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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebensweg zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Mai 1998 in einen Roman verwandeln sollen. Das Leben selber führt Regie.
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Seitenzahl: 166
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Für meinen geliebten Onkel Dölein in kostbarer Erinnerung an die schönsten Zeiten unseres Lebens – mit ihm!
Franziska (Kika) im Jahre 1998 in einem Fotomaton im Wiener Hauptbahnhof
Aus dem Leben einer Geigerin
Unser Leben währet 840 Monate und wenn es hoch kommt, so sind´s 960.
Monate, die sich im Nachhinein in schlanke bis vollschlanke Romane verwandeln.
Möchtest Du mich einen Monat lang begleiten?
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich
(*1909)
Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des
Vorhergehenden (*1910)
(Die Großeltern mütterlicherseits)
Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in
Grebenstein (*1913)
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für
Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Lindalein, unsere Kusine aus Amerika, die von 1997
bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte
Ein Buch ohne Vorwort. Du kannst gleich anfangen zu lesen…
Mai 1998
Freitag, 1. Mai
Samstag, 2. Mai
Sonntag, 3. Mai
Montag, 4. Mai
Dienstag, 5. Mai
Mittwoch, 6. Mai
Donnerstag, 7. Mai
Freitag, 8. Mai
Samstag, 9. Mai
Sonntag, 10. Mai
Montag, 11. Mai
Dienstag, 12. Mai
Mittwoch, 13. Mai
Donnerstag, 14. Mai
Freitag, 15. Mai
Samstag, 16. Mai
Sonntag, 17. Mai
Montag, 18. Mai
Dienstag, 19. Mai
Mittwoch, 20. Mai
Donnerstag, 21. Mai
Freitag, 22. Mai
Samstag, 23. Mai
Sonntag, 24. Mai
Montag, 25. Mai
Dienstag, 26. Mai
Mittwoch, 27. Mai
Donnerstag, 28. Mai
Freitag, 29. Mai
Samstag, 30. Mai
Sonntag, 31. Mai
Auf norddeutsch zurückhaltende Weise lieblich. Doch während unseres Picknicks legte sich ein mehliges Tuch über den wetterlichen Zauber
Kaum habe ich das Buch „Der Herr mit dem Hündchen“ zuende geschrieben, da begegnet mir der nächste Herr mit Hündchen.
Stolz führte er seine Anka spazieren.
Aber was sag ich da? Man muß sich nur umschauen: Herren mit Hündchen scheinen die Norm.
„Sie gehorcht schon ein wenig - manchmal!“ sagte der alte Herr stolz.
Beim Weiterjoggen dachte ich über die Anka nach:
Noch ist sie jung, genießt Welpenschutz und Narrenfreiheit, aber in zehn Jahren, wenn ich vielleicht auch noch ein kleines bißchen jung bin, ist sie bereits eine alte Hundedame. Die Uhren der Hunde laufen anders. Würde man die Anka in zehn Jahren zu Veranschaulichungszwecken kurz in einen Menschen umwandeln, so erschiene dem Betrachter eine betagte Dame mit silbrigen Löckchen auf dem Haupt.
Wieder daheim schlich ich mich ins Elternschlafzimmer, um solcherart an meinen Eltern herumzugenießen, wie einst als Einjährige, als ich noch mit meinem Brüderlein in Rehleins Bauch telefoniert habe.
Rehlein mag bereits wach gewesen sein, hielt die Augendeckel jedoch vorerst geschlossen und wollte dem Alltag offenbar noch nicht ins Antlitz schauen. Zu genießenswert schien Rehlein die Süße des Schlafes.
Buz wiederum hatte sich bereits ins Duschhäusl retiriert. Raum und Zeit enthoben, zeugte nurmehr das Prasseln des Wassers von seiner Existenz.
Ich philosophierte wie eine Zweijährige an das durmelnde Rehlein dran: Morgen für morgen die gleiche riesengroße Enttäuschung: Schon wieder eine bergende Nacht vorbei, die doch ein gefühltes Fingerschnippen zuvor noch so verheißungsvoll vor einem gelegen war. Zunächst hat man Mühe, sich zu erheben, bald darauf ist es eine Pein, sich unter dem Duschstrahl hinwegzulösen und schließlich möchte man sich nicht von der Teetasse trennen. Nur den Geigenkasten nach der Probe schließt man im Allgemeinen gern.
Rehlein öffnete die Augen und erzählte, wie sie als Kind zusammen mit ihren Geschwistern am Sonntagmorgen im Elternbett eine lustige Kissenschlacht zu veranstalten pflegte. Was habe man für einen Spaß gehabt! Diese Tradition habe der Opa aus seinem eigenen Elternhaus übernommen.
Buz wiederum kenne dererlei Unfug von Seiten seiner Familie nicht.
Heut feierten wir Buzens Sechzigsten. Rehlein hatte auf die Schnelle eine Torte mit einem gekauften Tortenboden „hingedeichselt“, und darauf mit Hilfe einiger Himbeeren „58 B“ draufgeschrieben, da wir es einfach nicht fassen können, daß unser Familienoberhaupt bereits so alt sein soll. Ich selber hatte das Buch von Vladimir Nabokow („Die Mutprobe“) liebevoll in selbstgestaltetes Geschenkpapier eingeschlagen und legte es zu all den anderen Gaben auf den Tisch. Bald sangen Rehlein und ich verlegen und doch aus voller Brust heraus das Lied vom kecken Piepmatz und stempelten Buz währenddessen von links und rechts je sechzig Küsse auf, so daß Buz gut beküsst ins neue Lebensjahr trat. („Der Beküsste“ trat mir auch bereits der nächste Romantitel in den Kopf)
Beim Frühstück erörterten wir herum, wie man den 60. Geburtstag wohl angemessen gestalten solle. Jeder normale Mensch, so ich, hätte bereits vor einem dreiviertel Jahr sechzig Einladungen losgeschickt. Ob man die Familie Martin einladen solle? Rehlein schmetterte dies Ansinnen jedoch ab, da sie die schnattrigen Erzählungen über Stock und Stein von Mutti Christiane nicht verstehen kann. Die Worte finden in Rehleins Kopf einfach keinen Halt. Ebenso ergeht es ihr mit dem Gegacker einer Ruth L..
Um elf Uhr - seit elf Stunden war Buz nun bereits ein alter Mann - gönnten wir uns das Europa-Konzert der Berliner Philharmoniker, diesmal aus Stockholm. Sogar Königin Silvia wohnte dem Spektakel bei. Sie saß unter ihrem jugendlich glanzbraunen Haarschwall und lächelte versonnen zu den Klängen der Musik. Vergebens warteten wir auf eine solistische Darbietung, und hörten uns Orchesterwerke unter der Stabführung eines Claudio Abbado an.
Ich fürchte, der merkwürdig versteinert wirkende Mann hat seine Seele dem Teufel verkauft, denn nicht einmal die drei Nocturnes von Debussy - Werke von einzigartigem Zauber, die mir normalerweise die Tränen ins Auge treiben - vermochten mich in dieser Darbietung anzurühren, und bei einer symphonischen Dichtung von Tschaikowsky hat mich schon fast das Grausen gepackt, weil das ganze Werk nur nach geformten Schluß tönte.
Ein musikalischer Gulasch, in edlem Geschirr serviert, der jedoch nach Nichts mundete.
Rehlein stellte den echten Gulasch auf, und während das Fleisch auf dem Herd vor sich hinköchelte, unternahmen wir einen Sonntagsausflug in eine reizvolle Gegend. Wir fädelten uns in einen Waldpfad ein, auf dem man ewig lang dahinlaufen konnte. Wie ein Faden, der sich aus einem Wollknäuel gelöst hat, führte er immer weiter. Wir bestaunten tuchförmig ausgebreitete sattgrüne Wiesen mit hohem Gras und gelben Blumen und kleine Tümpel, in die man sich Krokodile und badende Nilpferde hineindenken konnte.
Auf geheimnisvolle Weise brachten Buz und Rehlein die Rede drauf, daß sie umziehen wollen. Man solle es aber geheimhalten: In ein wunderschönes Backsteinanwesen im Herzen dieser Idylle.
Das Thema, über das sich daran anschmiegend gesprochen wurde, lag mir sehr: Über Buzens Studentin, die hübsche Colette und ihre virulente Amourette mit dem Musikgeschichtsprofessor. Lebhaft, mich ganz ins Geschehen einschmiegend erzählte ich, daß sich der Professor, der bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, eigentlich an den Grundsatz halten wollte, sich erst einmal die Mutter anzusehen, bevor er sich ein Mädle angelt. Dies hat er der Colette jedoch nicht verraten, als er mit ihr zu ihren Eltern reiste, die er als eventuelle Schwiegereltern ins Auge gefasst hatte. Als aber die Colette nach dem Besuch gefragt hat: „Wie gefallen dir meine Lieben?“ hat der Professor sich gekrümmt und den Hals tief in den Pullover hineingezogen, so daß der Kopf zwischen die Schulterblätter sank und für einen kurzen Moment den Blicken entglitt. Sekunden später schnellte das eingezogene Haupt wieder empor und in rapidem Kieferzittern, wie bei einem Karnickel, dem man ein saftiges Salatblatt verfüttert, knabberte der Professor an seinen Fingernägeln herum und rief aus: „Diese Begegnung muß ich erst einmal verdauen.“
Daheim aßen wir Rehleins köstlichen Gulasch mit Bandnudeln und gleich hernach deckten wir den Kaffeetisch so wunderhübsch wie in einem Pfarrhaus am Sonntag: Sogar mit einem zarten weißen Tischdeckchen als Untergrund. Dann wurde Rehleins köstliche Torte aufgetragen. Denn auch wenn der Tortenboden gekauft war - für die Creme war natürlich Rehlein selber zuständig. Die Oberfläche hatte sie mit buckligen Spiegeleiern (Pirsichhälften) geschmückt.
Freudig widmeten wir uns dem Hochgenuss.
Nach einer Weile schellte es an der Tür:
Gemeinsam mit ihrem kleinen Töchterlein, der elf Monate alten Claudia, beehrten uns die Eheleute Ruth und Hans-Jürgen L..
Wir ließen unserem Entzücken über den Nachwuchs freien Lauf: Ein liebes, etwas puppiges kleines Kind mit großen blauen Augen, einem glühbirnenförmigen Kopf und Pfirsichhaut, einem Näslein mit münzschlitzförmigen Zwergnüstern.
Die Ruth, eine glühende Verehrerin Buzens, hatte ihrem Schwarm einen Marmorgugelhupf gebacken, den sie an der Seite mit einer lasziv dahingegossenen Schokovioline hatte schmücken wollen, die ihr jedoch leicht mißglückt und zu einer nackten Frau geronnen war, die dem Gebäckstück eine zusätzliche Pikanz verlieh, wie nun lachend erörtert wurde.
Gemeinsam fuhren wir in ein Waldstück.
Im Windschatten dieser Eheleute, die eine merkwürdige Quartettfreundschaft mit Buz und Rehlein führen, packt mich meist eine leichte Beklemmung. Chronisch geladen aufeinander, die Frau den Mann der Anderen anschmachtend. Eine Anschmachtung, die nicht nur nicht erwidert wird, sondern nicht einmal bemerkt zu werden scheint.
Lediglich zwischen den beiden Herren gibt es so etwas wie Wärme und Verständnis, in das auch Rehlein einbezogen ist, so daß der Ruth eine etwas isolierte Rolle zukommt.
Der Hans-Jürgen hat die Neigung, nicht auf Worte Anderer einzugehen, und schon gar nicht auf Komplimente, die doch wohl dazu angetan sein dürften, die Kälte der Fremdheit etwas anzutauen? Ferner hat er die Neigung, Worte seiner Ehefrau unwirsch zu widerlegen, und dies scheint ihm bereits zur zweiten Natur geworden. Sie muß nur sagen: „Die Sonne zeigt sich!“ und schon sagt er: „Da hinten sind doch schon wieder Regenwolken! Schau doch bitte genau hin, bevor du etwas sagst!“
Als uns die Ruth etwas über ihren trägen und adipösen Sohn Pascal, der nie auch nur eine überflüssige Silbe von sich gibt, erzählte, reagierte der Hans-Jürgen äußerst unwirsch: „Du dichtest anderen immer so was an!“ schnaubte er verächtlich, um die zuvor sorgsam gesetzten Worte seiner Ehefrau allesamt mit der Wurzel wieder wegzurupfen.
Wieder daheim bei uns hielten wir alsbald ein Picknick im Garten ab. Es hätte schön sein können, war aber durch die Ehekrise der Lamberts fade und künstlich. Hinzu kommt, daß Buz nun als erster der Vier das Seniorenalter gestürmt hat, so daß in Verbindung mit ihm nun unpassende Ausdrücke wie beispielsweise „rüstig“ fallen.
Sollte man Buz ein Hemd mit dem Aufdruck „Noch rüstig“ schenken?
Der Abend klang dann doch noch stilvoll aus: Im Nobelhotel von Wiesens trafen wir uns mit den drei engsten Freunden, die wir haben bzw. auf die Schnelle auftreiben konnten: Herrn Berke, sowie die jungen Eheleute Heiko & Moni.
Wir trafen als Erste ein und warteten freudig auf die kleine Gästeschwemme.
Durch ein großes, mit schweren, zopfförmig zusammengebundenen Jalouisien umrahmtes Fenster, das an die Frisur einer Dame erinnerte, konnte man in den dämmernden Tag hinausblicken.
Der erste Tag in dem neuen und noch so ungewohnten, vorallem aber für den jugendlichen Buz völlig unpassenden Alter, versank ins Nichts.
Dann tröpfelten die Gäste ein.
Ewig lang studierten wir die Speisekarte. Der Kellner überredete uns zu einem Aperitiv: Einem roségetönten blubbernden Prosecco in einem schlanken Glas - für insgesamt vierzig Mark!
„Schau aber nach, was am günschdigschten isch!“ spielte ich für die Sinne des Kellners eine schwäbische Ehefrau.
Schließlich bestellten wir „Fischmosaik auf grünem Blattspinat“
Buz erzählte von der Hochschule, und wie er seiner Kollegin Frau Kettler, einer Professorin für Alte Musik mehrere Streicher ausgeliehen hat, auf daß ihre Schüler von einem kleinen aber feinen Kammerorchester begleitet würden, da sich das zarte Geraschel eines Cembalokonzerts nur schwer mit donnernder Klavierbegleitung aufführen lässt.
Die Professorin sei ihm auch sehr dankbar gewesen.
Dann erzählten Buz und Rehlein lebhaft von unseren Jahren in Taiwan. Alte, erheiternde Anekdötchen wurden ausgepackt, wie beispielsweise jene, wie ich mir mal ein Hündchen hielt, das ich an der Erziehung vorbeizuschmuggeln plante. Ich sperrte es in den Schuppen, doch in der Nacht jaulte und heulte das kleine Hündlein laut und barmend und brachte die Erwachsenen um ihren Schlaf.
Zunächst wunderschön. Am Nachmittag milchig, dann zum Teil sehr streng bedeckt. Gegen Tagesende wurde es wieder lieblich
Wenn ich am Morgen aufgestanden bin, verwandele ich mich in ein vergnügtes kleines Töchterlein, an dem die Jahre spurlos vorbeigezogen sind. Noch immer kann man´s nicht fassen, daß wir nun einen alten Mann im Hause haben, und wieder stellte ich mir ein bedrucktes Hemd vor, das man Buzen hätte schenken können: „Seit gestern alt.“
Schon im Badezimmer schwallte ich Rehlein mit Lustigkeiten voll. Ich erzählte, daß die Ruth die sogenannte „Eigenurinkur“, die derzeit als Wundermittel gegen Zipperlein aller Art in aller Munde ist, für sich entdeckt habe. Abends gibt´s statt Tee nur noch warmen Eigenurin, und Hans-Jürgen und den Gästen erzählt sie, dies sei griechischer Bergtee. („Schmeckt interessant!“
„Ja, am Anfang mochten wir den auch nicht“) doch wundersamerweise werden die Gäste allesamt von ihren Zipperlein erlöst.
Bald schon setzten wir uns zum Frühstück nieder. Buz referierte darüber, daß man niemals mehr etwas vom Rind bestellen dürfe. (Rinderwahn!) Einmal hat Rehlein etwas beigeflochten und sagte so süß: „Ich kann nämlich denken. Das ist es ja, worunter du so leidest!“ (Feinste eheliche Spitzen)
Am Vormittag zog ich los, um mir meine Fahrkarte nach Bad Schwartau zu kaufen. Ich trug mein rotes Rucksäckchen und stellte mir vor, wie ich es nachher, gefüllt mit schönen Dingen aus der Stadt, wieder nach Hause trage.
Leider muß man im Reisebüro immer sehr lange warten. Hinter dem Computer saß ein träges junges Ding, vis à vis ein träges junges Pärchen, und die Arbeit bewegte sich weder vor noch zurück. Das Verkaufsfräulein war so träge geworden, weil es eine anstrengende „Tätigkeit“ ausübt: Man sollte etwas bewegen, kommt nicht vom Fleck und möchte am liebsten nur vertrösten und unter den Teppich kehren. Die Kunden sitzen da, sind sich gänzlich uneinig über ein Urlaubsziel und wünschen nun eine Beratung.
Auf dem Heimweg stellte ich mir vor, wie der Hochschuldirektor Herr Reimer Frau Kettler einen langen Brief schreibt, worin er ihr die vergangenen mörderischen Jahre zu erklären versucht: Er sei liebeskrank geworden und lebte die ganzen Jahre über wie im Fieberwahn. In Wirklichkeit aber ist es seine Frau, die diesen Brief geschrieben und geschickt hat. Sie hatte einen Blick in sein geheimes Tagebuch erhascht.
Mitten in diese aufregenden Gedanken hinein, hupte mir Buz, der aus Emden zurückgekehrt war, freudig aus dem Auto zu.
Buz wollte heut seine Mutti in Grebenstein besuchen, doch es dürstete ihn, zuvor noch einen kleinen Spaziergang mit Frau und Tochter am Kanal zu unternehmen. Dort, wo Buz das Auto hinparkte, saß in einem Garten ein Herr mit einem dick verbundenen Ohr – solcherart, als habe er sich im Wahn ein Ohr abgeschnitten.
Wieder sprachen wir über den Musikgeschichtsprofessor, Herrn Professor Kebap, wie ihn die Studenten heimlich nennen, da sein Name, flüchtig und in Eile ausgesprochen ungefähr so klingt. In stiller Übereinkunft haben wir unsere Lieblingsthemen gefunden. Den Professor mag ich eigentlich sehr gern. Ich liebe ihn sogar ein bißchen.
„Ja“, meinte ich zögerlich auf Buzens Frage, ob ich wohl glaube, der Professor sei in irgendeiner Hinsicht von der Muse geküsst: „Aber vielleicht eher auf die Backe oder gar die Arschbacke.“
Einmal sagte Rehlein über irgendjemanden: „Ich soll euch schön grüßen!“ Da steigerte ich mich in ein Philosophat über „den Gruß“ hinein und fand gar nicht mehr heraus. „Ich hasse es, wenn Leute, die nie schreiben einen Gruß ausrichten lassen! Ich selber richte nie Grüße aus, und sollte jemals jemand sagen: „Einen schönen Gruß von der Franziska!“ so handelt es sich um eine plumpe Fälschung, merkt euch dies!“ Einmal in diesen leisen Erbosungsrausch geraten wärmte ich auch noch das alte Anekdötchen auf, wie ich zu meiner telefonierenden Freundin Veronika gesagt habe: „Tausend Küsse an Deine Mutter“ und hörte, wie sie: „n´Gruß!“ weitergab.
Daheim aßen wir Ruths Kuchen, tranken Kaffee und sprachen darüber, daß Ruth und Christiane je in Buz verliebt seien. Buz wiederum äußerte den Verdacht, der Johann könne in mich verliebt sein. Dies gefiel mir, denn auch ich liebe ihn.
Am Straßenrand verabschiedeten wir uns sehr herzlich, aber auch ein bißchen wehmütig von unserem Familienoberhaupt, und Buzens winkenden Arm sah man, einer Pflanze gleich, noch bis zum Graf-Enno Straßen Ende aus dem Fenster ragen. Wieder war ein Kapitel unseres Lebens um.
Rehlein hatte das Gefühl, daß sich Buz sehr viel feierlicher als sonst verabschiedet hat, weil es halt das erste Mal ist, daß er sich als Ü- 60-Jähriger in die große weite Welt hinaus empfiehlt.
„Rehlein, teilst du dein Leben eher in großzügige, denn in kleine Kapitel ein?“ interessierte ich mich, doch Rehlein ist noch gar nicht auf die Idee gekommen, ihr Leben überhaupt in Kapitel einzuteilen.
Ich regte an, daß Rehlein und Buz doch irgendwann mal kirchlich heiraten könnten. Wie die Hilde da spitzen würde!
„Vielleicht ist eure Ehe ja deswegen so mißerablig, weil der kirchliche Segen fehlt?“ mutmaßte ich.
Beim Dichten in Mings verwaistem Zimmer kam mir die Idee, daß Rehlein der Frau Girardot einen Brief schreiben könne: Buz habe zu seinem sechzigsten Geburtstag die Beichte abgelegt: Als junger Mann sei er mal aus einem gewissen Übermut heraus mit Frau Girardot in die Kiste gehupft, und Rehlein bitte die Frau Girardot nun höflich, Stellung dazu zu beziehen. Die Idee war mir gekommen, als ich einen vermeintlich „sehr schütteren“ Brief von der Frau Girardot gelesen hatte, aus dem einem zwischen jeder Zeile das schlechte Gewissen anzublecken schien. Doch gegen Briefende wurde klar, daß es Herr Girardot gewesen war, der diese ausgesprochen trockenen Zeilen verfasst hat.
Abends telefonierte Rehlein mit der Tante Irma, die mich nächste Woche beherbergen will. Rehlein solle mir ausrichten, daß die Irma eine einfache, langweilige alte Frau sei, die mir keine großartige Unterhaltung bieten könne.
Sogar das Beätchen aus Amerika rief am Abend an und Rehlein war so begeistert, daß sie extra Buz in Grebenstein anrief, um ihm die Grüße aus Amerika zu übermitteln.
Teilweise sonnig – teilweise schwadig bewölkt
Ich träumte, daß ich Buzens treuem Jünger, dem Taiwanesen Franz, pädagogisch-beratend zur Seite stand. Zu Verdeutlichungszwecken einer meiner Weisheiten nahm ich die Schrift als solche zur Hand und erklärte, daß man beim Schreiben die Buchstaben nicht so ineinanderziehen dürfe.
Während ich noch feierlich auf den Franz einsprach, betraten wir einen wunderschönen großen Konzertsaal, worin Ming soeben Chopins zweites Klavierkonzert interpretierte. Tausende an interessierten Besuchern lauschten ihm andächtig. Durch den gesamten Traum begleitete mich meine Fähigkeit, kluge Dinge zur Musik sagen zu können, und so trat ich an den Interpreten hin und riet leise, den Gipfelton einer pianistisch perlenden Bariolage etwas krisper und perlender anzuschlagen.
Am Morgen frühstückte ich so nett mit Rehlein. Rehlein findet das Foto von Herrn Reimer in der neuen Hochschulbroschüre sehr hübsch. Bloß seinen Aufsatz im Inneren des Traktätchens findet sie höchst kurios. Der Leser versteht Bahnhof und darüber hinaus bleibt nichts aber auch gar nichts haften, und Rehlein könnte überhaupt nicht sagen, um was es in dem Aufsatz überhaupt ging?
Geschrieben in geistiger Umnachtung. Da aber kaum jemand Zeit findet, diese wunderliche Abhandlung zu studieren, wird sie wohl unbekannterweise als hochgeistig erachtet, vermutete ich.
Nach dem Frühstück begleitete Rehlein mich zur Bushaltestelle. Dort standen bereits zwei reife Damen Spalier, und eine von ihnen schaute aus wie die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis.
Wieder galt es, Abschied von Rehlein zu nehmen und mit klammen Gefühlen bestieg ich den Bus – bald wäre ich hunderte und aberhunderte Kilometer entfernt zu einem Erinnerungsbrösl zusammengeschnurrt. Ich nahm gegenüber einer weißhaarigen Seniorin Platz und richtzete im Geiste das Wort an sie: „Verzeihung. Wie heißen Sie?“
„Warum wollen Sie das denn wissen?“
„Ich hasse es, auf Vermutungen angewiesen zu sein.“