Kleinigkeiten zu unlösbaren Problemen aufzubauschen.
Nachdem ich diesen Gedanken zuende gedacht hatte, war ich schon beinah am Supermarktsportal angekommen, doch es langte noch für einen kleinen Seitengedanken - scheinbar völlig losgelöst von den vorherigen: Daß man der Hilde raten müsse, „des Fischers Fru“ in sich niederzuknüppeln. Anhand dieser Geschichte erfährt man schließlich, was sich daraus erwächst. Die Hilde wünscht klare Verhältnisse: daß Buz sie heiratet und Rehlein für immer und ewig aus seinen Gedanken verbannt, als habe es sie nie gegeben. Dann wünscht sie sich Kinder, und diese Kinder sollten sportlich und musikalisch sein, wobei ihr das Sportliche eine Spur wichtiger ist als das Musikalische. Unsportlichkeit ist für sie das Allerschlimmste überhaupt.
Buz wiederum solle weltberühmt und steinreich werden, so daß die Hilde ihren Pisspottberuf der Klavierlehrerin an den Nagel hängen darf. Sie kauft sich prächtige Garderoben und repräsentiert neben dem großen Geiger - und alle sind sich einig: Sein Ruhm ist einzig und allein auf die starke Frau an seiner Seite zurückzuführen.
Dann wünscht sie mit Buz nach Beverly Hills oder Malibu zu ziehen, und ihr altes Leben ganz und gar und für immer hinter sich zu lassen.
Na, die Liste ließe sich noch endlos fortführen, nun aber war ich im Supermarktsfoyer angelangt und griff mir einen Einkaufswagen, den ich stolz durch die Reihen schob.
Buzens Erbmasse in mir trat zutage, und bevor ich damit begann, den Einkaufswagen zu füllen, schmökerte ich noch ein wenig in den Illustrierten. Der Stern hatte ein entlegenes Thema aufgegriffen: Die Hundertjährigen! In Deutschland gäbe es mehr als fünftausend Hundertjährige, die zusammen mehr als 500 000 Schicksalsjahre verkörpern, erfuhren wir Leser.
Natürlich könne man die nicht alle portraitieren, aber die wenigen, die auf den Fotos zu sehen waren, sahen allemal noch nett und brauchbar aus.
(„66 Jahre und keinen Tag älter!“ beschmeichelte der weltberühmte Frisör Udo Walz eine 106-jährige Dame, der er soeben eine schicke Frisur auf das Haupt gezaubert hatte)
Daheim widmete ich mich meiner Karriere und dachte darüber nach, daß die meisten Karrierezapfer große Angst vor Frustrierungen haben. Angst hat der Mensch auch davor, anarrogäntelt zu werden. Und doch erkühnte ich mich, die Nummer der wichtigen Konzertagentur Münkwitz in Rostock zu wählen. Natürlich fühlt man da einen leisen Bammel, ob dies nicht „eine Nummer zu groß“ sei? Der Angerufene wird von einem auf nichts fußenden und somit lächerlichen Respekt umweht, den man ansonsten vielleicht nur eiligen Dirigenten oder Staatsoberhäuptern entgegenzubringen vermag? Ich aber war mutig und beherzt, und Herr Münkwitz entpuppte sich als ganz normaler netter Herr, der mir gar eine Adresse diktierte. Ich bedachte seine Bemühung mit leicht überhitztem Dank und legte rasch wieder auf, um dem vermeintlich Vielbeschäftigten keine weitere Sekunde seines Zeitgutkabens auf Erden zu klauen.
Frau Kettler hatte mir eine Postkarte geschickt, und interessiert las ich darauf herum. Dürrwörtig wie alle Postkarten des modernen Menschen tönte mir der Text entgegen: „Jetzt beginnt wieder der Tro-Tro!“ stand zu lesen, „der Trossinger-Trott“ war in Klammern angefügt, und im Geiste formulierte ich - oder auch der Opa in mir - bereits an einem Antwortschreiben herum: „Und bitte schreib mir nicht wieder, daß jetzt der Tro-Tro kommt. Das sind Plattitüden. Nein - ich korrigiere mich: Es ist sehr lustig. Aber nicht lustig genug, um aufgeschrieben zu werden.“
Mittags gab´s bei mir mal etwas Anderes: Einen Hochglanzhering mit Zwiebeln und dicken Bohnen, von denen es heißt, daß so manch ein Genießer hernach zuweilen ganze Melodien zusammenfurze, wenn er sich unbelauscht fühlt. Etwas, was aber dann natürlich nicht mehr geht, wenn der kleine Tino auf Besuch ist - und so konnte ich es mit einem Male so gut verstehen, daß die Mireille das Besuchsgesuch abgeschmettert hatte.
Um 16 Uhr joggte ich los.
Auf dem Heimweg besuchte ich die Tankstelle, um mir eine kleine Zwergpackung „Möwenpick Florentiner“ zur Teestunde zu gönnen. Ausgerechnet das gab´s aber nicht - ebensowenig wie die sehnsüchtigst erwartete Zeitschrift „Amadeo“ (ein Klassikmagazin vom Stern, in das ich mich buzesgleich stets gern vertiefe, auch wenn bei Tageslicht betrachtet nichts als Unsinn drinsteht. („Eine spannende Interpretation!“))
Drei Anrüfe linderten meine Einsamkeit am Abend: Buz (nett), Rehlein (nett) und Angelika Homori, meine neue Pianistin aus Ungarn, die am Telefon wie ein quirliger lustiger Backfisch klang.
Vormittags leicht sonnig. Mittags hing eine pralle, giftgraue Wolke am Himmel. Sie hing einfach da, ohne loszuregnen – hernach milde Aufklarung
Im Traum packte ich soeben ein Weihnachtsgeschenk Rehleins aus. Rehlein hatte meine roten Hausschuhe über und über mit bunten Herzchen bestickt und sie mir nun für den Hausgebrauch in Trossingen zusammengebündelt. Außerdem lag ein unglaublich sorgsam gebügeltes zartviolettes T-Hemd für mich dabei. Doch bevor ich mich bedanken konnte klingelte der Wecker.
Am Vormittag rief mich Herr Hecker aus Braunschweig an, und während des sehr netten Telefonats freute ich mich bereits auf Braunschweig vor. Einen Schrecken galt´s jedoch auch zu verdauen: Die Sonaten von Bartòk und Ysaye, die ich schon beinahe verlernt habe, müssen wieder aufgewärmt werden.
Wenig später rief das süßeste Rehlein an, und ich bedankte mich überschwenglich für die Geschenke im Traum. Rehlein schwärmte begeistert von meiner Sonate in C-Dur, die sich die Eheleute heut zum Frühstück angehört haben. Buz und Rehlein machen sich derzeit Gedanken, ob sie für die Konzerte in Braunschweig und Nürnberg nicht vielleicht ein paar CD-Vorabdrucke in Auftrag geben sollten?
In Aurich sei es kalt, aber wunderschön.
„Es herrscht das „Hoch Jonas“!“ sagte ich altklug wie eine Dreijährige, denn ich weiß immer ganz genau, wie das Wetter gerade heißt.
Heut hätte ich einen richtigen Briefschreibenachmittag einlegen müssen, da so viel anstand. Meine Briefabos an Linda und Margarethe... mehrere Leute haben Geburtstag, doch ich fühlte mich nervös, weil mein etwas vernunftsbezogeneres anderes Ich die ganze Zeit an die dringend zu übenden Sonaten von Bartòk und Ysaye denken musste. Kurzzeitig spielte ich sogar mit der Idee, ein Wörkoholiker zu werden, wie der Onkel Eberhard. Hierfür müsste ich mir allerdings vorstellen, der Eberhard zu sein. Dem Eberhard sind die Tage viel zu kurz für all das, was er sich vorzunehmen pflegt, so daß für Briefe an die Verwandten praktisch keine Zeit bleibt.
Einmal war ich kurz in der Hochschule, um den entblößten Dirigenten Seybold als Briefkopf auf mein Briefpapier draufzukopieren.
In meiner Horchweite stand ein russlanddeutscher Pianist und führte Selbstgespräche. Er schien einen Dialog vorzuproben, den er mit einer Dame zu führen gedachte, die er davon zu überzeugen suchte, seine Frau zu werden. Dann gewahrte er mich, trat mit einem Lächeln auf mich zu und erkundigte sich nach seinem Artgenossen Ming, der ja ebenfalls Pianist von Beruf ist.
Wenig später konnte ich dem Herrn beim Kopieren gar mit Rat und Tat zur Seite stehen. Er kopierte ein paar Zeitungsausschnitte über den senilen Tastenhengst Merschanow, einen altersgrämlichen depperten Greisen, der die unerfreuliche, verstaubte Sowjetaura des Kremls in die Hochschule getragen und das Gebäude damit unschön kontaminiert hatte.
Am Nachmittag schrieb ich Herrn Hecker mein Programm auf. Ich schrieb in lockerem Ton und frug sogar fast plump-vertraulich, ob er Verwandte in Aurich habe. Dann unterschrieb ich fast anbiedernd „Viele liebe Grüße! Ihre Franziska K.“ Also grad umgekehrt wie es gemeinhin gemacht wird: „Gruß F. König“. Aber ich dachte mir „er weiß eh, daß ich König heiß“, und so rum ist es einfach netter und persönlicher.
Schließlich stürmte ich zum See, und an einer Stelle hat mich ein Spitzohrhund wütend und bös angeblafft. Das kleine Mädchen, das ihn an der Leine hielt, mußte seine ganze Kraft aufbieten, damit der Hund mich nicht anfällt und zerfleischt. Doch weder es noch seine Mutti fanden beschwichtigende Worte für mich, als zu Unrecht Bekläffter.
Am Freitag höre ich derzeit keine bestimmten Kassetten und lasse meine Ohren nach Art der Seele von Ute M. ein wenig baumeln, damit sie sich von der Dramatik der Brahms Symphonien erholen können. Und so hörte ich stattdessen meine Bach-Sonaten an, die wirklich außerordentlich warm gespielt sind. Beim Gespräch mit Anderen mache ich gar keinen Hehl daraus, daß ich die Sonaten genau so spielen würde, wie Bach sie sich gewünscht hätte, denn wer sollte Bach auch besser verstehen, als eine zirka 35-jährige Frau. Ich habe all die wichtigen Elemente mit einbezogen: Seinen Humor, die Fröhlichkeit, die Zärtlichkeit und auch das tiefe Gefühl. Nicht einmal das religiöse Empfinden habe ich außer Acht gelassen.
Eine Tendenz zu zappeligem, zum Teil gar intensivem Regen
Geträumt hatte ich, wie meist, äußerst verdrießlich:
Stundenlang hatte ich vergebens nach einem Parkplatz gesucht. Der Tank stand bereits auf Reserve. Schließlich zwängte ich das Auto in eine so enge Nische, daß es an beiden Seiten wüste Schabspuren zu beklagen gab, und die Spiegel hinzu beide abgebrochen waren. Kurz vor der Nische war ich ausgestiegen und hatte das Auto hineingeschoben. Zu bedenken, wie ich da jemals wieder einsteigen könne, hatte ich schlicht vergessen. Ebenso all das, was ich jemals in der Fahrschule erbüffelt hatte.
Am Morgen dachte ich schweißgebadet: „Woooo habe ich jetzt das Auto abgestellt??“ Ich war in jenen Tag erwacht, an dem ein lang festgelegtes Konzert mit Ming auf der Agenda stand, von dem ich das Programm noch gar nicht intus hatte. Es handelte sich um das Programm für das Konzert in Oberharmersbach im wahren Leben: Unter anderem Beethovens dritte Sonate, von der ich den letzten Satz noch gar nicht gekannt habe, und vom zweiten wußte ich noch nicht einmal, was das Klavier am Anfang überhaupt spielt. Trotzdem trug ich mich mit flattrigen Nerven eine Weile lang mit dem Vorsatz, es auf gut Glück auswendig zu spielen herum. Bloß hatte ich den ganzen Tag lang alptraumsartig nie Gelegenheit, die Noten zur Hand zu nehmen, da mir immer etwas dazwischenkam. Am Abend hatte ich mich dann schweren Herzens, beschämt vor mir selber, dazu entschlossen, es doch von Noten zu spielen, obwohl es immer so ungeübt wirkt, wenn ein Geiger von Noten spielt. Dies kommt mir stets so vor, als wolle man einen Kuchen vorzeitig aus der Röhre ziehen, um ihn den Gästen anzubieten. Doch im Inneren findet sich nur kalter Teig.
Im Künstlerzimmer machte Buz ein paar spöttische Bemerkungen über meine Verpackung, und tatsächlich...ich blickte an mir hinab und stak in einem Hochzeitskleid vom Orientbasar - viel zu eng! Gedacht war es für eine junge Braut mit Wespentaille, und gewiss nicht für eine füllige Geigerin in den allerbesten Jahren. An einer Seite war gar eine Naht aufgeplatzt.
Buz hatte mir eine Geige mitgebracht, doch zu meinem Entsetzen war es die falsche: Eine orangelackierte Geige, der sich nur ein schnarchender Klang entlocken ließ.
Verzweifelt versuchte ich durch hektisches Herumgestreiche den schönst möglichsten Ton hervorzuzaubern, doch meine Bemühungen tönten so, als wolle jemand mit zugehaltener Nase einen schlechten Sänger parodieren. Zwei Saiten waren bereits gänzlich verrostet und gaben nur noch ein Surren von sich: Egal welchen Finger ich aufklappte: Der Ton klang immer gleich, und darüber hinaus handelte es sich um einen Ton, den es überhaupt nicht gibt: Irgendein „Piff“ (wie Buz im wahren Leben intonatorisch verunglückte Töne scherzhaft zu bezeichnen pflegt).
Während ich mich erhob, wurde mir klar, daß ich da etwas über meine eigene Situation zusammengeträumt hatte: Nächste Woche die gefürchtete Solosonate von Bartòk, und außerdem die Frage: Wie komme ich nach Täbingen? (Einem sehr ländlich und abseits gelegenen Milchholdorf, wo es gewiss keinen Bahnhof gibt)
Am Vormittag hatte ich eine Menge vor, doch nur einen dieser Vorsätze setzte ich glücklich in die Tat um: Die Programme, die mir mein Vetter Hinnerk so rührend vorgestanzt hatte, in der Hochschule zu kopieren.
Dort herrschte heut so eine besonders verstaubte Sowjetaura, weil das senile Tastenfossil Merschanow verabschiedet werden sollte. Hoffentlich schwindet auch dieser trostlose Mief, den er hinterlässt, aus unseren Gemäuern, sobald er weg ist.
In der Stadt erlebte ich mein blaues Wunder: Alle Geschäfte waren geschlossen. Richtig! Es herrschte der Tag der Einheit.
Alle Leute, die ich bezüglich der geplanten Reise nach Täbingen anrief, strahlten so was „Na, i woaßnet“ haftes aus. Frau Kröger sagte immerhin: „Wenn alle Stricke reißen...“ Vati Kröger hat sich nämlich selbständig gemacht, und nun müssen zwei Büros eingerichtet werden. Eine sehr schöne, aber auch zeitintensive Aufgabe.
Mit Pfarrer Lücht hatte ich mir am Telefon verlegenheitsbedingt leider wenig zu sagen. Er wusste allerdings zu berichten, daß ich in der Zeitung gekommen bin.
Na, erstmal muß ich dort hingelangen. Draußen regnete es dünn aber beharrlich. Ich fühlte mich leicht einsam, so jedoch nicht unbehaglich, und so rief ich Veronikas Papi zu seinem 85. Geburtstag an. Der alte Mann war sehr gerührt, reichte mich aber gleich an seine andere Tochter weiter, mit der man ja wirklich Stunden um Stunden verplaudern könnte, da die Wellenlänge so fantastisch ist. Ich erging mich in einem Philosophat über das Dilemma auf dem Musikmarket. Daß man entweder jung ist - dann hat man zwar Kraft und schnelle Finger und meistert mühelos die schwierigsten musikalischen Bocksprünge - doch was fehlt, das ist die Reife! Andere sind reif und tragen eine sahneweiße Frisur über dem reifen Erfahrungs- und Gedankengut, doch „d´Finger wollöt nümmer!“ Die Finger wollen nimmer
„Aber mit dem Computer ist dies alles kein Problem mehr!“ schwärmte ich begeistert, weil mir unser Freund Heiko sogar drei Arme auf das Titelblatt meiner CD gezaubert hat, „mit denen es ja praktisch keine Kunst mehr wäre, Doppelgriffe zu spielen“, meinte die Tochter.
Eine halbe Stunde später telefonierte ich noch mit der Veronika. Der Zwist mit Schwager Alfonse sei beigelegt.
"Er hat mir einen rührenden Brief geschrieben!“ sagte die Veronika hörbar bewegt.
Die meiste Zeit übte ich und die Bartòk Sonate klappte nach nur einem Tag so gut, als hätte ich die Noten nie beiseite gelegt.
Mittags telefonierte ich sehr nett mit der ehemaligen Pianistengattin Frau Wachtenberg, die sich soeben ein wenig fein machte, um der Verabschiedung des alten Tastengauls aus dem Kreml beizuwohnen. Leider war ihr Job in der Hochschule nur von kurzer Dauer gewesen, da es sich um eine Schwangerschaftsvertretung gehandelt hatte, die nun vorbei war. Die burschikose Ehefrau des Celloprofessors ist wieder voll einsatzfähig.
„Da muß man halt warten, bis sie wieder schwanger ist!“ sagte ich lose.
„Die wird nicht mehr schwanger!“ prophezeite Mutti Wachtenberg, da die Familienplanung bei den Hahmanns nun abgeschlossen sei.
„Aber Herr Hahmann ist doch gewiss sehr vermehrungsfreudig!“ wunderte ich mich.
„Da gibt es andere, die das noch besser können!“ spielte Frau Wachtenberg auf ihren treulosen Ex an, der dieser Tage wieder Vater wird.
Heute joggte ich bereits um viere rum, weil ich mir vorgenommen hatte, mich in die gemütliche Hochschulcafeteria zu setzen, so lange der alte Sack verabschiedet wird, denn auf Herrn Merschanov habe ich einen Hass. Als der süße Ming mal höflich frug, wann das Zimmer wohl frei sei, sagte das arrogante Sowjetfossil sauertöpfisch zu seinem Schüler: „Einfach ignorieren – weiterspjiiiielen!“ und zu Ming sagte er unfreundlich: „Tjure zu – von außen!“ Er behandelte Ming, der doch immerhin ein bedeutender Pianist ist, wie einen dümmlichen Erstsemestler, dem man als alter Mann an jeder Ecke eine Kopfnuß verabreichen möchte, wenn keiner hinschaut – als Rache für die vielen ungerechtfertigten Kopfnüsse, die man als Pennäler einst von seinen Lehrern einstecken mußte.
Tatsächlich war es in der Cafeteria so schön ruhig und gemütlich wie lange nicht. Kein einziger Professor war zu sehen; nur ein paar stille und freundliche Asiaten.
Ich überlegte, ob ich die Hilde wohl zum Geburtstag anrufen solle. Ein simples Vorhaben, das auch für Buz Jahr für Jahr eine sehr schwere Entscheidung darstellt. Ich stellte mir vor, wie die Hilde extra für Buz einen Text auf den Anrufbeantworter gesprochen hat, der Buz jedesmal einen Stich ins Herz gibt. „Sie sind mit dem Anschluß von Hilde von der Leyen und Mohammed al Fayed verbunden“.
Daß unser süßer Papa davon ganz traurig werden könnte, ist ihr völlig wurst.
Zur Stund hat mich Buz noch gar nicht angerufen, um zum Tag der Einheit zu gratulieren, wie dies sonst seine Art ist. So, als habe er sich aus Kummer und Enttäuschung bereits um sieben Uhr ins Bett begeben. Man sieht die Arroganz verliebter Frauen auch hier: Der Mohr wohnt doch in Köln und die gemeinsame Ansage ergibt somit überhaupt keinen Sinn. Die Hilde will es Buzen „geben“ und sich als interessante Beziehungskistenhälfte eines Herrn aus dem Busch hervortun. Mehr steckt nicht dahinter.
Abends geriet ich in Stress, weil ich mir vorgenommen hatte, vier Stunden zu üben. Zwischendrin telefonierte ich noch mit dem Hinnerk, der für mich die Strecke Trossingen - Balingen heraussuchen sollte. Der Hinnerk hatte jedoch Bahlingen mit h eingegeben, und diese Reise wiederum hätte elf Stunden lang gedauert, bloß daß man dann im falschen Ort ausgestiegen wäre.
Total verregnet!
Abgesehen davon, daß ich nicht wusste, wie ich in meinen Bestimmungsort „Täbingen“ gelange, wusste ich noch viel weniger, wie ich von Täbingen wieder zurückkommen würde. Und somit fühlte sich der Tag zu Beginn so an, als ende die Geschichte hier....
Es kam so, wie ich es im Monat Mai geträumt hatte: Die Oktoberregene hatten eingesetzt.
Zunächst war ich nur mühsam eingeschlafen, dann aber träumte ich doch: Die Ute jammerte mir die Hucke voll, wie sich das Eheleben mit dem Hubert entwickelt habe und war praktisch untröstlich: Er sei wirklich NIE daheim! Darüber hinaus sei er auch völlig ferienuntauglich. Und dann sei er auch noch abergläubisch! Er bildete sich nämlich ein, es brächte Unglück, wenn man seinen Untermieter morgens aufweckt.
Ich besuchte ein neu eröffnetes Musik- und Bettengeschäft in Rottweil. (In letzter Zeit mussten sehr viele Geschäfte fusionieren, da sie im unfusionierten Zustand viel zu wenig Gewinn abwarfen)
Dort gab´s schöne Notenständer und frisch bezogene Betten, und während ich mich heimlich in eines davon verkroch, um mich auszuruhen, bimmelte das Ladenglöckchen: Rehlein war´s!
Rehlein als Mutter entdeckte mich sofort. Anstelle einer Begrüßung frug sie streng, ob dies mit den Ladeninhabern so abgesprochen sei? Daß ich mich einfach in ein Bett verkröche als sei´s bei mir daheim?
Weit und breit sah man keinen Verkäufer blitzen, und Rehlein wollte doch einen längeren Einkaufszettel abarbeiten! Dementsprechend wellte sie ihre schöne Stirn in wachsendem Unmut.
„Hallo?“ rief Rehlein, „hallo?“ - Dann verschwand sie hinter einer Gardine, und ihre Schritte verhallten nach Art eines Decrescendos ins Nichts....
Im nächsten Traumgebilde saß ich in einer schönen stuckverzierten Toilette in der alten Musikschule. Doch als ich das Klopapier abzupfen wollte, ließ es sich nicht abzupfen. Das Band an dem ich zog wurde länger und länger....
Dann wiederum träumte ich in Romanform:
Auf einer von der Sonne warmgebratenen Bank saß ein Herr - eigentümlicherweise trotz des hellen und warmen Sommerwetters in Hut und Mantel steckend - neben seinem gebogenen Spazierstock. Er hielt einen Stadtplan in Händen, und seinem Gesichtsausdruck zufolge, warf dieser Plan mehr Fragen auf, als Antworten zu geben er imstande schien. Der Herr wunk mich zu sich heran, um mir eine Frage zu stellen, doch bevor ich ihn noch erreicht hatte, sah ich zu meiner grenzenlosen Verblüffung die Reichmanns über den Strand laufen. Ein altes vertrautes Ehepaar aus Trossingen hier am Strand in Norddeutschland? Freudig eilte ich ihnen hinterher doch da tönte der Wecker.
Um 11.25 sollte mein Ausflug in das kleine Milchholdorf Täbingen (nahe Balingen) seinen Lauf nehmen, wo am Abend ein Kirchen- oder auch Kirchleinkonzert auf der Agenda stand.
Eine mit Freuden und Ärgerlichkeiten gespickte Reise wartete auf mich.
So wie es sich manch einer unter uns in seinem simplen Weltbild bequem gemacht hat, hatte ich es mir im Sommer bequem gemacht und offenbar gar nicht bemerkt, daß sich mittlerweile auf leisen Sohlen der Herbst herbeigeschlichen hatte. Beim Ankleidevorgang (Beamtendeutsch) schien ich vergessen zu haben, wie nieselig und ungemütlich es draußen war, und als ich das Bähnle gen Rottweil bestieg, stak ich nur in einem dünnen Röckchen,
Im trübgenieselten Rottweil bestieg ich bibbernd den Bus nach Balingen. Gegen Ende der Reise war mir leicht übel. Ich war hungrig geworden und sehnte mich nach einem guten Wort. Leider trug das mit feuchten grauen Tüchern verhangene und pfützennasse Balingen nicht gerade zu einer Launenaufhellung bei.
Im verregneten Stadtkern tobte der Töpferflohmarkt, so daß man schon von der Ferne sehen konnte, daß das Café am Markt, dem ich doch so freudig entgegenstrebte, quasi aus allen Nähten platzte.
Ich teilte den Tisch mit einem reifen Ehepaar, das mit einer gänzlich humorfrei wirkenden alten Oma einen Kaffee trank. Der Oma fehlten anderthalb Finger, wie ich zu meinem Entsetzen bemerkte, und das Ehepaar dauerte mich, weil ich es mir sehr freudlos und anstrengend vorstellte, mit einer ganz humorlosen alten Frau Kaffee zu trinken. Reißt man ein kleines Witzlein, so lacht sie nicht und blickt einen lediglich verständnislos an, wie einst die Komponistengattin Rosa Sprongl, wenn sich der Opa einen Scherz erlaubt hat.
Ich bestellte mir einen Crĕpe, war jedoch sehr enttäuscht: Ein Grießkoch! In der salzarmen Umhüllung stak eine undefinierbare Gemüsepampe wie vom Seniorenhilfswerk, und so zog ich weiter ins Café Armleder, wo es auch ziemlich enge war. Doch dort gefiel´s mir einfach besser. Bar jeder Vernunft bestellte ich zwei sündhaft teure Wildkirschtees und eine gänzlich verzwirbelt aussehende Käsestange.
An meinem Tisch saßen wechselnd irgendwelche Seniorenpaare. Einem älteren Herrn war mein Violinkasten ins Auge gehüpft, so daß er sich zu einem kleinen Interview herausgefordert sah: „Ha, was spielöt Sie so?“ „Hän Sie Kirchömusik studiert?“
„Ha, was spielen Sie so?“ „Haben Sie Kirchenmusik studiert?“
Anstrengende Fragen, die leider keinen großen Beantwortungsschwung aufwirbeln.