Der Herr mit dem Hündchen - Franziska König - E-Book

Der Herr mit dem Hündchen E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den April 1998 in einen Roman verwandeln sollen. Das Leben selber führt Regie.

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Meinem süßesten Ming gewidmet!

Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton im Wiener Hauptbahnhof

Aus dem Leben einer Geigerin

Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.

Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.

Willst Du mich einen Monat lang begleiten?

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich (*1909)

Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des Vorhergehenden (*1910)

(Die Großeltern mütterlicherseits)

Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in Grebenstein (*1913)

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Lindalein, unsere Kusine aus Amerika, die von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte

Ein Buch ohne Vorwort. Du kannst gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

April 1998

Mittwoch, 1. April: Ofenbach, ein kleines Dorf in Niederösterreich

Donnerstag, 2. April

Freitag, 3. April: Ofenbach – Trossingen

Samstag, 4. April

Sonntag, 5. April

Montag, 6. April

Dienstag, 7. April

Mittwoch, 8. April

Donnerstag, 9. April

Freitag, 10. April

Samstag, 11. April

Sonntag, 12. April

Montag, 13. April

Dienstag, 14. April

Mittwoch, 15. April

Donnerstag, 16. April

Freitag, 17. April

Samstag, 18. April

Sonntag, 19. April

Montag, 20. April

Dienstag, 21. April

Mittwoch, 22. April

Donnerstag, 23. April

Freitag, 24. April: Trossingen – Grebenstein

Samstag, 25. April: Grebenstein - Fulda

Sonntag, 26. April: Fulda - Göttingen

Montag, 27. April: Göttingen – Aurich

Dienstag, 28. April

Mittwoch, 29. April

Donnerstag, 30. April

Personenverzeichnis

April 1998

Mittwoch, 1. April Ofenbach, ein kleines Dorf in Niederösterreich

Sommerlich warm und sonnig

Verdrießlich geträumt:

Die Musikhochschule in Trossingen hatte sich derart verändert, daß man sie nicht wiedererkannte: Die Flure waren in teilweise morastige Wanderwege verwandelt worden, die nicht aufhören wollten. Nachdem man stundenlang gewandert war und sich abgesehen von den hochmorastigen Schuhen bereits Blasen an den Füßen zugezogen hatte, kam man in asiatische Slumgegenden bis hin in den Senegal. (Traumesunlogik pur!) Überall surrten Ventilatoren. Schließlich erreichte man den letzten Raum der Musikhochschule, der eigentlich gar nicht mehr gebraucht wurde. Der Architekt hatte sich schlicht verrechnet, und nun hatte man den Salat! Die Musikhochschule hatte ein überschüssiges Zimmer. Nie betrat jemand dieses Zimmer, zumal sich nicht einmal ein Flügel darin befand, an dem man hätte Solfeggien betreiben können. Nur ein Fenster, durch das man die gleiche Aussicht hatte wie aus Mings Ashram in Ofenbach: Auf Hartls Pferdeweide und den Wald. Die vergilbte Tapete in dem armseligen Zimmer blätterte ab.

Am Morgen im wirklichen Leben war Ming sehr vergnügt und nett. Er holte mich sogar aus dem Bett ab, brachte mir eine Tasse Karokaffee als Tageseinstandsgeschenk und lud mich zum Frühstück ein. Mobbl saß bereits zu Tisch. Unser Leben muß man sich als Wimmelbild in zwei Etagen vorstellen: Während ich Mobblns Armspeck bebusselte hat Ming die Linda oben im Ashram in den April geschickt. Er tat so, als habe er einen wichtigen Termin beim Apotheker. Verschmitzt suhlte er sich innerlich in dem Vergnügen, daß schlichte Worte imstande sind, eine Wolke auszulösen, die ein hübsches Gesicht verdüstert.

„Daß man so unorganisiert sein kann!“ gab sich die Linda ehefrauenhaft. Hernach behauptete sie verschämt, nur aus jenem Grunde so erloschen ausgeschaut zu haben, weil sie den süßen Schatz sonst so vermisst hätte. (Dies alles erfuhr ich später)

Mobbl und ich unterhielten uns über den Herwig. Er habe einen Anwalt bemüht, der viel Geld kostet - nur um die drohende Einberufung zum Militär immer ein paar Monate vor ihm herzuschaufeln. So lange bis der Herwig alt und krank ist und nicht mehr als wehrtauglich empfunden wird. Der Herwig ist trotzdem grämlich geblieben, und die drohende Einberufung hängt wie ein leicht versetztes Damoklesschwert über seinem Kopf. Aber selbst wenn es nicht mehr dort oben hinge, so wäre der Herwig trotzdem grämlich, denn er ist ein Immergram.

„Daß ein gesunder junger Mann so wenig Eifer zeigt, etwas fürs Vaterland zu tun!“ rief ich aus und strickte ein wenig daran herum, daß ich meine Kinder von klein auf darauf konditionieren werde, sich aufs Räuber und Schandarmenspiel zu freuen. Sie sollen sich ihre natürliche Einfalt bewahren. Dahingehend zum Beispiel, daß das Schützenfest ein Höhepunkt der Saison und damit des Lebens sei.

„Kluge Leute haben es schwer im Leben!“ rief ich auf stöhnende Weise aus. Dies wisse ich aus eigener Erfahrung.

Am Vormittag ist die Barbara gekommen, um uns mit einem ungarischen Gärtner bekannt zu machen. Bewundernd lauschten wir der selten gehörten Sprache und ich erzählte, wie ich mir als Kind ein Ungarisch-Lehrbuch („Ungarisch in 30 Tagen“) beschafft habe, da ich vom Ehrgeiz getrieben wurde, eine Gelehrte zu werden.

„Wie soll ich Bartòk interpretieren, wenn ich seine Sprache nicht spreche?“ mag ich dem Sinne nach gedacht haben.

Ming und Linda sind den ganzen Vormittag und über die Mittagsstunden hinweg aushäusig gewesen. Mobbl kochte derweil ein schmackhaftes Mahl, und jetzt, da aufgetischt werden sollte, war der Opa verschwunden. Mobbl bruddelte.

In der Küche waren die Kochutensilien alle so nah an den Rand gestellt, daß man beständig damit rechnen mußte, irgendetwas könne in die Tiefe plumsen.

Als der Opa dann endlich kam und ganz harmlos frug: „Warum essen wir eigentlich nicht zusammen?“ ist Mobbl direkt ein wenig explodiert: „Ja warum wohl?!? Weil der gnädige Herr belieben zu schlafen, während das Essen kalt wird!“

Die Spritzen, die der Dr. Bogad dem Opa in den Po gejagt hat beginnen zu wirken und er wird wieder langsam so wie früher, indem er Mobblns Haushaltstätigkeiten kontrolliert. In der Küche entdeckte er vier matschig gewordene Birnen. Eine war innen bereits mit Blauschimmel befüllt. Und doch sagte der Opa: „Laß die mal liegen!“

Mobbl spülte in der Küche wie wild an einem Glas herum, um dem Opa symbolisch gesehen um die Ohren zu hauen, daß sie jahrein jahraus immer „schaffö muß“. Doch der Opa hat für dererlei doch gar keinen Blick und gar keinen Sinn. Bald feiern Opa und Mobbl die eiserne Hochzeit, und doch haben sie noch immer nicht kapiert, um was es dem anderen jeweils geht. Es ist grad wie bei Hajo und Berta in der Lindenstraße.

„Ich muß immer kuschen!“ sagte Mobbl sauer, aber der Opa verstand eh nichts.

„Du sollst kuscheln statt kuschen!“ sagte ich nett.

Ich babbelte vor mich hin wie ein Kleinkind.

Am Nachmittag widmete ich mich der eher sauren Arbeit, die Schnitte für die CD zu katalogisieren. Ich finde einfach kein System, wie sich mein Leben einigermaßen auf die Reihe biegen lässt, aber am besten ist es wohl, man erteilt sich Hausaufgaben, und heute wollte ich die CD Nummero sechs mit Argusohren abhorchen.

Nach einer Weile setzte ich mich zu Opa und Mobbl an den Kaffeetisch. Ich erzähle vom Dalton-Syndrom, und der Opa schmunzelte wissend dazu, weil er sich darin wiedererkannte.

„Benannt ist es nach einem Herrn in Australien!“ begann ich bedeutsam. „Einem Herr, der im Leben sehr viel vor hatte. Doch ständig kam ihm etwas dazwischen. Eines Tages hatte sich seine Frau einen Gast geladen, und dieser Gast war Ming, der ins ferne Australien gereist war, um einen Klavierwettbewerb zu gewinnen. Den gewann dann jedoch leider nicht er, sondern jener Herr, mit dem er das Zimmer teilte. Sein bester Freund! wie er in einem Brief berichtete. Doch von diesem „besten Freund“ hat er hernach nie wieder gehört.

Nun hatte ich vom Dalton erzählen wollen und war selber vom Pfade der Erzählung abgerutscht, womit das Dalton-Syndrom ja schon ganz gut umrissen ist.

Mobbl und ich schauten die „Lindenstraße“. Ein junges Fräulein brachte dem braven Nachbarssohn das Knutschen bei.

„Sowas hat die Gerlind mit dem Ming versucht!“ mutmaßte Mobbl entrüstet.

„Nein, die Gerlind war in der Erotik eher zurückhaltend und prüd - so wie du, wenn man deinen Schilderungen Glauben schenken darf!“ sagte ich und entwarf somit ein Bildnis von der Gerlind, das sich drastisch mit dem Mobblns biss.

Ich fragte Mobbl, ob ich Folgendes in mein Tagebuch schreiben dürfe: Daß Mobbl in ihren vielen schlaflosen Nächten schon folgendes Bildnis entworfen habe: Wie die siebenköpfige Schlange Gerlind an Ming herumzüngelt.

„Wegen DER hab ich noch nie schlaflose Nächte gehabt!“ sagte Mobbl verächtlich.

Der Opa war so bezaubernd, saß ganz artig in der Eckbank und mümmelte seine Mahlzeit.

„Du süßer Opa!“ sagte ich zärtlich.

Zur Mittagsstund war ich mit Ming und Linda spazieren. Spazierweg Nummero III. Ein Weg, der steil in die Höhe führt. Mir machte es allerdings nicht so viel Spaß, mit einem Liebespaar spazieren zu gehen. Ich trottete hinter ihnen, die sich leise murmelnd unterhielten, her und hätte doch so gern intensivst über das Daltonsyndrom diskutiert und mir kluge Ratschläge von links und rechts erbeten.

Um acht Uhr besuchte ich meine beste Freundin Anna, die bereits liebevoll den Tisch für uns gedeckt hatte. Es gab Käse, Wurst und Wein. Nach einer Weile zogen wir ins Rauchereck um, und hier wiederum wurden Kekse serviert. Die Anna erzählte, daß sie so schrecklich in ihren Rudi verliebt sei. Leider sei er von seiner Mutter sehr verwöhnt worden und führe rasant Auto. Zu rasant – wenn man die Anna fragt.

Ebenfalls zu rasant für mich als neugierig Lauschender verschwand er aber auch wieder aus der Erzählung, und die Anna erzählte stattdessen von ihren ebenfalls schrecklich verwöhnten Kindern, und wie stressig es sei, morgens aufzustehen, bevor man tagestauglich zurechtgebrütet ist. Dann sei man den ganzen Tag lang müd!

Am Abend rief Rehlein an, um sich für mein schönes Fotoalbum zu bedanken, das ich liebevollst für Rehlein gestaltet und in meinem Auricher Kleiderschrank versteckt hatte. Rehlein hat sich irrsinnig gefreut und sogar Tränen der Rührung in die Augen bekommen.

Donnerstag, 2. April

Plötzlich trübe und nieselig

Beim Frühstück wollte Mobbl wissen, wie mir ihr Heim gefalle.

„Geht so!“ sagte ich, da ich keine braunvertäfelte Wände und Milchglasscheiben mag.

„Der Gerlind hat´s hier gut gefallen!“ sagte Mobbl, „die würd´ sofort hierherziehen. Hat sie hundertmal gesagt!“

Das schöne Wetter war einem öd trüben Nieselwetter gewichen.

Die Linda strebte zur Arbeit und mußte um 10.17 den Zug nach Wien besteigen. Ich begleitete sie zum Bahnhof und besuchte hernach die Kreissparkasse. Anhand eines dort ausliegenden Zettels sah ich, daß der Opa vor kurzem dort gewesen sein muß, da er daran herumkorrigiert hatte.

Zur Mittagsstund kochte diesmal ich. Es gab einen in Ei gewalzten Reis, weil Mobbl derzeit vierzig Eier im Haus hat. Ungeachtet der unzähligen Eier, die noch im Kühlschrank vor sich hinmodern, hat Mobbl von ihrem heut´gen Einkaufstrip mit dem Opa schon wieder zwei Schachteln Eier mitgebracht, da Mobbl offensichtlich große Pläne hat.

Die ganze Zeit stand die Kühlschranktür heut offen, weil Mobbl den Kühlschrank abtauen wollte. Doch sie hatte vergessen, ihn auszuschalten und die Speisen herauszunehmen. Apropos Speisen:

Gestern hatte der Opa noch in einem Joghurt gelöffelt, auf dem heut bereits eine grüne Moder-Insel trieb. Er war bloß haltbar bis zum 9.11. Mobbl war sehr bestrebt, jegliche Schuld von sich zu weisen und mutmaßte, daß die Reinmachefee Maria den dort hingestellt haben könnte. Oder auch die Linda.

Sogar Ming aß mit uns zu Mittag, doch heut war´s leider so wenig, daß wir hernach noch genau so hungrig waren, wie zuvor.

Ming hielt sich wie stets mit dem Mittagsessen knapp, aber es war trotzdem sehr nett mit ihm. Wir sprachen über Freunde, die man so hat, und daß man eigentlich differenzieren müsste. So manch ein Mensch erweist sich in der Not als wahrer Freund, doch man vermisst ihn nicht. Nach anderen verzehrt man sich – und von noch anderen kann man jeden Tag seinen Arsch verwetten, daß sie sich von allein niemals wieder melden würden.

Nach dem Mittagessen nahm ich eine Küchenentrümpelung vor, und Mobbl half mir so lieb, wie eine liebe alte Orang-Utan-Oma, die mehr Unheil als Heil anrichtet.

Ich beschloss, ganz ganz lieb zu werden, weil zuvor in 3Sat eine Diskussion mit Schauspielern zu sehen war, die allesamt so arrogant und überreif gewirkt hatten. Besonders die Moderatorin hatte so eine häßliche Stimme. Außerdem dachte ich darüber nach, daß Ming zuweilen kühl mit Mobbln redet und in seine Stimme die Botschaft bettet: „Ich lebe mein Leben!“

Am Nachmittag begaben Ming und ich uns auf einen Spaziergang. Auf unseren Wegen bilden sich lymphknotenartige Knollen. Zunächst gilt es den Nachbarhund Artus zu begrüßen. Einen lebensfrohen Spitzohrhund, den der mürrische Tanzcafébesitzer Zöckl seinem Nachbarn Hartl abgekauft hat. Ming ist dick befreundet mit dem Artus, und ließ sich hochriskant gar den Arm ins Maul nehmen. Nicht auszudenken wär´s, wenn der Hund zubisse.

Dann liefen wir am Gasthof vorbei und am Mitteilungseck, wo man zuweilen schon von der Ferne eine frische Parte leuchten sieht. Schließlich fädelten wir uns auf den Steilhang Richtung Kapelle drauf. Wir sprachen darüber, daß alle sieben Jahre ein neuer Mieter in seinen Körper einzieht. Korrekt wäre es demnach, wenn man auf die Frage „Wie geht´s dem Ming?“ antworten würde wie folgt: „Ach, Sie meinen, dem neuen Mieter in seinem Körper?“ Was aber passiert mit dem alten Mieter? Löst er sich einfach auf wie eine Wolke?

Oben auf der Bank kam die Rede drauf, daß die wichtigsten Dinge auf Erden nur von Einzelnen geschaffen werden können: Beethovens Neunte beispielsweise hätte kein Forscherteam zustande gebracht.

Dann wiederum sprachen wir darüber, daß unsere ansonsten so quirlige Tante Beate auf dem Foto neben ihrem damaligen ägyptischen Ehemann Ric so verhuscht ausschaut. So wie jemand, der gleich eins mit der Fliegenklatsche hintendrauf bekommt, wenn er nicht kuscht.

Als wir schließlich heimmarschierten, hat man hinter einer Hecke vernommen, wie jemand eine Arie von Puccini pfiff, auch wenn Arien eigentlich nicht gepfiffen werden sollten.

„Ich muß diesen Menschen kennenlernen, der so wunderbar pfeift! Schön wie eine Nachtigall!“ sagte ich und wir begrüßten den Anwohner freundlich.

Als ich gegen fünf Uhr träge vor dem Bildschirm herumhing, war ich so müde. Doch es half alles nichts – ich mußte noch durch den Wald joggen, und hernach liefen Ming und ich zu Binders. Frau Binder hatte grade ihre Kusine Ursula, eine Deutsch-Rumänin aus Landshut zu Gast, die das „R“ so klangvoll rollte. Eine greise Mutti mit sahneweißem Haupt hat sie auch dabei gehabt. Die sprach jedoch ein ganz normales Deutsch.

Die Ursula erinnerte mich leicht an die lebhafte Reformfrau in Trossingen, und was gibt es schon für eine schönere gemeinsame Basis, als jemanden zu kennen, der dem frischkennengelernten Menschen ähnlich ist? und somit erzählte ich von der rotgesichtigen Reformfrau und ihren ausdrucksvoll vorgetragenen empörenden Geschichten. Die Reformfrau ist nach allen Richtungen hin höchst entflammbar. Sei es vor Begeisterung oder aber Erzürnung. Demgemäß ist ihr Blutdruck immer am blubbern, und ich mache mir zuweilen etwas Sorgen um diese lebhafte Kasperlepuppe, die mir einmal erzählt hat, daß ihre 39-jährige Schwester über eine Türschwelle lief und wie aus dem Nichts heraus tot zu Boden sackte. „Hat sie jetzt tatsächlich „Kasperlepuppe“ gesagt? konnte es mein Gegenüber in mir kaum glauben, und „redet sie über mich womöglich auch so, wenn sie wieder in Trossingen ist?

Verlegen brach ich die Erzählung ab, griff nach Herrn Binders „Ungarisch-Lehrbuch“ auf dem Tisch und blätterte ein wenig darin herum. Währenddessen dachte ich mir meinen Teil: Wie ungeheuer anstrengend es sei, diese komplizierte Sprache zu erlernen.

„Mich interessiert ja nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt in den Lehrbüchern!“ erläuterte ich. „Was in dem Buch so geredet wird!“ Tatsächlich lernt man lauter direkt anwendbare Sätze: Beispielsweise: „Guten Tag!“ „Ich bedanke mich für Speis und Trank!“ und vieles mehr.

Ferner lagen auf dem Tisch schöne Fotografien, und eine davon, worauf Hausherr Otto mit seinen Gänsen abgebildet war, hat sogar einen stolzen ersten Publikumspreis bei einem Fotowettbewerb errungen. Es gab Kuchen und runde Erdnußtaler, doch ich wurde immer müder. Mir war zumute, als wolle meine Batterie absterben.

Und während Ming in der behaglichen alten Fernsehstube einen Tornadofilm ansehen durfte, hat mich Frau Binder so nett heimgefahren. Der Weg war mir Kröten gepflastert, und später saß sogar eine dicke Kröte bei uns vor der Haustüre und schaute in die Nacht hinaus.

Zunächst stellte ich mich in Mings Duschhäusl und ließ mich vollprasseln. Ich war so müd und doch konnte ich mich kaum von dem heißen Duschstrahl trennen.

Der Opa war sehr traurig, daß ich morgen abreise. Im rührenden Bestreben, mir eine letzte Freude zu bereiten, suchte er mir aus seinem Maugöneschtlö* ein paar Schokoladentafeln für die Reise aus. *Keine

Ahnung, wie man dies richtig schreibt. Es handelt sich dabei um ein kleines Eck oder einen Platz in einer Schublade mit gehorteten Süßigkeiten

Mobbl war heut ein wenig in Unruhe, weil die Gerlind ein Fax geschickt hat.

„Jetzt faxt die auch noch!“ sagte Mobbl giftig.

Interessiert griff ich nach dem Fax. Seitdem die Gerlind eine gestresste junge Mutti ist, hat ihr Schreibstil leicht „bemühte“ Züge angenommen.

„Was bin ich neugierig!“ schrieb sie über mein Konzert, doch es klang so, als ob eine anämische leidende Person in künstlich aufgebauschtem Frohsinn: „Juhu!“ ruft, und die Stimmungsarmut, die den Satz beim Niederschreiben begleitet hat, ließ sich nicht verschleiern.

Freitag, 3. April Ofenbach – Trossingen

Nur ein bißchen sonnig. Wässrigblauer, wolkenüberzogener Himmel

Am Morgen schoffierte mich der süße Ming nach Wiener Neustadt. Ming war ganz entzückend zu mir. Wir sprachen über die Invasion der Russen*, die unser Land und insbesondere die Musikhochschulen überschwemmt hat. Ich bin derzeit dabei, meine diesbezüglichen Gefühle ein wenig zu neutralisieren. Die bösen Gedanken beschaben ja nur den eigenen Seelenfrieden auf schmerzhafte Weise.

*Damals differenzierte ich noch nicht zwischen Russen und Ukrainern

Ming findet es auch grässlich, allerdings hat er nicht so viele Probleme damit, weil er auch die normale Grundbevölkerung nicht so besonders findet. Ein Gedanke, der mir auch schon gekommen war. Das Dumme ist bloß, daß Deutschland sich verpflichtet hat, alle Rußlanddeutschen wieder aufzunehmen, und jetzt rupfen sich alle ein Bein aus, um irgendeinen Nachweis zu erbringen, daß sich aus dem Jahre 1350 vielleicht noch ein vereinzelter Donauschwabe in ihrem Stammbaum finden lässt.

Am Bahnhof Wiener Neustadt tranken Ming und ich noch eine heiße Zitrone aus dem Automaten und verstanden uns bei diesem Hochgenuss sehr gut. Liebevoll wie Rehlein riet Ming, mir noch einen Mineralbrunnen für die Reise zu kaufen, damit ich unterwegs nicht verdörre.

„Eigentlich haben wir so wenig unternommen!“ sagte Ming angesichts des Betrüblikums, daß ich jetzt abreise, bedauernd.

„Zwei Mohren im Hemd vernascht!“ sagte ich und schmunzelte beim Gedanken, welch andere Bedeutung dies nun hätte, wenn Hilde und Annelotte mit diesem Satz Bilanz über ein gemeinsames Wochenende in Paris gezogen hätten.

Dann unterhielt ich mich mit Ming hinter der ständig zuschnappenden Zugtür noch über die Gerlind. Angesichts der vielen hereindrängenden Schulklassen waren wir draufgekommen, daß Ming nicht noch einmal 15 sein möchte – ich schon! Sehr gerne. Mein Blick fiel auf ein so nettes, zirka 15-jähriges Mädel und ich animierte Ming mit ihr anzubändeln. Das Lustige oder auch Traurige ist, daß die Erfahrung lehrt, daß kaum eine Jugendliebe Bestand hat. Und doch denkt jeder Fünfzehnjährige heimlich, er wäre die große Ausnahme.