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Wie Xi Jinping, Putin, Chamenei & Co. sich Geld, Macht und Straffreiheit verschaffen und zugleich unsere Demokratie zerstören: Eine hochaktuelle Analyse der neuen autoritären Netzwerke
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS 2024 FÜR DAS GESAMTWERK VON ANNE APPLEBAUM
Autokratische Herrschaft besteht im 21. Jahrhundert nicht länger nur aus einem Tyrannen an der Spitze, der mit Gewalt sein Volk unterdrückt: Heute werden Autokratien durch ausgeklügelte Netzwerke geführt, es hat sich eine neue internationale autokratische Allianz gebildet, wie Bestsellerautorin Anne Applebaum in ihrem neuen Buch zeigt. Von China bis Weißrussland, von Syrien bis Russland unterstützen sich Autokraten von heute gegenseitig mit Ressourcen und Equipment made in Iran, Myanmar oder Venezuela: von Propaganda-Trollfarmen und Bots über Investitionsmöglichkeiten für ihre korrupten Staatsunternehmen bis hin zum Austausch modernster Überwachungstechnologien. Applebaum offenbart, wie die Diktatoren der Welt hinter den Kulissen zusammenarbeiten und sich mit aggressiven Taktiken gegenseitig Sicherheit und Straffreiheit verschaffen. Und sie macht deutlich, wie diese autokratische Allianz unsere Demokratie untergräbt.
»Das ist die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte: Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen.« (Aus der Dankesrede von Anne Applebaum zum Friedenspreis 2024)
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Seitenzahl: 248
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024 für Anne Applebaum
In unserer Vorstellung sind Autokraten einsame Herrscher. Doch Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum zeigt: Die Macht von Diktatoren beruht auf vielfältigen Verbindungen untereinander und einem ausgeklügelten globalen Netzwerk, einer »Achse der Autokraten«. Von Belarus bis Syrien, von Myanmar bis Venezuela unterstützen sich autokratische Machthaber gegenseitig mit Waren und Finanzströmen, Söldnern, Waffen und Equipment made in China, Iran oder Russland. In ihrem augenöffnenden Buch offenbart Applebaum, wie diese Achse funktioniert und wie die Autokraten von heute, geeint in ihrer Gier nach Machterhalt und dem Kampf gegen die Demokratie, eine neue Weltordnung erschaffen.
»In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.«
Aus der Jury-Begründung des Friedenspreises
Anne Elizabeth Applebaum, geboren 1964 in Washington, D.C., zählt zu den profiliertesten Kritikerinnen autoritärer Herrschaftssysteme und russischer Expansionspolitik. Die Historikerin und Journalistin begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des »Economist« in Warschau, von wo sie über den Zusammenbruch des Kommunismus berichtete. Sie schrieb für viele renommierte Zeitungen und arbeitet seit 2019 als Kolumnistin für die Zeitschrift »The Atlantic« und als Senior Fellow an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies. Applebaum ist ausgewiesene Expertin der osteuropäischen Geschichte und der autoritären Regime Osteuropas. Ihre Bücher »Der Gulag« (2003), »Der Eiserne Vorhang« (2012), »Roter Hunger« (2019) und »Die Verlockung des Autoritären« (2021) wurden internationale Bestseller und mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzer-Preis 2004 und mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis 2024. Für ihr Gesamtwerk erhält Anne Applebaum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024.
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ANNE APPLEBAUM
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Autocracy, Inc. bei Doubleday, New York.
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Copyright © 2024 by Anne Applebaum
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Bernd Klöckener, Berlin
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30838-4V001
www.siedler-verlag.de
Für die Optimisten
Einleitung Die Achse der Autokraten
Kapitel 1 In Gier vereint
Kapitel 2 Das Krebsgeschwür der Kleptokratie
Kapitel 3 Der Kampf um die Deutungshoheit
Kapitel 4 Ein neues Betriebssystem
Kapitel 5 Die Verunglimpfung der Demokraten
Epilog Demokraten, vereinigt euch!
Dank
Anmerkungen
Register
Jeder von uns hat ein Bild von einem autokratischen Staat im Kopf. An der Spitze steht der Schurke, ihm zur Seite Armee und Polizei, die den Bürgern mit Gewalt drohen. Es gibt böse Mittäter und womöglich einige mutige Dissidenten.
Das ist jedoch eine Karikatur, die mit der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts wenig zu tun hat. Autokratien werden nicht von einem einzigen Bösewicht kontrolliert, sondern von raffinierten Netzwerken mit kleptokratischen Strukturen, einem komplexen Sicherheitsapparat aus Armee, Paramilitärs und Polizei sowie technischen Experten, die für Überwachung, Propaganda und Desinformation zuständig sind. Die Mitglieder dieser Netzwerke stehen nicht nur innerhalb des Landes untereinander in Verbindung, sondern auch mit den Netzwerken anderer Autokratien und manchmal sogar mit denen demokratischer Staaten. Korrupte, vom Staat kontrollierte Unternehmen in einer Diktatur machen Geschäfte mit korrupten, vom Staat kontrollierten Unternehmen in anderen Diktaturen. Die Polizeikräfte eines Landes unterstützen die Polizeikräfte anderer Länder mit Ausrüstung und Ausbildung. Die Propagandisten teilen ihre Ressourcen untereinander – Trollfarmen und Medien, die die Lügen eines Diktators verbreiten, können auch die eines anderen verbreiten – und haben gemeinsame Themen: den Niedergang der Demokratie, die Stabilität der Autokratie und die bösen Vereinigten Staaten.
Dazu müssen sich die Schurken nicht wie in einem James-Bond-Film in einer geheimen Zentrale treffen. Unser Konflikt mit ihnen ist auch kein Systemwettstreit mit klaren Fronten und kein »Kalter Krieg 2.0«. Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten. Ihre Regimes haben ganz eigene historische Wurzeln, Ziele und Stile. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen dem Kommunismus Chinas, dem Nationalismus Russlands, dem bolivarischen Sozialismus Venezuelas, der Dschutsche-Ideologie Nordkoreas und der radikalen Schia der Islamischen Republik Iran. Sie alle unterscheiden sich von Autokratien wie den arabischen Monarchien oder Vietnam, die weniger daran interessiert sind, die demokratische Welt zu untergraben; und sie unterscheiden sich von softeren Autokratien und hybriden, bisweilen auch »nichtfreiheitlich« genannten Demokratien wie der Türkei, Singapur, Indien, den Philippinen oder Ungarn, die je nach Anlass mit der demokratischen Welt auf einer Linie liegen oder nicht. Im Gegensatz zu früheren militärischen und politischen Bündnissen tritt diese Gruppe nicht als Block auf, sondern eher wie eine Kooperation von Unternehmen. Den Zusammenhalt liefert keine gemeinsame Ideologie, sondern nur die skrupellose Entschlossenheit, mit der sie sich selbst bereichern und ihre Macht erhalten. Deshalb spreche ich von der Achse der Autokraten.
Den autokratischen Führern[1] von Russland, China, dem Iran, Nordkorea, Venezuela, Nicaragua, Angola, Myanmar, Kuba, Syrien, Simbabwe, Mali, Belarus, Sudan, Aserbaidschan und gut drei Dutzend anderen Ländern[2] gemeinsam ist das Ziel, die Bürger ihres Landes von allen Entscheidungen auszuschließen, ihnen die politische Stimme zu verwehren, Transparenz und Rechenschaft in jeder Form zu verweigern und ihre Kritiker im In- und Ausland zu verfolgen. Eine weitere Gemeinsamkeit ist ihre brutale und pragmatische Einstellung zu Reichtum. Im Gegensatz zu faschistischen und kommunistischen Führern der Vergangenheit, die Parteiapparate in ihrem Rücken wussten und ihren Reichtum nicht zur Schau stellten, leben die Führer der Achse der Autokraten oft in luxuriösen Villen und betätigen sich als Unternehmer. Ihre Bande untereinander und mit ihren Freunden in der demokratischen Welt sind keine Ideale, sondern Geschäftsbeziehungen, die der Aufweichung internationaler Sanktionen, dem Austausch von Überwachungstechnologie und der gegenseitigen Bereicherung dienen.
Außerdem unterstützt die Achse der Autokraten ihre Mitglieder beim Machterhalt. Die verhasste Regierung von Alexander Lukaschenko in Belarus[3] wurde wiederholt von internationalen Organisationen wie der Europäischen Union oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kritisiert und wird von ihren europäischen Nachbarn gemieden. Viele Güter aus Belarus können nicht in die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union exportiert werden, und die nationale Fluggesellschaft Belavia erhält in Europa keine Landeerlaubnis. Doch in der Praxis ist Belarus keineswegs isoliert. Mehr als zwei Dutzend chinesische Unternehmen haben im Land investiert und sogar einen chinesisch-belarussischen Industriepark nach einem Vorbild in Suzhou errichtet.[4] Der Iran und Belarus haben 2023 den diplomatischen Austausch auf höchster Ebene aufgenommen.[5] Kubanische Vertreter haben vor den Vereinten Nationen ihre Solidarität mit Lukaschenko bekundet. Vor allem Russland bietet Märkte, grenzüberschreitende Investitionen, politische Rückendeckung und wahrscheinlich auch polizeiliche und militärische Unterstützung. Als sich belarussische Journalisten 2020 weigerten, ein gefälschtes Wahlergebnis zu verbreiten, entsandte Russland Journalisten, um sie zu ersetzen.[6] Im Gegenzug gestattete die belarussische Regierung Russland die Stationierung von Truppen und Waffen sowie die Verwendung dieser Stützpunkte im Krieg gegen die Ukraine.
Auch Venezuela ist theoretisch international isoliert. In Reaktion auf die Brutalität, den Drogenschmuggel und die Verstrickung des Regimes in die internationale Kriminalität haben die Vereinigten Staaten, Kanada und die Europäische Union seit 2008 ihre Sanktionen verschärft. Doch die Regierung von Nicolás Maduro erhält Kredite von Russland,[7] das auch in die venezolanische Ölindustrie investiert, genau wie der Iran. Ein belarussisches Unternehmen lässt Traktoren in Venezuela montieren,[8] und die Türkei ermöglicht dem Land seinen unzulässigen Goldhandel.[9] Kuba hat seit Langem Sicherheitsberater entsandt und unterstützt die Regierung mit Militärtechnologie. Bei der Niederschlagung der Demonstrationen der Jahre 2014 und 2017 in Caracas, in deren Verlauf mehr als siebzig Menschen getötet wurden, kamen Wasserwerfer, Tränengas und Polizeischilde aus chinesischer Produktion zum Einsatz.[10] Auch bei der Überwachung der Bevölkerung greift China dem Regime unter die Arme.[11] Dank des internationalen Drogenhandels sind Regierungsmitglieder und ihre Angehörigen und Gefolgsleute bestens mit Versace und Chanel versorgt.
Die Diktatoren von Belarus und Venezuela sind in ihrer Heimat verhasst.[12] Freie Wahlen würden sie verlieren, wenn es solche Wahlen denn gäbe.[13] In beiden Ländern gibt es eine starke Opposition mit charismatischen Anführern und einer leidenschaftlichen Basis, die ihre Mitbürger inspirieren, Risiken auf sich zu nehmen, für eine Wende zu kämpfen und auf die Straße zu gehen. Im August 2020 demonstrierten in Belarus mehr als eine Million Menschen (bei einer Bevölkerung von zehn Millionen) gegen den Wahlbetrug. Auch in Venezuela gingen Hunderttausende auf die Straßen.
Wenn ihre Gegner nur das korrupte und bankrotte Regime Venezuelas oder das feige und brutale Regime in Belarus gewesen wären, dann wären diese Proteste vielleicht erfolgreich verlaufen. Doch ihre Gegner waren nicht nur die Autokraten im eigenen Land, sondern die Autokraten in aller Welt, die in zahlreichen Ländern Staatsbetriebe unterhalten, über die sie Investitionen in Milliardenhöhe tätigen können. Ihre Gegner waren Regimes, die Überwachungstechnologie in China und Bots in Russland kaufen. Vor allem aber kämpften sie gegen Führer, denen die Befindlichkeiten und Ansichten ihrer Landsleute und der internationalen Gemeinschaft gleichgültig sein können. Die Achse der Autokraten versorgt ihre Mitglieder nämlich nicht nur mit Geld und Waffen, sondern sie bietet ihnen etwas weniger Greifbares: Straflosigkeit.
Das unter den hartgesottenen Autokraten verbreitete Bewusstsein, dass ihnen die Welt nichts anhaben kann – das Bewusstsein, dass andere Länder keine Rolle spielen und sie sich nie der öffentlichen Meinung stellen müssen –, ist relativ neu. Selbst der Führung der Sowjetunion, der mächtigsten Autokratie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war sehr an der internationalen Wahrnehmung gelegen. Energisch behauptete sie die Überlegenheit ihres politischen Systems und widersprach jeglicher Kritik daran. Zumindest nach außen hin bekannte sie sich zu den nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichneten Abkommen und Übereinkünften zu Menschenrechten, Krieg und Rechtsstaatlichkeit. Als der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow 1960 in seiner berühmten Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit dem Schuh auf das Pult einschlug, tat er das deshalb, weil der philippinische Gesandte erklärt hatte, den von der Sowjetunion kontrollierten Ländern Europas würden die »bürgerlichen und politischen Rechte« vorenthalten und sie seien »von der Sowjetunion geschluckt« worden. Chruschtschow fühlte sich genötigt, dem zu widersprechen.[14] Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts verhüllten die meisten Diktaturen ihre wahren Absichten mit ausgeklügelten und sorgfältig manipulierten demokratischen Darbietungen.[15]
Inzwischen ist es den Mitgliedern der Achse der Autokraten gleichgültig, ob ihre Länder kritisiert werden. Einige, wie die Führer von Myanmar oder Simbabwe, stehen für nichts anderes als Selbstbereicherung und Machterhalt – man kann sie nicht beschämen. Die religiösen Führer des Iran verwahren sich selbstbewusst gegen jegliche Äußerung von Ungläubigen aus dem Westen. Die Regimes von Kuba und Venezuela behandeln Kritik aus dem Ausland als Beleg für eine gewaltige imperialistische Verschwörung. Die Führungen Chinas und Russlands fechten seit einem Jahrzehnt die Menschenrechtsforderungen internationaler Einrichtungen an und haben auf diese Weise viele Menschen in aller Welt überzeugt, dass es sich bei den Abkommen zu Krieg und Völkermord oder Vorstellungen wie »bürgerliche Freiheiten« und »Rechtsstaatlichkeit« um westliche Konstrukte handle, die in ihren Ländern keine Anwendung fänden.
In ihrer Gleichgültigkeit gegen Kritik aus dem Ausland greifen moderne Autokraten ohne jede Scham zu brutaler Gewalt. Die Militärregierung von Myanmar macht keinen Hehl daraus, dass sie in den Straßen von Rangun Hunderte Demonstranten getötet hat, darunter zahlreiche Jugendliche. Das Regime von Simbabwe schikaniert bei seinen Scheinwahlen die Oppositionspolitiker in aller Öffentlichkeit. Die chinesische Regierung brüstet sich mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong und ihrer »Antiextremismus«-Kampagne in Xinjiang, die Massenfestnahmen und die Internierung Hunderttausender muslimischer Uiguren in Umerziehungslagern bedeutet.[16] Die iranischen Mullahs machen sich nicht die Mühe, ihre brutale Unterdrückung von Frauen zu verheimlichen.
Der internationale Demokratieaktivist Srđa Popović bezeichnet dieses Herrschaftsprinzip nach dem venezolanischen Führer als »Maduro-Modell«: Autokraten fürchten sich nicht vor Staatsversagen – um sich an der Macht zu halten, nehmen sie auch wirtschaftlichen Kollaps, Gewalt, Massenarmut und internationale Isolation in Kauf.[17] Ähnlich wie Maduro scheint es Baschar al-Assad in Syrien oder Lukaschenko in Belarus gleichgültig zu sein, ob sie über ruinierte Volkswirtschaften und Gesellschaften herrschen. Bürgern der demokratischen Welt fällt es schwer, Regimes dieser Art zu begreifen, denn deren Hauptziel besteht nicht darin, das Wohl ihrer Bürger zu mehren. Ihr Hauptziel ist der Machterhalt, und dazu sind sie bereit, Nachbarländer zu destabilisieren, das Leben ihrer Bürger zu zerstören oder – wie ihre Vorgänger – Hunderttausende in den Tod zu schicken.
*
Die Autokraten des 20. Jahrhunderts waren sich genauso wenig einig wie die von heute. Kommunisten und Faschisten führten Kriege gegeneinander, bisweilen kämpften Kommunisten auch gegen Kommunisten.[18] Aber sie waren sich einig in ihren Ansichten über das, was der sowjetische Staatsgründer Lenin abfällig als »bürgerliche Demokratie« bezeichnet hat: Sie müsse notwendig »eng, beschränkt, falsch und verlogen« bleiben, eine »Demokratie für die Reichen«; die »reine Demokratie« sei nur eine »verlogene Phase eines Liberalen, der die Arbeiter zum Narren hält«.[19] Als Führer einer anfänglich kleinen Splitterpartei hielt Lenin verständlicherweise nicht sonderlich viel von Wahlen: »Nur Schufte oder Einfaltspinsel können glauben, das Proletariat müsse zuerst durch Abstimmungen, die unter dem Druck der Bourgeoisie […] vor sich gehen, die Mehrheit erobern und könne erst dann die Macht ergreifen.«[20]
Die Vordenker des Faschismus verstanden sich zwar als erbitterte Gegner Lenins, doch gegenüber Demokraten äußerten sie sich genauso verächtlich. Der italienische Duce Benito Mussolini, dessen Bewegung die Begriffe »Faschismus« und »Totalitarismus« prägte, verspottete freiheitliche Gesellschaften als schwach und entartet. »Der liberale Staat wird untergehen«, sagte er 1932 voraus. »Alle politischen Experimente unserer Tage sind antiliberal.« Er stellte die Definition der Demokratie auf den Kopf, als er die Diktaturen in Italien und Deutschland als »die größten und gesündesten Demokratien der heutigen Welt« bezeichnete.[21] Hitler hieb mit seiner Kritik an der freiheitlichen Demokratie in dieselbe Kerbe. In seinem Buch Mein Kampf bezeichnete er den Parlamentarismus als »Spottgeburt aus Dreck und Feuer«. Weiter schrieb er: »Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht der Erhaltung der Rasse.«[22]
Schon 1929 warnte Mao Tse-tung, der spätere Große Vorsitzende der Volksrepublik China, vor »ultrademokratischen Ansichten«, die »mit den Kampfaufgaben des Proletariats von Grund auf unvereinbar« seien – eine Aussage, die er später in seinem Kleinen Roten Buch wiederholte.[23]
Auch eines der Gründungsdokumente der heutigen Diktatur von Myanmar, ein Artikel über den burmesischen Weg zum Sozialismus aus dem Jahr 1962, ergeht sich in einer Tirade gegen gewählte Volksvertretungen: »Die parlamentarische Demokratie Burmas hat es nicht nur versäumt, unserer sozialistischen Entwicklung zu dienen, sondern aufgrund ihrer Widersprüche, Fehler, Schwächen und Schlupflöcher, ihres Missbrauchs und des Fehlens einer reifen Öffentlichkeit hat sie die sozialistischen Ziele aus dem Blick verloren.«[24]
Sayyid Qutb, einer der geistigen Väter des modernen radikalen Islam, griff sowohl den kommunistischen Glauben an eine Weltrevolution als auch die faschistische Vorstellung von der befreienden Macht der Gewalt auf. Wie Hitler und Stalin war er der Meinung, freiheitliche Ansichten und moderner Handel seien eine Gefahr für den Aufbau einer idealen (und für Qutb war das eine islamische) Zivilisation. Der Kampf gegen die Demokratie und die Rechte des Einzelnen bildet die Grundlage seiner Ideologie, aus der er einen Kult der Zerstörung und des Todes formte. Den iranischen Bürgerrechtsaktivistinnen Ladan und Roya Boroumand zufolge träumte Qutb davon, dass eine »kleine, ideologisch bewusste Vorhut« eine blutige Revolution anführen werde, um seine Vorstellung einer idealen Gesellschaft zu verwirklichen: »eine klassenlose Gesellschaft, in der das ›egoistische Individuum‹ der freiheitlichen Demokratien keinen Platz hätte und ›die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen‹ aufgehoben wäre. Gott allein würde darin herrschen, durch die Einführung des Islamischen Rechts (Scharia).« Diese Herrschaftsform bezeichnen sie als »Leninismus in islamistischem Gewand«.[25]
Moderne Autokraten unterscheiden sich in vieler Hinsicht von ihren Vorbildern des 20. Jahrhunderts. Doch auch sie haben – bei allen ideologischen Differenzen – einen gemeinsamen Feind. Dieser Feind sind wir.
Genauer gesagt ist der Feind die demokratische Welt, »der Westen«, die NATO, die Europäische Union, die demokratische Opposition im eigenen Land und das freiheitliche Gedankengut, für das sie alle stehen. Dazu gehört die Vorstellung, dass das Gesetz für alle gleich ist und nicht willkürlichen politischen Entscheidungen unterworfen, dass Gerichte und Richter unabhängig sein sollten, dass politische Opposition zur jeweils herrschenden Regierung legitim ist, dass der Staat das Recht auf Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert und dass es unabhängige Journalisten, Schriftsteller und Autoren geben kann, die dem Staat gegenüber loyal sind, auch und gerade wenn sie die Regierung kritisieren.
Autokraten hassen diese Grundsätze, da sie ihre Macht gefährden: Unabhängige Gerichte können die Herrschenden zur Rechenschaft ziehen; eine freie Presse kann Korruption und Selbstbereicherung aufdecken; Bürger mit politischer Mitsprache können die Regierung abwählen.
Der Hass auf die Demokratie ist nicht mehr Teil eines geopolitischen Konkurrenzkampfs, wie so viele »Realisten« und Experten für internationale Beziehungen noch immer glauben. Er hat seine Wurzeln vielmehr in der Natur des demokratischen Systems, in Vorstellungen wie »Rechenschaft«, »Transparenz« und »Volksherrschaft«. Die Autokraten hören, wie diese Sprache in der demokratischen Welt gesprochen wird, sie hören ihre eigenen Dissidenten dieselbe Sprache sprechen und versuchen, beide zu vernichten. Das sagen sie ganz unverhohlen. Im Jahr 2013, als Xi Jinping seinen Aufstieg begann, benannte ein chinesisches Rundschreiben mit dem geheimnisvollen Titel »Dokument Nummer 9« oder »Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie« sieben Gefahren für die Kommunistische Partei Chinas. Ganz oben stand »westliche konstitutionelle Demokratie«, gefolgt von »allgemeinen Menschenrechten«, Unabhängigkeit der Medien, Bürgerbeteiligung sowie »nihilistischer« Kritik an der Kommunistischen Partei. Das inzwischen berüchtigte Dokument kam zu dem Schluss, dass »China feindlich gesinnte westliche Kräfte« gemeinsam mit einheimischen Dissidenten »fortwährend den Bereich der Ideologie infiltrieren«. Funktionäre wurden angewiesen, diesem Gedankengut entgegenzuwirken und es im Internet sowie im öffentlichen Raum zu unterdrücken.[26]
Spätestens seit 2004 konzentriert sich Russland auf dieselbe Bedrohung. In diesem Jahr erhoben sich die Bürger der Ukraine in der Orangen Revolution – so genannt nach der Farbe der T-Shirts und Fahnen der Demonstranten – gegen den plumpen Wahlbetrug der Regierung. Dass sie damit die sorgfältig konzertierten Anstrengungen zunichtemachten, dem prorussischen, von Putin unterstützten Kandidaten Wiktor Janukowytsch zum geplanten Sieg zu verhelfen, verunsicherte das russische Regime, zumal im Jahr zuvor ähnliche Proteste in Georgien den proeuropäischen Politiker Micheil Saakaschwili an die Macht gebracht hatten. Aufgeschreckt durch diese beiden Ereignisse, rückte Putin das Schreckgespenst der »farbigen Revolution« in den Mittelpunkt der russischen Propaganda. Seither werden in Russland bürgerliche Protestbewegungen als »farbige Revolution« und als ausländische Machenschaften bezeichnet. Oppositionsführer werden als »Marionetten des Auslands« verunglimpft, Forderungen nach Korruptionsbekämpfung und Demokratie mit Chaos und Instabilität in Verbindung gebracht. Als die Menschen 2011 schließlich sogar in Russland selbst gegen manipulierte Wahlen auf die Straße gingen, erinnerte dies Putin an die Orange Revolution, und er warnte vor diesem »erprobten Mittel zur Destabilisierung der Gesellschaft«; der russischen Opposition warf er vor, sie wolle »diese Praktiken auf russischen Boden übertragen« – offenbar fürchtete Putin, eine ähnlich breite Protestbewegung könne ihn aus dem Amt befördern.[27]
Doch es gab kein »Mittel«, das »übertragen« werden sollte. In Russland wie in China hatte die Bevölkerung einfach keine andere Möglichkeit, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen, als durch Demonstrationen. Durch Wahlen ließ sich Putin nicht aus dem Amt entfernen. Regimekritiker verlangen Demokratie und Menschenrechte, weil sie Unrecht erleben, und das nicht nur in Russland. Die Proteste, die auf den Philippinen, in Taiwan, Südafrika, Südkorea, Myanmar und Mexiko einen Übergang zur Demokratie bewirkten, die »friedlichen Revolutionen«, die 1989 Mittel- und Osteuropa erfassten, der Arabische Frühling des Jahres 2011 und die Proteste in Hongkong 2019/20 wurden sämtlich von Menschen angestoßen, die Unrecht von Seiten des Staats erfahren hatten.
Genau das ist das Problem: Die Führer der Achse der Autokraten wissen, dass es Bürger gibt, die von der Sprache der Transparenz, Rechenschaft, Gerechtigkeit und Demokratie angesprochen werden. Um an der Macht zu bleiben, müssen sie solche Vorstellungen in Misskredit bringen, wo immer sie sich äußern.
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Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 war die erste militärische Schlacht im Konflikt zwischen der Achse der Autokraten und der demokratischen Welt. Innerhalb dieser Achse kommt Russland eine Schlüsselstellung zu – sowohl als Erfinder der modernen Verbindung aus Kleptokratie und Diktatur als auch als dasjenige Land, das den Status quo mit besonders aggressiven Mitteln bekämpft. In diesem Geist wurde die Invasion geplant. Es ging Putin nicht nur um Eroberungen, sondern er wollte der Welt auch zeigen, dass die alten Regeln des internationalen Zusammenlebens keine Gültigkeit mehr besitzen.
Vom ersten Tag des Einmarsches an stellten Putin und die russische Militärelite ihre Verachtung für Menschenrechte, Völkerrecht und die von ihnen selbst unterzeichneten internationalen Abkommen offen zur Schau. Sie verhafteten missliebige Staatsbedienstete und Oppositionelle: Bürgermeister, Polizeibeamte, staatliche Angestellte, Journalisten, Künstler, Museumskuratoren. In den besetzten Städten im Osten und Süden der Ukraine richteten sie Folterkammern ein.[28] Sie entführten Tausende Kinder aus ihren Familien und aus Waisenhäusern, gaben ihnen eine neue »russische« Identität und verhinderten ihre Rückkehr in die Ukraine.[29] Sie gingen gezielt gegen Rettungskräfte vor.[30] Unter Missachtung der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki verkündete Putin im Sommer 2022, er werde Gebiete annektieren, die noch nicht einmal unter der Kontrolle der russischen Truppen standen. Die Besatzer raubten und exportierten ukrainisches Getreide; sie »verstaatlichten« ukrainische Fabriken und Bergwerke, übergaben sie russischen Unternehmern aus dem Umfeld von Putin und setzten sich damit über internationales Eigentumsrecht hinweg.[31] Dabei handelte es sich nicht um Kollateralschäden oder ungewollte Nebenwirkungen des Krieges. Es war vielmehr Teil eines Plans, der darauf zielte, die Vorstellungen, Regeln und Verträge auszuhöhlen, auf denen das nach 1945 kodifizierte Völkerrecht beruht, die nach 1989 geschaffene europäische Ordnung zu zerstören und vor allem dem Einfluss und dem Ruf der Vereinigten Staaten sowie ihrer demokratischen Verbündeten zu schaden. »Es geht nicht um die Ukraine, sondern um die Weltordnung«, erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow kurz nach Kriegsbeginn.[32] »Die gegenwärtige Krise ist ein schicksalhafter, epochemachender Moment in der modernen Geschichte. Sie ist Teil der Auseinandersetzung um die Form der künftigen Weltordnung.«
Putin ging offenbar davon aus, mit seinen Verbrechen ungestraft davonzukommen und einen raschen Sieg zu erzielen – er wusste wenig über die moderne Ukraine, glaubte, sie werde sich nicht verteidigen, und war überzeugt, dass sich die westlichen Demokratien seinen Wünschen fügen würden. Er hoffte, dass die politische Spaltung in den Vereinigten Staaten und Europa, die er mit vorangetrieben hatte, die Führung dieser Länder lähmen würde. Und er nahm an, dass die europäischen Unternehmen, die er lange umgarnt hatte, auf eine Wiederaufnahme des Handels mit Russland drängen würden.
Die Entscheidungen, die in Washington, London, Paris, Brüssel, Berlin und Warschau, aber auch in Tokio, Seoul, Ottawa und Canberra im Gefolge des Einmarschs getroffen wurden, widerlegten Putin zunächst. Die demokratische Welt verhängte strenge Sanktionen gegen Russland, sie fror russische Vermögen ein und schloss russische Banken vom internationalen Zahlungsverkehr aus. Mehr als fünfzig Länder stellten der Ukraine Waffen, Aufklärung und Geld zur Verfügung. Schweden und Finnland, die jahrzehntelang neutral gewesen waren, schlossen sich der NATO an. Bundeskanzler Olaf Scholz rief eine »Zeitenwende« aus und sicherte zu, dass Deutschland zum ersten Mal seit 1945 Waffen für einen Krieg in Europa liefern werde. In einer Rede in Warschau sprach US-Präsident Joe Biden von einer Prüfung für die Vereinigten Staaten, Europa und das transatlantische Verteidigungsbündnis.
»Würden wir für die Souveränität von Nationen eintreten?«, fragte Biden. »Würden wir für das Recht von Menschen eintreten, frei von nackter Gewalt zu leben? Würden wir für die Demokratie eintreten?«
Ja, verkündete er unter lautem Applaus: »Wir wären stark. Wir wären geeint.«[33]
Doch wenn Putin die Einigkeit der demokratischen Welt unterschätzt hatte, dann hatten die demokratischen Staaten die Dimension der Herausforderung unterschätzt. Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.
Xi Jinping hatte seine Unterstützung für die rechtswidrige Invasion bereits signalisiert, bevor diese überhaupt begann. Am 4. Februar 2022, drei Wochen vor den ersten Bombenangriffen auf Kiew, unterzeichnete er eine gemeinsame Erklärung mit dem russischen Präsidenten. In Vorwegnahme der westlichen Reaktionen bekräftigten Xi und Putin ihre Absicht, jegliche Kritik an russischen Handlungen zu ignorieren, vor allem alles, was als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« unter dem Vorwand des Schutzes von Demokratie und Menschenrechten ausgelegt werden könne.[34] Obwohl Xi im Gegensatz zu Putin kein Interesse an der Auslöschung der Ukraine hatte und sich offenbar bemühte, eine nukleare Eskalation zu vermeiden, weigerte er sich auch im Verlauf des Kriegs, Russland direkt zu kritisieren. China profitierte vielmehr von der neuen Situation, erhielt russisches Erdöl und Erdgas zu günstigen Preisen und verkaufte militärisches Gerät an Russland.[35]
Damit war China nicht allein. Während der Krieg voranschritt, exportierte der Iran Tausende Drohnen nach Russland,[36] Nordkorea lieferte Munition und Raketen.[37] Russische Klientelstaaten in Afrika, darunter Eritrea, Simbabwe, Mali und die Zentralafrikanische Republik, unterstützten Russland vor den Vereinten Nationen und anderswo. Vom ersten Kriegstag an gestattete Belarus den russischen Truppen den Durchmarsch und die Nutzung von Straßen, Eisenbahnen und Militärstützpunkten.[38] Die Türkei, Georgien, Kirgisistan und Kasachstan, nichtfreiheitliche Staaten mit Handelsbeziehungen zur autokratischen Welt, halfen der russischen Rüstungsindustrie, Sanktionen zu umgehen und Werkzeugmaschinen sowie elektronische Bauteile zu importieren.[39] Indien nutzte die günstigen Preise und kaufte russisches Erdöl.
Im Frühjahr 2023 wurden die Russen ehrgeiziger. Sie erörterten die Einführung einer eurasischen Digitalwährung, möglicherweise basierend auf Blockchain-Technologie, um den US-Dollar zu ersetzen und den internationalen Einfluss der amerikanischen Wirtschaft zurückzudrängen. Sie planten den Ausbau der Beziehungen zu China und gemeinsame Forschungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und des Internets der Dinge. Über den Zweck solcher Aktivitäten bestand nie ein Zweifel. In einem geleakten Dokument, das diese Diskussionen zusammenfasst, wird er auf eine Formel gebracht, die an Lawrows Worte erinnert: Russlands Ziel bestehe darin, »eine neue Weltordnung zu errichten«.[40]
Dieses Ziel wird von vielen geteilt. Gestützt auf die technische und taktische Zusammenarbeit, ihre gemeinsamen Wirtschaftsinteressen und ihren unbedingten Willen zum Machterhalt, sind die Autokratien überzeugt, dass sie die Oberhand behalten können. Um diese Überzeugung – woher sie kommt, warum sie sich hartnäckig hält, was die demokratische Welt zu ihrer Entstehung beigetragen hat und was wir heute tun können, um sie Lügen zu strafen – geht es in diesem Buch.
Im Sommer 1967 trafen sich in der Abgeschiedenheit eines alten habsburgischen Jagdhauses nahe Wien Vertreter österreichischer und westdeutscher Gas- und Stahlunternehmen mit einigen sowjetischen Funktionären.[1] Es muss eine sonderbare Atmosphäre geherrscht haben. Erst zwölf Jahre zuvor waren die sowjetischen Truppen aus Österreich abgezogen, und an der befestigten Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland standen sich Soldaten gegenüber. Die Angst vor einem sowjetischen Angriff war geschwunden, doch das war nur der starken Militärpräsenz der Vereinigten Staaten in Europa zu verdanken.
Dessen ungeachtet hatten alle Teilnehmer des Gesprächs gemeinsame Interessen. Sowjetische Ingenieure hatten kürzlich große Erdgasvorkommen in Sibirien entdeckt. Dank neuer Technik wurde Erdgas sauberer, billiger und leichter zu transportieren. Pipelines vom kommunistischen Osten in den kapitalistischen Westen versprachen ein für beide Seiten ausgezeichnetes Geschäft. Die Teilnehmer tauschten sich aus und verabredeten ein weiteres Treffen. Die Gespräche wurden in anderen Städten fortgesetzt, es ging um den Preis für das Erdgas, die Bedingungen für Kredite und die Pipelinetechnik. Im Februar 1970 schlossen westdeutsche Politiker und sowjetische Funktionäre schließlich das Abkommen, das den Startschuss zum Bau der ersten Erdgaspipeline von der Sowjetunion nach Westeuropa gab.[2]
Vor diesem Abschluss war der wirtschaftliche Austausch zwischen dem Westen und der Sowjetunion minimal, begrenzt auf den Handel mit einfachen Gütern wie Ikonen, Holz und Getreide sowie ein paar undurchsichtige Bergbauabkommen. Vom Beginn der Gespräche in dem österreichischen Jagdhaus an war allen Beteiligten klar, dass es bei dem Gasgeschäft um ganz andere Dimensionen ging. Pipelines sind kostspielig und auf dauerhafte Nutzung ausgelegt. Man kann sie nicht heute verlegen und morgen wieder abbauen, und sie dürfen nicht von den Launen der jeweiligen politischen Führung abhängen. Es waren langfristige Verträge nötig, die in einen Rahmen von verlässlichen politischen Beziehungen eingebunden werden mussten.
Für den damaligen bundesdeutschen Außenminister Willy Brandt waren diese verlässlichen Beziehungen der attraktivste Aspekt. Die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik in die Abhängigkeit von der Sowjetunion begeben könnte, schreckte ihn nicht. Im Gegenteil, er drängte die Verhandlungsführer, das Geschäft noch auszuweiten. Dahinter standen vor allem politische Erwägungen: Brandt glaubte, dass künftige Konflikte durch gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit unwahrscheinlicher würden.[3] Als Bundeskanzler machte er die Ostpolitik später zur tragenden Säule seiner Außenpolitik. In den kommenden Jahren stellten die Pipelines eine physische Verbindung zwischen Moskau und Bonn, später Berlin, Rom, Amsterdam, Helsinki und Dutzenden anderen europäischen Städten her. Auch nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 und dem Ende der Sowjetunion im Jahr darauf standen sie im Zentrum der deutschen Außenpolitik.
Nebenbei wurde die Ostpolitik zu einer Theorie des Wandels, die erklärte, wie Demokratien mit Autokratien Geschäfte machen und diese so auf subtile Weise verändern konnten. Egon Bahr, langjähriger Berater von Brandt, sprach von »Wandel durch Annäherung«. Wenn Westdeutschland die Konfrontation entschärfen, mit Ostdeutschland ins Gespräch kommen und statt Boykott Handel anbieten könne, dann wäre eine »Auflockerung der Grenzen« möglich.[4] Bahr verlangte nie Sanktionen gegen Ostdeutschland und erwähnte die politischen Gefangenen des Regimes nur selten, auch wenn er wusste, dass es sie gab: Westdeutschland zahlte regelmäßig für die Freilassung von Dissidenten und gab in den Jahren vor dem Mauerfall rund drei Milliarden D-Mark für diesen merkwürdigen Menschenhandel aus.[5] Statt Häftlinge und Menschenrechte direkt anzusprechen, umschiffte Bahr das Thema mittels »gefühlsbetonter Verschwommenheit«, wie Timothy Garton Ash es nannte.[6]
Das Pipeline-Geschäft war nicht nach jedermanns Geschmack. Richard Nixon war der Ansicht, das wahre Ziel, das die Sowjetunion mit dem Verkauf und den Gesprächen mit Bahr und Brandt verfolgte, sei die »Herauslösung Deutschlands aus der NATO«.[7] Jimmy Carter, der Menschenrechte über den Handel stellen wollte, missfiel die Ostpolitik so sehr, dass er den Verkauf von Pipelinetechnik an Deutschland untersagte, nachdem die Sowjetunion 1978 die beiden Dissidenten Alexander Ginzburg und Natan Scharanski verhaftet hatte. Bundeskanzler Helmut Schmidt schimpfte, Carter sei ein »verdammter Prediger im Weißen Haus«, der keine Ahnung von Russland habe.[8] Nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Jahr 1981 ging die Regierung von Ronald Reagan noch einen Schritt weiter; sie verbot amerikanischen Firmen, beim Bau der Pipeline mitzuwirken, und versagte ausländischen, an dem Projekt beteiligten Unternehmen den Zugang zum US-amerikanischen Markt – ein für die damalige Zeit radikaler Schritt.
Nixon, Carter und Reagan