Der Eiserne Vorhang - Anne Applebaum - E-Book
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Der Eiserne Vorhang E-Book

Anne Applebaum

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Beschreibung

Osteuropa im Kommunismus - Leben hinter dem Eisernen Vorhang

In ihrem neuen, hochgelobten Buch erzählt Anne Applebaum, wie Osteuropa nach 1945 hinter dem Eisernen Vorhang verschwand. Auf Basis umfangreicher Archivrecherchen und Gesprächen mit zahlreichen Zeitzeugen zeigt sie eindrucksvoll, wie systematisch und brutal sowjetische Truppen und einheimische Kommunisten in den Ländern Osteuropas stalinistische Diktaturen errichteten und was dies für die Menschen dort bedeutete.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten die Bewohner Osteuropas erkennen, dass sie mit der Ankunft sowjetischer Truppen unter eine neue Form totalitärer Herrschaft geraten waren. Hinter der Linie, die bald »Eiserner Vorhang« hieß, wurden die Staaten Osteuropas gewaltsam in sozialistische Gesellschaften verwandelt. Dabei veränderte der Kommunismus nicht nur die Wirtschaft und die Politik, sondern drang in alle Bereiche des Lebens vor. In ihrem neuen Buch zeigt Anne Applebaum, wie dieser Prozess der Unterdrückung vonstattenging und wie der Totalitarismus das Alltagsleben von Millionen von Europäern prägte.

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Seitenzahl: 1031

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ANNE APPLEBAUM

DER EISERNE VORHANG

Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956

Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Richter

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Iron Curtain. The Crushing of Eastern Europe 1944 – 1956 bei Doubleday, einem Imprint von Random House, New York.

Copyright © 2012 by Anne ApplebaumCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Jörg Später, Freiburg

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Reproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-10789-5V003

www.siedler-verlag.de

Dieses Buch ist jenen Osteuropäern gewidmet, die sich weigerten, in der Lüge zu leben.

Gefangenschaft, Willkür, Hohn und Hunger wären ungleich leichter zu ertragen gewesen, wenn nicht der Zwang bestanden hätte, sie Freiheit, Gerechtigkeit und Wohl des Volkes zu nennen. … Lügen [sind] von Natur aus bruchstückhaft und flüchtig, und in der Konfrontation mit dem Streben der Sprache nach Wahrheit offenbaren sie sich als solche. Doch hier wurden die Instrumente zur Aufdeckung der Lügen ein für alle Male polizeilich konfisziert.

ALEKSANDER WAT, Jenseits von Wahrheit und Lüge1

Der Mensch muß nicht an alle diese Mystifikationen glauben. Er muß sich aber so benehmen, als ob er an sie glaubt, muß sie zumindest schweigend tolerieren oder sich wenigstens gut mit denen stellen, die mit den Mystifikationen operieren. Schon deshalb muß er aber in Lüge leben.

VÁCLAV HAVEL, Versuch, in der Wahrheit zu leben2

1 A. Wat, Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen 1926–1945. Frankfurt a. M. 2000, S. 339–340.

2 V. Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek 1990, S. 18.

Einleitung

Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein »Eiserner Vorhang« über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre und alle sind sie in dieser oder jener Form nicht nur dem sowjetrussischen Einfluß ausgesetzt, sondern auch in ständig zunehmendem Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen.

WINSTON CHURCHILL am 5. März 1946 in Fulton, Missouri3

Im Jahr 1945 war ganz Europa in Bewegung – es war eine der außergewöhnlichsten Migrationen in der Geschichte des Kontinents. Überall kehrten Hunderttausende von Menschen aus dem sowjetischen Exil, aus Arbeitslagern in Deutschland, aus Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern und aus Verstecken jeder Art zurück. Die Straßen, Wege, Bahnstrecken und Züge waren überfüllt mit zerlumpten, hungrigen, schmutzigen Menschen.

Die Szenen an den Bahnhöfen waren besonders schrecklich. Hungernde Mütter, kranke Kinder und manchmal ganze Familien kampierten tagelang auf schmutzigen Zementböden und warteten auf den nächsten Zug. Seuchen und Hunger drohten sie zu verschlingen. Doch im zentralpolnischen Łódź war eine Gruppe von Frauen entschlossen, weitere Tragödien zu verhindern. Unter der Führung ehemaliger Mitglieder des Polnischen Frauenbunds (Liga Kobiet Polskich), einer 1913 gegründeten wohltätigen und patriotischen Organisation, gingen die Frauen ans Werk. Am Bahnhof von Łódź errichteten sie eine Unterkunft für Frauen und Kinder und sorgten für warme Mahlzeiten, Medizin und Decken, für Hilfskräfte und Krankenschwestern.

Diese Frauen handelten im Frühjahr 1945 aus denselben Motiven, wie sie es 1925 oder 1935 auch getan hätten. Sie waren Zeugen einer sozialen Notlage und organisierten sich, um zu helfen. Niemand forderte sie dazu auf, gab ihnen Anweisungen oder bezahlte sie. Janina Suska-Janakowska, bei unserem Gespräch fast 90 Jahre alt, erinnerte sich an dieses völlig unpolitische Engagement: »Niemand bekam Geld für Wohlfahrtsarbeit … wer eine freie Minute hatte, half mit.«4

Fünf Jahre vergingen. 1950 war der Polnische Frauenbund von Grund auf verändert. Er hatte eine Zentrale in Warschau. Er hatte eine nationale Leitung, die Ortsvereine, die sich ihren Anweisungen widersetzten, auflösen konnte und dies auch tat. Er hatte eine Generalsekretärin namens Izolda Kowalska-Kiryluk, die die Hauptaufgaben des Bunds nicht als wohltätig und patriotisch beschrieb, sondern als politisch und ideologisch: »Wir müssen unsere Organisation verfestigen und eine breite Gruppe aktiver Frauen mobilisieren, erziehen und zu bewussten Sozialaktivistinnen formen. Wir müssen den Grad des sozialen Bewusstseins der Frauen mit jedem Tag steigern und uns der großen Aufgabe anschließen, aus Volkspolen ein sozialistisches Polen zu machen.«

Der Frauenbund hielt auch Nationalkongresse ab wie den von 1951, auf dem die Vizepräsidentin Zofia Wasilkowska offen die politische Agenda darlegte: »Die Hauptaufgabe des Bunds ist Erziehungs- und Aufklärungsarbeit … die das Bewusstsein der Frauen auf eine unvergleichlich höhere Stufe erhebt und sie zur vollständigen Verwirklichung des Sechsjahresplans mobilisiert.«5

Mit anderen Worten, 1950 war aus dem Polnischen Frauenbund praktisch die Frauenabteilung der polnischen KP geworden. In dieser Eigenschaft ermutigte der Bund die Frauen, in der Politik und den internationalen Beziehungen der Parteilinie zu folgen. Er rief Frauen dazu auf, bei Paraden am 1. Mai mitzumarschieren und Petitionen gegen den westlichen Imperialismus zu unterschreiben. Er setzte auf Agitatorinnen, die geschult wurden und dabei lernten, die Botschaft der Partei zu vermitteln. Wer sich dagegen wehrte und zum Beispiel nicht an Maiparaden oder den Feiern zu Stalins Geburtstag teilnehmen wollte, konnte aus dem Frauenbund ausgeschlossen werden, wie es auch manchmal geschah. Andere traten von selbst aus. Die verbleibenden Mitglieder waren nicht länger Freiwillige, sondern Bürokraten im Dienste des Staats und der Kommunistischen Partei.

Fünf Jahre waren vergangen. Nach diesen fünf Jahren waren der Polnische Frauenbund und zahllose andere Organisationen völlig umgekrempelt. Was war geschehen? Wer hatte die Veränderungen bewirkt? Warum folgte man ihnen? Darum geht es in diesem Buch.

Obwohl das Wort »totalitär« meist benutzt worden ist, um das »Dritte Reich« und Stalins Sowjetunion zu beschreiben, wurde es ursprünglich als totalitarismo im Kontext des italienischen Faschismus verwendet. Nachdem ein Kritiker Benito Mussolinis es geprägt hatte, übernahm dieser es begeistert und gab in einer Rede die noch immer beste Definition: »Alles durch den Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.«6 Streng definiert, verbietet ein totalitäres Regime alle Institutionen außer den offiziell anerkannten. Ein totalitäres Regime besitzt also eine einzige politische Partei, ein einziges Bildungssystem, eine einzige künstlerische Richtung, eine zentral gelenkte Wirtschaft, gleichgeschaltete Medien und einen einzigen moralischen Code. In einem totalitären Staat gibt es keine unabhängigen Schulen, keine Privatfirmen, keine Bürgerinitiativen und kein kritisches Denken. Mussolini und sein Hausphilosoph Giovanni Gentile hingen einem extremen Etatismus an, einer »Vorstellung vom Staat«, nach der »für den Faschismus alles im Staate beschlossen [liegt] und es gibt für ihn nichts Menschliches oder Geistiges, noch weniger besitzt dieses irgendeinen Wert außerhalb des Staates«.7

Aus dem Italienischen verbreitete sich das Wort »Totalitarismus« in alle europäischen und außereuropäischen Sprachen. Nach Mussolinis Tod fand das Konzept aber nur noch wenige, die sich positiv auf den Begriff bezogen. Dieser wurde schließlich von seinen Kritikern definiert, von denen viele zu den größten Denkern des 20. Jahrhunderts zählen.8 Friedrich von Hayeks Der Weg zur Knechtschaft (1943) ist ebenso eine Reaktion auf die Herausforderung des Totalitarismus wie Karl Poppers Offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945). George Orwells 1984 (1949, dt. 1950) ist die antiutopische Vision einer völlig von totalitären Regimen beherrschten Welt.

Die bedeutendste Analyse totalitärer Politik stammt wohl von Hannah Arendt, die den Totalitarismus 1949 in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951, dt. 1955) als »neue ›Staatsform‹« definierte, die durch das Einsetzen der Moderne möglich geworden sei. Die Zerstörung traditioneller Gesellschaften und Lebensformen hatte ihrer Meinung nach die Bedingungen für die Entwicklung einer »totalitären Persönlichkeit« geschaffen, Männer und Frauen, deren Identität völlig vom Staat abhing. Arendt argumentierte, Nazideutschland wie die Sowjetunion seien totalitäre Regime und zeigten als solche mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.9 Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzezinski führten dieses Argument 1956 in dem Buch Totalitäre Diktatur (dt. 1957) weiter aus und suchten eine praktisch anwendbare Definition.

Alle totalitären Regime besaßen ihrer Auffassung nach fünf Eigenschaften: eine dominante Ideologie, eine Staatspartei, eine Geheimpolizei, die Terror ausübte, ein Informationsmonopol und eine Planwirtschaft. Nach diesen Kriterien waren das »Dritte Reich« und die Sowjetunion nicht die einzigen totalitären Staaten. Auch Maos China gehörte beispielsweise dazu.10 Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre war »Totalitarismus« aber mehr als ein theoretisches Konzept. In der Frühphase des Kalten Kriegs besaß der Begriff auch konkrete politische Assoziationen. In einer Schlüsselrede erklärte Präsident Harry S. Truman im März 1947, die Amerikaner müssten willens sein, »freien Völkern bei der Erhaltung ihrer freien Institutionen und ihrer nationalen Integrität gegen Bewegungen zu helfen, die ihnen ein totalitäres Regime aufzwingen wollen«.11 Diese Idee wurde als »Truman-Doktrin« bekannt. Auch Eisenhower benutzte den Begriff 1952 im Präsidentschaftswahlkampf, als er seine Absicht erklärte, nach Korea zu fahren und den dortigen Krieg zu beenden: »Ich kenne diesen totalitären Geist. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs trug ich eine schwere Last der Verantwortung beim Kreuzzug der freien Welt gegen die Tyrannei, die uns alle bedroht.«12

Weil »Kalte Krieger« in den USA offen als Gegner des Totalitarismus auftraten, begannen Skeptiker natürlich den Begriff infrage zu stellen: War Totalitarismus eine echte Bedrohung oder nur eine Übertreibung, ein Schreckgespenst, eine Erfindung von Senator Joseph McCarthy? In den siebziger und achtziger Jahren vertraten revisionistische Russland-Historiker die Ansicht, Stalins Sowjetunion sei nie wirklich totalitär gewesen. Nicht alle Entscheidungen seien in Moskau gefallen; die örtliche Polizei habe ebenso Terror ausüben können wie die Spitze der Hierarchie; die zentrale Planung sei in ihren Versuchen zur Kontrolle der Wirtschaft nicht immer erfolgreich gewesen; Massenterror habe für viele in der Gesellschaft »Chancen« eröffnet.13 Einige betrachteten den Begriff »Totalitarismus« als krude, ungenau und zu ideologisch.

Viele »orthodoxe« Theoretiker des Totalitarismus hatten dieselben Aspekte betont. Nur wenige behaupteten, der Totalitarismus funktioniere. Ganz im Gegenteil, der Politikwissenschaftler Hans Buchheim bemerkte:

Weil die totalitäre Herrschaft Unmögliches anstrebt, sich die Personalität des Menschen und das Schicksal verfügbar machen will, vermag sie sich nur fragmentarisch zu verwirklichen. … Aber gerade deshalb sind die Auswirkungen des totalitären Herrschaftsanspruchs gefährlich und bedrückend, weil sie so verschwimmend, unberechenbar und schwer nachweisbar sind. … Diese Vertracktheit folgt aus dem unerfüllbaren Herrschaftsanspruch; sie ist für das Leben unter einem totalitären Regime charakteristisch und macht es allen Außenstehenden so überaus schwer verständlich.14

In jüngerer Zeit haben andere Politologen dieses revisionistische Argument weitergeführt. Für manche ist der Begriff »Totalitarismus« nur in der Theorie nützlich als negatives Muster, von dem liberale Demokraten sich abgrenzen können.15 Andere finden das Wort völlig inhaltslos, weil es zu einem Begriff geworden sei, der nicht mehr bedeute als »die theoretische Antithese zur westlichen Gesellschaft« oder lapidar ausgedrückt: »Leute, die wir nicht mögen«. Eine fragwürdigere Interpretation besagt, das Wort »Totalitarismus« sei interessengeleitet und werde nur benutzt, um die Legitimität der westlichen Demokratie zu verstärken.16

Obwohl aber die Idee einer »totalen Kontrolle« heute grotesk, lächerlich, übertrieben oder töricht erscheinen mag und obwohl das Wort selbst vielleicht seine Fähigkeit zu schockieren verloren hat, muss man in Erinnerung behalten, dass »Totalitarismus« mehr ist als eine vage definierte Beleidigung. Es hat wirklich Regime gegeben, die eine totale Kontrolle anstrebten. Wenn wir sie verstehen wollen – wenn wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts verstehen wollen –, müssen wir untersuchen, wie der Totalitarismus funktionierte, in der Theorie wie in der Praxis. Außerdem ist das Konzept der totalen Kontrolle nicht völlig aus der Mode gekommen. Das nach stalinistischem Vorbild organisierte Regime Nordkoreas hat sich seit 1948 wenig verändert. Obwohl neue Technologie es heute schwieriger erscheinen lässt, totale Kontrolle anzustreben, geschweige denn zu verwirklichen, können wir nicht sicher sein, dass Mobiltelefone, Internet und Satellitenfotos nicht auch Kontrollinstrumente von Regimen werden können, die ebenfalls »umfassend« sein wollen.17 Der Begriff »Totalitarismus« bleibt eine nützliche und notwendige empirische Beschreibung. Er ist reif für eine Renaissance.

Vor allem ein Regime verstand die Methoden und Techniken totalitärer Kontrolle so gut, dass es sie erfolgreich exportierte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Marsch der Roten Armee auf Berlin unternahm die Führung der UdSSR große Anstrengungen, den sehr unterschiedlichen europäischen Ländern, die sie damals besetzt hatte, ein totalitäres Regierungssystem aufzuzwingen, so wie sie es bereits bei den vielen unterschiedlichen Regionen der UdSSR getan hatte. Ihre Anstrengungen waren todernst. Stalin, seine Militärführer und Geheimpolizisten – von 1934 bis 1946 unter dem Namen Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD, später KGB) – und seine lokalen Verbündeten wollten Gesellschaften schaffen, in denen alles innerhalb, nichts außerhalb und nichts gegen den Staat war – und sie wollten es schnell tun.

Es ist zwar richtig, dass die acht europäischen Länder, die 1945 von der Roten Armee ganz oder teilweise besetzt waren, sehr unterschiedliche Kulturen, politische Traditionen und wirtschaftliche Strukturen besaßen. Diese Gebiete umfassten die ehemals demokratische Tschechoslowakei und das ehemals faschistische Deutschland, dazu Monarchien, Autokratien und halb feudale Staaten. Die Einwohner der Region waren Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Juden und Muslime. Sie sprachen slawische, romanische und finno-ugrische Sprachen und Deutsch. Sie umfassten Russophile und Russophobe, das industrialisierte Böhmen und das ländliche Albanien, das kosmopolitische Berlin und winzige Karpatendörfer. Unter ihnen waren frühere Untertanen der K.u.k.-Monarchie, des Deutschen und des Osmanischen wie auch des Zarenreichs.

Dennoch sahen Amerikaner und Westeuropäer in dieser Periode die Nationen des kommunistisch beherrschten, aber nichtrussischen Europa – Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Ostdeutschland, Rumänien, Bulgarien, Albanien und Jugoslawien – als einen »Block«, der dann »Ostblock« genannt wurde. Dies ist ein politischer und historischer, kein geografischer Begriff. Er umfasst nicht »östliche« Länder wie Griechenland, das nie kommunistisch war. Er umfasst auch nicht die baltischen Staaten oder Moldawien, die Osteuropa zwar historisch und kulturell ähnelten, aber in diesem Zeitraum Teil der Sowjetunion waren. Vor allem zwischen der Erfahrung der baltischen Staaten und Polens gibt es Parallelen, aber auch wichtige Unterschiede: durch die Sowjetisierung verloren die Balten auch die bloß formale Souveränität.

In den Jahren nach Stalins Tod – besonders seit 1989 – schlugen die acht Länder Osteuropas sehr unterschiedliche Wege ein, und es ist ein Gemeinplatz geworden, dass sie ursprünglich nicht viel gemein gehabt hätten. Das ist völlig richtig; vor 1945 waren sie nie irgendwie vereinigt gewesen, und heute haben sie bis auf die gemeinsame historische Erinnerung an den Kommunismus auffallend wenig Gemeinsamkeiten. Doch von 1945 bis 1989 verband die acht osteuropäischen Länder sehr viel. Im Interesse der Einfachheit, Vertrautheit und historischen Genauigkeit werde ich für sie in diesem Buch darum den Begriff »Osteuropa« benutzen.18

Für kurze Zeit, von 1945 bis 1953, schien es, als könne es der UdSSR gelingen, die so unterschiedlichen Nationen Osteuropas in eine ideologisch und politisch homogene Region umzuformen. Aus Gegnern und Verbündeten Hitlers schuf sie in diesem Zeitraum ein Ensemble scheinbar identischer Staaten.19 Anfang der fünfziger Jahre wurden all die grauen, vom Krieg verwüsteten Hauptstädte der »alten Staaten«, wie Winston Churchill sie genannt hatte, vom selben Typ grimmiger Polizisten kontrolliert, von denselben Architekten im Stil des Sozialistischen Realismus geplant und mit ähnlichen Propagandaplakaten behängt. Der Kult um Stalin, dessen Name schon in der UdSSR als »Symbol des kommenden Sieges des Sozialismus« verehrt wurde, herrschte in der ganzen Region, dazu kam der Kult um die jeweiligen Parteiführer.20 Millionen von Menschen nahmen an staatlich gelenkten Paraden und Feiern der kommunistischen Macht teil. Der Begriff »Eiserner Vorhang« war damals mehr als eine Metapher: Mauern, Zäune und Stacheldraht trennten Osteuropa tatsächlich vom Westen. Als 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde, schien es, als würden diese Barrieren für immer bestehen.

Das Tempo, mit dem diese Umwälzung stattfand, war im Rückblick erstaunlich. In der Sowjetunion selbst hatte die Entwicklung eines totalitären Regimes zwei Jahrzehnte gebraucht und war nur ungleichmäßig vorangekommen. Die Bolschewiki besaßen keinen fertigen Plan. Nach der Russischen Revolution verfolgten sie einen Zickzackkurs, manchmal strenger, manchmal liberaler, als eine Maßnahme nach der anderen nicht die versprochenen wirtschaftlichen Fortschritte brachte. Auf den kollektivistischen »Kriegskommunismus« und »roten Terror« der Bürgerkriegsepoche folgte Lenins liberalere Neue Ökonomische Politik, die private Firmen und Handel teilweise zuließ. 1928 wurde die Neue Ökonomische Politik wieder abgeschafft und durch einen Fünfjahresplan und einen neuen Katalog von Maßnahmen ersetzt, die schließlich Stalinismus genannt wurden: schnellere Industrialisierung, Zwangskollektivierung und zentralisierte Planung; drakonische Beschränkungen von Redefreiheit, Literatur, Medien und Künsten; schließlich die Ausweitung des Gulag, des Systems der Massenarbeitslager. »Stalinismus« und »Totalitarismus« werden häufig synonym verwendet, und das zu Recht.

Am Ende der dreißiger Jahre befand sich der Stalinismus in der Krise. Der Lebensstandard stieg nicht so schnell, wie die Partei versprochen hatte. Schlecht geplante Investitionen erwiesen sich als Fehlschläge. Die Hungersnöte in der Ukraine und Südrussland in den frühen dreißiger Jahren hatten zwar für das Regime politischen Nutzen gebracht, aber eher Furcht als Ansehen erzeugt. 1937 führte die Geheimpolizei eine Kampagne von Festnahmen, Inhaftierungen und Hinrichtungen durch, die sich zunächst gegen Saboteure, Spione und »Schädlinge« richtete, die angeblich den Fortschritt der Gesellschaft bremsten, und sich dann soweit ausdehnte, dass sie die höchsten Kreise der KPdSU erfasste. Der sogenannte Große Terror war weder die erste noch die größte Verhaftungswelle in der Sowjetunion – frühere Terrormaßnahmen hatten sich weitgehend gegen Bauern und ethnische Minderheiten gerichtet, vor allem in den Grenzgebieten. Es war aber die erste Kampagne, die sich auch gegen die Parteiführung richtete, und sie erzeugte tiefes Unbehagen im Land selbst und bei Kommunisten im Ausland. Mit der Zeit hätte der Große Terror zu echter Desillusionierung führen können. Doch Stalin und der Stalinismus wurden durch den Zweiten Weltkrieg gerettet. Trotz Chaos und Fehlern, gewaltiger Opferzahlen und Zerstörungen stützte der Sieg die Legitimität des Systems und seines Führers und »bewies« deren Wert. Nach dem Sieg erreichte der fast religiöse Stalinkult neue Höhen. Die Propaganda präsentierte den sowjetischen Staatschef den Massen als »die Verkörperung ihres eigenen Heldentums, ihres eigenen Patriotismus, ihrer eigenen Liebe zur sozialistischen Heimat«.21

Zugleich gab der Krieg Stalin eine beispiellose Gelegenheit, seinen Nachbarn seine Vision der kommunistischen Gesellschaft aufzuzwingen. Die erste Gelegenheit kam schon 1939, nachdem Deutschland und die UdSSR den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet hatten, der Polen, Rumänien, Finnland und die baltischen Staaten in deutsche und sowjetische Einflusssphären teilte. Am 1. September griff Hitler Polen von Westen an. Am 17. September griff Stalin Polen von Osten an. Binnen weniger Monate hatten sowjetische Truppen das Baltikum, Teile Rumäniens und Ostfinnland besetzt. Während das von den Nationalsozialisten besetzte Europa schließlich befreit wurde, gab Stalin die von ihm in der ersten Kriegsphase annektierten Gebiete nicht zurück. Ostpolen, Ostfinnland, die baltischen Staaten, Bukowina und Bessarabien (heute Moldawien) wurden der Sowjetunion angegliedert. Die polnischen Ostgebiete sind bis heute ein Teil der Ukraine und Weißrusslands (Belarus).

In ihrer Besatzungszone begannen Offiziere der Roten Armee und NKWD-Beamte sofort, das eigene System einzuführen. Ab 1939 griffen sie auf einheimische Kollaborateure, Mitglieder der internationalen kommunistischen Bewegung zurück, um mittels Gewalt und Deportationen in den Gulag die Bevölkerung zu »sowjetisieren«. Die sowjetische Invasion Ostpolens und des Baltikums 1939 schuf einen Kader von NKWD-Beamten, der fähig und bereit war, solche Operationen zu wiederholen. Noch vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 bereiteten sich die sowjetischen Behörden auf eine ähnliche Umwälzung Osteuropas vor.

Dieser letzte Punkt ist umstritten, denn in der üblichen Geschichtsschreibung wird die Nachkriegsgeschichte der Region meist in Phasen aufgeteilt.22 Zunächst war die Demokratie 1944/45 eine reale, danach eine Scheindemokratie. 1947/48 kam dann ein abrupter Politikwechsel und eine Machtübernahme: Der politische Terror wurde verstärkt, die Medien geknebelt, Wahlen manipuliert. Alle Vorspiegelungen nationaler Autonomie wurden fallen gelassen.

Einige Historiker und Politologen haben seitdem diese Veränderung in der politischen Atmosphäre dem gleichzeitigen Beginn des Kalten Kriegs zugeschrieben. Manchmal werden sogar »Kalte Krieger« des Westens für den Beginn des Stalinismus in Osteuropa verantwortlich gemacht, da ihre aggressive Rhetorik die sowjetische Führung »gezwungen« habe, ihre Kontrolle über die Region zu festigen. 1959 erhielt dieses »revisionistische« Argument seine klassische Form durch William Appleman Williams, der die Ansicht vertrat, der Kalte Krieg sei nicht durch die kommunistische Expansion, sondern durch den amerikanischen Drang nach offenen internationalen Märkten verursacht worden. Winfried Loth hat argumentiert, Ursprung der deutschen Teilung seien nicht die totalitären Maßnahmen der Sowjetunion in Ostdeutschland nach 1945 gewesen, sondern das Scheitern der Westmächte, Stalins friedliche Annäherungsversuche aufzunehmen.23

Jede intensive Analyse dessen, was in der Region zwischen 1944 und 1947 geschah, enthüllt die tiefen Ungereimtheiten dieser Argumente, und dank der Öffnung sowjetischer wie osteuropäischer Archive ist eine intensive Analyse heute möglich.24 Neue Quellen haben Historikern das Verständnis eröffnet, dass diese frühe »liberale« Phase in Wirklichkeit nicht so liberal war, wie sie im Rückblick manchmal erscheint. Zwar wurden nicht alle Elemente des politischen Systems der UdSSR in die Region importiert, sobald die Rote Armee die Grenze überschritten hatte, und es gibt auch keinen Hinweis, dass Stalin die rasche Entstehung des kommunistischen »Blocks« erwartete. 1944 schrieb der stellvertretende Außenminister Iwan Maiski eine Notiz, in der er vorhersagte, alle Staaten Europas würden schließlich kommunistisch werden, aber erst in drei oder vielleicht vier Jahrzehnten. (Er sagte auch voraus, dass es im künftigen Europa nur eine Landmacht, die UdSSR, und eine Seemacht, Großbritannien, geben werde.) Bis dahin sollte die Sowjetunion nicht versuchen, »proletarische Revolutionen« in Osteuropa anzufachen, und gute Beziehungen zu den westlichen Demokratien anstreben.25

Diese langfristige Perspektive entsprach sicherlich der marxistisch-leninistischen Ideologie, wie Stalin sie verstand. Kapitalisten würden seiner Meinung nach nicht für immer miteinander kooperieren können. Früher oder später würde ihr gieriger Imperialismus sie zu Konflikten treiben, und die Sowjetunion würde davon profitieren. »Die Widersprüche zwischen England und Amerika werden sich noch bemerkbar machen«, sagte er seinen Mitarbeitern wenige Monate nach Kriegsende. »Die sozialen Konflikte in Amerika entfalten sich immer weiter. Die Labour-Leute in England haben den englischen Arbeitern so viel Sozialismus versprochen, dass sie nur schwer davon abrücken können. Sie werden bald nicht nur Auseinandersetzungen mit ihrer eigenen Bourgeoisie haben, sondern auch mit den amerikanischen Imperialisten.«26

Wenn die UdSSR es nicht eilig hatte, so galt das auch für die Führer der kommunistischen Parteien in Osteuropa, von denen nur wenige eine sofortige Machtübernahme erwarteten. In den dreißiger Jahren hatten viele zu Volksfrontbündnissen mit Parteien der Mitte und Sozialdemokraten gehört – oder hatten beobachtet, wie solche Bündnisse in einigen Ländern erfolgreich waren, vor allem in Spanien und Frankreich. Tony Judt hat Spanien sogar als »Probelauf für die Machtergreifung in Osteuropa nach 1945« bezeichnet.27 Diese ersten Volksfrontbündnisse waren geschaffen worden, um Hitler Widerstand zu leisten. Nach dem Krieg wollten viele sie wiederaufleben lassen, um dem westlichen Kapitalismus Widerstand zu leisten. Stalins Perspektive war eine langfristige: Irgendwann würde die proletarische Revolution stattfinden, aber bevor das passieren konnte, musste es in der Region erst eine bürgerliche Revolution geben. Nach dem schematischen sowjetischen Geschichtsbild hatte die bürgerliche Revolution noch nicht stattgefunden.

Wie der erste Teil dieses Buches aber zeigen wird, importierte die UdSSR von Anfang an bestimmte Schlüsselelemente des Sowjetsystems in jedes Land, das von der Roten Armee besetzt wurde. Erstens baute das NKWD gemeinsam mit einheimischen kommunistischen Parteien sofort eine Geheimpolizei nach eigenem Vorbild auf, häufig mit Personal, das bereits in Moskau ausgebildet worden war. Wo immer die Rote Armee einmarschierte – auch in der Tschechoslowakei, aus der sie schließlich wieder abzog –, griffen diese neuen Geheimpolizisten sofort zur Gewalt und nahmen politische Feinde anhand vorher erstellter Listen und Kriterien ins Visier. In einigen Fällen bekämpften sie auch ganze ethnische Gruppen. Sie übernahmen die Kontrolle über die Innenministerien dieser Länder, manchmal auch über die Verteidigungsministerien, und wirkten an der sofortigen Enteignung und Neuverteilung des Bodens mit.

Zweitens setzten die sowjetischen Behörden in allen besetzten Ländern einheimische Kommunisten an die Spitze des machtvollsten Massenmediums dieser Epoche, des Radios. Obwohl es im größten Teil Osteuropas in den ersten Monaten nach Kriegsende möglich war, nichtkommunistische Zeitungen oder Zeitschriften zu veröffentlichen, und obwohl Nichtkommunisten andere Staatsmonopole leiten durften, blieben die staatlichen Rundfunkanstalten, die jeden vom analphabetischen Bauern bis zum Intellektuellen erreichen konnten, unter strenger Kontrolle der Kommunistischen Partei. Langfristig hofften die Behörden, das Radio werde zusammen mit anderer Propaganda und Veränderungen im Bildungssystem die Menschen massenweise zum Kommunismus führen.

Drittens schikanierten, verfolgten und verboten sowjetische und einheimische Kommunisten überall dort, wo die Rote Armee einmarschierte, viele der unabhängigen Organisationen dessen, was wir heute Zivilgesellschaft nennen würden: den Polnischen Frauenbund, die antifaschistischen Gruppen in Deutschland, Kirchengruppen und Schulen. Vor allem waren sie seit Beginn der Besatzung auf Jugendorganisationen fixiert: junge Sozialdemokraten, katholische oder protestantische Jugendgruppen, Pfadfinder und Pfadfinderinnen. Noch vor dem Verbot unabhängiger Parteien für Erwachsene, kirchlicher Organisationen und unabhängiger Gewerkschaften stellten sie die Jugendorganisationen unter die strengstmögliche Beobachtung und Kontrolle.

Schließlich führten die Sowjetbehörden wo immer möglich ethnische Säuberungen durch, auch dies in Zusammenarbeit mit den örtlichen kommunistischen Parteien. Millionen von Deutschen, Polen, Ukrainern, Ungarn und anderen wurden aus Städten und Dörfern vertrieben, in denen sie jahrhundertelang gelebt hatten. Lastwagen und Züge brachten die Menschen mit ihren wenigen Habseligkeiten in Flüchtlingslager und neue Heimstätten viele Hundert Kilometer von ihren Geburtsorten entfernt. Desorientierung und Entwurzelung machten es leichter, diese Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren. Auch die USA und Großbritannien waren an dieser Politik beteiligt – die Vertreibung der Deutschen war Teil des Potsdamer Abkommens –, aber nur wenige im Westen verstanden damals das Ausmaß und die Gewaltsamkeit der sowjetischen ethnischen Säuberungen.

Andere Elemente des Kapitalismus und sogar des Liberalismus blieben zunächst noch unangetastet. Private Landwirtschaft, Privatfirmen und privater Handel existierten bis 1946 und manchmal länger. Manche unabhängigen Zeitungen und Zeitschriften erschienen weiter, und manche Kirchen blieben offen. In einigen Ländern durften auch nichtkommunistische Parteien aktiv sein, dazu ausgewählte nichtkommunistische Politiker. Doch der Grund liegt nicht darin, dass die Sowjetkommunisten und ihre osteuropäischen Verbündeten liberale Demokraten waren. Vielmehr hielten sie dies kurzfristig für weniger wichtig als Geheimpolizei, Radio, ethnische Säuberungen und die Kontrolle über Jugendgruppen und andere Bürgerorganisationen. Es ist kein Zufall, dass ehrgeizige junge Kommunisten stets in einem dieser Bereiche aktiv wurden. Bei seinem Parteieintritt 1945 bekam der polnische Schriftsteller Wiktor Worozylski drei Tätigkeiten zur Auswahl: die kommunistische Jugendbewegung, die Geheimpolizei oder die Propagandaabteilung, die sich mit den Massenmedien befasste.28

Freie Wahlen, wie sie 1945 und 1946 in einigen Ländern abgehalten wurden, waren ebenfalls kein Zeichen kommunistischer Toleranz. Die KPdSU und ihre Schwesterparteien in Osteuropa ließen sie zu, weil sie glaubten, mit der Kontrolle über Geheimpolizei und Radio und dem starken Einfluss auf die Jugend siegen zu können. Überall glaubten Kommunisten an die Macht ihrer Propaganda, und in den ersten Nachkriegsjahren hatten sie gute Gründe für diesen Glauben. Nach dem Krieg traten Menschen nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Frankreich, Italien und England der Partei bei, sei es aus Verzweiflung, Desorientierung, Pragmatismus, Zynismus oder Ideologie. In Jugoslawien war Titos Partei wegen ihrer Rolle im Widerstand äußerst populär. In der Tschechoslowakei, die 1938/39 nach dem Appeasement des Westens von Hitler besetzt worden war, setzte man zuerst echte Hoffnungen in die Sowjetunion, in der man eine wohlwollendere Vormacht sehen wollte. Selbst in Polen und Deutschland, wo starkes Misstrauen gegen die sowjetischen Absichten herrschte, hatte die psychologische Wirkung des Krieges die Wahrnehmung vieler Menschen geprägt. Kapitalismus und liberale Demokratie waren in den dreißiger Jahren katastrophal gescheitert. Viele glaubten, es sei nun an der Zeit, etwas anderes zu versuchen.

So schwer es für uns manchmal zu verstehen ist, Kommunisten glaubten an ihre eigene Lehre. Weil die kommunistische Ideologie im Rückblick als Irrtum erscheint, bedeutet das nicht, dass sie damals keinen glühenden Glauben einflößte. Die Mehrheit der kommunistischen Führer in Osteuropa – und viele ihrer Anhänger – war wirklich davon überzeugt, früher oder später werde die arbeitende Mehrheit ein Klassenbewusstsein entwickeln, ihre historische Bestimmung erkennen und für ein kommunistisches Regime stimmen.

Sie irrten sich. Trotz Einschüchterung, Propaganda und sogar der echten Anziehungskraft des Kommunismus auf manche durch den Krieg verzweifelte Menschen verloren kommunistische Parteien frühe Wahlen in Deutschland, Österreich und Ungarn deutlich. In Polen testeten die Kommunisten die Lage mit einem Volksentscheid, und als das scheiterte, setzte ihre Führung nicht mehr auf freie Wahlen. In der Tschechoslowakei gewann die KP 1946 bei Wahlen ein Drittel der Stimmen. Als aber klar wurde, dass sie 1948 sehr viel schlechter abschneiden würde, inszenierte die Parteiführung einen Staatsstreich. Die härteren Maßnahmen im Ostblock von 1947 und 1948 waren darum nicht allein eine Reaktion auf den Kalten Krieg. Sie waren auch eine Reaktion auf das Scheitern des Versuches, die Macht mit friedlichen Mitteln zu erobern. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten hatten keine absolute oder auch nur ausreichende Kontrolle gewonnen. Trotz ihres Einflusses auf Rundfunk und Geheimpolizei waren sie nicht allzu populär. Die Zahl ihrer Anhänger nahm rasch ab, selbst in Ländern wie der Tschechoslowakei oder Bulgarien, wo sie anfangs echte Unterstützung besessen hatten.29

In der Folge griffen einheimische Kommunisten, beraten durch ihre sowjetischen Verbündeten, auf härtere Maßnahmen zurück, die zuvor schon erfolgreich in der UdSSR angewandt worden waren. Der zweite Teil des Buches beschreibt diese Techniken: eine neue Verhaftungswelle, die Ausweitung der Arbeitslager, die schärfere Kontrolle von Medien, Intellektuellen und Künsten. Bestimmte Muster wurden fast überall angewandt. Zunächst kam die Eliminierung von »rechten« oder antikommunistischen Parteien, dann die Zerstörung der nichtkommunistischen Linken, dann der Opposition innerhalb der KP selbst. In manchen Ländern führten die Behörden sogar Schauprozesse nach sowjetischem Vorbild durch. Schließlich versuchten die kommunistischen Parteien des Ostblocks, alle noch existierenden unabhängigen Organisationen zu eliminieren und stattdessen Mitglieder für die staatlichen Massenorganisationen zu gewinnen, das Bildungssystem viel strenger zu kontrollieren und die katholischen und protestantischen Kirchen zu unterwandern. Sie schufen neue, allumfassende Formen der erzieherischen Propaganda, veranstalteten Demonstrationen und Vorträge, hängten Banner und Plakate auf, organisierten Unterschriftensammlungen und Sportveranstaltungen.

Aber sie scheiterten erneut. Nach Stalins Tod 1953 brach eine Serie größerer und kleinerer Aufstände in der Region aus. 1953 gab es einen Aufstand in Ost-Berlin, der von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde. Zwei große Aufstände folgten 1956 in Polen und Ungarn. Nach diesen Aufständen mäßigten die osteuropäischen KP ihr Vorgehen wieder. Bis zum nächsten Scheitern. So änderten sie regelmäßig ihre Taktik, bis sie 1989 schließlich die Macht verloren.

Zwischen 1945 und 1953 transformierte die Sowjetunion eine ganze Region auf radikale Weise, vom Baltikum bis zur Adria, vom Herzen des europäischen Kontinents bis an seine südliche und östliche Peripherie. In diesem Buch werde ich mich aber auf Mitteleuropa konzentrieren. Obwohl ich auch die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien erwähne, richte ich das Hauptaugenmerk auf Ungarn, Polen und Ostdeutschland. Ich habe diese drei Länder nicht gewählt, weil sie so ähnlich, sondern weil sie so unterschiedlich waren.

Vor allem hatten sie den Krieg jeweils anders erlebt. Deutschland war der Hauptaggressor und danach der Hauptverlierer gewesen. Polen hatte verzweifelt gegen die deutsche Besatzung gekämpft und war einer der Alliierten, obwohl es an den Früchten des Sieges nicht teilhatte. Ungarn hatte eine Mittelposition eingenommen, mit einem autoritären System experimentiert, mit Deutschland kollaboriert und versucht, die Seiten zu wechseln, als es schon zu spät war. Diese drei Länder waren auch durch sehr unterschiedliche historische Erfahrungen geprägt. Deutschland war jahrzehntelang die dominierende wirtschaftliche und politische Macht in Mitteleuropa. Polen war im 17. Jahrhundert zwar ein mächtiges Reich gewesen, aber im 18. Jahrhundert von drei anderen Reichen geteilt worden und besaß von 1795 bis 1918 keine Souveränität. Ungarns Macht und Einfluss hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt befunden. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor es zwei Drittel seines Territoriums, eine traumatische Erfahrung, die noch bis heute in der ungarischen Politik nachwirkt.

Keines der drei Länder war vor dem Zweiten Weltkrieg im strengen Sinne demokratisch gewesen, aber alle drei hatten Erfahrungen mit politischem Liberalismus, einem verfassungsmäßigen Regierungssystem und Wahlen. In allen hatte es Börsen, ausländische Investitionen, GmbHs und den gesetzlichen Schutz des Eigentums gegeben. Alle hatten seit Jahrhunderten zivile Institutionen besessen – Kirchen, Jugendorganisationen, Gewerkschaften – wie auch eine lange Tradition von Buch- und Verlagswesen. Polens erste Zeitung erschien 1661. In Deutschland hatte es vor Hitlers Machtantritt 1933 eine Fülle konkurrierender Massenmedien gegeben. Alle drei Länder besaßen starke wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen zu Westeuropa, die in den dreißiger Jahren weit stärker waren als die Verbindungen zu Russland. Nichts in ihrer Geschichte oder ihrer Kultur bestimmte sie automatisch zu totalitären Diktaturen. Westdeutschland, das mit Ostdeutschland kulturell identisch war, wurde eine liberale Demokratie, ebenso wie Österreich, das mit der Tschechoslowakei und Ungarn lange das Habsburgerreich gebildet hatte.

Im Rückblick wirkt Geschichte manchmal wie eine zwangsläufige Abfolge von Ereignissen, und in den Jahrzehnten nach der Durchsetzung des Kommunismus suchten manche nach nachträglichen Begründungen für die kommunistischen Regime Osteuropas. Es hieß, die östliche Hälfte des Kontinents sei ärmer als die westliche gewesen (allerdings galt das nicht für Deutschland); es hieß, die Staaten der Region seien weniger entwickelt gewesen (allerdings stimmte das nicht, wenn man Polen und Ungarn mit Griechenland, Spanien und Portugal verglich) oder weniger industrialisiert (allerdings war Böhmen eine der am stärksten industrialisierten Regionen Europas). Doch 1945 sah niemand voraus, dass Ungarn mit seinen alten Verbindungen zu den deutschsprachigen Gebieten im Westen, Polen mit seiner ausgeprägt antibolschewistischen Tradition und Ostdeutschland mit seiner Nazivergangenheit fast ein halbes Jahrhundert unter sowjetischer Kontrolle bleiben würden.

Als sie daher unter die politische Kontrolle der UdSSR kamen, verstanden nur wenige Menschen außerhalb der Region, was dort geschah und warum. Noch heute sehen viele Osteuropa einzig aus dem Blickwinkel des Kalten Kriegs. Mit einigen Ausnahmen haben sich Bücher über Osteuropa nach 1945 meist auf den Ost-West-Konflikt konzentriert, auf die Teilung Deutschlands (»die deutsche Frage«) und auf die Entstehung von NATO und Warschauer Pakt.30 Hannah Arendt selbst tat die Geschichte der Region in den Nachkriegsjahren als uninteressant ab: »Es war, als spiele Moskau, hastig und zusammengedrängt, alle Phasen von der Oktoberrevolution bis zum Auftreten der totalitären Diktatur noch einmal durch. Die Geschichte ist daher, obschon für sich gesehen unsäglich grauenvoll, ziemlich uninteressant und im Übrigen auch ziemlich gleichförmig …«31

Aber Arendt täuschte sich. Die Sowjets folgten in Osteuropa nicht den gewundenen Wegen der Oktoberrevolution. Sie wandten nur solche Maßnahmen an, die eine Erfolgschance besaßen, und unterwanderten nur die Institutionen, deren Zerstörung sie für absolut notwendig hielten. Aus diesem Grund ist ihre Geschichte von so großem Interesse; sie sagt uns mehr über das totalitäre Denken, die sowjetischen Prioritäten und das sowjetische Denken als jede isolierte Studie der Sowjetgeschichte. Wichtiger noch, eine Studie über die Region verrät uns mehr darüber, wie Menschen auf die Durchsetzung des Totalitarismus reagieren, als Studien über die einzelnen Länder.

Übergreifende Geschichten der Region treffen auf logistische Schwierigkeiten. Es ist nicht leicht, Historiker zu finden, die drei oder vier osteuropäische Sprachen lesen, geschweige denn neun oder zehn. Bei der Arbeit an diesem Buch hatte ich die Hilfe zweier hervorragender Rechercheure und Übersetzer, Regine Wosnitza in Berlin und Attila Mong in Budapest. Beim Polnischen und Russischen habe ich auf meine eigenen Kenntnisse zurückgegriffen.

Obwohl über diese Epoche viel geschrieben worden ist, gibt es noch zahlreiche unerzählte Geschichten. Bei der Vorbereitung dieses Buches habe ich in früheren Archiven der Geheimpolizei gearbeitet – dem PN in Warschau, dem ÁBTL in Ungarn, der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin –, wie auch in den Archiven von Ministerien, deutschen Kunstakademien, des ungarischen Filminstituts, des ostdeutschen und polnischen Rundfunks, um nur einige zu nennen. Ich habe auch mehrere neue oder relativ neue Sammlungen sowjetischer Dokumente über diese Zeit benutzt, darunter das zweibändige Vostochnaia Evropa v dokumentakh rossiiskikh arkhivov, 1944–1953 (Osteuropa in Dokumenten aus russischen Archiven), das zweibändige Sovetskii Faktor v Vostochnoi Evrope, 1944–1953 (Der sowjetische Faktor in Osteuropa) und ein dreibändiges Werk über die sowjetische Besatzungspolitik in Ostdeutschland, alle in Moskau von russischen Herausgebern veröffentlicht, dazu eine siebenbändige Serie des Russischen Staatsarchivs zum selben Thema.32 Eine polnisch-ukrainische Historikerkommission hat inzwischen eine beeindruckende Serie von Dokumenten zur gemeinsamen Geschichte zusammengestellt. Außerdem besitzt das Polnische Militärarchiv in Warschau eine große Sammlung von Dokumenten, die Anfang der neunziger Jahre in russischen Archiven kopiert wurden. Die Central European University Press hat über die Aufstände 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn ebenfalls zwei ausgezeichnete Bände veröffentlicht. Zahlreiche Dokumente sind auch auf Polnisch, Ungarisch und Deutsch greifbar.

Neben der Archivrecherche habe ich Gespräche in Polen, Ungarn und Deutschland geführt, um Menschen zu befragen, die diese Epoche miterlebt haben, und ihre Darstellung der Ereignisse und Gefühle jener Zeit in ihren eigenen Worten zu hören. Ich bin mir bewusst, dass dies vielleicht der letzte Zeitpunkt für ein solches Projekt war, und während der Entstehung des Buches sind mehrere Menschen gestorben, die ich zuvor noch interviewen konnte. Ich bin ihnen allen und ihren Familien sehr dankbar, dass ich sie ausführlich befragen durfte.

Bei meiner Forschung hatte ich verschiedene Ziele. In den Dokumenten der Zeit suchte ich nach Belegen für die geplante Zerstörung der Zivilgesellschaft und der kleinen Firmen. Ich untersuchte die Phänomene des Sozialistischen Realismus und der kommunistischen Erziehung. Ich sammelte so viele Informationen wie möglich über die Gründung und frühe Entwicklung der Geheimpolizei in diesen Ländern. Durch Lektüre und Gespräche versuchte ich zu verstehen, wie gewöhnliche Menschen mit den neuen Regimen zu leben lernten; wie sie bereitwillig oder widerwillig kollaborierten; wie und warum sie der Partei und anderen staatlichen Institutionen beitraten; wie sie aktiven oder passiven Widerstand leisteten; wie sie zu schrecklichen Entscheidungen gezwungen waren, vor denen die meisten von uns im Westen niemals stehen werden. Vor allem versuchte ich möglichst gut zu verstehen, wie der echte Totalitarismus funktionierte – nicht in der Theorie, sondern in der Praxis –, und wie er das Leben von Millionen Europäern im 20. Jahrhundert prägte.

3Archiv der Gegenwart, 16/17 (1946–47), S. 669.

4 Interview mit Janina Suska-Janakowska, Łódź, 16. Oktober 2007.

5 Beide Zitate aus B. Nowak, Serving Women and the State. The League of Women in Communist Poland. Diss. , Ohio State University 2004.

6 Das Wort wurde 1923 von Giovanni Amendola, einem Gegner Mussolinis, geprägt, aber 1925 begeistert von Mussolini übernommen und regelmäßig von seinem Haupttheoretiker Giovanni Gentile benutzt. Einen Überblick gibt A. Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War. Oxford 1995, S. 13–18.

7 B. Mussolini, Der Faschismus. Philosophische, politische und gesellschaftliche Grundlagen. München 1933, S. 3, 5.

8 Eine Zusammenfassung der gesamten Debatte bei Gleason, Totalitarianism, und M. Geyer/S. Fitzpatrick, »Introduction«, in: Dies. (Hrsg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. Cambridge 2009, S. 1–38.

9 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 2011, S. 16.

10 K. J. Friedrich/Z. Brzesinski, Totalitäre Diktatur. Stuttgart 1957.

11Archiv der Gegenwart, 16/17 (1946–47), S. 1039.

12 G. Bush (Hrsg.), Campaign Speeches of American Presidential Candidates 1948–1984. New York 1985, S. 42.

13 Siehe Geyer/Fitzpatrick, Beyond Totalitarianism.

14 H. Buchheim, Totalitäre Herrschaft. München 1962, S. 43–44.

15 Siehe M. Halberstam, Totalitarianism and the Modern Conception of Politics. New Haven, CT, 2000.

16 S. Žižek, Totalitarismus. Fünf Interventionen zum Ge- oder Missbrauch eines Begriffs. Hamburg 2012. Žižek behauptet, die Beschreibung des Stalinismus als »totalitär« sei nicht mehr als ein Versuch, das Bestehen der »liberaldemokratischen Hegemonie« zu sichern.

17 Eine Beschreibung der Entwicklung zeitgenössischer Diktaturen gibt W. J. Dobson, The Dictator’s Learning Curve. New York 2012.

18 Dies ist Mark Kramers brillante und präzise Definition: »Der Begriff ›Osteuropa‹ … ist teils geografisch, teils politisch und umfasst acht europäische Länder, die von den vierziger Jahren bis Ende der achtziger Jahre kommunistisch beherrscht waren … Der Begriff umfasst nicht die Sowjetunion selbst, obwohl die westlichen Sowjetrepubliken (Litauen, Lettland, Estland, Weißrussland, Ukraine, Moldawien und Russland westlich des Urals) den östlichsten Teil Europas bildeten. Der Begriff umfasst einige Länder, die eher zu ›Mitteleuropa‹ gehören wie die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn und die Deutsche Demokratische Republik (oder Ostdeutschland). Die anderen kommunistischen Staaten in Europa – Albanien, Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien – fallen auch unter den Begriff ›Osteuropa‹. Länder, die nie unter kommunistischer Herrschaft standen wie Griechenland und Finnland, gelten nicht als Teil ›Osteuropas‹, obwohl sie vom rein geografischen Standpunkt dazugehören.« M. Kramer, »Stalin, Soviet Policy, and the Consolidation of a Communist Bloc in Eastern Europe, 1944–1953«, in: V. Tismaneanu (Hrsg.), Stalinism Revisited. The Establishment of the Communist Regimes in East Central Europe and the Dynamics of the Soviet Bloc. New York 2009, S. 51.

19 So sieht es auch J. Rothschild, Return to Diversity. A Political History of East Central Europe Since World War II. New York 2000, v. a. S. 75–78.

20Prawda, 21. Dezember 1949.

21The Communist Party of the Soviet Union (Bolsheviks) Is the Leading and Guiding Force of Soviet Society. Moskau 1951, S. 46.

22 Siehe H. Seton-Watson, The New Imperialism. A Background Book. London 1961, S. 81.

23 Die klassische Version dieser These bei W. A. Williams, The Tragedy of American Diplomacy. New York 1959. Eine neuere und avanciertere Version ist z. B. W. Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte. Berlin 1994.

24 J. L. Gaddis, Now We Know. Rethinking Cold War History. Oxford 1997; Kramer, »Stalin, Soviet Policy …«.

25 T. V. Volokitina et al. (Hrsg.), Sovietskii Faktor v Vostochnoi Evrope 1944–1953, Bd. I. Moskau 1999, S. 23–48; vgl. N. Naimark, »The Sovietization of Eastern Europe, 1944–1953«, in: M. P. Leffler/O. A. Westad (Hrsg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. I: Origins. Cambridge 2010, S. 175–197.

26 I. Banac(Hrsg.), The Diary of Georgi Dimitrov 1933–1949. New Haven, CT 2003, S. 14.

27 T. Judt/T. Snyder, Nachdenken über das 20. Jahrhundert. München 2013, S. 199.

28 T. Goban-Klas, The Orchestration of the Media. The Politics of Mass Communication in Communist Poland and the Aftermath. Boulder, CO 1994, S. 54.

29 Die kommunistische Partei in Jugoslawien blieb viele Jahre populärer als die anderen, aber der Grund war zumindest teilweise, dass sie sich schließlich vom sowjetischen Einfluss löste.

30 Eine Ausnahme und das Standardwerk für viele Jahre war Z. Brzezinski, Der Sowjetblock. Einheit und Konflikt. Köln 1962.

31 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 653.

32 T. V. Volokitina et al. (Hrsg.), Vostochnaia Evropa v dokumentakh rossiskikh arkhivov 1944–1953. Moskau 1997, und Sovietskii Faktor v Vostochnoi Evrope. 1944–1953.

TEIL I FALSCHE MORGENRÖTE

Das Wirrwarr von Ruinen, verwickelten Drähten, entstellten Leichen, toten Pferden, Trümmern gesprengter Brücken, abgetrennten blutigen Pferdehufen, zerbrochenen Gewehren, verstreuter Munition, Nachttöpfen, verrosteten Waschschüsseln, Stroh und Pferdegedärmen, die in schmutzig-blutigen Tümpeln schwammen, Fotoapparaten, Autowracks und Panzerteilen: all dies bezeugt das schreckliche Leiden einer Stadt …

TAMÁS LOSSONCZY, Budapest 194533

Wie soll man Worte finden, um das Bild einer bis zur Unkenntlichkeit zerstörten großen Hauptstadt wahrheitsgetreu zu schildern? Das Bild einer einstmals mächtigen Nation, die aufgehört hat, zu existieren? Das Bild eines Eroberervolkes, das sich noch vor fünf Jahren … auf so brutale Weise arrogant aufführte und von seiner Mission als Herrenrasse blind überzeugt war – und das man nun in den Ruinen sieht, gebrochen, betäubt, zitternd; hungrige menschliche Wesen ohne Willen, Lebenszweck oder Ziel …

WILLIAM SHIRER, Berlin 194534

Es schien mir, als ginge ich auf Leichen, als könnte ich jeden Augenblick in einen Teich aus Blut treten.

JANINA GODYCKA-CWIRKO, Warschau 194535

33 T. Lossonczy, The Vision is Always Changing. Budapest 2004, S. 82.

34 W. Shirer, Berliner Tagebuch. Das Ende: 1944–1945. Leipzig 1994, S. 160.

35 M. Zaremba, Wielka Trwoga. Polska 1944–1947. Ludova reakcja na kryzys. Warschau 2012.

KAPITEL 1 Stunde Null

Explosionen dröhnten die ganze Nacht, und den ganzen Tag schoss die Artillerie. In ganz Osteuropa begleitete der Lärm von Bombardements, Maschinengewehren, rasselnden Panzerketten, grollenden Motoren und brennenden Häusern den Vormarsch der Roten Armee. Als die Front näher rückte, bebte die Erde, die Wände zitterten, die Kinder schrien. Dann wurde es still.

Das Ende des Krieges brachte an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt eine plötzliche und unheimliche Stille. »Allzu stille Nacht«, schrieb eine anonyme Chronistin über das Kriegsende in Berlin. Am Morgen des 27. April 1945 ging sie vor die Tür und sah niemanden: »Nirgendwo ein Zivilist. Noch sind die Russen auf den Straßen ganz unter sich. Doch unter den Häusern flüstert es und bebt. Wer das jemals darstellen könnte, diese angstvoll verborgene Unterwelt der großen Stadt.«36

Am Morgen des 12. Februar 1945, dem Tag als die Belagerung von Budapest endete, bemerkte ein ungarischer Beamter dieselbe Stille auf den Straßen: »Ich war schon in der Burg, nirgends war ein Mensch zu sehen. Dann ging ich die Werbőczystraße [heute Táncsics-Mihály-Straße] entlang. Überall lagen Leichen und Trümmer. Außerdem verlassene Fuhrwerke und Planwagen. … Ich erreichte den Szentháromszágplatz und hatte vor, in der Szentháromszágstraße beim Vorstand vorbeizuschauen. Dort fand ich auch niemanden. Ich lief hinauf ins Büro und sah ein riesiges Durcheinander, aber keine Menschenseele.«37

Sogar in Warschau, das bei Kriegsende bereits zerstört war – die deutschen Besatzer hatten es nach dem Aufstand vom letzten Herbst dem Erdboden gleichgemacht –, wurde es still, als die Wehrmacht am 16. Januar 1945 schließlich abzog. Władysław Szpilman, einer der wenigen Menschen, die sich in den Ruinen versteckt hielten, konnte die Veränderung spüren. In seinen Memoiren Der Pianist schrieb er: »Eine Stille brach herein, wie sie selbst das seit drei Monaten ausgestorbene Warschau bisher nicht gekannt hatte. Nicht einmal mehr die Schritte der Wachtposten vor dem Haus waren zu vernehmen. Ich verstand gar nichts.« Am nächsten Morgen »wurde die Stille mit einem lautschallenden Ton unterbrochen, den ich am allerwenigsten erwartet hatte«. Die Rote Armee war da, und Lautsprecher verkündeten auf Polnisch die Befreiung der Stadt.38

Dies war der Moment, der manchmal »Stunde Null« genannt wird: das Ende des Krieges, der Rückzug Deutschlands, das Kommen der Sowjetunion, der Augenblick, als die Kämpfe endeten und das Leben von Neuem begann. Die meisten Geschichten der kommunistischen Machtergreifung in Osteuropa beginnen folgerichtig mit diesem Moment.39 Für die Menschen, die diesen Machtwechsel durchlebten, war die Stunde Null wie ein Wendepunkt: Etwas sehr Konkretes endete, und etwas Neues begann. Von nun an würde alles anders sein, sagten sich viele. Und so war es auch.

Dennoch: Dass eine Geschichte der kommunistischen Machtergreifung in Osteuropa mit dem Kriegsende beginnt, ist in gewisser Hinsicht auch irreführend. 1944 oder 1945 sahen sich die Menschen in der Region keiner Tabula rasa gegenüber, und auch sie selbst begannen nicht bei Null. Sie kamen auch nicht aus dem Nirgendwo, ohne frühere Erfahrungen, um neu zu beginnen. Stattdessen krochen sie aus den Kellern ihrer zerstörten Häuser oder kamen aus den Wäldern, wo sie als Partisanen gekämpft hatten, oder aus Arbeitslagern, wenn sie gesund genug waren, und traten lange, verwickelte Reisen zurück in ihre Heimat an. Nicht alle beendeten den Kampf, als die Deutschen sich ergaben.

Die Rote Armee in Westpolen, 142 Kilometer vor Berlin, März 1945.

© PAP/DPA

Als sie aus den Ruinen krochen, sahen sie kein unberührtes Land, sondern ein Werk der Zerstörung. »Der Krieg endete, wie eine Fahrt durch einen Tunnel endet«, schrieb die Pragerin Heda Margolius Kovály. »Schon von Weitem konnte man das Licht in der Ferne erkennen, einen Glanz, der immer größer wurde, ein Leuchten, das, wenn man in der Finsternis hockte, immer stärker blendete, je länger es dauerte, zu ihm zu gelangen. Aber als der Zug endlich in den wunderbaren Sonnenschein kam, sah man nur eine Einöde voller Unkraut und Steine und einen Haufen Unrat.«40

Fotos aus ganz Osteuropa zeigen zu diesem Zeitpunkt Szenen aus einer Apokalypse. Zerstörte Städte, große Trümmerflächen, verbrannte Dörfer und rauchende, verkohlte Ruinen, wo einmal Häuser standen. Verknäulter Stacheldraht, die Überreste von Konzentrationslagern, Arbeitslagern, Kriegsgefangenenlagern; öde Felder, von Panzerspuren durchzogen, ohne ein Zeichen von Landwirtschaft oder Leben. In den zerstörten Städten hing der Gestank von Leichen in der Luft. »Ich finde das Beiwort ›süßlich‹ ungenau und keineswegs ausreichend«, schrieb eine deutsche Überlebende. »Mir kommt dieser Dunst gar nicht wie ein Geruch vor; eher wie etwas Dickliches, wie ein Luftbrei, ein Brodem, der sich vor dem Gesicht und den Nüstern staut; der zu stockig und dicht ist, um eingeatmet zu werden. Es verschlägt einem die Luft. Es stößt einen zurück wie mit Fäusten.«41

Überall gab es provisorische Gräber, und die Menschen gingen vorsichtig durch die Straßen, wie über einen Friedhof.42 Mit der Zeit begannen die Exhumierungen, und die Leichen wurden aus Hinterhöfen und Parks zu Massengräbern gebracht. Begräbnisse und Umbettungen waren häufig. In Warschau wurde eine Beerdigung durch ihre Unterbrechung berühmt. Im Sommer 1945 zog ein Leichenzug langsam durch Warschau, als die schwarz gekleideten Trauernden etwas Außergewöhnliches sahen: »Eine echte rote Warschauer Straßenbahn«, die erste, die seit Kriegsende durch die Stadt fuhr, berichtet der Historiker Marcin Zaremba. »Die Fußgänger auf den Bürgersteigen blieben stehen, andere liefen klatschend und laut jubelnd neben der Straßenbahn her. Sogar der Leichenzug blieb stehen, die Trauernden wurden von der allgemeinen Stimmung angesteckt, wandten sich der Straßenbahn zu und begannen ebenfalls zu klatschen.«43

Der Reichstag, April 1945.

© PAP/DPA

Auch das war typisch. Manchmal schien eine seltsame Euphorie die Überlebenden zu erfassen. Es war die schlichte Erleichterung, am Leben zu sein. Trauer mischte sich mit Freude, und Geschäft, Handel und Wiederaufbau begannen sofort und spontan. Das Warschau des Sommers 1945 war ein summender Bienenkorb voller Aktivität. Der Schriftsteller Stefan Kisielewski schrieb: »In den zerstörten Straßen herrscht ein Gewimmel wie nie zuvor. Handel – brummt. Arbeit – boomt. Humor – überall. Die Menge, das wimmelnde Leben strömt durch die Straßen, niemand würde glauben, dass dies die Opfer eines großen Unglücks seien, Menschen, die sich noch kaum von einer Katastrophe erholt haben, oder dass sie in extremen, menschenunwürdigen Umständen leben …«44 Sándor Márai beschrieb Budapest in einem seiner Romane derselben Zeit:

Und was von einer Stadt und einer Gesellschaft übrig war, begann mit heftiger, hartnäckiger Freude, mit zäher Schlauheit zu leben, als wäre nichts geschehen. … in den Tordurchgängen der Boulevards bekam man schon allerhand Esswaren zu kaufen, auch Toilettenartikel, Kleider, Schuhe, alles, was du willst. Napoleon-Goldmünzen, Morphium, Schweinefett. Die Juden kamen aus ihren sternbeschmierten Häusern getaumelt, und ein, zwei Wochen später konnte man in Budapest, zwischen noch nicht abtransportierten Leichen und Pferdekadavern, in den Trümmern eingestürzter Häuser schon wieder um feine englische Stoffe, französisches Parfum, holländischen Schnaps und Schweizer Uhren feilschen.45

Die Széchenyi-Kettenbrücke, Budapest, Sommer 1945.

© Terror Háza Múzeum

Dieser Enthusiasmus für Arbeit und Erneuerung hielt viele Jahre an. Der Soziologe Arthur Marwick spekulierte einmal, die Erfahrung des nationalen Scheiterns habe den Westdeutschen einen Anreiz für den Wiederaufbau, für das Wiedergewinnen einer Art von Nationalstolz gegeben. Das Ausmaß des Zusammenbruchs habe vielleicht selbst zum Boom der Nachkriegsjahre beigetragen; nach der Erfahrung der wirtschaftlichen und persönlichen Katastrophe stürzten sich die Deutschen bereitwillig in den Wiederaufbau.46 Aber Deutschland in Ost und West stand mit diesem Willen zur Erholung und »Normalität« nicht allein. Immer wieder sprechen Polen und Ungarn in Memoiren und Gesprächen über die Nachkriegszeit davon, wie dringend sie Bildung, gewöhnliche Arbeit, ein Leben ohne ständige Gewalt und Erschütterungen anstrebten. Die kommunistischen Parteien waren darauf vorbereitet, sich diese Friedenssehnsucht zunutze zu machen.

In den Ruinen von Warschau: das Mittagessen einer polnischen Familie …

© PAP

In jedem Fall war der Schaden an Eigentum leichter zu reparieren als der demografische Schaden in Osteuropa, wo das Ausmaß der Gewalt größer gewesen war als alles, was man im Westen kennengelernt hatte. Während des Krieges hatte Osteuropa am schlimmsten unter Hitlers wie Stalins ideologischem Wahnsinn gelitten. Bis 1945 war der größte Teil des Gebiets zwischen Poznań/Posen im Westen und Smolensk im Osten nicht einmal, sondern zwei- oder sogar dreimal besetzt gewesen. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 waren die deutschen Truppen in der Region einmarschiert und hatten Westpolen besetzt. Die sowjetischen Truppen waren von Osten einmarschiert und hatten Ostpolen, die baltischen Staaten und Bessarabien besetzt. 1941 marschierte die Wehrmacht dann in diese Gebiete von Westen ein. 1943 wendete sich das Blatt erneut, und die Rote Armee durchquerte dieselbe Region erneut von Osten.

Anders gesagt, 1945 waren die todbringenden Armeen und Geheimpolizisten von zwei totalitären Staaten, nicht einem, durch die Region hin und her marschiert und hatten jedes Mal tief greifende ethnische und politische Veränderungen gebracht. So wurde zum Beispiel Lwów zweimal von der Roten Armee und einmal von der Wehrmacht besetzt. Nach dem Krieg hieß es Lwiw, lag nicht mehr in Ostpolen, sondern im Westen der Ukrainischen Sowjetrepublik, und die polnische und jüdische Vorkriegsbevölkerung war ermordet oder deportiert und durch Ukrainer vom Land ersetzt worden.

… und eine Frau, die an der Straßenecke Brot verkauft, Sommer 1945.

© PAP

Osteuropa war neben der Ukraine und den baltischen Staaten auch Schauplatz der meisten politischen Morde in Europa gewesen. »Hitler und Stalin kamen in Berlin und Moskau an die Macht, aber ihre Visionen der Umwälzung betrafen alle Länder zwischen ihnen«, schreibt Timothy Snyder in Bloodlands, der Standarddarstellung der Massenmorde dieser Epoche.47 Stalin und Hitler teilten die Verachtung für die bloße Idee nationaler Souveränität für irgendeine osteuropäische Nation und strebten zusammenwirkend die Vernichtung ihrer Eliten an. Die Deutschen betrachteten Slawen als Untermenschen, rassisch kaum wertvoller als die Juden. In den Gebieten zwischen Sachsenhausen und Babi Jar standen willkürliche Erschießungen auf der Straße, Massenhinrichtungen oder die Einäscherung ganzer Dörfer als Vergeltung für einen toten Deutschen auf der Tagesordnung. Die Sowjetunion sah in ihren westlichen Nachbarn kapitalistische und sowjetfeindliche Bollwerke, deren bloße Existenz die UdSSR herausforderte. 1939 und erneut 1944/45 inhaftierten Rote Armee und NKWD in den neu eroberten Gebieten nicht nur Nazis und Kollaborateure, sondern jeden, der sich theoretisch der sowjetischen Verwaltung entgegenstellen konnte: Sozialdemokraten, Antifaschisten außerhalb der Partei, Geschäftsleute, Bankiers und Kaufleute – häufig dieselben Menschen, die auch von den Nazis verfolgt wurden. Obwohl es in Westeuropa zivile Opfer gab und auch Diebstähle, Fehlverhalten und Misshandlungen durch britische und amerikanische Truppen, versuchten diese in erster Linie deutsche Soldaten zu töten, nicht die potenziellen Anführer der befreiten Nationen. Und meist behandelten sie die Führer des Widerstands mit Respekt, nicht mit Argwohn.

Im Osten hatten die Nationalsozialisten den Holocaust am energischsten betrieben und die meisten Gettos, Konzentrationslager und Todeszonen errichtet. Die Juden machten bei Hitlers Machtantritt 1933 weniger als 1 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, von denen viele vor dem Krieg fliehen konnten. Hitlers Vision eines »judenfreien« Europa ließ sich erst verwirklichen, als die Wehrmacht Polen, die Tschechoslowakei, Weißrussland, die Ukraine, die baltischen Staaten und schließlich auch Ungarn und den Balkan besetzte, wo die meisten europäischen Juden lebten. Von den 5,4 Millionen Juden, die im Holocaust starben, lebte die große Mehrheit in Osteuropa. Die meisten übrigen wurden zur Ermordung dort hingebracht. Die Verachtung der Nazis für alle Osteuropäer war eng mit ihrer Entscheidung verknüpft, die Juden aus ganz Europa zur Ermordung nach Osten zu bringen. Dort, in einem Land von Untermenschen, war es möglich, unmenschliche Dinge zu tun.48

Vor allem war Osteuropa der Ort, wo Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus zusammenstießen. Obwohl sie den Krieg als Verbündete begannen, wollte Hitler stets einen Vernichtungskrieg gegen die UdSSR führen, und nach der deutschen Invasion versprach Stalin dasselbe. Die Schlachten im Osten zwischen Roter Armee und Wehrmacht waren daher blutiger und erbitterter als die weiter westlich. Deutsche Soldaten fürchteten die bolschewistischen »Horden«, von denen sie so viele schreckliche Geschichten gehört hatten, und am Ende des Krieges kämpften sie mit besonderer Verzweiflung. Sie hegten tiefe Verachtung für die lokale Bevölkerung und hatten keinerlei Respekt für die örtliche Kultur und Infrastruktur. Ein deutscher General widersetzte sich Hitlers Befehlen und ließ Paris unzerstört, aber andere deutsche Generäle brannten ohne Skrupel Warschau nieder und zerstörten den größten Teil Budapests. Westliche Luftwaffen nahmen ebenfalls nicht viel Rücksicht auf die alte Architektur dieser Region: Alliierte Bomber trugen zur Opferzahl und Zerstörung bei und bombardierten nicht nur Berlin und Dresden, sondern auch Danzig/Gdánsk und Königsberg/Kaliningrad – unter anderem.

Als die Ostfront nach Deutschland vorrückte, wurden die Kämpfe noch heftiger. Die Rote Armee konzentrierte sich fast obsessiv auf den Vormarsch auf Berlin. Schon früh im Krieg verabschiedeten sich sowjetische Soldaten voneinander mit dem Gruß »Wir sehen uns in Berlin«. Stalin wollte die Stadt unbedingt vor den anderen Alliierten erreichen. Seine Generäle verstanden das und ihre amerikanischen Kollegen ebenso. General Eisenhower, der genau wusste, dass die Deutschen in Berlin bis zum Tod kämpfen würden, wollte das Leben von Amerikanern retten und entschied, Stalin die Stadt erobern zu lassen. Churchill wandte sich dagegen: »Wenn sie auch noch Berlin nehmen, müssen dann die Russen nicht den Eindruck gewinnen, zu unserem gemeinsamen Sieg in überwältigender Weise beigetragen zu haben, und wird sich dieser Eindruck nicht so ungebührlich in ihrem Denken festsetzen, dass sie dadurch in eine Stimmung geraten, die für die Zukunft die größten und ernstesten Schwierigkeiten erwarten lässt?«49 Aber Eisenhowers Vorsicht setzte sich durch, und Amerikaner und Briten rückten nur langsam nach Osten vor.50 Unterdessen rückte die Rote Armee direkt auf die deutsche Hauptstadt vor und hinterließ einen Pfad der Verwüstung.

Betrachtet man die Zahlen, so tritt das Ergebnis mit grausamer Deutlichkeit hervor. In England forderte der Krieg 360000 Menschenleben, in Frankreich 590000. Das sind schreckliche Verluste, aber unter 1,5 Prozent der Bevölkerung dieser Länder. Dagegen schätzt das polnische Institut für nationales Gedenken (IPN), dass etwa 5,5 Millionen Menschen während des Krieges in Polen starben, darunter etwa 3 Millionen Juden. Insgesamt verlor rund ein Fünftel der polnischen Bevölkerung ihr Leben. Selbst in Ländern, wo weniger Blut vergossen wurde, waren die Opferzahlen höher als im Westen. Jugoslawien verlor 1,5 Millionen Menschen oder 10 Prozent der Bevölkerung. Auch 6,2 Prozent der ungarischen und 3,9 Prozent der tschechoslowakischen Vorkriegsbevölkerung starben.51 In Deutschland gab es zwischen 6 und 9 Millionen Tote – je nachdem, wie man angesichts der Grenzveränderungen »deutsch« definiert –, das sind bis zu 10 Prozent der Bevölkerung. In Russland waren es gar 20 Millionen Tote, Zivilisten und Soldaten, ebenfalls etwa 10 Prozent der Bevölkerung.52 Es wäre 1945 schwierig gewesen, in Osteuropa eine Familie zu finden, die niemanden verloren hatte.

Die Überlebenden mussten fortan häufig an anderen Orten lebten. 1945 sah die Demografie, Bevölkerungsverteilung und ethnische Zusammensetzung in vielen Ländern der Region ganz anders aus als 1938. In einem Ausmaß, das im Westen noch immer nicht ganz verstanden worden ist, hatte die deutsche Besetzung Osteuropas durch Deportations- und Umsiedlungswellen große Bevölkerungsverschiebungen bewirkt. Deutsche »Siedler« waren ins besetzte Polen und die Tschechoslowakei geschickt worden, um die ethnische Zusammensetzung bestimmter Regionen zu verändern, während die Einheimischen vertrieben oder ermordet wurden. Schon im Dezember 1939 wurden Polen und Juden aus ihren Häusern und Wohnungen in den besseren Vierteln von Łódź gejagt, um Platz für deutsche Beamte zu schaffen. In den Folgejahren wurden etwa 200000 Bewohner der Stadt als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt und die Juden ins Getto von Łódź gesperrt, wo die meisten starben.53 Die deutsche Besatzungsverwaltung setzte Deutsche an ihre Stelle, darunter Volksdeutsche aus dem Baltikum und Rumänien, von denen manche glaubten, sie erhielten verlassenen oder vernachlässigten Besitz.54

Viele dieser Veränderungen wurden in der Nachkriegszeit rückgängig gemacht oder gerächt. Die Jahre von 1945 bis 1947 waren die Jahre der Flüchtlinge: Deutsche zogen nach Westen, Polen und Tschechen zogen aus deutschen Arbeits- und Konzentrationslagern nach Osten, Deportierte kamen aus der Sowjetunion zurück, Soldaten aller Art kehrten von anderen Kriegsschauplätzen heim, Flüchtlinge kamen aus dem britischen, französischen oder marokkanischen Exil. Manche dieser Flüchtlinge entdeckten bei der Heimkehr, dass ihre Heimat nicht mehr die war, die sie kannten, und zogen in neue Gebiete. Jan Gross schätzt, dass zwischen 1939 und 1943 rund 30 Millionen Europäer vertrieben, umgesiedelt oder deportiert wurden. Zwischen 1943 und 1948 waren es weitere 20 Millionen.55 Krystina Kersten hat ermittelt, dass zwischen 1939 und 1950 einer von vier Polen seinen Wohnort wechselte.56

Die überwältigende Mehrheit dieser Menschen besaß bei der Rückkehr gar nichts. Sie mussten sofort Hilfe bei anderen suchen – Kirchen, Wohlfahrtsorganisationen oder dem Staat –, egal in welcher Form. Ganze Familien, die sich vor dem Krieg selbst ernähren konnten, fanden sich in der Schlange vor Ämtern wieder, um ein Haus oder eine Wohnung zu bekommen. Männer, die einen Posten und ein Einkommen gehabt hatten, bettelten um Lebensmittelkarten und hofften auf einen Behördenposten. Die Mentalität eines Flüchtlings, der aus seiner Heimat vertrieben worden ist, ist nicht die eines Auswanderers, der fortgeht, um anderswo sein Glück zu suchen; seine Lebensumstände führen zu Abhängigkeit und einem Gefühl der Hilflosigkeit, die er zuvor vielleicht nie kannte.

Sowjetische Soldaten verteilen Lebensmittel an deutsche Zivilisten, Mai 1945.

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Schlimmer noch, mit den gewaltigen Zerstörungen in Osteuropa ging eine wirtschaftliche Zerstörung von ebenso unvorstellbarem Ausmaß einher. Nicht jedes Land Osteuropas war vor dem Krieg wohlhabend, aber die gesamte Region war 1939 nicht so weit hinter dem westlichen Teil des Kontinents zurück wie 1945. Obwohl einige Gruppen von der Nachfrage nach Kanonen und Panzern profitiert hatten – einige Wirtschaftshistoriker haben das Anwachsen der Industriearbeiterschicht in diesen Jahren erwähnt, besonders in Böhmen und Mähren –, war die zweite Hälfte des Krieges für fast jeden eine Katastrophe.57 1945 und 1946 war Ungarns Bruttoinlandsprodukt nur halb so groß wie 1939. Laut einer Berechnung hatten die letzten Kriegsmonate fast 40 Prozent seiner wirtschaftlichen Infrastruktur zerstört.58 In der Hauptstadt Budapest wurden drei Viertel der Gebäude beschädigt, davon 4 Prozent total zerstört und 22 Prozent unbewohnbar. Die Bevölkerung schrumpfte um ein Drittel.59 Die Deutschen nahmen viele Eisenbahnwagen mit, als sie das Land verließen; in Form von Reparationen nahm die Rote Armee fast den ganzen Rest.60