Die Verlockung des Autoritären - Anne Applebaum - E-Book
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Die Verlockung des Autoritären E-Book

Anne Applebaum

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Beschreibung

Das neue Buch der Pulitzer-Preisträgerin

Die Erschütterung der liberalen Demokratie überall auf der Welt wird gern mit der Schwäche der westlichen Werteordnung erklärt. Die Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum geht dem Phänomen auf andere Weise auf den Grund. Sie fragt: Was macht für viele Menschen die Rückkehr zu autoritären, anti-demokratischen Herrschaftsformen so erstrebenswert? Was genau treibt all die Wähler, Unterstützer und Steigbügelhalter der Anti-Demokraten an? An vielen Beispielen – von Boris Johnson über die spanischen Nationalisten bis zur Corona-Diktatur in Ungarn – und aus persönlicher Erfahrung zeigt sie, welche Bedeutung dabei soziale Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie haben, welche materiellen Interessen ins Spiel kommen und wie nicht zuletzt Elitenbashing und Aufstiegsverheißungen die Energien der vermeintlich Unterprivilegierten befeuern. Ein brillanter Streifzug durch ein Europa, das sich auf erschreckende Weise nach harter Hand und starkem Staat (zurück)sehnt.

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Buch

Die Erschütterung der liberalen Demokratie überall auf der Welt wird gern mit der Schwäche der westlichen Werteordnung erklärt. Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum fragt: Was macht für viele Menschen die Rückkehr zu autoritären, anti-demokratischen Herrschaftsformen so erstrebenswert? Was genau treibt all die Wähler, Unterstützer und Steigbügelhalter der Anti-Demokraten an? An vielen Beispielen zeigt sie, welche Bedeutung dabei soziale Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie haben. Ein brillanter Streifzug durch ein Europa, das sich auf erschreckende Weise nach harter Hand und autoritärem Staat (zurück)sehnt.

Autorin

Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington, D. C., ist Historikerin und Journalistin. Sie begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des »Economist« in Warschau. Seit Langem beschäftigt sie sich mit der Geschichte der autoritären Regime in Osteuropa. Für ihr Buch »Der Gulag« (2003) erhielt sie den Duff-Cooper- und den Pulitzer-Preis. Sie arbeitet als Kolumnistin für »The Atlantic« und als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University. Zuletzt erschien »Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine« (2019). Applebaum lebt mit ihrem Mann, dem Ex-Außenminister Radek Sikorski, in Polen.

Anne Applebaum

DIEVERLOCKUNGDESAUTORITÄREN

Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer

Siedler

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Twilight of Democracy. The Seductive Lure of Authoritarianism« bei Doubleday, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.Copyright: © Anne ApplebaumCopyright der deutschsprachigen Ausgabe: © 2021 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: FAVORITBÜRO, MünchenSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-6412-7402-3V001www.siedler-verlag.de

Unsere Zeit wird man einst das Jahrhundert der intellektuellen Organisation des politischen Hasses nennen. Dies wird einer der großen Titel sein, unter denen sie in die Moralgeschichte der Menschheit eingeht.

Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen (1927)

Wir müssen die Tatsache anerkennen, dass diese Art der Rebellion gegen die Moderne in der westlichen Gesellschaft latent vorhanden ist. Mit ihrem konfusen und wirrköpfigen Programm und ihrer irrationalen und unpolitischen Rhetorik verkörpert sie Hoffnungen, die genauso wahrhaftig sind wie die der anderen und bekannteren Reformbewegungen.

Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr (1961)

Inhalt

Kapitel 1: Silvester

Kapitel 2: Wie Demagogen siegen

Kapitel 3: Die Zukunft der Nostalgie

Kapitel 4: Lügenkaskaden

Kapitel 5: Steppenbrand

Kapitel 6: Kein Ende der Geschichte

Dank

Anmerkungen

Register

Kapitel 1: Silvester

Am 31. Dezember 1999 luden wir zu einer Party ein. Das Jahrtausend ging zu Ende, ein neues brach an, und alle wollten feiern, am liebsten an einem möglichst ausgefallenen Ort. Wir feierten in Chobielin, einem kleinen Landgut im Nordwesten Polens, das mein Mann und seine Eltern ein Jahrzehnt zuvor erworben hatten; sie hatten nicht mehr dafür bezahlt als den Preis der Ziegelsteine, denn damals war es eine unbewohnbare Ruine, die vor sich hin bröckelte, seit die früheren Bewohner 1945 vor der Roten Armee geflohen waren. Wir hatten das Haus inzwischen weitgehend restauriert, auch wenn es langsam voranging. Ende 1999 war es noch lange nicht fertig, doch es hatte immerhin ein neues Dach und einen großen, frisch gestrichenen und gänzlich unmöblierten Salon, der sich bestens als Partyraum eignete.

Unsere Gäste waren bunt durcheinandergewürfelt: befreundete Journalisten aus London und Moskau, einige Jungdiplomaten aus Warschau, zwei Freunde, die aus New York herübergeflogen waren. Aber die meisten waren Polen, Freunde von uns und Kollegen meines Mannes Radek Sikorski, der damals stellvertretender Außenminister einer rechtsliberalen Koalitionsregierung war.

Dazu kamen Freunde aus der Gegend, einige von Radeks Schulfreunden und eine große Anzahl Cousins. Auch eine Handvoll damals noch weniger bekannter polnischer Jungjournalisten waren dabei, ein paar Beamte und ein oder zwei jüngere Regierungspolitiker.

Die Mehrheit von uns hätte man wohl zu dem gezählt, was man in Polen seinerzeit »die Rechte« nannte – Konservative und Antikommunisten. Aber genauso gut hätte man die meisten von uns auch als Liberale bezeichnen können: Wirtschaftsliberale und klassische Liberale, vielleicht Thatcher-Anhänger. Selbst diejenigen, die in Wirtschaftsfragen keine dezidierte Meinung hatten, glaubten an die Demokratie, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die NATO-Mitgliedschaft Polens, den anstehenden Beitritt des Landes zur Europäischen Union und ein Polen, das fester Bestandteil des modernen Europas sein sollte. Das war es, was man in den 1990er Jahren unter »rechts« verstand.

Die Party war eine reichlich improvisierte Angelegenheit. In der polnischen Provinz war Catering damals unbekannt, weshalb meine Schwiegermutter und ich große Bottiche mit Eintopf aus Rinderragout und Roter Bete zubereiteten. Hotels gab es auch keine, sodass unsere gut hundert Gäste in Bauernhöfen der Umgebung oder bei Freunden in der nahe gelegenen Ortschaft unterkamen. Ich hatte für alle Gäste Übernachtungsmöglichkeiten organisiert, doch einige schliefen am Ende trotzdem auf dem Fußboden im Keller. Um Mitternacht brannten wir ein Feuerwerk ab – billige Ware aus China, die damals gerade erst in den Handel gekommen und wahrscheinlich extrem gefährlich war.

Die Musik, in der Prä-Spotify-Zeit noch auf Kassetten, war der einzige kulturelle Graben an jenem Abend: Meine amerikanischen Freunde hatten ihre Schulzeit über natürlich andere Musik gehört als meine polnischen Freunde, und es war schwer, alle gemeinsam zum Tanzen zu bewegen. Als ich einmal kurz nach oben ging, erfuhr ich, dass Boris Jelzin zurückgetreten war, schrieb einen kurzen Kommentar für eine britische Tageszeitung, ging dann wieder nach unten und trank noch ein Glas Wein. Gegen drei Uhr morgens zog eine der durchgeknallteren polnischen Gäste eine Pistole aus ihrer Handtasche und feuerte in ihrem Überschwang Platzpatronen in die Luft.

Wir feierten die ganze Nacht hindurch bis zu einem späten Brunch am folgenden Nachmittag. Die Party war von jenem Optimismus durchtränkt, der diese Zeit in meiner Erinnerung prägte. Wir hatten unser verfallenes Haus renoviert. Unsere Freunde bauten das Land wieder auf. Besonders gut erinnere ich mich noch, wie ich am Tag vor oder nach der Party mit Freunden im Schnee spazieren ging, alle redeten durcheinander, Polnisch und Englisch schallten durch den Birkenwald. Polen war im Begriff, sich dem Westen anzuschließen, und es schien, als säßen wir alle in einem Boot. Wir waren uns einig über die Demokratie, den Weg zum Wohlstand und die generelle Richtung.

Das ist längst vorbei. Gut zwei Jahrzehnte später würde ich die Straßenseite wechseln, um einigen der Gäste unserer damaligen Silvesterparty aus dem Weg zu gehen. Sie würden umgekehrt heute keinen Fuß mehr über meine Schwelle setzen und sich gar schämen zuzugeben, dass sie damals mit uns gefeiert haben. Die Hälfte unserer Gäste würde heute kein Wort mehr mit der anderen wechseln. Die Entfremdung ist politischer, nicht persönlicher Natur. Die Polarisierung in Polen reicht heute weiter als in den meisten anderen Gesellschaften Europas, und wir stehen auf entgegengesetzten Seiten eines tiefen Grabens, der die einstigen Konservativen Polens, aber auch Ungarns, Spaniens, Frankreichs, Italiens und zum Teil auch Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in zwei Lager spaltet.

Ein Teil unserer Silvestergäste, wie auch mein Mann und ich, blieben dem pro-europäischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Konservatismus treu. Unsere Ansichten fallen mehr oder weniger in das Spektrum der europäischen Christdemokraten, der Liberalen Frankreichs und der Niederlande oder der Republikaner von John McCain. Einige meiner damaligen Gäste zählen sich zur linken Mitte. Aber andere schlugen einen anderen Weg ein. Sie unterstützen heute eine nationalistische Partei namens Prawo i Sprawiedliwość (abgekürzt PiS, zu Deutsch: Recht und Gerechtigkeit), deren Positionen sich sehr verändert haben seit der Zeit, als sie von 2005 bis 2007 zum ersten Mal an der Regierung beteiligt war und von 2005 bis 2010 den Präsidenten stellte.

In den Jahren, in denen die PiS nicht auf der Regierungsbank saß, vollzogen ihre Führung und Anhängerschaft einen radikalen Gesinnungswandel und wurden nicht nur fremdenfeindlich und paranoid, sondern unverhohlen autoritär. Ihren Wählern muss man zugutehalten, dass das nicht für alle offensichtlich war: 2015 führte die PiS einen sehr zurückhaltenden Wahlkampf gegen eine gemäßigt konservative Partei, die seit acht Jahren im Amt war – mein Mann hatte der Regierung angehört, sich aber vor der Wahl zurückgezogen – und in ihrem letzten Jahr von einer schwachen und glanzlosen Ministerpräsidentin geführt wurde. Es ist verständlich, dass viele Polen eine Veränderung wollten.

Doch kaum hatte die PiS die Wahl 2015 mit knapper Mehrheit gewonnen, zeigte sie ihr radikales Gesicht. In einem klaren Verfassungsbruch versuchte die neue Regierung, den Obersten Gerichtshof in ihrem Sinne neu zu besetzen. Außerdem sollten Richter bestraft werden, deren Urteile im Widerspruch zur Politik der Regierung standen. Die PiS kaperte den staatlichen Rundfunk, indem sie beliebte Moderatoren und erfahrene Journalisten entließ – auch dies ein Verstoß gegen die Verfassung. Ihre Nachfolger, die vom rechten Rand der Onlinemedien kamen, sendeten auf Staatskosten platte und mit Lügen durchsetzte Parteipropaganda.

Ein weiteres Ziel waren staatliche Institutionen. Kaum an der Macht, entließ die PiS Tausende Beamte und ersetzte sie durch Parteisoldaten oder deren Vettern und sonstige Verwandte. Sie setzte Generäle an die Luft, die lange und kostspielige Ausbildungen an westlichen Militärakademien genossen hatten, und Diplomaten mit langjähriger Erfahrung und Sprachkenntnissen. Auch kulturelle Einrichtungen demontierte sie eine nach der anderen. Das Nationalmuseum verlor seinen geschäftsführenden Direktor, einen international anerkannten Kurator. An seine Stelle trat ein unbekannter Akademiker ohne jede Museumserfahrung, der in seiner ersten Amtshandlung die Abteilung für moderne und zeitgenössische Kunst schloss. Ein Jahr später trat er zurück und hinterließ das Museum im Chaos. Der Direktor des Museums der Geschichte der polnischen Juden – eine in Europa einmalige Einrichtung, die erst wenige Jahre zuvor mit einer großen Zeremonie eröffnet worden war – wurde zum Entsetzen der ausländischen Förderer und Sponsoren ohne jede Erklärung beurlaubt. Tausende ähnliche Geschichten drangen nie an die Öffentlichkeit. So verlor zum Beispiel eine Bekannte von uns eine Stelle in einer anderen Einrichtung, weil sie in zu kurzer Zeit zu viele Projekte durchgeführt hatte, womit sie für ihren neuen und unqualifizierten Vorgesetzten offenbar zur Bedrohung wurde.

Die PiS bemühte sich nicht einmal um Heuchelei. Bei diesen Veränderungen ging es nicht darum, den Staatsapparat zu optimieren, sondern ihn auf Parteilinie zu bringen und die Gerichte gefügig zu machen. Oder der Partei zu unterwerfen, wie wir das von früher kannten.

Dazu hatte die PiS natürlich kein Mandat. Sie war mit einer einfachen Mehrheit gewählt worden und konnte zwar regieren, nicht aber die Verfassung ändern. Um diesen Rechtsbruch zu rechtfertigen, argumentierte die Partei daher nicht mehr politisch, sondern begann damit, auf vermeintliche Erzfeinde zu deuten. Darunter waren auch die üblichen Sündenböcke. Nach zwei Jahren der polnisch-jüdischen Annäherung und Versöhnung – nach Tausenden Büchern, Filmen und Konferenzen und dem Bau eines spektakulären Museums – erlangte die Regierung traurige Berühmtheit mit einem Gesetz, das die öffentliche Debatte über den Holocaust unterdrücken sollte. Zwar wurde dieses Gesetz auf Druck der Vereinigten Staaten schließlich geändert, doch es erfreute sich großer Beliebtheit an der ideologischen Basis der Partei sowie bei Journalisten, Denkern und Autoren, darunter auch Gästen meiner Silvesterparty, die jetzt behaupten, polenfeindliche Kräfte hätten sich verschworen, um Polen statt Deutschland die Schuld für Auschwitz zu geben. Später verstrickte sich die Regierung in sinnlose Wortgefechte mit Israel – ein Streit, der nur darauf angelegt schien, die wütenden nationalistischen Wähler der PiS in Polen wie die wütenden nationalistischen Wähler Benjamin Netanjahus in Israel zu bedienen.

Andere Feinde waren neu. Nachdem die Partei kurzzeitig islamische Zuwanderer zur Zielscheibe erkoren hatte – was nicht einfach ist in einem Land, in dem es kaum islamische Zuwanderer gibt – , schoss sie sich auf Homosexuelle ein. Die Wochenzeitung Gazeta Polska, deren prominenteste Autoren die Jahrtausendwende mit uns gefeiert hatten, verteilte Aufkleber mit der Aufschrift »LGBT-freie Zone«, die ihre Leser an Fenster und Türen kleben sollten. Am Vorabend der Parlamentswahlen im Oktober 2019 strahlte das staatliche Fernsehen einen Dokumentarfilm mit dem Titel »Invasion« aus über einen geheimen LGBT-Plan zur Unterwanderung Polens.1 Die katholische Kirche des Landes, einst eine neutrale Institution und unpolitisches Symbol der nationalen Einheit, begann ähnliche Themen zu verfolgen. Der aktuelle Erzbischof von Krakau, einer der Nachfolger von Papst Johannes Paul II., beschrieb Homosexuelle in einer Predigt als »regenbogenfarbene Pest«,2 die an die Stelle der »roten Pest« des Kommunismus getreten sei. Die polnische Regierung jubelte, doch YouTube entfernte das Video, weil es sich um Hasspropaganda handele.

In der Folge dieser Ereignisse ist es für mich und einige unserer Silvestergäste schwer geworden, überhaupt noch Anknüpfungspunkte zu finden. Mein letztes Gespräch mit Ania Bielecka, früher eine meiner besten Freundinnen und Taufpatin eines meiner Kinder, war beispielsweise ihr hysterischer Anruf im April 2010, wenige Tage nachdem das Flugzeug mit dem damaligen polnischen Präsidenten in der Nähe der russischen Stadt Smolensk abgestürzt war (dazu später mehr). Bielecka ist Architektin und zählt (oder zählte) einige der renommiertesten Künstler ihrer Generation zu ihren Freunden; sie hat oder hatte ihre Freude an Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und flog schon mal zum Spaß zur Biennale in Venedig. Einmal erzählte sie mir, genauso wie die Ausstellung selbst genieße sie es, sich die Besucher der Biennale anzusehen, die herausgeputzten Damen in ihren extravaganten Kleidern. Seit einigen Jahren ist sie allerdings mit Jarosław Kaczyński befreundet, dem Vorsitzenden der PiS und Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten. Heute lädt sie Kaczyński regelmäßig zum Essen zu sich nach Hause ein – sie ist eine ausgezeichnete Köchin – und bespricht mit ihm, wen er in sein Kabinett berufen sollte. Offenbar war der Kulturminister, der hinter dem Anschlag auf die polnischen Museen steht, ihr Vorschlag. Vor ein paar Jahren fragte ich sie, ob wir uns nicht in Warschau treffen wollten, doch sie lehnte ab. »Worüber sollten wir uns denn unterhalten?«, schrieb sie in einer SMS, um danach ganz zu verstummen.

Ein weiterer Partygast – die Dame mit der Pistole – trennte sich schließlich von ihrem britischen Ehemann. Ihre Überspanntheit hat ein neues Ziel gefunden, offenbar verbreitet sie heute als hauptberuflicher Internettroll Verschwörungstheorien und antisemitische Propaganda. Sie twittert über die Schuld der Juden am Holocaust, und einmal veröffentlichte sie ein mittelalterliches englisches Gemälde, auf dem angeblich ein Junge zu sehen ist, der von Juden gekreuzigt wird; dazu der Kommentar: »Und da wunderten sie sich, dass sie vertrieben worden sind«, ein Verweis auf die Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290. Außerdem verbreitet sie das Gedankengut führender Köpfe der amerikanischen Alt-Right-Bewegung.

Die Journalistin Anita Gargas, noch ein Gast unserer Silvesterfeier, hat das vergangene Jahrzehnt damit zugebracht, die Verschwörungstheorien um den Flugzeugabsturz des Präsidenten Lech Kaczyński aufzuwärmen und durch immer neue zu ergänzen.3 Sie schreibt für die Gazeta Polska, die Wochenzeitschrift mit den schwulenfeindlichen Aufklebern. Ein vierter Gast, Rafał Ziemkiewicz, hat sich einen Namen als unverblümter Gegner der internationalen jüdischen Gemeinschaft gemacht. Er beschimpft Juden als »schäbig« und »gierig«,4 bezeichnet jüdische Organisationen als »Erpresser«5 und bedauert seine frühere Unterstützung für Israel.6 Mit seiner Hetze scheint er seine schwächelnde Karriere wieder auf Trab gebracht zu haben, denn heute tritt er regelmäßig im von der PiS kontrollierten Staatsfernsehen auf.

Einige dieser ehemaligen Freunde haben aufgrund ihrer politischen Ansichten den Kontakt zu ihren Kindern verloren. Bei manchen ist der Bruch tief. Eine meiner einstigen Bekannten, die sich zu einer Partei mit einem zutiefst homophoben Programm bekennt, hat einen schwulen Sohn. Auch das ist typisch: Der Graben verläuft quer durch Familien und zerreißt Freundschaften. Die Eltern einer Nachbarin in Chobielin hören einen regierungstreuen katholischen Radiosender namens Radio Maryja. Die Eltern wiederholen seine Mantras, und die Feinde der Regierung sind auch ihre Feinde. »Ich habe meine Mutter verloren«, sagte mir die Nachbarin. »Sie lebt in einer anderen Welt.«

An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass auch ich Gegenstand von Verschwörungstheorien wurde. In der ersten kurzlebigen Koalitionsregierung der PiS war mein Mann anderthalb Jahre lang Verteidigungsminister. Später brach er mit der Partei und war sieben Jahre lang Außenminister der Koalition unter Führung der konservativen Bürgerplattform Platforma Obywatelska. Im Jahr 2019 wurde er ins Europaparlament gewählt, gehört allerdings aktuell nicht zur Führung der Opposition.

Ich lebe seit 1988 in Polen, unterbrochen von langen Aufenthalten in London und Washington, schreibe historische Bücher und bin journalistisch für britische und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften tätig. An polnischen Maßstäben gemessen bin ich eine exotische Ehefrau, doch bis 2015 weckte das eher die Neugierde als den Zorn der meisten Menschen. Direkten Antisemitismus oder offene Feindseligkeiten habe ich nie erlebt; als ich ein polnisches Kochbuch veröffentlichte, das unter anderem dem Zweck dienen sollte, im Ausland herrschende Vorurteile gegen Polen zu widerlegen, reagierten selbst polnische Köche freundlich, auch wenn sie sich vielleicht am Kopf kratzten. Aus der Politik versuchte ich mich möglichst herauszuhalten und trat im polnischen Fernsehen nur auf, um über meine Bücher zu sprechen.

Als nach dem Wahlsieg der PiS im Ausland erste negative Artikel über die Regierung erschienen, schob man mir die Schuld in die Schuhe. Auf der Titelseite der zwei regierungsfreundlichen Zeitschriften wSieci7 und Do Rzeczy8 (bei beiden arbeiten ehemalige Freunde) wurde ich als verdeckte jüdische Drahtzieherin einer internationalen Pressekampagne gegen Polen denunziert; eine der Zeitschriften erfand Lügen über meine Familie, um die Sache noch finsterer erscheinen zu lassen. Ähnliche Geschichten wurden in den Abendnachrichten des polnischen Fernsehens verbreitet, und man behauptete, die PiS habe mich aus einer Stelle gefeuert, die ich nie hatte.9 Die falschen Behauptungen endeten schließlich, denn die negative ausländische Berichterstattung über Polen hatte inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass unmöglich eine einzelne Person dahinterstecken konnte, selbst eine Jüdin wie ich nicht; trotzdem machen die Anschuldigungen natürlich bis heute in den sozialen Medien hin und wieder die Runde. Während des Europawahlkampfs meines Mannes erhielten einige seiner Wahlkampfhelfer mehr Fragen zu meinen angeblichen »anti-polnischen Aktivitäten« als zu ihm selbst. Ob es mir gefällt oder nicht, ich bin Teil dieser Geschichte.

Es war wie ein Déjà-vu. Ich fühlte mich an das Tagebuch des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian erinnert, das dieser zwischen 1935 und 1944 führte und in dem er noch weit extremere Veränderungen in seinem Land beschrieb. Sebastian war wie ich Jude, wenngleich er seinen Glauben nicht praktizierte; wie ich kamen seine Freunde überwiegend aus einem konservativen Umfeld. In seinem Tagebuch beschreibt er, wie diese Freunde einer nach dem anderen in den Bannkreis des Faschismus gezogen werden wie Motten in eine Flamme. Er schildert, wie seine Freunde immer selbstbewusster und arroganter auftreten, als sie sich von ihrer europäischen Identität – der Bewunderung für Proust oder Paris – abwenden und in Blut-und-Boden-Rumänen verwandeln. Er beobachtet sie dabei, wie sie in Verschwörungstheorien abdriften oder beiläufige Grausamkeiten an den Tag legen.

Langjährige Freunde beleidigten ihn offen und taten dann so, als sei nichts geschehen. »Kann man denn mit Menschen befreundet sein, die eine Vielzahl abstruser Gedanken und Gefühle gemein haben – so abstrus, dass ich nur den Raum betreten muss, damit sie plötzlich in betretenes Schweigen verfallen?«, fragte er sich 1937.10 In einem autobiografischen Roman, den er zur selben Zeit schrieb, bietet der Erzähler einem alten Bekannten die Freundschaft an, von dem er inzwischen durch einen politischen Graben getrennt ist. »Du irrst dich«, erwidert der andere. »Wir können keine Freunde sein. Nie und nimmer. Spürst du an mir nicht den Geruch des Bodens?«11

Wir leben zwar nicht im Jahr 1937, doch auch heute finden vergleichbare Umwälzungen statt, und zwar sowohl unter den Denkern, Autoren, Journalisten und politischen Aktivisten Polens, wo ich seit drei Jahrzehnten lebe, als auch im Rest dessen, was wir als den Westen bezeichnen. Diese Umwälzungen ereignen sich ohne den Vorwand einer Wirtschaftskrise, wie sie Europa und die Vereinigten Staaten in den 1920er und 1930er Jahren erfasste. Die Rezession von 2008 und 2009 war zwar tief, doch das Wachstum kehrte zurück, zumindest bis zur Corona-Pandemie. Auch die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 war zwar ein Schock, doch sie ist längst abgeebbt, und dank des Türkei-Deals seitens der EU und ihres politischen Mainstreams kommen seit 2018 kaum noch Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika nach Europa.

Doch die Menschen, die ich in diesem Buch beschreibe, waren von diesen beiden Krisen ohnehin nicht betroffen. Sie mögen nicht alle den Erfolg gehabt haben, den sie sich erträumt hatten, doch sie sind weder arm, noch leben sie auf dem Land. Sie haben ihre Arbeitsplätze nicht an Zuwanderer verloren. Die Osteuropäer waren nicht Opfer der politischen Revolution nach 1989 oder irgendeiner anderen Politik. Die Westeuropäer gehören keiner verarmten Unterschicht an und leben nicht in vergessenen Dörfern. Und die Amerikaner leben nicht in von der Opioid-Epidemie heimgesuchten Gemeinden, sie sitzen nicht in Diners des Mittleren Westens herum und entsprechen auch sonst keinem der üblichen Klischees, mit denen Trump-Wähler gern bedacht werden. Im Gegenteil, sie haben an den besten Hochschulen studiert, sprechen Fremdsprachen, leben in Großstädten wie London, Washington, Warschau oder Madrid und reisen ins Ausland, genau wie Sebastians Freunde in den 1930ern.

Was steckt dann hinter diesem Umbruch? Haben einige unserer Freunde im stillen Kämmerchen schon immer eine autoritäre Gesinnung gepflegt? Oder haben die Leute, mit denen wir auf das neue Jahrtausend angestoßen haben, in den folgenden zwei Jahrzehnten eine sonderbare Verwandlung durchgemacht?

Darauf gibt es keine einfachen Antworten, und ich werde auf den folgenden Seiten weder eine große Theorie noch eine allgemeingültige Lösung anbieten. Dennoch gibt es so etwas wie einen roten Faden: Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später tun werden.

Die antiken Philosophen hatten ihre Zweifel an der Demokratie. Platon fürchtete »falsche Sätze und hoffärtige Meinungen« der Demagogen und sah in der Volksherrschaft einen möglichen Schritt auf dem Weg zur Tyrannei.12 Vorkämpfer der amerikanischen Republik erkannten die Gefahr, die korrupte Politiker für die Demokratie darstellen konnten, und dachten gründlich darüber nach, wie Institutionen auszusehen hatten, die dem standhalten. Der Verfassungskongress des Jahres 1787 richtete das Wahlmännergremium ein, um sicherzustellen, dass niemals ein Mann »mit einem Talent für billige Intrige und die Taschenspielereien der Popularität« Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte, wie Alexander Hamilton es ausdrückte.13 Das Gremium wurde zwar später zum Inbegriff einer überflüssigen Einrichtung – und seit Kurzem auch zum Mechanismus, der kleinen Wählergruppen in einigen Bundesstaaten unverhältnismäßig großes Gewicht verleiht – , doch ursprünglich hatte es einen ganz anderen Zweck: Es sollte eine Art Aufsichtsrat sein, eine Gruppe elitärer Abgeordneter und Großgrundbesitzer, die den Präsidenten wählten und sich dabei nötigenfalls über den Volkswillen hinwegsetzten, um »den Auswüchsen der Demokratie« vorzubeugen.

Hamilton war einer von vielen Amerikanern der britischen Kolonialzeit, die sich in die Geschichte Griechenlands und Roms vertieften, um zu verstehen, wie sich der Verfall einer neuen Demokratie in eine Tyrannei verhindern ließ. John Adams beschäftigte sich auf seine alten Tage noch einmal mit dem römischen Staatsmann Cicero, der den Niedergang der Republik aufhalten wollte, und zitierte ihn in einem Brief an Thomas Jefferson. Diese Männer wollten ihre Demokratie auf dem Fundament von rationaler Debatte, Vernunft und Kompromiss errichten. Dabei gaben sie sich keinerlei Illusionen über die menschliche Natur hin: Sie wussten, dass der Mensch von seinen »Leidenschaften« fortgerissen werden kann, um ihren altmodischen Ausdruck zu gebrauchen. Sie wussten auch, dass jedes auf Logik und Rationalität aufgebaute System durch Ausbrüche des Irrationalen bedroht ist.

Ihre modernen Nachfolger haben versucht, diese Irrationalität und diese »Leidenschaften« schärfer zu fassen und zu verstehen, wer aus welchem Grund besonders für Demagogen anfällig ist. Die Philosophin Hannah Arendt, die sich als Erste mit Totalitarismus auseinandersetzte, beschrieb die »totalitäre Persönlichkeit« als radikal isolierte Menschen, »deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat.«14 Theodor W. Adorno, der vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten geflohen war, vertiefte diesen Gedanken weiter. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud suchte er die Ursprünge der autoritären Persönlichkeit in der frühen Jugend, etwa gar in unterdrückten homosexuellen Neigungen.

Unlängst behauptete die Verhaltensökonomin Karen Stenner, die sich seit zwei Jahrzehnten mit der Persönlichkeitsforschung beschäftigt, dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe; diesen Begriff zieht sie dem der Persönlichkeit vor, weil er weniger starr ist.15 Die autoritäre Veranlagung sehnt sich nach Homogenität und Ordnung und kann latent vorhanden sein, ohne sich äußern zu müssen, genau wie ihr Gegenteil, die freiheitliche Veranlagung, die Vielfalt und Unterschiede bevorzugt. Stenners Definition von »Autoritarismus« ist nicht politisch und nicht deckungsgleich mit »konservativ«. Autoritarismus spricht vielmehr Menschen an, die keine Komplexität aushalten: Diese Veranlagung ist weder »links« noch »rechts«, sondern grundsätzlich anti-pluralistisch. Sie misstraut Menschen mit anderen Vorstellungen und ist allergisch gegen offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten. Dabei ist es einerlei, ob ihre politischen Ansichten zum Beispiel marxistisch oder nationalistisch sind. Es handelt sich um eine Geisteshaltung, nicht um einen gedanklichen Inhalt.

Theorien wie diese übersehen allerdings oft ein weiteres entscheidendes Element beim Niedergang der Demokratie und dem Aufkommen der Autokratie. Die bloße Existenz von Menschen mit einer Schwäche für Demagogen oder Diktaturen ist noch keine Erklärung für den Erfolg der Demagogen. Diktatoren wollen herrschen, doch wie erreichen sie den empfänglichen Teil der Öffentlichkeit? Autoritäre Politiker wollen Gerichte unterwandern, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen, aber wie überzeugen sie die Wähler davon, diese Veränderung zu akzeptieren? Im alten Rom ließ Caesar mannigfaltige Büsten von sich anfertigen. Autokraten von heute beauftragen die modernen Pendants der alten Bildhauer: Autoren, Intellektuelle, Pamphletschreiber, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten und Memeschöpfer, die der Öffentlichkeit ihr Bild verkaufen. Autokraten brauchen Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten. Aber daneben brauchen sie auch Leute, die den Jargon der Juristen beherrschen und Rechts- und Verfassungsbruch als Gebot der Stunde verkaufen können. Sie brauchen Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren und Zukunftsvisionen entwerfen können. Sie benötigen mit anderen Worten Angehörige der Bildungselite, die ihnen helfen, einen Krieg gegen die übrigen Angehörigen der Bildungselite vom Zaun zu brechen, selbst wenn es sich dabei um ihre Kommilitonen, Kollegen und Freunde handelt.

Der französische Essayist Julien Benda beschrieb die autoritären Eliten schon 1927 in seinem Buch La trahison des clercs (Der Verrat der Intellektuellen), lange bevor irgendjemand sonst verstand, welch wichtige Rolle ihnen zukam.16 Im Vorgriff auf Arendt galt sein Interesse nicht der »totalitären Persönlichkeit« als solcher, sondern den geistigen Wegbereitern des Autoritarismus, den er bereits auf der Linken und Rechten in ganz Europa aufkeimen sah. Er beschrieb die Schreiberlinge der extremen Linken und Rechten, die »Klassenleidenschaften« im Sinne des Sowjetmarxismus oder »nationale Leidenschaften« im Sinne des Faschismus schürten, und warf beiden vor, ihre eigentliche Aufgabe als geistige Elite zu verraten, nämlich die Wahrheitssuche, und sich stattdessen für bestimmte politische Interessen herzugeben. Für sie verwendete er den ironischen Begriff clercs, der neben »Schreiber« auch »Kleriker« bedeutet. Zehn Jahre vor Stalins Großem Terror und sechs Jahre vor der Machtergreifung Hitlers fürchtete Benda bereits, dass zu Politunternehmern und Propagandisten gemauserte Autoren, Journalisten und Essayisten ganze Kulturen zu Gewaltausbrüchen aufstacheln würden. Und so sollte es dann auch kommen.

Natürlich würde sich der Niedergang der freiheitlichen Demokratie heute anders gestalten als in den 1920er und 1930er Jahren. Aber wieder wird eine geistige Elite, eine neue Generation von clercs, gebraucht, um ihm den Weg zu bereiten. Um eine Vorstellung vom Westen oder dessen, was manchmal als »freiheitliche westliche Ordnung« bezeichnet wird, zum Einsturz zu bringen, sind Denker, Intellektuelle, Journalisten, Blogger, Schriftsteller und Künstler nötig, die erst unsere Werte aushöhlen und dann ein künftiges System entwerfen. Sie können aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen: In seiner Definition der clercs dachte Benda an linke Ideologen genauso wie an rechte. Beide gibt es nach wie vor. Autoritäre Befindlichkeiten machen sich zum Beispiel bemerkbar, wenn linke Agitatoren an den Universitäten den Professoren diktieren wollen, was sie zu lehren, und den Studierenden, was sie zu denken haben. Sie machen sich bemerkbar, wenn Scharfmacher auf Twittermobs es darauf anlegen, Figuren des öffentlichen Lebens oder gewöhnliche Bürger niederzumachen, weil sie gegen ungeschriebene Sprachregelungen verstoßen. Sie machten sich bemerkbar, als intellektuelle Spindoktoren der britischen Labour Party jede Kritik an Jeremy Corbyns Führung unterdrückten, selbst als längst klar war, dass dessen ultralinke Agenda im Land auf Ablehnung stieß, und sie machte sich bemerkbar unter Labour-Aktivisten, die den Antisemitismus innerhalb der Partei erst leugneten und dann kleinredeten.

Doch obwohl die kulturelle Macht der autoritären Linken zunimmt, befinden sich die einzigen modernen Intellektuellen, die in westlichen Demokratien echte politische Macht erlangt haben – die einzigen, die an Kabinettstischen sitzen, an Regierungskoalitionen beteiligt sind und wichtige politische Parteien führen – , auf der Seite, die wir für gewöhnlich als »rechts« bezeichnen. Es handelt sich allerdings um eine besondere Ausprägung der Rechten, die wenig gemein haben mit den politischen Bewegungen, die man in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter dieser Bezeichnung zusammenfasste. Die alte Rechte – britische Tories, amerikanische Republikaner, osteuropäische Antikommunisten, deutsche Christdemokraten und französische Gaullisten – hat zwar jeweils eigene Wurzeln, doch als Gruppe bekannten sie sich zumindest bis vor Kurzem nicht nur zur repräsentativen Demokratie, sondern auch zur Glaubensfreiheit, zur Unabhängigkeit der Justiz, zur Presse- und Meinungsfreiheit, zur wirtschaftlichen Integration, zu internationalen Organisationen, zum transatlantischen Bündnis und zur politischen Idee des »Westens«.

Im Gegensatz dazu ist die neue Rechte nicht konservativ und will nichts vom Bestehenden bewahren. In Kontinentaleuropa verachtet sie die Christdemokraten, die zusammen mit ihrer kirchlichen Basis nach dem Albtraum des Zweiten Weltkriegs die Europäische Union aus der Taufe hoben. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien hat die neue Rechte mit dem altmodischen Konservatismus Burke’scher Prägung gebrochen, der raschen Veränderungen jeglicher Art misstraut. Sosehr die neuen Rechten die Bolschewiken hassen mögen, haben sie mehr mit ihnen gemein als mit den Konservativen: Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.

In diesem Buch beschreibe ich diese neue Generation von clercs und die neue Realität, die sie schaffen. Beginnen werde ich bei einigen, die ich in Osteuropa kenne, um dann eine andere, aber parallele Geschichte in Großbritannien zu erzählen, wohin ich enge Bindungen habe, und mit den Vereinigten Staaten zu enden, wo ich geboren wurde, mit einigen Zwischenstationen in anderen Ländern. Zu den hier beschriebenen Menschen gehören nationalistische Ideologen genauso wie hochgesinnte politische Essayisten; die einen verfassen anspruchsvolle Bücher, andere lancieren Verschwörungstheorien im Internet. Einige werden von derselben Sorge, Wut und Harmoniesucht angetrieben, die auch ihre Leser und Follower beschäftigen. Ein Teil wurde durch Auseinandersetzungen mit der kulturellen Linken radikalisiert oder von der Schwäche der liberalen Mitte abgestoßen. Andere sind Zyniker und bedienen sich einer radikalen und autoritären Rhetorik, weil sie sich davon Macht und Anerkennung erhoffen. Es gibt Apokalyptiker, die überzeugt sind, dass ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht ist und gerettet werden muss, egal, wie das Ergebnis aussieht. Einige sind zutiefst religiös. Manche genießen das Chaos und wollen es herbeiführen, um der Gesellschaft eine neue Ordnung aufzuzwingen. Sie alle versuchen ihre Nationen umzudefinieren, Sozialverträge umzuschreiben und manchmal auch die demokratischen Regeln zu ändern, sodass sie nie die Macht verlieren. Alexander Hamilton warnte vor ihnen, Cicero bekämpfte sie. Einige dieser Menschen waren einmal meine Freunde.

Kapitel 2: Wie Demagogen siegen

Monarchie, Tyrannei, Oligarchie, Demokratie – diese Herrschaftsformen kannten schon Platon und Aristoteles vor über zwei Jahrtausenden. Doch der nicht freiheitliche Einparteienstaat, wie wir ihn heute von China über Venezuela bis nach Zimbabwe überall auf der Welt finden, wurde erst 1917 von Lenin in Russland erfunden. In den Politologielehrbüchern der Zukunft wird man sich an den Gründer der Sowjetunion nicht nur als Marxisten erinnern, sondern auch als Erfinder einer bleibenden politischen Organisationsform. In seine Fußstapfen treten viele der Autokraten von heute.

Im Gegensatz zum Marxismus ist die illiberale Einparteienherrschaft keine Philosophie. Sie ist ein Mechanismus des Machterhalts und verträgt sich mit vielen Ideologien. Sie funktioniert, weil sie zweifelsfrei definiert, wer der Elite angehört – der politischen Elite, der kulturellen Elite, der finanziellen Elite. In den vorrevolutionären Monarchien Russlands und Frankreichs fiel das Recht zur Herrschaft der Aristokratie zu, die sich über strenge Regeln der Heirat und Etikette definierte. In modernen westlichen Demokratien wird dieses Recht zumindest theoretisch in verschiedenen Formen von Wettbewerb vergeben: im politischen Wettstreit und in Wahlen, Leistungstests, die über den Zugang zur höheren Bildung und zum Beamtentum entscheiden, freien Märkten. In der Regel bleiben Überreste alter gesellschaftlicher Hierarchien erhalten, doch in Ländern wie Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Deutschland und bis vor Kurzem auch in Polen ging man zumeist davon aus, dass der demokratische Wettbewerb die gerechteste und effizienteste Methode zur Verteilung der Macht ist. Diejenigen Politiker sollten regieren, die am kompetentesten sind und die meisten Menschen ansprechen. In den staatlichen Institutionen – dem Justizsystem und dem Beamtentum – sollten die Qualifiziertesten beschäftigt sein. Die Bedingungen des Wettbewerbs sollten für alle Bewerber möglichst gleich sein, um ein faires Ergebnis zu gewährleisten.