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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den November 2003 in einen Roman verwandeln sollen. Das Leben selber führt Regie.
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Seitenzahl: 169
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Meinem lieben Onkel Hartmut zum 77. Geburtstag in der Blüte seiner reifen Jahre
Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.
„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.
Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.
Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.
Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…
November 2003
Samstag, 1. November
Sonntag, 2. November
Montag, 3. November
Dienstag, 4. November
Mittwoch, 5. November
Donnerstag, 6. November
Freitag, 7. November
Samstag, 8. November
Sonntag, 9. November
Montag, 10. November
Dienstag, 11. November
Mittwoch, 12. November
Donnerstag, 13. November
Freitag, 14. November
Samstag, 15. November
Sonntag, 16. November
Montag, 17. November
Dienstag, 18. November
Mittwoch, 19. November
Donnerstag, 20. November
Freitag, 21. November
Samstag, 22. November
Sonntag, 23. November
Montag, 24. November
Dienstag, 25. November
Mittwoch, 26. November
Donnerstag, 27. November
Freitag, 28. November
Sonntag, 29. November
Sonntag, 30. November
Herbstlich. Durch vielschichtiges Gewölk mühte sich zuweilen die Sonne – milde
Vor dem Bettgang fühlte ich mich leicht grippig und schluckte - nicht zuletzt aus Kummer über den Heimgang meiner lieben Oma - drei Baldrianpillen.
Daß man sich nie mehr wiedersehen wird?!
„Doch! Vielleicht im Traum!“ wurde ich kurz von innen her behofft, und ist nicht das ganze Leben nichts weiter als ein Traum, aus dem man gelegentlich unsanft erwacht, wenn der Regisseur in die Hände patscht?
(„Mittag! - Mahlzeit!“)
Ich nächtigte bei meinen neuen Gasteltern, den Pfarrersleuten Richter-Wohlgemut in einem hellen und freundlichen, kaum möblierten weißen Zimmer, in dessen Mitte ein großzügiges Ehebett stand, das ich ganz alleine nutzen durfte.
In der Nacht bellte der dreijährige schwarzglänzende Lappohrhund Basko hie und da auf, und einmal besuchte er mich, dieweil er sich darauf versteht, die Türklinken hinabzudrücken.
Im Morgengrauen verfiel er gar in einen Huulgesang.
Zu Tagesbeginn entschuldigte sich Herr Richter-Wohlgemut in freundlichen Worten für die nächtlichen Lärmereien seines Hundes.
Der Hund scheint, ähnelnd einem Säugling, kein rechtes Gespür für die Nachtruhe anderer zu haben, und so entschuldigte sich sein Herrchen für ihn. Den Huulgesang erklärte er wie folgt: Der Basko ist verliebt, doch die Besitzer von der Hündin sind nicht so begeistert von ihm als Schwiegerhund. Man sieht's kommen, und bald steht eine Kiste voller Welpen herum, die man vielleicht an Kinder verschenken könnte. „Sagt aber bitte nicht, wo ihr den her habt. Das bleibt unser kleines Geheimnis, gell?“
Einmal sei's bereits passiert: Zwillinge! (Für einen Hund ein eher magerer Wurf)
Nun setzte sich das beklemmende Gefühl der Leere - den Rest des Lebens ohne die Oma abschreiten zu müssen - unbarmherzig fort, und ein Ende ist nicht abzusehen. In mir bündelte sich die Idee, Omis Zugehfrau, Frau Wies, zu fragen, ob ich sie morgen zum Tee besuchen dürfe, denn mein Kummer ließe einfach nicht nach.
Einmal rief Rehlein an. Rehlein erzählte, daß Buz im Verdacht stünde, den Schlüssel der Pfarrersleut in Grebenstein mitgenommen zu haben. Verzweifelt würde daran herumgesucht, und das Dumme sei, daß man dies Buzen gar nicht mitteilen könne, da Buz sein Händi auf dem Frühstückstisch in jenem feinen Landgasthof hat liegen lassen, woselbst er gestern Quartier bezogen hatte. Dem flehenden Geläute Rehleins habe sich ein Frühstücksgast erbarmt, der berichtete, daß der Herr, dem das Händi gehört, bereits früh abgereist sei.
Rehlein bat mich somit, das Händi in jenem Landgasthof abzuholen – doch meint man, ich hätte mir gestern den Ort gemerkt, wo unser Familienoberhaupt abgestiegen war?
Der moderne Mensch hält es indes nie sehr lang ohne sein Händi aus, und als ich das vermeintlich noch immer auf dem Frühstückstisch liegende Händi erneut anwählte, um herauszufinden, in welchem Ort ich es wohl suchen solle, hob Buz selber ab, da er dieser Versuchung trotz des Händiverbots am Steuer nicht hatte widerstehen können.
Sehr gemütlich frühstückte ich mit dem Ehepaar Richter-Wohlgemut an einem fein gedeckten Tisch. Die Eheleute sehen demnächst Elternfreuden entgegen, und so breitete sich eine „Schnuller-Alarm“ Atmosphäre aus, dieweil sich das gemütliche Einödhaus bereits mit Vorfreudenmolekülen auf das Baby gefüllt hat, das im Januar auf die Welt kommen soll. Ich fühlte mich inmitten einer RTL II Seifenoper. Man hatte sich bereits einen wohlklingenden Namen überlegt: Imicha - zumal man erfahren hatte, daß dies ein Frauenname mit erfreulich hohem Unabgegriffenheitspegel sei, da bislang so gut wie niemand so benannt wurde – oder kennt irgendjemand eine Frau dieses klangvollen Namens?
Es gab warme Brötchen mit Nutella und wir sprachen verbindend über den Hund, der wie ein Teppichvorleger herumlag und döste, weil es ihm schlicht an einer sinnvollen Aufgabe mangelte. Unkompliziert stellten sich die Eheleute als Karin und Thorsten vor, und der Thorsten erzählte, wie er dadurch, daß hier oftmals dubiose oder gar gruselige Gestalten herumirren, auf die Idee gebracht wurde, sich aus dem Tierheim einen Hund zu holen. Doch seiner Frau gefiel der Gedanke nicht, weil sie Angst vor Hunden hat.
Die Karin stöhnte ein wenig über die vielen Feste und Jubiläen, mit denen der Alltag der Geistlichkeit nur so zugerumpelt ist. Am allerungernsten besucht sie Seniorengeburstage: Man sitzt herum, schaufelt Tortenstücke in sich hinein, und hört sich hausbackene Reden an.
„Ihr jungen Leute wisst ja gar nichts!“ (mit schelmisch erhobenem, vergilbtem Zeigefinger gesprochen.)
Auch heute wartete ein volles Programm:
Eine goldene Hochzeit, eine Urnenbeisetzung, ein 65. Geburtstag…mir war somit eine sturmfreie Bude beschieden.
Ich freute mich sehr, wenn ich mit meinem Violinspiel gut vorankam, doch der Hund lärmte so schrecklich oft. Über seine Lärmgepflogenheit wäre zu sagen: Zu laut, zu lang, zu oft. Mal kläffte er wüst, dann wiederum heulte und jaulte er, dann wiederum klang er so, als wolle er ein Vöglein parodieren!
Manchmal aber war es plötzlich ganz still, und wenn ich aus dem Zimmer hinaustrat, lag er ganz brav auf dem Bett seiner Besitzer, und schaute so traurig aus.
Am Nachmittag beschloss ich, joggen zu gehen.
Den Hund mußte ich hierfür leider im Treppenhausflur einsperren, so daß er laut und enttäuscht losheulte, dieweil er sich von meinem Hinfortgang doch versprochen hatte, daß sich auch ihm endlich die Tore in die Freiheit öffneten. Im Geiste war er bereits seiner Angebeteten entgegengeflogen.
„Dein Basko, der umflattert Dich!“ dachte ich stellvertretend für ihn, und benutzte hierfür Worte von Wilhelm Busch.
Ich joggte durch eine sehr reizvolle, quadratisch angelegte Einödgegend, bestehend aus schlanken Lehmwegen, Äckern und schönen, wie von Buzen kunstvoll niedergepinselten Bäumen.
Beim Heimwärtsgehoppel verspürte ich direkt einen Bammel vor der Verärgerung des Hundes, da ich ständig seine Ausgangsambitionen vereitele. Doch der Basko ist sehr gutmütig und kommt gar nicht auf die Idee, jemandem rückwirkend zu zürnen, da er als Hund mit begrenzter Lebenserwartung lieber im hier und jetzt lebt. Beinahe wäre der Hund sogar schlauer gewesen, als ich als Frau: Ich schloss die Haustüre nicht ab, und befreite den Basko gleich aus seiner Gefangenschaft ohne zu bedenken, daß er doch so intelligent ist, und die Türklinke niederzudrücken versteht. Doch mir gelang's dazwischenzufahren.
Die Sonne hatte sich aus dem Wolkengebräu hervorgemüht, und ich wertete es als ein Lächeln von der Oma. Bald darauf gab mir die Oma nochmals ein Zeichen: Aus einem Wolkenleck flutete Gold, und ich freute mich, daß mir die Oma bis jetzt fast jeden Tag ein Zeichen gegeben hat.
Schließlich griff ich das freundliche Angebot von Frau Richter-Wohlgemut auf, und wärmte mir das Reis-Rindfleischgericht aus dem Kühlschrank.
Wieder jammerte der arme Hund, weil ich ihn einfach aus der Küche ausschloß, und vielleicht bin ich im Hirn des Verliebten bereits als böse Frau abgespeichert?
In zartem Dämmer saß ich am Eßtisch und las über den Sturm der Entrüstung, der zur Zeit über dem Haupt von CDU-Politiker Martin Hohmann fegt. Ich assoziierte eine Variation von unserem entfernten Verwandten Herrn Nebel, und wir Leser erfuhren, daß dieser Herr jemand sei, der gern heiße Eisen anpackt. Die Liste seiner heißen Eisen reicht von A bis Z. Von „Abtreibung“ bis hin zur „Zurückerstattung von Zwangsgeldern“. Doch seine Rede über die Tätervölker wirkte offenbar unreif und unausgegoren. Mehr noch: Sie erinnerte an das Gegeifer eines bösen alten Weibes, das sich Luft machen möchte.
Ferner las man, daß die älteste Frau der Welt nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt mit 116 Jahren starb.
Auf meiner Mailbox fand sich eine Botschaft von der Hilde. Die Hilde war krank und verschnupft und wäre so gern zur Beerdigung gekommen, doch ihre Verschnupfung vereitelte dies.
Abends wurde ich wieder so unendlich müde, wie einst der über neunzigjährige Opa, und das Konzert in Hattendorf um 20 Uhr wirkte so ungreifbar. Um 18:29 verkroch ich mich zwanzig Minuten lang ins Bett und versank ins Nichts – dem köstlichsten Gefühl auf Erden.
Dann raffte ich mich auf und fuhr durch die Finsternis durch den Wald in die höchst entlegene Ortschaft Hattendorf. Im Auto fühlte ich mich so unendlich wohl und geborgen, daß ich wünschte, die Reise möge niemals enden. Der Mond leuchtete gemütlich von einem Wolkenkissen auf mich herab, und schien mir auf gewogene Weise zuzulächeln.
Abends fand das Konzert in der wohlgeheizten kleinen Kirche statt, die relativ gut besucht war: Zirka 47 Musikfreunde hatten sich hinbemüht.
Sehr reizvoll. Herbe und frisch mit z.T. mildem Sonnenschein
Heute schlief ich peinlich lang, da es ja nach der alten Zeit schon 9:41 war, und sich meine alternde sterbliche Hülle strenggenommen immer noch nicht umgestellt hat. Geträumt hatte ich allerlei Unsinn: z.B., daß ich hier in Immichenhain in früher Morgenstund das Haus verließ, um in der Frische herum zu joggen.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir ins Schloß gezogen, da fiel mir siedendkalt←(muß man in diesem Falle leider sagen, da es so kalt war, daß der Atem in den Lüften stehen blieb) ein, daß der Schlüssel innen in der Türe stak. Das Ehepaar Richter-Wohlgemut hatte doch ausdrücklich und nachhaltig betont, daß es heute endlich mal ausschlafen wolle, so daß ich gezwungen wäre, viele, viele Stunden in Einöde und Eiseskälte zu verbibbern und zu vertrödeln.
Dann wiederum gab ich ein Konzert auf einer Bühne, die so groß war, daß ein ganzes Symphonieorchester mit Dirigenten darauf Platz gehabt hätte. Diese Bühne wurde gleichzeitig als Schlafzimmer genutzt. In einem Bett in der Ecke schlief ein Ehepaar und träumte, daß es einem Konzert beiwohnte. Da es leider kein Künstlerzimmer gab, war ich gezwungen, vor den Augen des Publikums in mein Konzertkleid zu steigen. Dabei verhedderte ich mich ungeschickt, da es mir zu eng geworden war. Mein Arm blieb im Ärmel stecken und bewegte sich weder vor noch zurück. Diesen Anblick einer mit einem Konzertgewand kämpfenden Dame bot ich so lange, bis man sagen konnte, daß der Zenit dessen, wo man es mit ein wenig gutem Willen noch hätte lustig finden können, überschritten war.
Schließlich erhob ich mich ganz erschrocken, und fühlte mich wegen der Langschläferei schlecht und schuldig.
„Gesegnete Mahlzeit!“ sagte Karin Richter-Wohlgemut, weil sie ja Pfarrerin von Beruf ist. Doch mir fiel auf, daß die jungen Leute bis jetzt jedesmal vergessen haben zu beten.
„Oh je! Jetzt haben wir es wieder vergessen!“
„Was?“
„Na, zu beten!“
Beim Frühstück sprachen wir über jenen Herrn, der nach seinem Tode nicht vermisst wurde. Erst sechs Monate später war einem aufmerksamen Passanten das blinkende Weihnachtsbäumchen im Fenster seiner Wohnung aufgefallen. Ich vermutete, daß dieser Herr vielleicht doch einige Freunde hatte, aber diese Freunde waren verärgert mit ihm, weil er sich nie meldete. Der Stolz verbat es ihnen, den ersten Schritt zu tun. Und auf diese Weise lag der Verstorbene, gebettet auf ungelöschter Verärgerung, tot auf dem Sofa. Zu dieser Geschichte mußte der Thorsten plötzlich an seine liebe Freundin Anna in Berlin denken, die ihn immer so nett angerufen hatte. Doch - verwöhnt durch ihre häufigen Anrufe - rief der Thorsten selber nur selten an, und jetzt weiß er gar nicht mal wo sie wohnt, und ob sie überhaupt noch lebt.
Ich erzählte den jungen Leuten von den Singel-Tamagochis, und versprach etwas großmäulig, zu ihrer Goldhochzeit im Jahre 2045 zu kommen, und vielleicht etwas auf meiner Violine zu spielen. Obwohl's doch sein könnte, daß dann beide sagte: „…ne. Keine Erinnerung mehr. Sorry!“
Nach dem Frühstück verabschiedeten wir uns für die nächsten Jahre, und ich war froh, losgekommen zu sein, weil es mich anstrengte, in meiner Anekdotentruhe herumzuwühlen und höflich zu sein. Doch im Auto tat's mir plötzlich so leid, mich nicht von dem verliebten Hund verabschiedet und ihm alles Gute für die Zukunft gewünscht zu haben.
„Hunde sind schließlich auch nur Menschen!“ pflegte der Opa zu sagen.
Über eine bucklige Autobahn hinweg fuhr ich Richtung Kassel-Calden.
Im Rasthof Hasselburg rief ich den Onkel Hartmut an. Der Onkel verbringt ein Nostalgiewochenende in Omas verwaister Wohnung. Ich kündigte mein Kommen an und bat den Hartmut, sich ein bißchen auf mich vorzufreuen.
In Grebenstein besuchte ich als Erstes meine süße kleine Oma, die nun in die Kelzer Straße umgezogen ist, wie man den Gefühlswirbel, in dem die Nachfahren stecken, mit passenden Worten neutralisieren könnte.
Unsere Kränze hielten das Grab bedeckt, und der Opa Gerhard mag „gespitzt“ haben, als sich die Oma nach nunmehr 51 Jahren doch noch zu ihm gesellt hat.
Nachdem ich noch eine ganze Weile lang vergebens im Neureicheneck des Friedhofs nach dem Familiengrab der Familie T. gesucht hatte, fuhr ich auf den Burgberg.
In Omas Wohnung wartete eine freudige Überraschung auf mich: Nachdem ich doch erst vor wenigen Tagen, nach der Beerdigung noch gemeint hatte, daß ich meine Tante Uta in diesem irdischen Leben wohl kaum nochmals wiedersehen würde, öffnete mir die bereits in Rom Gewähnte gar die Türe! Doch das Wiedersehen war von kurzer Dauer, da die Geschwister bei der Familie Klein zum Kuchenessen eingeladen waren, und das Utelchen hernach vom Onkel Hartmut nach Kassel-Wilhelmshöhe kutschiert würde.
Der Hartmut sagte eine Zärtlichkeit über seinen Bruder, den lebensgegerbten Eberhard: Daß Eberhards Spruch, den er auf Hartmuts Kranz hatte drucken lassen, derart passend sei! „In Liebe und Schmerz“. Dies ließ er in Hartmuts Sinne aufdrucken, ohne den Hartmut zuvor überhaupt gefragt zu haben. Doch nun war der Hartmut der Meinung, man hätte sich keinen schöneren Spruch in seinem Sinne ausdenken können, und es sei wirklich verblüffend, wie sehr sich der Eberhard als Bruder in ihn hineinversetzen könne. Einmal ins liebevolle Schwärmen geraten, merkte der Hartmut auch noch an, daß der Eberhard viel mehr Format habe als „der Bauer“←?Jener Mensch, mit dem die Gabi durchgebrannt ist.
Der Hartmut bat mich zu bleiben, und ich, die eigentlich zu Rehlein nach Aurich zurückstrebte klaubte erwachsenengemäß ein paar nicht sonderlich überzeugend klingende Argumente zusammen, damit ich doch fahren dürfe. Doch der Hartmut sagte, daß ihm hier so langweilig sei, und daß ich ihm eine große Freude bereiten würde, wenn ich bliebe. Also blieb ich.
Ich telefonierte mit dem süßesten Rehlein, und Rehlein gefiel der Gedanke, daß wir Omas Wohnung noch eine Weile behalten, sehr.
Der Onkel Hartmut saß am Tische, um die Trauerpost durchzugehen. Ein sehr hoher Stapel – bei weitem höher als jener Briefstapel, der sich für die Oma in ihren letzten Jahren angesammelt hat. Die Masse der Trauerkundgebungen hatte nicht einmal in den Briefkasten gepasst, so daß der Briefträger den Stapel durch das Badfenster hereinreichen mußte.
Ich setzte mich neben meinen Onkel, und gemeinsam ordneten wir die Trauerpost, und türmten sie in drei Stapel auf: a) mit nur einer Unterschrift versehen, da einem wohl angeblich die passenden Worte im Halse stecken geblieben bzw. in den Fingern gefroren waren, b) ein paar warme Zeilen und c) mit einem z.T. hohen Geldbetrag versehen. Erfreut konstatierten wir, daß die Schröders 15 €uro gespendet haben. Eine barmherzige Seele spendete gar 60 €uro!
Ich zog mich zurück, und übte im Teezimmer mit Dämpfer, und somit zart wie eine Fee, für das bevorstehende Konzert mit Klampfenuntermalung. Hernach rannte (hoppelte) ich zwanzig Minuten lang um den Burgberg herum.
In Grebenstein war's so wunderschön frisch und mild herbstlich, doch das Haus von meiner mütterlichen Freundin Helga kam mir so verlassen vor. Grad so, als befände sich die Helga auf Reisen. Normalerweise steht Omi Kwazolla, die im Stockwerk darüber lebt, meist am Fenster und wartet auf den Tod, doch heute schaute ich vergebens nach ihr.
Onkel Hartmut und ich bestiegen die Burg, und schauten von oben auf das schicksalsgebeutelte Grebenstein drauf. „Die können doch nicht noch mehr Wälder abholzen, um noch mehr Wohnungen für noch mehr Türken zu bauen!“ sagte der Hartmut verdrossen. Ich selber sagte etwas Verhöhnendes über die Sprachreform, die vielleicht bald auf uns wartet: Daß nämlich Artiiiikl abgeschafft wird, weil man es den vielen Zugezogenen nicht zumuten kann, die auch noch zu lernen.
Hernach fuhr ich mit dem Onkel Hartmut noch zu ARAL in Hofgeismar. In der Bild am Sonntag konnte man lesen, daß der Pfarrer Fliege, grad wie wir unsere Mutter und Oma, vor fünf Tagen seine Mutter verlor.
Wir kauften roten Sekt und eine Tüte Chips, und unterwegs ließ mich der gefühlvolle Onkel die schönen Mozart-Trios hören, die er im Auto mit sich führt, um sich an den göttlichen Klängen zu laben.
Abends freute ich mich so auf die Lindenstraße vor, aber der Genuß wurde mir leicht verdorben, dieweil nämlich die Frau Klein gekommen ist, um Hartmuts Geschirr zu bestaunen. Doch ein bißchen bekam ich ja doch mit: Der Felix litt unter starkem Liebesgram, dieweil die „Jack“ ihm gesagt hat, daß sie nicht so auf's Händchenhalten stünde. Aber man könne ja befreundet bleiben. Der Felix ging nachhause, und dort fühlte er sich so schlecht. Zu seinem Adoptivvater Georg, der ihm so gerne etwas Nettes gesagt hätte, aber in diesem Versuch nur dümmliche Plattitüden zustande brachte, sagte er einfach: „Laß mich in Ruhe, okay?“
Dann saßen wir mit Frau Klein, einer schicken Dame, die leicht an eine Adelige erinnert, nett beisammen.
Der Hartmut erzählte, daß er nach Italien ziehen wolle. „Italien ist ein faszinierendes Land!“ sagte Frau Klein sinnierend, „fasziniiiiirend!“
Nachdem unser Gast wieder in die Nacht entwichen war, schauten wir uns Fotos von der jungen Oma an. Der Hartmut erzählte, daß ihm die Uta vorgeworfen hat, er sei zu kühl zu seinen Kindern.
Abends gabs bei uns Kartoffelpürée mit Gehacktem. Wieder telefonierte ich mit Rehlein, und es hieß wir sollten den „Tatort“ einschalten, der gerad liefe, da die Kinder vom Heiko darin eine Statistenrolle spielen.
Es handelte sich um einen zähen Friesenkrimi, der mit Möwengekreische an der Nordsee anhub. Und habe ich dies nicht als empirisch gefundenes Naturgesetz empfunden: Filme, die mit Möwengekreische an der Nordsee anheben taugen nicht.
Vergebens hielt ich die ganze Zeit über krampfhaft Ausschau nach Heikos Kindern. Derweil telefonierte der Hartmut mit dem Eberhard, und wirkte dabei so nett und einsichtig. „Mhm“ sagte er oftmals zustimmend, und einmal sagte er: „Jetzt mache ich dir so einen Kummer!“ Es hieß, der Eberhard am anderen Ende der Leitung habe geweint.
Dann plauderten wir noch so rum, und der Onkel sehnte sich vergebens nach einem kühlen Bier.
Leb wohl, Oma!
Meine erste Nacht in dieser Wohnung ohne die Oma.
Rasch vorbeiziehende Wolkengebilde. Hie und da prasselnder Duschregen
Am Morgen träumte mir, daß ich mich ganz kurzfristig dazu entschlossen hatte, noch einmal beim Tschaikowski-Wettbewerb teilzunehmen, wo das Alter auf 40 Jahre hinaufgeschraubt worden war.
Wir lebten in einem bläulichen Haus mit ganz vielen Notenschränken (zum Teil so hoch, daß man die Leiter bemühen mußte), und ich malte mir bereits aus, wie in der Zeitung zu lesen sein würde „Sie gewann den Tschaikowski-Wettbewerb und wurde doch noch weltberühmt“. Lustvoll stellte ich ein reizvolles Programm zusammen, und vor lauter Eifer hätte ich die beiden Paganini Capricen für die erste Runde beinahe vergessen, den Dreh- und Angelpunkt bei der Begutachtung eines Virtuosen.
In den frühen Morgenstunden bereitete der Onkel Hartmut bereits emsig ein wunderschönes Frühstück zu. Auch Omis festlicher Kandelaber stand auf dem Tisch.
Einmal schäumte es aus mir: „Nenn mich nicht Mädchen, das hasse ich!“ Doch dann tat mir der Ausbruch leid, und ich bereute ihn das ganze Frühstück über.