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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Oktober 2003 in einen Roman verwandeln sollen. Das Leben selber führt Regie.
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Seitenzahl: 174
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Journal
Realdoku aus dem wahren Leben
Für meinen lieben Onkel Hartmut
Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.
„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.
Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.
Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.
Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…
Oktober 2003
Mittwoch, 1. Oktober Ofenbach (ein Dorf in Niederösterreich)
Donnerstag, 2. Oktober
Freitag, 3. Oktober
Samstag, 4. Oktober
Sonntag, 5. Oktober
Montag, 6. Oktober
Dienstag, 7. Oktober
Mittwoch, 8. Oktober
Donnerstag, 9. Oktober
Freitag, 10. Oktober
Samstag, 11. Oktober
Sonntag, 12. Oktober
Montag, 13. Oktober
Dienstag, 14. Oktober
Mittwoch, 15. Oktober
Donnerstag, 16. Oktober
Freitag, 17. Oktober
Samstag, 18. Oktober
Sonntag, 19. Oktober
Montag, 20. Oktober
Dienstag, 21. Oktober
Mittwoch, 22. Oktober
Donnerstag, 23. Oktober Ofenbach – Nürnberg
Freitag, 24. Oktober Nürnberg – Gebenstein – Hann. Münden
Samstag, 25. Oktober Hann. Münden – (Kassel, Dransfeld)
Sonntag, 26. Oktober Hann. Münden - Braunschweig - Broistedt
Montag, 27. Oktober Broistedt -– Grebenstein – Hann. Münden
Dienstag, 28. Oktober Hann. Münden – Grebenstein
Mittwoch, 29. Oktober
Donnerstag, 30. Oktober Grebenstein – Hünfeld
Freitag, 31. Oktober Hünfeld - Grebenstein – Immichenhain
Personenverzeichnis
Oktober 2003
Mittwoch, 1. Oktober Ofenbach (ein Dorf in Niederösterreich)
Nebelverhangen. Teilweise sonnig, aber auch ein wenig feucht. Zur Abendstunde schmuddelige Wolkenüberzüge
Während ich mich in die Dunkelheit erhob, molk ich wie all morgendlich mein Hirn nach Träumen ab und entsann mich, wie ich auf einem sich dahinschlängelnden breiten Spazierweg durch den Wald wanderte. Plötzlich glaubte ich den dünnen Klang einer Violine zu vernehmen, und tatsächlich: In einer Ecke saß Buzens taiwanesische Studentin Hanlin geigend auf einer Holzbank. Als sie mich gewahrte, hielt sie verlegen mit dem Violinspiel inne, und wir kamen ins Gespräch:
Die Hanlin hatte ihre stickige Wohnung im Sternhaus Kassel, dem scheußlichsten Hochhaus weit und breit, an eine siebenköpfige Familie vermietet, um sich ihrerseits ein Leben in der Natur aufzubauen. Dazu brauchte sie lediglich ihre geliebte Geige, den Notenständer und einen Stapel Noten. Zu baden pflegte sie in jenem See, der zwischen den Bäumen glitzerte, und abends baute sie sich eine gemütliche Bettstätte aus Blättern. Ernähren tat sie sich hauptsächlich von den Schätzen des Waldes: Brombeeren, Wurzeln und vielem mehr. Manchmal besann sie sich aber auch auf die Miete der siebenköpfigen Familie, und darauf, daß ihr Konto wohl schier am überquellen sei. Dann pflegte sie sich in die Stadt zu begeben, hob einen Batzen Geld ab, und besuchte das Chinalokal am Bahnhof, wo sie einst in jungen Jahren gekellnert hat.
Rauhreif lag über dem Rasen. Es ist schubberig und fröstelig geworden, so daß man nicht mehr so gerne aus Bett und Schlafgewand heraus in den rauhen Alltag hineinsteigt.
Nun aber erhob ich mich rapide, und begann augenblicklich, in der Küche ein Vesper für Rehlein zuzubereiten.
Nach seinem Exitus im vergangenen Jahr hat Rehlein Opas verwaiste kleine Kammer bezogen, um fortan sein Leben fortzuführen. Rehein schläft in Opas Bett, liest seine Bücher, und setzt die Arbeit am „Nokixel“ fort: Einem Wörterbuch, für das der Opa zeitlebens Karteikärtchen gesammelt hat. So quasi jedes einzelne Wort, künstlerisch beleuchtet, ungewöhnliche Redewendungen und vieles mehr befindet sich in Opas zu Schatzkästlein gewordenen Karteikästen. All das muß nun geordnet und ins Reine getippt werden, und diese schöne Arbeit versetzt Rehlein zuweilen in einen Rausch.
Die Tür von Opas Zimmer knarzte leicht. Rehlein knospelte hervor, und zog ein Köfferchen hinter sich her.
„Guten Morgen!“ bewarfen wir einander mit herzlichsten Tageseinklangsworten.
Nun mußte Rehlein Opas Leben, in dem sie es sich so gemütlich gemacht hatte, eine Weile lang unterbrechen, um nach Aurich zu Buzen zurückzukehren.
Auf Rehlein wartete eine Reise von 1400 km Länge.
Man kann sich kaum einen ferneren Ort und einen andereren Menschenschlag vorstellen. Erzählt man in Österreich vom fernen Ostfriesland (Teezeremonie, Emder Wölkchen) so ist einem zumute, als spräche man über Gepflogenheiten auf einem anderen Stern.
Rehlein hatte sich mit dunklen Ohrringen verschönt, und sah damit so hübsch aus.
Jetzt, da ein luftiges Bündel geschnürt war, freute sich Rehlein sehr auf die Reise und das Wiedersehen mit Buzen vor.
Im Bahnhof Wiener Neustadt trat ein gewisses Bahnhofsbehagen auf, daß sich ähnelnd dem Dampf einer Tasse frisch gebrühten Kaffees auf Abschiedsschmerz und Wehmut legte.
Rehlein reihte sich in die Warteschlange der Monatskartenkäufer ein, und Ming amüsierte sich darüber, daß Rehlein in der Warteschlange stets ganz anders redet als sonst: Ganz deutlich – so, als seien die Worte in erster Linie für die Ohren der Mitreisenden gedacht.
Die Zähigkeit, mit der die Warteschlange durchs Leben geschoben wurde, schien das ansonsten so unbarmherzige Davonrinnen der Zeit ein wenig zu bremsen.
Wir brachten das süßeste Rehlein auf den Frühzug um 7.20, und verabschiedeten uns so innig, als wolle Rehlein nach Australien auswandern, so daß man sich nach menschlichem Ermessen in diesem irdischen Leben nicht wiedersehen würde.
Daheim setzten Ming und ich uns nach Art eines ältlichen Ehepaares zum Frühstück nieder. Wir sprachen über Mings Exe G. und ihren Mann Fritz, und Ming wußte zu berichten, daß die Eheleute nun lokale Größen seien, die voll und ganz ins Dorfleben hineinverwoben und integriert sind. Die katholische Hochzeit könne Ming jedoch nicht verzeihen, auch wenn man ihm versichert hatte, dies sei nur „pro Forma“ geschehen. Vielleicht denkt man aber auch auf Bratscherart, daß das mit dem Katholischen und der Jungfrau vielleicht ein bißchen stimmen könne, denn sonst würden ja wohl kaum so viele Leute dem Papst zujubeln?
Bratschermentalität: Der Normbratscher fliegt nach Art eines Schmetterlings von Blüte zu Blüte und nimmt überall etwas Weisheit mit. Nicht zu viel und nicht zu wenig.
Ming las mir das Theaterstück „Vor Sonnenaufgang“ vor. Auf der Vorderseite des Buches schaut man auf einen weißhaarigen, dirigentenartigen Herrn drauf, der dieses detaillierte Theaterstück niedergeschrieben hat. Gerhart Hauptmann. Er schrieb es allerdings bereits in jungen Jahren. Ming wußte zu berichten, daß sich der Dichter zur Nazizeit ein Hakenkreuzfähnlein auf´s Haus gestellt hat, um seine Ruhe zu haben.
Ming las den ganzen Vormittag daran herum.
Ich selber übte auf der Violine, und hie und da stellte ich zu Zerstreungszwecken den Televisor an. Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daß Gidon Kremers Ehefrau Tatjana zum Üben gerne fernsah, und tat es ihr nun nach.
Bei „Fränklin“* ging es heut um Sozialschmarotzer. Ein Onkel redete seiner 23-jährigen schwangeren Nichte auf ruppigste Weise ins Gewissen, weil sie nichts zustande brachte.
„…auf deutsch gesagt: „Ich hab die Schnauze voll!““ ereiferte sich der aufgebrachte Onkel in magerer Wortwahl. Eine Dame im Publikum machte eine höhnische Bemerkung darüber, daß man so verantwortungslos ist, und sich einfach schwängern lässt.
Und das Thema bei „Vera“* hieß: „Kotzbrocken, ich will Dich los sein!“
*Krawallosendungen für Arbeitslose
Ming kochte zur Mittagsstund ein interessantes Nudelgericht mit Tomaten und Zucchini. Die Nudeln waren gerippt und erinnerten an geschnurrte Miederbänder am Korselett einer dicken Frau.
Nach dem Essen machte ich mir ein Vergnügen daraus, Ming einen unglaublichen Kaffees zu servieren: Mit einer handgeschlagenen Hochglanzsahnehaube und abgehobelten Lindor Raspeln drauf. Dann mischte ich auch noch einen Fingerhut Cointreau hinein.
Immer wieder schrieb ich zehn-Minutenweise Briefe, doch fertig geworden ist zur Stund´ noch keiner.
Beim Abendessen war Ming sehr nett gestimmt, und ließ sich von mir die Füße massieren. Dazu schauten wir DSDS: „Deutschland sucht den Superstar“. Zuerst sangen lauter Trios: Entweder sog. „Boy-Groups“ oder „Girli-bänds“, und alle waren so schrecklich nervös.
Wir lernten einen Dreamboy kennen. Er, der rausgeflogen war sagte so rührend: „Ich freue mich auf meine Verlobte und unser neugeborenes Baby, das jetzt fünf Tage alt ist. Und ich freue mich darauf, dieses Kind zu einem guten Menschen zu erziehen …“
Ein ebenfalls vorzeitig hinausgeflogenes sauertöpfisches Girl sagte: „Wenn ich allein gesungen hätte, so wäre das nicht passiert!“ Damit wollte sie den beiden anderen Girlis zu verstehen geben, daß sie ihre Karriere und somit ihr Leben zerstört hätten.
Ich wurde plötzlich schrecklich nervös, weil ich nicht wußte, was aus Buz und Rehlein geworden ist. Bei der Omi hob um halb zehn niemand mehr ab, so daß ich mit klammen Gefühlen dachte, sie sei nun doch gestorben. Aber die Sorge um Rehlein & Buz überschattete alles. Ich sprach auf Buzens Mailbox, doch das Telefon blieb stumm.
Donnerstag, 2. Oktober
Sonnig. Hie und da Wolkenfleckerln
Oben im Ashram hörte man Ming durchs Telefon kommunizieren, und ich wunderte mich, was man mit dem Julchen wohl so lange reden könne, wo es doch eine Vertreterin der jungen Generation ist, wo man sich nur noch SMSs schickt, und in Abkürzungen zu schreiben pflegt. GGG (ganz großes Grinsen) z.B..
Ich schaute „Fränklin“, und wurde anhand des mißmutigen und sauertöpfischen Türken „Ahmed“ dahingehend wachgerüttelt, wohin es wohl führe, wenn man sich in seine eigenen verbitterten Gedanken verkapselt? Der Ahmed wollte nicht, daß seine Freundin Renate, 45 Jahre alt, arbeiten geht, und dabei hatte die Renate schon so schöne Pläne und fühlte sogar eine innere Berufung: Bei der „Mitropa“ in der Bundesbahn kräftig mit anzupacken und dafür zu sorgen, daß die Reisenden froh und zufrieden sind.
„Warum soll sie da nicht arbeiten?“ frug der Fränklin, der immer so nett und anteilnehmend ist, und seine Worte mit einem Augenzwinkern zu begleiten pflegt, so daß millionen Ehefrauen denken: „Ach, könnte der Meinige doch auch so sein!“
Der Ahmed, der die Welt gern nach seinem Weltbild umformen würde, sagte sauertöpfisch: „Weil die spinnen!“
Als Ming die Treppen herabkam, schaltete ich den Fernseher ab. Leider hatte Ming heut ein wenig den „Kritischen“ drauf. Er verdächtigte mich nämlich, überhaupt kein Gesellschaftsleben zu führen.
Niemand ruft mich an, niemand scheint mich zu vermissen oder überhaupt an mich zu denken, und außerdem wundert Ming sich nicht zu Unrecht, was ich da wohl immer in mein Tagebuch schreibe, wenn ich doch eigentlich nur übe und fernsehe? Ming glaubt, daß man viele Dinge allein gar nicht machen kann: Zum Beispiel ins Konzert oder ins Kino zu gehen? Oder aber ins Restaurant? Doch ins Restaurant gehe ich sehr gern alleine.
Heute wurden zwei Briefe fertig: Jener an die Hilde, und der erste von zweien an die Tante Bea.
Mittags kochten wir Tiefkühlkost, und die Mahlzeit, die daraus resultierte war schön wie im Rosenberger* und schmeckte köstlich. Appetitliche Grammelknödel und Rotkraut. Ich war so begeistert, daß ich vorschlug, genau dieses Essen nun jeden Donnerstag zuzubereiten. Schwärmerisch sprach ich davon, daß die jüngst verstorbene Omi Mobbl nach einem strengen Wochenplan lebte. Jedem Wochentag war eine andere köstliche Mahlzeit zugeordnet.
*Autobahnraststätten in Österreich, die wirklich paradiesisch sind
Dann erzählte ich Ming vom Meisterkurs bei Daniel Schafran, den ich einst besucht habe. Die aus aller Welt herbeigereisten jungen Musikanten, dachten und hofften, dem Meister eine Freude zu bereiten, wenn sie ganz persönlich und originell spielen. Doch dies konnte der große Cellist nun gar nicht leiden. Er beharrte darauf, daß alles so klang wie von Herrn Herberger interpretiert (schulmeisterlich Ton für Ton, und so streng im Takt, daß man ein Metronom danach hätte eichen können). Zum Spaß sang ich Ming den Liebesgruß von Elgar ganz nüchtern und bar jeglichen Gefühls vor. Dies wünschte der Schafran, damit er sich eine rassistischspöttische Bemerkung erlauben durfte.
Ein in Berlin geborener junger Japaner mühte sich mit Tschaikowskis Rokoko-Variationen ab – dem Husarenstück für junge Cellisten.
„Ich glaube kaum, daß die russische Seele in Tokyo geboren ist!“ flüsterte der Schafran seinem Jünger Bojidar aus Bulgarien spöttisch und laut genug, daß es auch anderweitig gehört werden konnte, ins Ohr.
Ming und ich spazierten an der Grundschule entlang und überquerten die Bahnlinien. Wir sprachen über die hübsche Nicole, die ich bereits seit fünf Jahren nicht mehr gesehen habe. Ming hatte vor einem halben Jahr letztmalig Kontakt, und damals stand sie kurz davor, mit dem Prof. Kebap zusammenzuziehen. Ich bemutmaßte Ming damit, daß der Professor gar nicht zusammenziehen will?! Doch die Nicole sei das Leben als Konkubine leid.
„Sogar Udo Jürgens warnt vor dem Zusammenziehen!“ sagte ich, und in einigen Journalen las man bereits auf dem Titelblatt: „Wieviel Enge verträgt eine Beziehung?“
Freitag, 3. Oktober
Sonnig und milde
Ich schlief dem ersten einer Kette sturmfreier Tage entgegen, auf die ich mich sehr freue, auch wenn ich meine beiden Omis in mir züngeln fühle: Am Montag kommt „das Mädchen“ (Mings neue Flamme), und Mobbl in machte sich bereits Gedanken der folgenden Art: „Soll ich DER dann womöglich auch was zu essen machen?!“ Doch der Ungetrübtheit der Vorfreude zum Nutzen, kommt mir wiederum Buzens Erbmasse zugute. („Erstmal nicht weiterdenken, als meine Nase lang ist“)
Ich träumte, daß ich bei einem Ehepaar lebte. Es hätte schön sein können, bloß führte die Frau BÖSES gegen ihren Mann im Schilde. Ich hatte heimlich in ihrem Tagebuch gelesen, und wußte somit von ihren mörderischen Plänen. Sie liebte einen anderen, und so mußte ihr Mann aus dem Wege geräumt werden.
Dann war es Ming, der mich mit einem dünnen Lied auf den Lippen, und sogar einem netten, wenn auch etwas kurz angebundenen Kuss weckte.
Beim Frühstück verstanden wir uns fantastisch, da Ming heut ja verreist, und um zehne auf die Bahn gebracht werden mußte. Wir psychologisierten über die Enge des Zusammenlebens, und sprachen sogar darüber, wie´s wohl ist, wenn das Julchen mit Ming zusammenzieht.
„Wenn man erst zusammengezogen ist, schwindet die Demut im Miteinander rasch, und die Liebe geht unweigerlich in ein anderes Stadium über!“ dozierte ich. Das Geheimnisvolle verliert sich, man lernt die unschöne B-Seite des Partners kennen…
Ich stellte mir für RTL II eine neue fesselnde Dokuserie vor: „Hurra, wir ziehen zusammen!“ Später rief ich durch´s Treppenhaus: „Wieder hat sich eine These von mir bestätigt: Daß man sich am besten versteht, wenn man geht oder kommt!“
Wir fuhren los. Auf der Fahrt erzählte ich von der Hilde, die heut viel zufriedener sei als früher, weil sie jetzt Mutter ist. Früher krankte sie biologisch daran, daß ihre um zwei Jahre jüngere Schwester bereits zwei prachtvolle Kinder hatte. Ständig hörte man Sätze wie diesen hier: „Der kleine Faruk geht in die Musikschule, und die Klavierlehrerin ist äußerst zufrieden mit ihm.“
Am Bahnübergang war Ming sehr verärgert, daß man immer zehn Minuten warten muß und dann seinen Zug verpasst. Er sah es im Geiste bereits vor sich: Vergebens wartet die Liebste auf Gleis eins in Leipzig.
„Dann schreib hin und beschwere dich!“ regte ich auf Opa-Art an.
Verdrießlicherweise verpasste Ming diesen einen Zug, doch über all den kleinen Mißgeschicken und Ärgernissen, die der Alltag für uns bereithält sollten Worte von Veronikas Schwager Alfonse schweben: „Ob Glück oder Unglück, das wird die Zukunft entscheiden, und tatsächlich war es so: Hätte Ming den Zug nämlich nicht verpasst, so hätte er seinen weißen Beutel mit dem Vesper - befüllt unter anderem mit Rehleins köstlichem Apfelkuchen - im Kofferraum vergessen, und dies hätte eine Schimmelei gegeben! Ich selber trug einen identisch aussehenden Beutel bei mir, in welchem sich meine wichtigsten Weiterlebungsutensilien befanden: Geldbörse nebst Führerschein, Haus- bzw. Autoschlüssel, und man stelle sich mal vor, Ming wäre abgefahren, und ich hätte den Beutel mit dem Vesper in der Hand gehalten, während Ming mit meinem Überlebungsbeutel dahinfuhr.
Leicht verloren und windverblasen standen wir auf der Bahnhofsplattform.
Ich verabschiedete Ming mit dem Gitarristenabschied: „Geh du alter Esel fort!“ Doch diese läppischen Worte, anhand derer man sich die Gitarrensaiten merken soll, entsprachen nicht dem, was ich Ming mit auf den Weg geben wollte.
Wir liebten uns sehr. Als Ming bereits im Zug stand, und aus dem Fenster blickte, versenkte ich mein Haupt wie ein fressendes Pferd in den Jutebeutel, um auf scherzende Weise so zu tun, als wühle ich vergebens nach meinem Autoschlüssel.
Der Zug ruckelte und jaulte los. Es wurde ernst, und ich raste noch eine ganze Weile lang neben dem hinfortgesogenwerdenden Ming her. Selten zu lesendes Wort.
Daheim schaute ich mir einen Film über Mischa Maisky an. (Bedeutender Cellist)
Gleich zu Beginn sprach er mit Wärme und in Rührung darüber, wie reich wir Musiker doch beschenkt sind. Daß wir einen Beruf ausüben dürfen, den wir so sehr lieben. Etwas, das man beinahe selbstverständlich genommen hätte.
Auf den Mann am Klavier fiel mein Blick natürlich auch. Er, der den Ehrgeiz zu haben schien, auf seinem Gesicht so wenig Mimik als möglich aufscheinen zu lassen, schaute aus, als hieße er vielleicht „Hartmut Hähnchen“ oder so ähnlich, und erst nach einer Weile fiel bei mir der Groschen, daß dies doch wohl der vielbesungene „Gililov“ seien könnte? Ein Mann, in Musikerkreisen in aller Munde, den jedoch noch niemand gesehen hat. Ein Name, mit dem man sich schmückt.
„….da habe ich Konzert mit Gililov in Paris!“ Worte, bedeutsam und doch Eile verstömend ausgesprochen von Lippen bedeutender Cellisten und solchen, die es werden wollen.
Fleiß und Tatendrang stachen mir wie Distelbüsche in den Po, so daß ich den Film aufnahm, um nebenan im Musikzimmer zu üben.
Dadurch, daß nebenan der Mischa so schön musizierte, war ich nicht mehr einsam.
Abends radelte ich durch die Sonne nach Lanzenkirchen, und stellte mir bei jedem einzelnen Menschen dem ich begegnete bildhaft vor, wie ich absteige, um mich mit ihm zu befreunden.
Für die Dame an der Schinkentheke hatte ich das Österreichische sogar geübt, damit ich nicht gar zu fremd klinge, und aus der Grundbevölkerung „naushaue“.
Hernach joggte ich durch den Wald und dachte dabei an den Onkel Rainer, der im Rahmen seiner Europareise überraschend von einer Thrombose erfasst, in einem Dorfspital nahe Berlin liegt. Ich stellte ich mir vor, wie sich Onkel Rainers Walter-Hurst-Syndrom (dem Sehnen des Alternden in Heimaterde bestattet zu werden) bedingt durch die Thrombose sehr beschleunigt. Plötzlich wird ihm klar, daß es jeden Moment zuende gehen kann, und er sagt zu seiner Frau Sharyn: „Mach was du willst! Aber ich werde nicht nach Kanada zurückkehren. Mein Platz ist hier. Dies hier ist meine Heimat.“
Wer hätte nun gedacht, daß diese simple Europareise, die man in wenigen Wochen abgehakt glaubte, eine Reise ohne Wiederkehr würde?
Samstag, 4. Oktober
Zuerst regnete es laut, doch am Nachmittag wurde es plötzlich zauberisch: Die Wolken, zum Teil vom Sonnenglanze angesengt, verzupften sich in alle Windrichtungen, und die Sonne lachte breit herab
Ich träumte, daß ich in Aurich die alte Frau Priwitz besuchte. In ihrer Stube wurde soeben im Stile der DDR-Zeiten die Kaffeetafel gedeckt, und es quollen immer mehr Besucher herbei, die lebhaft durcheinanderschnatterten. Kinder waren auch dabei, und bald schon verstand man sein eigenes Wort nicht mehr.
Plötzlich vermisste ich meinen Schlüsselbund, und das, wo ich doch am Abend sturmfreie Bude in Ofenbach hatte, und mich schon die ganze Zeit auf einen Film vorfreute, der heut auch im wahren Leben laufen sollte („Zerrissenes Glück“).
Verzweifelt suchte ich herum. Überall lagen Schlüssel, und im Windfang war sogar ein Schlüsselbrett für die Gäste angebracht, das schier überquoll. Doch meiner fand sich nicht. Ich hätte mich ohrfeigen mögen, daß ich nicht besser Obacht gegeben hatte.
Im NDR wurde ein Film über den Violinwettbewerb von Hannover gesendet. Ganz aufgeregt rief ich in Aurich an, um darauf hinzuweisen, und interessiert schaute ich ihn durch die Augen meiner Lieben an. Doch mein Interesse wurde ein bißchen strapaziert, da die von der Klassikfilm“brounsch“ leider die Gewohnheit haben, die aufstrebenden Violinisten geigerisch kaum je zu Wort kommen zu lassen. Das Okular des Filmgeschehens richtete sich auf zwei Kandidaten: Einen 22-jährigen ungarischen Virtuosen, schrankförmig, unrasiert und mit wilder Mähne. Durch das Fernsehglas hindurch vermeinte man seinen Arbeitsschweiß zu ermüffeln. Die Geige wirkte klein und zierlich in seinen riesigen Händen, die sich das Instrument regelrecht „untertan“ gemacht zu haben schienen, wie ein paar Takte aus der Chaconne, und etwas Atemberaubendes von Paganini zeigte, wo dem Hörer und Beschauer vor Staunen der Hut hochging.
Ferner wurde ein Fräulein mit Namen Sofia Jaffée vorgestellt. Ein junges Fräulein, das ich auf Anhieb ins Herz schloss.
In Sofias Elternhaus gibt es immer wieder Schülervorspiele, und am längsten verweilte die Kamera auf einem neurodermitisch verkratzten Kleinkind, das noch ein wenig jaulig spielte, so daß das Verweilen wohl kaum dazu angetan sein konnte, Klassikbegeisterung unter der Grundbevölkerung zu schüren. Die Eltern Jaffée fand ich so nett.
Doch überraschend flogen beide Kandidaten nach der ersten Runde hinaus: Die Sofia, weil sie ihre Ysaye-Sonate „vergeigt“ hat, und der Lakatosch*-Verschnitt (*bedeutender Wiener Schrammel-Geiger) „ohne Grund“. Hilflos referierte ein Juror über das „Warum“. An einen Angeklagten erinnernd, der erklären soll, warum er seine Oma erschlagen hat, um ihr ein Börsel mit 90 Schilling zu rauben. („Sie hat mir so leid getan, weil sie schon so alt war!“)
So dürfe man vor einer Jury einfach nicht spielen.
„Dummes Geschwätz!“ war man zunächst geneigt zu denken.