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Eine Milieustudie oder Realdoku aus dem wahren Leben. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin auf ihrem Lebenswege zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Juni 2003 in eine Symphonie verwandeln sollten. Der Alltag selber diktiert die Handlung.
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Seitenzahl: 162
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Für meinen geliebten Bruder Ming
Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.
„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.
Drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.
Erzählt werden Geschichten aus dem wahren Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.
Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Ein Buch ohne Vorwort. Sie können gleich anfangen zu lesen…
Juni 2003
Sonntag, 1. Juni
Montag, 2. Juni
Dienstag, 3. Juni
Mittwoch, 4. Juni
Donnerstag, 5. Juni
Freitag, 6. Juni
Samstag, 7. Juni
Sonntag, 8. Juni
Montag, 9. Juni
Dienstag, 10. Juni
Mittwoch, 11. Juni
Donnerstag, 12. Juni
Freitag, 13. Juni
Samstag, 14. Juni
Sonntag, 15. Juni
Montag, 16. Juni
Dienstag, 17. Juni
Mittwoch, 18. Juni
Donnerstag, 19. Juni
Freitag, 20. Juni
Samstag, 21. Juni
Sonntag, 22. Juni
Montag, 23. Juni
Dienstag, 24. Juni
Mittwoch, 25. Juni
Donnerstag, 26. Juni
Freitag, 27. Juni
Samstag, 28. Juni
Sonntag, 29. Juni
Montag, 30. Juni
Personenverzeichnis
Lemwerder – Hasbergen – Aurich
Hochsommerlich warm und sonnig
Vorwissen:
Ich befand mich mit meinen Eltern Rehlein & Buz auf einer kleinen Konzertreise im Großraum Delmenhorst.
Buzens Spezi Ivo hatte sich liebenswerter Weise erboten, uns als Übernachtungsgäste zu beherbergen.
In seinem Haus erwachten wir somit in den Juni hinein…
Ähnelnd einem Gaste, dem die Suppe so sehr mundet, daß er sich verstohlen ein wenig nachschöpft - hoffend, dies möge unbemerkt oder zumindest unkommentiert bleiben - schöpfte ich mit der Schöpfkelle noch etwas Schlafenssüße nach.
Ein Früh-erheb-dich war angesagt, da meine Violine und ich um zehne als klingendes Kirchenfüllsel im Gottesdienst von Delmenhorst-Hasbergen erwartet wurden. Doch nachdem der Wecker getönt hatte, war mir die Müdigkeit nicht aus dem Gebein gewichen.
Eigentlich schwebte mir folgende Tageseröffnung vor: Nachdem ich meine Eltern geweckt hätt´, würde meine Mama ihrer rührenden Art gemäß noch ein früchtebröternes Dankesbrieflein auf den Tisch legen und mit allerlei Herumliegendem befestigen, auf daß es nicht von einer Windböe hinfortgetragen würde, wenn der Ivo das Fenster öffnet um zu lüften. Hernach würden wir uns so leise wie möglich, aus dem Hause stehlen.
Tatsächlich aber knospelte das Leben bereits auf, während ich noch im Bette lag.
Man weiß: Frühstückt man in Zeitnot, so schmeckt´s doppelt und dreifach – und ebenso verhält es sich mit dem Frühstücksgeplauder: Es bannt doppelt und dreifach.
Der Ivo hatte eine CD mit seinen neuesten Werken eingelegt. Seine Bänd spielte und sang, und die Kastagnettenfee Ulrike klapperte dazu leis und zart auf ihren Kastagnetten, obwohl man zu Anfang der Aufnahme noch befürchtet hatte, daß man praktisch nur noch das Geklapper hört, wenn sie richtig loslegt.
Rehlein erzählte lebhaft von der Ulrike, und wie man in Ofenbach sein eigenes Wort nicht mehr verstanden habe, wenn sie übend losklapperte. Dann habe sie ihrem Verteilerkreis an 4087 Adressen folgendes gemailt: „Bin in den nächsten Wochen rund um die Uhr unter folgender Rufnummer zu erreichen: +43 (0)2627 42113
(unserer Ofenbacher Nummer)
„Und nachts riefen die Vertragspartner aus Japan, den USA und Taiwan an!“ beschwappte ich Rehleins empör- bzw. erheiterndes Anekdötchen auch noch mit einem Sahneklecks.
Auch Herrn Stoppenburg haben wir ein bißchen, wenn auch auf liebevolle Weise, auf dem Kieker, dieweil der Ivo mit seiner Bänd, demnächst in Verbindung mit einem „lecker Abendessen“ in Holland konzertieren soll. Die Erfahrung hat einen jedoch gelehrt, was Herr Stoppenburg unter einem „lecker Abendessen“ versteht: Rosinenbrötchen aus der Pappschachtel.
Wir sprachen darüber, wie schade es sei, daß Ivos hervorragende Bänd, mit der man Ostfriesland vertreten könnte, nie beim Grand Prix d´Eurovision teilnehmen darf. So viel poetische Popmusik bleibt von Millionen ungehört.
Man darf nur teilnehmen, wenn man bei einer der sechs renommiertesten Plattenfirmen unter Vertrag ist, und dies wiederum funktioniert nur wenn man einen Grand Prix vorweisen kann, wußte der Ivo.
Interessiert befrug Rehlein den Ivo nach seinem Neffen, der heute zehn Jahre alt wird, und von Onkel Ivo ein Aquarium geschenkt bekommt. Doch leider ist es so, daß der Ivo zu jenem, ihm quasi „auf´s Auge gedrückten“ adoptierten Neffen überhaupt keinen rechten Bezug hat.
Wenn der Ivo mit dem Neffen spielen will, dann will der Neffe immer bloß hauen, und es ist gar keine Geschichte und kein System in seinen Spielereien zu erkennen.
Dies gefällt dem Ivo nicht, da er als Bub gänzlich anders war: Fantasievoll und künstlerisch.
Es kam so, wie man es geahnt hatte: Wir mußten los, und dabei hätte ich diesen Ausführungen über den mißratenen Neffen noch stundenlang lauschen mögen.
Nicht ohne Wehmut verabschiedeten wir uns von unserem lieben Freund Ivo, bei dem wir uns so wohlgefühlt hatten, und fuhren nun in lieblichstem Sonnenschein ganz weit weg.
Eigentlich wollte ich doch um viertel nach neun an der Kirche sein, doch jetzt rann die Zeit, und Rehlein und Buzen ging´s nun so, wie es mir zuweilen zu gehen pflegt: Daß man nämlich völlig verunsichert ist, wie rum man den Stadtplan halten bzw. interpretieren solle?
Manchmal fühlte wir uns in unserem Plane sattelfest, doch einmal wurde es brenzelig: Laut Plan mußten wir eine ganz lange Straße abfahren, doch plötzlich hörte sie auf, und nun wußten wir nicht mehr, ob nach rechts, oder nach links? Ich sprach zwei radelnde Senioren an – das Mulmgefühl im Nacken spürend, daß sie meine Frage einfach überhören könnten, und ich in den Augen meiner Eltern begossen und ungehört dastehe? Doch der ortskundige Senior wies uns den Weg, und um 9:40 trafen wir froh an der kleinen, in einen Friedhof eingebetteten Kirche ein.
Der schlanke, leicht graumelierte Pastor Schürg mit seiner stacheligen Igelfrisur hieß und willkommen, und den Gottesdienst empfand ich als sehr angenehm, auch wenn höchsten zwanzig Leute gekommen waren. Die Feier umrankte die goldene Hochzeit des Ehepaar Voss, das sich am 23.5.1953 in dieser kleinen Dorfkirche das Ja-Wort gegeben hatte, und nun nach so langer Zeit den Segen eines Geistlichen entgegennahm, der damals womöglich noch gar nicht geboren war?
Das Ehepaar, das man auf blumengeschmückte Stühle gesetzt hatte, war still und ergriffen, und der Herr mit den leicht herabhängenden welken Mundwinkeln erinnerte gar an Schostakowitsch!
Wir erfuhren, daß die Frau mit zehn Geschwistern gesegnet war, und ich stellte mir gleich plastisch vor, ich hätte neun Mings. Wo doch allein ein Ming das Kostbarste in meinem Leben ist!
Ich spielte drei Werke, und hernach war das Publikum derart von den Socken, daß alle applaudierten. Fast hätte ich die Sarabande von Bach gespielt, doch in letzter Sekunde entschloss ich mich um, da der dritte Satz von der C-Dur Sonate doch viel besser zu der feierlichen Stimmung in der hellen, sonnendurchfluteten Kirche passte.
Dann war´s vorbei.
In dem kleinen Künstlerkabüffchen meinte Herr Schürg, daß ein paar Firmlinge gestört hätten.
„Die haben natürlich keine Ahnung von dieser Musik!“ sagte er verständnisheischend, doch später überlegte ich mir, daß ich eigentlich hätte sagen müssen: „Was heißt hier „natürlich“? Das ist höchst unnatürlich!“ Man hätte von Taiwan erzählen sollen. Zum Beispiel, wie ernst dort die Musikausbildung bereits in jungen Jahren genommen wird.
Buz und Rehlein warteten auf einem Bänkchen vor dem Gemeindehaus auf mich, und vor uns dreien lag ein gemütlicher Urlaubstag, überschattet nur vom quälenden Gedanken, ob sich am Abend wohl jemand für das Konzert erwärmen könnte?
Einmal erzürnte sich Rehlein leicht, da Buzen ein Zehn-€uro Schein aus dem Hosensack entschwebte, als er nach seinem Autoschlüssel langte. Und als Rehlein später in einem schönen Lokal die Sprache nochmals auf dies unerquickliche Thema brachte, hatte sich der Zehn-Euro-Schein bereits in einen 50-€uro-Schein verwandelt, und wieder machte ich mir ein bißchen Kummer und Sorgen über Rehleins geschärften Blick für das Negative!
Wir saßen an einem Tisch im Freien, und Buz & ich bestellten uns Ente für zwei Personen.
„Wenn man für zwei bestellt bekommt man einen €uro geschenkt!“ sagte ich mit Nachdruck wie eine überreife Siebenjährige. Extra für die Ohren der leicht verdörrten Kellnerin bestimmt.
Im Schankstubeninneren tobte eine große Feier mit vielen sahneweißen Häuptern, und für mich ernannte ich sie einfach zur Feier der güldenen Hochzeit der Vossens, obwohl die Vossens in Wirklichkeit einen eher gedrückten Eindruck gemacht haben, weil ihnen genau am Tage der goldenen Hochzeit ein Nachbar hinweggestorben ist.
Nachdem ich emsig geübt hatte, und Buz und Rehlein sich einen kleinen Spaziergang in der Natur gegönnt hatten, besuchten wir gemeinsam ein wärmstens empfohlenes Caféhaus.
Buz und ich schwankten je hin und her, ob wir uns wohl einen Eiskaffee bestellen sollten, und voller Übermut frug ich - oder vielleicht war´s auch der Opa in mir - die Kellnerin, wie bei ihnen wohl der Eiskaffee schmüke?
„Ha – gut,“ sagte die Kellnerin ohne große Begeisterung, dieweil sie womöglich noch nie dazugekommen war, einen zu kosten?
Doch dann war Rehlein die Einzige, die sich einen Eiskaffee gönnte.
„Wir müssen schlank werden. Die Mama darf es sich erlauben!“ beschied Buz, und wich auf einen Cappuccino mit einem kleinen Amarettino aus. Leicht wie Luft.
Wir hatten uns so auf das Miteinander gefreut, doch nun wurde es davon überschattet, daß Buz es nicht einsehen wollte, daß er sich eine große Tasse Cappuccino für drei Euro bestellt hat, und serviert wurde so ein kleines Tässchen!
Buz traute sich jedoch nicht, die Kellnerin darauf hinzuweisen, und seinen Ärger in strenge Worte zu kleiden. Und so verschwand er kurz im Häusl, in der Hoffnung, daß nach seinem Wieder-an-Land-treten alles gezahlt, und die Kellnerin mit strengen Worten bedacht und Trinkgeldentzug gestraft worden sein möge.
Neben dem Caféhaus befand sich eine große Weide, wo wir vier Pferde kennenlernten. Darunter zwei Füllen.
Und dann gönnten wir uns auch noch einen Sommerspaziergang, eingewoben in glitzernde Sonnenstrahlen, auch wenn es bereits viere durch war.
Am Abend hab ich mich – nicht zuletzt für Rehlein und Buz – so gefreut, daß die Kirche halbwegs gefüllt ausschaute.
Beim Bach-Spiel auf der Violine dachte ich an die etwas einseitig barsche, fast verdrossen klingende Aufnahme eines Gidon Kremer, und versuchte die große oft übermütige Frische und die kleinen Scherze, die den Werken innewohnen besser darzustellen, damit es nicht allzusehr nach E-Musik klingt.
Zwischen den vereinzelten Werken las der Geistliche kurze Texte von Hanns-Dieter Hübsch, und zum Schluß schenkte er mir sogar eine Kerze und eine lustige Zeichnung, auf der eine schelmisch lächelnde geigende Kirche abgebildet war.
Dann war´s vorbei.
Dadurch, daß der Saal zumindest nicht ganz leer war, hatte ich bereits gemeint, der HERR sei mir heute gewogen, und habe auch die Frau Thümmler vom Kulturamt, die ich doch extra eingeladen habe, ins Konzert gesandt – doch Pustekuchen!
Allerdings war Heidi A. gekommen, und die Eltern von Pastor Schürg, die extra aus Vechta herbeigereist waren, hatten sich gar ein Autogramm von Buzen geben lassen, weil sie sich so gut mit ihm unterhalten haben.
Nach dem Konzert kehrten wir – grad so, als seien wir die neuen Stammkunden – erneut in unserem neuen Stammlokal ein.
Auf einer Anrichte im Vorraum lagen interessante Broschüren: Z.B. über große und gloriose Festivitäten, die man hier veranstalten könnte, und ich nahm einige Broschüren an mich, grad so, als solle ernsthaft mit der Planung zur goldenen Hochzeit von Rehlein und Buz am 6. April 2012 begonnen werden.
Wir saßen mit Heidi A. zu Tisch.
Einmal verschluckte Buz sich lebensbedrohlich an seiner Speise. Wir waren außer uns vor Entsetzen, aber als nach einer Weile klar wurde, daß Buz den Sensemann nochmals in die Flucht hatte schlagen können, wurden wir wieder lustig, und ich spaßte, daß die Schüler heutzutage per SMS Kunde vom Ableben ihres Lehrers bekommen würden.
Wir fuhren die Heidi zum Delmenhorster Bahnhof, und sahen sie – wie in einem Psychothriller – nochmals die Straße überqueren, bevor sich ihre Spur (für immer?) verlor…dann fuhren wir nach Aurich zurück.
Zu später Stund´ beim Zähneputzen:
Unten hörte man Buz seine Franck-Sonate üben, und ich dachte an Herrn Schinke, meinen betagten Schwiegerschüler (Mann meiner betagten Schülerin Frau Schinke, der es auch nie lange ohne seine geliebte Geige aushält.
Bis zirka 18 Uhr sagenhaft schön und sommerlich. Dann gab´s ein mildes Gewitter
Mit dem Weckerschrill waren meine Träume in ein Truhe entwischt, auf die jemand fest den Deckel drückte, da ein Automatismus in meinem Gehirn Folgendes gebietet: „Los! Auf zur Tante Olli! Keine Zeit für´s Diarium!“
Nur ein winziges Traumeseck, auf dem Folgendes zu lesen stand, hing unter dem Truhendeckel noch hervor:
Reicht ein Fax?
Ja, vollkommen!
Worte, mit denen der Erwachte nicht (mehr) viel anzufangen weiß. Mich begleitete nur noch das Gefühl, fantastisch geschlafen zu haben, und der pralle schöne Sommermorgen im wahren Leben freute mich auch.
Ich radelte zu.
An einer Stelle in der Tom-Brook-Straße wohnt ein höchst sauertöpfisches chinesisches Ehepaar, das man zuweilen dabei sieht, wie es hoch sauertöpfisch in sein enges kleines Auto steigt. Heute sah man es nicht, und doch musste ich an jener einen Stelle, wo das enge kleine und mürrisch stimmende Auto steht, über dieses Ehegespann nachdenken.
Hatte man nicht andere Pläne gehabt? Sich mit einer Luxuskarosse von einem Schofför mit weißen Handschuhen durchs Leben schoffieren zu lassen? Hatte ER SIE nicht einst mit genau diesen verlokkenden Aussichten geködert? Stattdessen war man nun in diesem trostlosen Mietshaus gelandet.
Heute übte ich leicht verfrüht - nicht ohne ein schlechtes Gewissen Buzen gegenüber - los, und wenn Buz aufmerksam zugehört hätte, dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, daß jedes Werk ein bißchen gereifter klang, als das Vorhergehende?
Dies lag daran, daß ich es mit meinen Werken so betreibe wie ein Geigenbauer:
Der Geigenbauer beginnt sein Tagewerk damit, einen bleichen Geigenkorpus, an dem noch viel zu arbeiten ist, zu beschnitzen oder zu befeilen. Nach einer Weile hängt er das Schmuckstück ganz links an eine Verstrebung, um sich sodann dem danebenhängenden Geigenkorpus zuzuwenden, der schon ein wenig weitergediehen ist, so daß die Freude bzw. das Ziel bald eine perfekte Geige in Händen zu halten, mit jeder weiteren Geige näher rückt.
Die Korpüsse seiner Violinen hängen, Kleidungsstücken nicht unähnelnd, nebeneinander, und jede einzelne Geige ist ihrer Nachbarsgeige zur linken um einen Arbeitsgang voraus. Jene Geige die ganz rechts hängt, steht kurz davor, perfekt zu sein, herabgenommen und in einen samtenen Geigenkasten gebettet zu werden.
Zum Frühstück schauten wir uns einen Fall von Richter Guido Neumann an:
Eine Frau stak seelisch sehr in der Zwickmühle, dieweil sie gegen die Neue an der Seite ihres Mannes prozessierte. Diese Dame wiederum wirkte sehr frisch und jugendlich, doch ihre eine Wange war von einer Warze verunziert.
Es ging nur um eine Kleinigkeit (einen Telegrafenmast im Garten), und die Exfrau verlor den Prozess! Nach dem Urteilsspruch von Richter Guido Neumann sackte sie wie ein Souflée in sich zusammen, und man spürte als Zuschauer ganz deutlich, wie ein inneres Beben die gemarterte Frau durchbebte, weil sie einfach nicht mehr wußte, wohin mit ihrer hilflosen Wut?
Heut hatte mir ein 76-jähriger Herr aus Vechta, - seines Zeichens Komponist und Musikwissenschaftler - einen Brief geschickt, und ich bekam beim Satz „Meine Meinung aus der Sicht eines Komponisten“ ganz heiße Wangen vor Aufregung. Doch es stand nur Gutes zu lesen, wenn zwar der Herr sich zweimal leicht vertippt hatte. Sogar eine Fantasie für Solovioline hatte er beigelegt und ein lustiges Gedicht, wo sich jedes Satzende auf „dummes“ reimte. Ich fand es aber nur ein bißchen lustig, und die Freude über den Brief, der gegen Schluß mit einem „Schreiben Sie mir?“ endete, mündete in die leichte Lästigkeit, schon wieder einen „Herrn Bohnke“* am Bein zu haben.
Die Geschichte von Herrn Bohne – beginnend im Jahre 1978 - bedarf eines eigenen Kapitels:
Zu Beginn meiner Laufbahn als Geigerin spielte ich mit Ming in Frankfurt die Kreutzer-Sonate. Doch die Aufführung mißlang von meiner Seite her in beklagenswerter Weise, so daß damit gerechnet werden mußte, daß eine harrsche Kritik in der FAZ meiner Karriere als Geigerin ein jähes Ende bereiten würde, um meiner von Buzen prophezeiten Laufbahn als Sekretärin den Platz zu ebnen?
Stattdessen wurde ich mit völlig unverdienten Lobeshymnen bedacht, und der bedeutende und promovierte Kritiker Walther Bohnke, der sich in der Frankfurter Kulturszene als windiger Frauenheld einen klangvollen Namen gemacht hatte, trat mit mir in Kontakt und bombardierte mich mit Briefen, die er in einem - von mir als lächerlich empfundenen witzelnden Stile - in viel zu dick aufgetragenem Humore abgefasst hatte.
Zu der Zeit war es noch die Norm, daß man Briefe beantwortete – doch ich ließ mir immer aufreizend viel Zeit damit.
An einem Abend lernte ich ihn und seine trockene Gattin Renate persönlich kennen. Die Renate schien sich in der Rolle einer trockenen älteren Dame zu gefallen?
Die Korrespondenz hielt wohl einige Jahre an, um schließlich eines Tages zu versickern.
Zu Bekanntschaftsbeginn war mir Herr Bohnke - weißhaarig und tränenbesäckelt - uralt erschienen. Ich schätzte ihn auf 88 Jahre.
Jahre später – im Jahre 2000 – fiel mir ein altes Adressbüchlein in die Hände, und der Kenner weiß:
Nach so vielen Jahren dürfte kaum noch ein alter Bekannter unter der angegebenen Adresse anzutreffen sein – die meisten lagen mittlerweile auf dem Gottesacker, und auch Herrn Bohnke wähnte ich ebendort. Trotzdem machte ich mir einen Spaß daraus, die Nummer zu wählen, und von eventuellen Nachfahren zu hören, was wohl aus ihm geworden sei?
Überraschenderweise hob die trockene Renate ab.
„Walther Bohnke ist seit dem 27.4.2000 nicht mehr!“ berichtete sie, „und das ist auch gut so!“
Betroffen rechnete ich herum: Wenn er damals im Jahre 1978 tatsächlich 88 gewesen sein sollte, so müsste er ja biblische 110 Jahre alt geworden sein? Für einen derart verlebten Menschen ein kaum zu glaubendes stattliches Alter!
Auf die höfliche Frage, wie alt er geworden sei, erzählte die Renate: „Er wäre so gerne noch 80 geworden. Hat´s aber um drei Monate verpasst!“
Rehlein war sehr gut gelaunt, dieweil schon wieder ihr Verehrer, Herr Berke, angerufen hatte. Auf einmal hat Rehlein, so wie einst zur Jugendzeit, gleich zwei Verehrer: Herrn Berke und Herrn Röbel – nachdem sie jahrelang gar keinen hatte.
Als ich mit meiner Karrieretätigkeit anhub, fühlte ich mich ratlos:
Der ganze Schreibtisch war mit allerlei vollgebeigt, und man wußte gar nicht, wo beginnen.
Heute war ich sehr froh, Rehlein vor einem anstrengenden Dauergast bewahrt zu haben. Etwas, was Buz – hätte er abgehoben – vermutlich verbockt hätte, denn tatsächlich ist es so, daß Rehlein in zwei Tagen nach Ofenbach reisen will.
Es war die Ulrike, die die Fühler nach einem Relaxierungsurlaub in Ofenbach ausstreckte: „Vielleicht sehen wir uns ja!? Ich bin nächste Woche in Wien!“ sagte sie unbekümmert und Stimmung auf´s Miteinander schürend.
Geistesgegenwärtig wimmelte ich jedoch schnell ab, und sagte, es sei niemand von uns da, während Buz womöglich begeistert ausgerufen hätte: „Die Eri ist da, und freut sich gewiss! Du kannst da ooooohneweiteres ein paar Wochen bleiben!“
Am Nachmittag fuhr ich in den Klub.
Gegenüber vom Steuerbüro Jensen traf ich die Landschaftsmitarbeiterin Wiebke mit ihrem Söhnchen Yunas. Ich erfuhr, daß der Yunas vom Steuerberater Jensen gezeugt worden ist, und konnte es nicht fassen, zumal ich die Wiebke im Verdacht habe, zu ihrem Ex ein geradezu bedrohliches Verhältnis zu haben, indem sie ihm gar nach dem Leben trachtet. Doch nun standen sie ganz friedlich da, und warteten „auf seinen Vater“. Ich erfuhr, daß der kleine Yunas ein eingebildeter Kranker sei, und fand das alles sehr interessant.