Roter Hunger - Anne Applebaum - E-Book
SONDERANGEBOT

Roter Hunger E-Book

Anne Applebaum

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Holodomor: die umfassende Darstellung eines der größten Menschheitsverbrechen

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist ohne diese historische Last nicht zu verstehen - der erzwungene Hungertod von mehr als drei Millionen Ukrainern 1932 und 1933, Holodomor genannt, war eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Und sie hat Folgen bis heute – Stalins „Krieg gegen die Ukraine“ hat sich tief im kollektiven Bewusstsein der osteuropäischen Völker verankert.

Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum vereint in ihrer Darstellung auf eindrückliche Weise die Perspektive der Täter und jene der Opfer: Sie zeigt Stalins Terrorregime gegen die Ukraine, die Umstände der Vernichtungspolitik - und verleiht zugleich den hungernden Ukrainern eine Stimme. Ein gewaltiges Buch, erschütternd und erhellend zugleich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 781

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Applebaum

ROTER HUNGER

Stalins Krieg gegen die Ukraine

Aus dem Englischenvon Martin Richter

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Red Famine. Stalin’s War on Ukraine« bei Doubleday, New York.
4. AuflageCopyright © 2017 Anne ApplebaumCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Bert HoppeKarten: Peter Palm, BerlinUmschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, KölnUmschlagabbildung: 123RF/Jim Mills; Fotolia.com/snyGGGSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15964-1V004
www.siedler-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Жeртвам

Den Opfern

INHALT

Vorwort

EINLEITUNGDie ukrainische Frage

KAPITEL 1Die ukrainische Revolution, 1917

KAPITEL 2Rebellion, 1919

KAPITEL 3Hunger und Waffenstillstand, die 1920er Jahre

KAPITEL 4Die Doppelkrise, 1927–1929

KAPITEL 5 Kollektivierung – die Revolution auf dem Land, 1930

KAPITEL 6Rebellion, 1930

KAPITEL 7Die Kollektivierung scheitert, 1931/32

KAPITEL 8Hungerbeschlüsse – Beschlagnahmungen, schwarze Listen und Grenzen, 1932

KAPITEL 9Hungerbeschlüsse – Das Ende der Ukrainisierung, 1932

KAPITEL 10Hungerbeschlüsse – Durchsuchungen und Durchsucher, 1932

KAPITEL 11Hungersnot, Frühjahr und Sommer 1933

KAPITEL 12Überleben, Frühjahr und Sommer 1933

KAPITEL 13Nachwirkungen

KAPITEL 14Die Vertuschung

KAPITEL 15Der Holodomor in Geschichte und Politik

EPILOGDie Wiederaufnahme der ukrainischen Frage

ANHANG

Danksagung

Bibliographie

Bildteil

Bildnachweis

Register

Anmerkungen

Vorwort

Es fehlte nicht an Warnzeichen. Zu Beginn des Frühjahrs 1932 begannen die Bauern der Ukraine zu hungern. Berichte der Geheimpolizei und Briefe aus den Getreideanbaugebieten der ganzen Sowjetunion – dem Nordkaukasus, der Wolgaregion, Westsibirien – erwähnten Kinder mit vor Hunger geschwollenen Bäuchen, Familien, die Gras und Eicheln aßen, Bauern, die ihr Zuhause auf der Suche nach Lebensmitteln verließen. Im März fand eine Ärztekommission in einem Dorf bei Odessa Leichen auf der Straße. Niemand hatte die Kraft, sie zu begraben. In einem anderen Dorf versuchten die örtlichen Behörden, die Todesfälle vor Außenstehenden zu verbergen. Sie leugneten, was geschah, obwohl es sich vor den Augen ihrer Besucher abspielte.1

Manche schrieben direkt an den Kreml und baten um eine Erklärung:

Werter Genosse Stalin, gibt es ein Gesetz der Sowjetregierung, das besagt, Dorfbewohner müssten hungern? Wir, die Kolchosarbeiter, haben nämlich seit dem 1. Januar auf unserem Hof kein Stück Brot mehr gehabt. … Wie sollen wir eine sozialistische Volkswirtschaft aufbauen, wenn wir zum Hungertod verurteilt sind, weil die Ernte erst in vier Monaten kommt? Wofür sind wir an den Fronten gestorben? Damit wir hungern und unseren Kindern beim Verhungern zusehen?2

Andere hielten es für unmöglich, dass der Sowjetstaat dafür verantwortlich sein könne:

Jeden Tag verhungern zehn bis zwanzig Familien in den Dörfern, Kinder laufen weg, und Bahnhöfe sind überfüllt mit fliehenden Dorfbewohnern. Auf dem Land gibt es keine Pferde und kein Vieh mehr. … Die Bourgeoisie hat hier eine echte Hungersnot geschaffen als Teil des kapitalistischen Plans, die ganze Bauernklasse gegen die Sowjetregierung aufzuhetzen.3

Doch die Hungersnot war kein Werk der Bourgeoisie, sondern eine Folge der katastrophalen Entscheidung der Sowjetunion, die Bauern zur Aufgabe ihres Lands zu zwingen, sie zur Arbeit auf Kolchosen zu verpflichten und die wohlhabenderen Bauern, die sogenannten Kulaken (wörtlich: »Fäuste«), aus ihren Häusern zu vertreiben. All diese Maßnahmen, für die letztlich Joseph Stalin, der Generalsekretär der KPdSU, verantwortlich war, und das daraus folgende Chaos hatten das Land an den Rand einer Hungersnot gebracht. Während des ganzen Frühjahrs und Sommers 1932 schickten viele seiner Genossen aus allen Teilen der UdSSR eindringliche Botschaften an ihn, in denen sie die Krise beschrieben. Ukrainische KP-Führer waren besonders verzweifelt, und mehrere schrieben ihm lange Briefe, in denen sie um Hilfe baten.

Viele von ihnen glaubten im Spätsommer 1932, eine größere Tragödie lasse sich noch abwenden. Das Regime hätte um internationale Hilfe bitten können wie bei der Hungersnot 1921. Es hätte die Getreideexporte oder die zu hohen Getreideabgaben stoppen können. Es hätte Bauern in Hungerregionen Hilfe anbieten können – und das tat es in gewissem Maße auch, aber viel zu wenig.

Stattdessen fasste das sowjetische Politbüro, das höchste Entscheidungsgremium der Kommunistischen Partei, im Herbst 1932 eine Reihe von Beschlüssen, die die Hungersnot in den ländlichen Regionen der Ukraine ausweiteten und verschärften. Zugleich hinderte man Bauern daran, die Republik zu verlassen, um Lebensmittel zu suchen. Auf dem Höhepunkt der Krise durchsuchten Teams aus Polizisten und Parteiaktivisten, getrieben von Hunger und Angst und angestachelt durch ein Jahrzehnt voller Hasspropaganda und Verschwörungsrhetorik, die Häuser der Bauern und nahmen alles Essbare mit: Kartoffeln, Rüben, Kürbisse, Bohnen, Erbsen, was immer in Backöfen und Schränken lag, dazu Vieh und Haustiere.

Das Ergebnis war eine Katastrophe: Mindestens 5 Millionen Menschen verhungerten in der ganzen Sowjetunion zwischen 1931 und 1934, darunter mehr als 3,9 Millionen Ukrainer. Wegen ihres Ausmaßes wurde die Hungersnot von 1932/33 in Emigrantenpublikationen damals und später als »Holodomor« bezeichnet, eine Zusammensetzung der ukrainischen Wörter holod (Hunger) und mor (Tötung, Mord).4

Doch die Hungersnot ist nur ein Teil der Geschichte. Während auf dem Land die Bauern starben, attackierte die Geheimpolizei die geistigen und politischen Eliten der Ukraine. Als die Hungersnot sich ausbreitete, begann eine Hetz- und Repressionskampagne gegen ukrainische Intellektuelle, Professoren, Museumskuratoren, Schriftsteller, Künstler, Priester, Theologen, Beamte und Funktionäre. Jeder, der mit der Ukrainischen Volksrepublik verbunden gewesen war, die vom Juni 1917 an einige Monate lang existiert hatte, jeder, der für die ukrainische Sprache oder Geschichte eingetreten war, jeder mit einer unabhängigen literarischen oder künstlerischen Karriere konnte öffentlich beleidigt, eingesperrt, ins Arbeitslager geschickt oder hingerichtet werden. Als er diese Vorgänge nicht mehr mit ansehen konnte, nahm sich Mykola Skrypnyk, einer der bekanntesten ukrainischen KP-Führer, 1933 das Leben. Er war nicht der einzige.

Aus diesen beiden Strategien – dem Holodomor im Winter und Frühjahr 1932/33 und der Unterdrückung der intellektuellen und politischen Klasse der Ukraine in den Monaten danach – resultierte die Sowjetisierung der Ukraine, die Zerstörung des ukrainischen Nationalbewusstseins und die Zerschlagung jeder ukrainischen Infragestellung der sowjetischen Einheit. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der den Ausdruck »Genozid« prägte, nannte die Ukraine dieser Epoche ein »klassisches Beispiel« seines Konzepts: »Es ist ein Fall von Genozid, von Vernichtung, nicht nur von Einzelnen, sondern von einer Kultur und einer Nation.« Schon bald ist der Begriff »Genozid« allerdings in einem engeren, legalistischeren Sinne verwendet worden. Er hat sich auch zu einem kontroversen Schlüsselbegriff entwickelt, den Russen ebenso wie Ukrainer als auch verschiedene Gruppen innerhalb der Ukraine politisch instrumentalisieren. Aus diesem Grund wird die Frage, ob der Holodomor ein »Genozid« war – und auch Lemkins ukrainische Verbindungen und Einflüsse –, im Epilog dieses Buchs gesondert behandelt.

Das zentrale Thema ist konkreter. Was genau geschah in der Ukraine zwischen 1917 und 1934, speziell im Herbst, Winter und Frühjahr 1932/33? Welche Kette von Ereignissen und welche Mentalität führten zur Hungersnot? Wer trug die Verantwortung? Welche Stelle nimmt diese schreckliche Episode in der Geschichte der Ukraine und der ukrainischen Nationalbewegung ein?

Fast ebenso wichtig ist die Frage, was danach geschah. Die Sowjetisierung der Ukraine begann nicht mit der Hungersnot und endete nicht damit. Festnahmen ukrainischer Intellektueller und führender Politiker gingen in den 1930er Jahren weiter. Über ein halbes Jahrhundert lang gingen die Sowjetführer brutal gegen den ukrainischen Nationalismus vor, in welcher Form er auch immer auftrat, ob als Aufstand nach dem Zweiten Weltkrieg oder als Opposition in den 1980er Jahren. Während dieser ganzen Zeit trat die Sowjetisierung häufig im Gewand der Russifizierung auf. Die ukrainische Sprache wurde verdrängt, ukrainische Geschichte nicht gelehrt.

Vor allem wurde die Geschichte der Hungersnot von 1932/33 nicht gelehrt. Stattdessen leugnete die UdSSR von 1933 bis 1991 einfach, es habe überhaupt eine Hungersnot gegeben. Der Sowjetstaat zerstörte lokale Archive, stellte sicher, dass Totenscheine keine Unterernährung erwähnten, und fälschte sogar öffentlich zugängliche Volkszählungsdaten, um die Ereignisse zu verschleiern.5 Solange die UdSSR existierte, war es nicht möglich, eine umfassend dokumentierte Geschichte der Hungersnot und der damit einhergehenden Repressionen zu schreiben.

Doch 1991 wurde Stalins schlimmste Befürchtung Wirklichkeit. Die Ukraine erklärte sich für unabhängig. Die Sowjetunion zerfiel, teilweise als Folge des ukrainischen Wunsches, sie zu verlassen. Zum ersten Mal in der Geschichte entstand eine souveräne Ukraine und dazu eine neue Generation ukrainischer Historikerinnen und Historiker, Archivare, Journalisten und Verleger. Dank ihrer Bemühungen kann nun die vollständige Geschichte der Hungersnot 1932/33 erzählt werden.

Dieses Buch beginnt 1917 mit der ukrainischen Revolution und der ukrainischen Nationalbewegung, die 1932/33 zerstört wurde. Es endet in der Gegenwart mit einer Erörterung der aktuellen Erinnerungspolitik in der Ukraine. Es konzentriert sich auf die Hungersnot in der Ukraine, die zwar Teil einer größeren sowjetischen war, aber eigene Ursachen und Merkmale hatte. Der Historiker Andrea Graziosi hat darauf hingewiesen, dass niemand die allgemeine Geschichte der NS-Verbrechen mit der sehr spezifischen Geschichte von Hitlers Verfolgung der Juden oder der Sinti und Roma verwechselt. Derselben Logik folgend, bespricht dieses Buch die landesweiten Hungersnöte zwischen 1930 und 1934 – die ebenfalls viele Opfer forderten, besonders in Kasachstan und bestimmten russischen Provinzen –, konzentriert sich aber stärker auf die spezifische Tragödie der Ukraine.6

Das Buch spiegelt auch ein Vierteljahrhundert Forschung über die Ukraine wider. In den frühen 1980er Jahren fasste Robert Conquest alles damals zugängliche Material über die Hungersnot zusammen, und sein Buch Harvest of Sorrow von 1986 (dt. Ernte des Todes, 1988) ist immer noch ein Meilenstein in der Literatur über die Sowjetunion. Doch in den drei Jahrzehnten seit dem Ende der UdSSR und der Entstehung einer souveränen Ukraine haben mehrere großangelegte nationale Kampagnen zur Sammlung von Zeugnissen der Oral History und von Erinnerungen Tausende neuer Berichte aus dem ganzen Land erbracht.7 Im selben Zeitraum sind die Archive in Kiew und anderen ukrainischen Städten zugänglich geworden, während es in Moskau weiterhin große Einschränkungen für Forscher gibt; der Anteil des der Öffentlichkeit freigegebenen Materials ist in der Ukraine einer der höchsten in Europa. Die ukrainische Regierung hat Forscher finanziell unterstützt, um Dokumentensammlungen zu veröffentlichen, welche die Forschung weiter vorangebracht haben.8 Anerkannte Historiker der Hungersnot und der stalinistischen Epoche in der Ukraine – unter ihnen Olga Bertelsen, Hennadij Borjak, Wasyl Danylenko, Ljudmyla Hrynewytsch, Roman Kruzyk, Stanislaw Kultschyzkyj, Jurij Myzyk, Wasyl Marotschko, Heorhij Papakin, Ruslan Pyrih, Jurij Schapowal, Wolodymyr Serhijtschuk, Walerij Wasyljew, Oleksandra Weselowa und Hennadij Jefimenko – haben zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, darunter Sammlungen von Dokumenten und Zeitzeugenberichten. Oleh Wolowyna und ein Team von Demographen – Oleksandr Hladun, Natalja Lewtschuk, Omeljan Rudnyzkyj – haben endlich mit der schwierigen Arbeit begonnen, die Zahl der Opfer zu bestimmen. Das Harvard Ukrainian Research Institute hat mit vielen dieser Forscher zusammengearbeitet, um ihre Arbeit zu veröffentlichen und zu verbreiten.

Das Holodomor Research and Education Consortium in Toronto unter der Leitung von Marta Basiuk und seine Partnerorganisation in der Ukraine unter der Leitung von Ljudmyla Hrynewytsch unterstützen auch weiterhin neue Forschungen. Jüngere Wissenschaftler entwickeln überdies neue Fragestellungen. Daria Mattinglys Arbeit über Motive und Hintergrund der Personen, die Lebensmittel bei hungernden Bauern beschlagnahmten, und Tetjana Borjaks Werk zur Oral History sind beide herausragend; sie haben auch wichtige Erkenntnisse zu diesem Buch beigetragen. Westliche Forscher haben ebenfalls neue Beiträge geliefert. Lynne Violas Archivstudien zur Kollektivierung und der darauf folgenden Bauernrebellion haben das Bild der 1930er Jahre verändert. Terry Martin war der erste, der die Chronologie von Stalins Entscheidungen im Herbst 1932 offenlegte, und Timothy Snyder und Andrea Graziosi zählten zu den ersten, die ihre Bedeutung erkannten. Serhii Plokhy und sein Team in Harvard haben die ungewöhnliche Anstrengung unternommen, eine Landkarte der Hungersnot herzustellen, um ihren Ablauf besser zu verstehen. Ich bin ihnen allen für die Erkenntnisse und in einigen Fällen auch für die Freundschaft dankbar, die so viel zu diesem Projekt beigetragen haben.

Wäre dieses Buch in einer anderen Zeit geschrieben worden, könnte diese sehr kurze Einleitung zu einem komplexen Thema vielleicht hier enden. Weil aber die Hungersnot die ukrainische Nationalbewegung zerstörte, weil diese Bewegung 1991 erneuert wurde und weil die Führung des heutigen Russland noch immer die Legitimität des ukrainischen Staats in Frage stellt, will ich hier erwähnen, dass ich die Notwendigkeit einer neuen Geschichte der Hungersnot zuerst 2010 mit Kollegen am Harvard Ukrainian Research Institute diskutiert habe. Wiktor Janukowitsch war gerade mit russischer Unterstützung zum ukrainischen Präsidenten gewählt worden. Damals zog die Ukraine wenig politische Aufmerksamkeit aus dem Rest Europas auf sich und tauchte kaum in der Presse auf. Damals gab es keinen Grund zu der Annahme, eine neue Untersuchung von 1932/33 lasse sich als politische Aussage irgendeiner Art interpretieren.

Die Maidan-Revolution von 2014, Janukowitschs Entscheidung, auf Protestierende schießen zu lassen und dann aus dem Land zu fliehen, die russische Invasion und Annexion der Krim, die russische Invasion der Ostukraine und die damit einhergehende russische Propagandakampagne rückten die Ukraine unerwarteterweise ins Zentrum der internationalen Politik, während ich an diesem Buch arbeitete. Meine Forschung über die Ukraine wurde von den dortigen Vorgängen sogar aufgehalten, zum einen, weil ich darüber schrieb, zum anderen, weil meine ukrainischen Kollegen so stark ins aktuelle Geschehen involviert waren. Obwohl die Ereignisse jenes Jahres aber die Ukraine ins Zentrum der Weltpolitik rückten, wurde dieses Buch nicht als Reaktion darauf geschrieben. Ebenso wenig nimmt es Partei für oder gegen bestimmte ukrainische Politiker oder Parteien oder reagiert auf das heutige Geschehen in der Ukraine. Es versucht vielmehr, die Geschichte der Hungersnot mit Hilfe neuer Archivunterlagen, neuer Augenzeugenberichte und neuer Forschungsergebnisse zu erzählen und die Arbeit der oben genannten bedeutenden Historiker zusammenzuführen.

Das bedeutet nicht, dass die ukrainische Revolution, die frühen Jahre der Sowjetukraine, die massenhafte Unterdrückung der ukrainischen Elite wie auch der Holodomor keine Beziehung zu aktuellen Ereignissen hätten. Ganz im Gegenteil, sie sind die entscheidende Vorgeschichte, die ihnen zugrunde liegt und sie erklärt. Die Hungersnot und ihre Hinterlassenschaft spielen eine gewaltige Rolle in aktuellen russischen und ukrainischen Diskussionen über ihre Identität, ihr Verhältnis und ihre gemeinsame sowjetische Erfahrung. Bevor man aber diese Diskussionen beschreibt oder bewertet, ist es wichtig, zunächst zu begreifen, was eigentlich geschah.

Wenn ich sterbe, sollt zum Grab ihr

Як умру, то поховайте

Den Kurgan mir bereiten,

Мене на могилі

In der lieben Ukraine

Серед степу широкого

Auf der Steppe, der breiten,

На Вкраïні милій,

Wo man weite Felder sieht,

Щоб лани широкополі,

Den Dnepr und seine Hänge,

І Дніпро, і кручі

Wo man hören kann sein Tosen,

Було видно, було чути,

Seine wilden Sänge.

Як реве ревучий.

Taras Schewtschenko, 18451

EINLEITUNGDie ukrainische Frage

Jahrhundertelang bestimmte die Geographie das Schicksal der Ukraine. Die Karpaten bildeten die Grenze im Südwesten, doch die sanften Hügel und Felder im Nordwesten konnten eindringende Armeen nicht aufhalten, ebenso wenig die offene Steppe im Osten. Alle großen ukrainischen Städte – Dnipropetrowsk und Odessa, Donezk und Charkiw, Poltawa, Tscherkasy und natürlich die alte Hauptstadt Kiew – liegen in der Osteuropäischen Ebene, einer Tiefebene, die den größten Teil des Landes einnimmt. Nikolai Gogol, der Ukrainer war, aber auf Russisch schrieb, bemerkte einmal, der Dnipro (russisch Dnepr) fließe durchs Zentrum der Ukraine und bilde ein Becken: »Alle Flüsse führen, wie die Zweige eines Baumes, zur Mitte hin, alle fließen ins Land hinein, kein einziger nimmt seinen Weg dort, wo die Grenze verlief, so konnte keiner als natürliche Grenze gegen die Nachbarvölker dienen.« Das hatte politische Folgen: »Hätte es wenigstens nach einer Seite hin eine natürliche Grenze gehabt – ein Gebirge oder das Meer –, so hätte das Volk, das sich hier niedergelassen hatte, sein politisches Dasein bewahrt, hätte einen eigenen Staat gebildet.«2

Das Fehlen natürlicher Grenzen ist einer der Gründe, warum es den Ukrainern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht gelang, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu bilden. Seit dem späten Mittelalter gibt es eine eigene ukrainische Sprache mit slawischen Wurzeln, die mit dem Polnischen und Russischen verwandt, aber eigenständig ist, ähnlich wie das Italienische mit dem Spanischen und Französischen verwandt, aber eigenständig ist. Die Ukrainer hatten eine eigene Küche, eigene Sitten und lokale Traditionen, eigene Bösewichte, Helden und Legenden. Wie bei anderen europäischen Völkern bildete sich das ukrainische Nationalbewusstsein im 18. und 19. Jahrhundert weiter heraus. Während des größten Teils seiner Geschichte war aber das Gebiet, das wir heute die Ukraine nennen, eine Kolonie anderer europäischer Reiche, ebenso wie Irland oder die Slowakei.

Die Ukraine – was im Russischen wie im Polnischen »Grenzland« bedeutet – gehörte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zum Russischen Reich. Davor gehörte dasselbe Gebiet zu Polen oder vielmehr der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die es 1569 vom Großfürstentum Litauen geerbt hatte. Noch früher lag die Ukraine im Zentrum der Kiewer Rus, des im 9. Jahrhundert gebildeten mittelalterlichen Staats aus slawischen Stämmen und Wikingeradel. Er ist in der Erinnerung dieser Region ein fast mythisches Reich, das Russen, Weißrussen und Ukrainer gleichermaßen als Vorläufer beanspruchen.

Viele Jahrhunderte lang war die Ukraine zwischen unterschiedlichen Reichen umkämpft, und manchmal standen ukrainischsprachige Soldaten auf beiden Seiten der Front. 1621 kämpften polnische Husaren mit türkischen Janitscharen um die Kontrolle der heute ukrainischen Stadt Chotyn. 1914 standen die Truppen des Zaren in Galizien denen des österreichisch-ungarischen Kaisers gegenüber. Und von 1941 bis 1944 kämpfte Hitlers Wehrmacht in Kiew, Lwiw, Odessa und Sewastopol gegen Stalins Rote Armee.

Der Kampf um die Kontrolle des ukrainischen Territoriums besaß stets auch eine geistige Komponente. Seit Europäer damit begannen, über die Bedeutung von Nationen und Nationalismus zu nachzudenken, haben Historiker, Schriftsteller, Journalisten, Dichter und Ethnographen über die Ausdehnung der Ukraine und das Wesen der Ukrainer debattiert. Seit den ersten Kontakten im frühen Mittelalter erkannten die Polen stets an, dass sich die Ukrainer sprachlich und kulturell von ihnen unterschieden, auch wenn sie demselben Staat angehörten. Viele Ukrainer, die im 16. und 17. Jahrhundert polnische Adelstitel annahmen, blieben orthodoxe Christen und traten nicht zum Katholizismus über; ukrainische Bauern sprachen eine Sprache, die von den Polen »Ruthenisch« genannt wurde, und wurden stets als Menschen beschrieben, die andere Sitten, andere Musik, eine andere Küche hatten.

Obwohl sie es auf dem Zenith ihrer imperialen Macht weniger gern zugaben, spürten auch die Moskowiter instinktiv, dass die Ukraine, die sie manchmal »Südrussland« oder »Kleinrussland« nannten, sich von ihrer nördlichen Heimat unterschied. Der frühe russische Reisende Fürst Iwan Dolgorukow beschrieb 1810 den Augenblick, als seine Reisegesellschaft endgültig »die Grenzen der Ukraine überschritt. Meine Gedanken wandten sich [Bohdan] Chmelnyzkyj und [Iwan] Mazeppa zu« – frühen ukrainischen Volksführern –, »und die Baumalleen verschwanden … überall gab es ausnahmslos Lehmhütten, keine andere Behausung.«3 Der Historiker Serhiy Bilenky hat bemerkt, dass Russen im 19. Jahrhundert oft dieselbe paternalistische Haltung gegenüber der Ukraine zeigten wie Nordeuropäer gegenüber Italien. Die Ukraine war eine idealisierte, alternative Nation, primitiver, aber zugleich authentischer, emotionaler und poetischer als Russland.4 Auch Polen sehnten sich nach »ihrer« Ukraine noch lange, nachdem sie verloren war, und machten sie zum Thema romantischer Gedichte und Prosaschriften.

Obwohl sie aber die Unterschiede anerkannten, suchten Polen wie Russen manchmal die Existenz einer ukrainischen Nation zu untergraben oder zu leugnen. »Die Geschichte Kleinrusslands ist wie ein Zufluss, der im Hauptstrom der russischen Geschichte aufgeht«, schrieb Wissarion Belinsky, ein führender Theoretiker des russischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. »Die Kleinrussen waren immer ein Stamm, nie ein Volk – und noch weniger ein Staat.«5 Russische Gelehrte und Bürokraten sahen die ukrainische Sprache als »einen Dialekt oder Halbdialekt oder eine Ausdrucksform der gesamtrussischen Sprache, mit einem Wort eine Mundart, die als solche kein Recht auf eine unabhängige Existenz hatte«.6 Inoffiziell benutzten russische Schriftsteller sie, um Umgangs- oder Bauernsprache zu kennzeichnen.7 Polnische Autoren neigten dazu, die »Leere« des Gebiets im Osten zu betonen, und beschrieben die Ukraine oft als »unzivilisiertes Grenzland, dem sie Kultur und staatliche Institutionen brachten«.8 Die Polen benutzten auch den Ausdruck Dzikie pola (wilde Felder) für das leere Territorium der Ostukraine, eine Region, die für ihre nationale Imagination eine ähnliche Rolle spielte wie der Wilde Westen für die amerikanische.9

Hinter solchen Überzeugungen lagen handfeste wirtschaftliche Gründe. Schon der griechische Historiker Herodot schrieb über die berühmte »Schwarzerde« der Ukraine, den fetten Boden, der im unteren Teil des Dnipro-Beckens besonders fruchtbar ist: »An seinen Ufern wächst das vortrefflichste Korn und, wo das Land nicht bebaut wird, das dichteste Gras.«10 Das Schwarzerdegebiet umfasst etwa zwei Drittel der modernen Ukraine, erstreckt sich von dort nach Russland und Kasachstan und führt neben dem relativ milden Klima dazu, dass die Ukraine zwei Ernten im Jahr einfahren kann. Der Winterweizen wird im Herbst gesät und im Juli und August geerntet; das im April und Mai gesäte Getreide wird im Oktober und November geerntet. Das Korn des überaus fruchtbaren ukrainischen Bodens hat seit langem ehrgeizige Kaufleute angezogen. Seit dem Spätmittelalter brachten polnische Händler ukrainisches Getreide nach Norden zu den Handelsrouten der Ostsee. Polnische Herrscher und Adlige gründeten frühe »Freihandelszonen« und boten Bauern, die ukrainisches Land bestellen und entwickeln wollten, Freiheit von Steuern und Kriegsdienst.11 Der Wunsch, ein so wertvolles Gebiet zu besitzen, stand oft hinter den kolonialistischen Argumentationen. Weder Polen noch Russen wollten eingestehen, dass ihre Kornkammer eine eigenständige Identität hatte.

Dennoch bildete sich in den Gebieten der heutigen Ukraine unabhängig von dem, was ihre Nachbarn meinten, eine eigenständige ukrainische Identität aus. Seit dem Ende des Mittelalters teilten die Bewohner dieser Region ein Gefühl, wer sie seien, wobei sie sich oft, aber nicht immer, im Gegensatz zu ausländischen Besatzungsmächten definierten, ob Russen oder Polen. Wie die Russen und Weißrussen führten sie ihre Geschichte auf die Großfürsten der Kiewer Rus zurück, und viele fühlten sich als Teil einer großen ostslawischen Kultur. Andere sahen sich als Unterdrückte oder Rebellen und bewunderten besonders die großen Aufstände der Saporoscher Kosaken unter Führung von Bohdan Chmelnyzkyj gegen die polnische Herrschaft im 17. Jahrhundert und von Iwan Mazeppa gegen die russische Herrschaft zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die ukrainischen Kosaken – selbstregierte halbmilitärische Gemeinschaften mit eigenen Gesetzen – waren die ersten Ukrainer, die dieses Gefühl von Identität und Unzufriedenheit in konkrete politische Projekte umsetzten, durch die sie außergewöhnliche Privilegien und eine gewisse Autonomie von den Zaren errangen. 1610 und 1618 schlossen sich ukrainische Kosaken der polnischen Armee bei ihrem Marsch auf Moskau an, beteiligten sich an der Belagerung der Stadt und trugen dazu bei, dass der polnisch-russische Konflikt jener Epoche zumindest zeitweise zugunsten der Polen ausging (was folgende Generationen russischer und sowjetischer Führer sicher nie vergaßen). Später verliehen die Zaren den ukrainischen Kosaken und den russischsprachigen Donkosaken einen besonderen Status, um ihre Loyalität zum Russischen Reich zu sichern, wodurch sie ihre eigenständige Identität behalten durften. Ihre Privilegien garantierten, dass sie nie revoltierten. Doch Chmelnyzkyj und Mazeppa hinterließen ihre Spuren in der polnischen und russischen Erinnerung und auch in der europäischen Geschichte und Literatur. »L’Ukraine a toujours aspiré à être libre«, schrieb Voltaire, als die Nachricht von Mazeppas Aufstand Frankreich erreichte: »Die Ukraine hat immer danach gestrebt, frei zu sein.«12

In den Jahrhunderten der Kolonialherrschaft nahmen die Regionen der Ukraine einen unterschiedlichen Charakter an. Die Bewohner der Ostukraine, die länger unter russischer Herrschaft waren, sprachen eine dem Russischen etwas nähere Form des Ukrainischen. Sie gehörten auch eher der russisch-orthodoxen Kirche an, deren Riten aus Byzanz stammten und deren Hierarchie Moskau unterstand. Die Bewohner Galiziens, Wolhyniens und Podoliens lebten länger unter der Herrschaft Polens und nach den polnischen Teilungen des späten 18. Jahrhunderts unter der Österreich-Ungarns. Sie sprachen eine »polnischere« Form des Ukrainischen und gehörten eher der römisch- oder griechisch-katholischen Kirche an. Letztere besitzt ähnliche Riten wie die orthodoxe Kirche, erkennt aber die Autorität des Papstes an.

Weil sich aber die Grenzen zwischen allen Regionalmächten so oft verschoben, lebten und leben die Angehörigen beider Kirchen auf beiden Seiten der Trennlinie zwischen den ehemals polnischen und ehemals russischen Gebieten. Als Italiener, Deutsche und andere Europäer im 19. Jahrhundert sich als Völker moderner Nationen zu identifizieren begannen, waren unter den Intellektuellen, die in der Ukraine über »das ukrainische Wesen« debattierten, Orthodoxe wie Katholiken, und sie lebten in der »Ost-« wie in der »Westukraine«. Trotz Unterschieden in Grammatik und Schreibung vereinte auch die Sprache die Ukrainer über Grenzen hinweg. Das kyrillische Alphabet unterschied das Ukrainische vom lateinisch geschriebenen Polnischen. (Die Habsburger versuchten einmal, das lateinische Alphabet einzuführen, aber es setzte sich nicht durch.) Die ukrainische Version der kyrillischen Schrift unterschied sich auch von der russischen, etwa durch einige zusätzliche Buchstaben, was eine allzu große Annäherung beider Sprachen verhinderte.

Lange Zeit wurde das Ukrainische vor allem auf dem Land gesprochen. Da die Ukraine eine Kolonie Polens und dann Russlands und Österreich-Ungarns war, wurden die großen Städte – wie Trotzki einmal bemerkte – zu Zentren der kolonialen Kontrolle, Inseln der russischen, polnischen oder jüdischen Kultur im Meer der ukrainischen Bauernschaft. Bis weit bis ins 20. Jahrhundert blieben Stadt und Land so durch die Sprache geteilt. Die meisten Städter sprachen Russisch, Polnisch oder Jiddisch, die Landbewohner dagegen Ukrainisch. Wenn Juden nicht Jiddisch sprachen, zogen sie oft das Russische vor, die Sprache von Staat und Handel. Die Bauern identifizierten die Städte mit Wohlstand, Kapitalismus und »fremdem« – meist russischem – Einfluss. Ukrainische Stadtbewohner sahen wiederum das Land als zurückgeblieben und primitiv an.

Die Propagierung des »ukrainischen Wesens« erzeugte daher ebenso Konflikte mit den Kolonialherren wie mit den Bewohnern der jüdischen Schtetl, die seit dem Mittelalter auf dem Gebiet der alten polnisch-litauischen Union existierten. Zum Chmelnykyj-Aufstand gehörte auch ein Massenpogrom, bei dem Tausende, vielleicht Zehntausende Juden ermordet wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sahen Ukrainer nur selten die Juden als wichtigste Rivalen an – ukrainische Dichter und Intellektuelle richteten ihren Zorn meist auf Russen und Polen –, aber der weit verbreitete Antisemitismus im Russischen Reich berührte zwangsläufig auch das Verhältnis von Ukrainern und Juden.

Wegen der engen Verbindung zwischen Sprache und Landleben war die ukrainische Nationalbewegung immer stark »bäuerlich« geprägt. Wie in anderen Teilen Europas begannen die Intellektuellen, die das nationale Erwachen der Ukraine anführten, häufig mit der Wiederentdeckung von Sprache und Sitten auf dem Land. Volkskundler und Sprachforscher hielten Kunst, Dichtung und Alltagssprache der ukrainischen Bauern fest. Obwohl das Ukrainische nicht in staatlichen Schulen gelehrt wurde, wurde es zur Sprache rebellischer, gegen das Establishment eingestellter ukrainischer Autoren und Künstler. Auch patriotische Sonntagsschulen unterrichten es nun. Ukrainisch wurde niemals zur Amtssprache, man verwendete es aber in privaten Briefen und in der Dichtung. 1840 veröffentliche Taras Schewtschenko, der 1814 geborene und früh verwaiste Sohn von Leibeigenen, das Buch Kobsar (Der Barde), den ersten herausragenden ukrainischen Gedichtband. Schewtschenkos Dichtung verbindet romantischen Nationalismus und ein idealisiertes Bild des Landlebens mit Zorn über soziale Ungerechtigkeit und prägte den Ton für viele spätere Äußerungen. In einem seiner bekanntesten Gedichte »Sapowit« (Vermächtnis) bat er, an den Ufern des Dnipro bestattet zu werden:

So begrabt mich und erhebt euch,Die Ketten zerfetzet!Mit dem Blut der bösen FeindeDie Freiheit benetzet!

Поховайте та вставайте,Кайдани порвітеІ вражою злою кров’юВолю окропіте…

Die Bedeutung der Bauernschaft führte auch dazu, dass die ukrainische Nationalbewegung von Anfang an für eine populistische und (wie man später sagen würde) »linke« Opposition gegen die russisch- und polnischsprachigen Kaufleute, Landbesitzer und Adligen stand. Aus diesem Grund wurde sie nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Zarenreich durch Alexander II. 1861 rasch stärker. Freiheit für die Bauern bedeutete Freiheit für Ukrainer und einen Schlag gegen ihre russischen und polnischen Herren. Der Kampf für eine stärkere ukrainische Identität war schon damals zugleich ein Kampf für größere politische und wirtschaftliche Gleichheit, was der herrschenden Klasse des Zarenreichs völlig klar war.

Weil sie nie mit staatlichen Institutionen verbunden war, äußerte sich die ukrainische Nationalbewegung von Anfang an in der Gründung einer Vielzahl von autonomen freiwilligen und wohltätigen Organisationen, frühen Beispielen dessen, was wir heute »Zivilgesellschaft« nennen. Ein paar Jahre lang regten »Ukrainophile« nach der Befreiung der Leibeigenen junge Leute dazu an, Selbsthilfe- und Studiengruppen zu bilden, Zeitungen und Zeitschriften herauszubringen, Schulen und Sonntagsschulen zu gründen und die Alphabetisierung der Bauern voranzutreiben. Nationale Ziele äußerten sich in der Forderung nach geistiger Freiheit, Schulbildung und Aufstiegschancen für die Bauern. In diesem Sinne war die ukrainische Nationalbewegung von Anfang an von ähnlichen Bewegungen im Westen inspiriert und enthielt Elemente des westlichen Sozialismus wie des westlichen Liberalismus und Konservatismus.

Diese Phase endete bald. Sobald sie an Kraft gewann, wurde die ukrainische Nationalbewegung genau wie andere Nationalbewegungen von der Führung in St. Petersburg als mögliche Bedrohung für die Einheit des Zarenreichs angesehen. Wie die Georgier, Tschetschenen und andere Gruppen, die Autonomie innerhalb des Reichs anstrebten, stellten die Ukrainer die Vormachtstellung der russischen Sprache und einer russischen Geschichtsdeutung in Frage, für die die Ukraine eine bloße Provinz »Südwestrussland« ohne nationale Identität war. Sie drohten auch, den Bauern weitere Macht zu einem Zeitpunkt zu geben, als diese bereits an wirtschaftlichem Einfluss gewannen. Eine wohlhabendere und besser organisierte ukrainische Bauernschaft, die lesen und schreiben konnte, konnte womöglich auch mehr politische Rechte fordern.

Vor allem die ukrainische Sprache wurde aufs Korn genommen. Während der ersten Bildungsreform des Zarenreichs 1804 erlaubte Zar Alexander I., in staatlichen Schulen einige nichtrussische Sprachen zu verwenden, aber nicht das Ukrainische, weil es angeblich keine »Sprache« sei, sondern nur ein Dialekt.13 In Wirklichkeit waren russische Staatsvertreter sich ebenso klar wie ihre sowjetischen Nachfolger über die politischen Gründe für dieses Verbot – das bis 1917 andauerte – und die Bedrohung, die das Ukrainische für die Zentralregierung darstellte. 1881 erklärte der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, der Gebrauch des Ukrainischen und ukrainischer Lehrbücher in Schulen könne zu ihrem Gebrauch in der höheren Bildung und schließlich in Gesetzgebung, Gerichten und Verwaltung führen, was »zahlreiche Komplikationen und gefährliche Veränderungen für den einheitlichen russischen Staat« schaffen würde.14

Die Beschränkungen für die ukrainische Sprache begrenzten den Einfluss der Nationalbewegung. Sie führten auch zu weit verbreitetem Analphabetismus. Viele Bauern, die auf Russisch unterrichtet wurden, das sie kaum verstanden, machten wenig Fortschritte. Ein Lehrer in Poltawa beklagte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Schüler »rasch vergaßen, was man ihnen beigebracht hatte«, wenn sie auf Russisch lernen mussten. Andere berichteten, ukrainische Schüler in russischen Schulen seien »demoralisiert«, langweilten sich und würden zu »Hooligans«.15 Diskriminierung führte auch zur Russifizierung. Für jeden Bewohner der Ukraine – Juden, Deutsche und andere Minderheiten ebenso wie für Ukrainer – war die russische Sprache der Schlüssel zu höherem sozialen Status. Bis zur Revolution von 1917 setzten Posten im Staatsdienst und in den freien Berufen sowie Geschäftsverträge eine Bildung auf Russisch voraus, nicht auf Ukrainisch. In der Praxis mussten sich politisch, wirtschaftlich oder intellektuell ehrgeizige Ukrainer also auf Russisch verständigen.

Um die ukrainische Nationalbewegung kleinzuhalten, verbot der russische Staat auch ukrainische Organisationen aus Zivilgesellschaft und Staatswesen und sah dies »als Garantie gegen politische Instabilität«.16 1876 verbot ein Erlass des Zaren Alexander II. ukrainische Bücher und Zeitschriften sowie den Gebrauch des Ukrainischen im Theater, sogar in Operntexten. Er behinderte oder verbot auch die neuen Freiwilligenorganisationen und subventionierte stattdessen prorussische Zeitungen und Organisationen. Die scharfe Feindschaft der Sowjetregierung gegen ukrainische Medien und die ukrainische Zivilgesellschaft – die viel später von der postsowjetischen russischen Regierung fortgeführt wurde – besaß somit einen klaren Vorläufer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.17

Auch die Industrialisierung verstärkte den Druck zur Russifizierung, da der Bau von Fabriken Menschen aus anderen Gegenden des Zarenreichs in die ukrainischen Städte brachte. 1917 sprach nur ein Fünftel der Einwohner von Kiew Ukrainisch.18 Die Entdeckung von Kohlevorkommen und der rasche Ausbau der Schwerindustrie hatten eine besonders dramatische Wirkung im Donbas, der Bergbau- und Industrieregion am östlichen Rand der Ukraine. Dort waren die führenden Unternehmer meist Russen, dazu ein paar bekannte Ausländer; so gründete der Waliser John Hughes das heutige Donezk, das ursprünglich zu seinen Ehren »Jusowka« hieß. In den Fabriken von Donezk war Russisch die Verkehrssprache. Häufig brachen Konflikte zwischen russischen und ukrainischen Arbeitern aus, die manchmal zu »wilden Messerkämpfen« und offenen Schlachten wurden.19

Auf der anderen Seite der Grenze in Galizien, der ukrainisch-polnischen Provinz des Habsburgerreichs, hatte die nationalistische Bewegung viel weniger zu kämpfen. Der österreichische Staat räumte den Ukrainern viel mehr Autonomie und Freiheit ein als Russland oder später die UdSSR, nicht zuletzt, weil die Ukrainer aus seiner Sicht eine nützliche Konkurrenz zu den Polen darstellten. 1868 gründeten patriotische Ukrainer in Lwiw (damals Lemberg) den Kulturverein Proswita, der Dutzende von Ablegern im ganzen Land bildete. Von 1899 an war auch die Ukrainische Nationaldemokratische Partei ungehindert in Galizien aktiv und schickte Abgeordnete ins Wiener Parlament. Bis heute ist der frühere Sitz eines ukrainischen Selbsthilfevereins eines der eindrucksvollsten Gebäude des 19. Jahrhunderts in Lwiw. Es ist eine spektakuläre architektonische Synthese, deren Jugendstilfassade ukrainische Folkloreelemente einbezieht, eine perfekte Verschmelzung von Wien und Galizien.

Doch auch innerhalb des Russischen Reichs waren die Jahre vor der Revolution 1917 in vieler Hinsicht positiv für die Ukraine. Die ukrainischen Bauern beteiligten sich engagiert an der Modernisierung des Zarenreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gewannen sie rasch an politischem Bewusstsein und waren skeptisch gegenüber dem Staat geworden. 1902 gab es eine Welle von Bauernaufständen in der Ukraine und Russland; auch in der Revolution von 1905 spielten die Bauern eine wichtige Rolle. Die Aufstände setzen eine Kette von Unruhen in Gang, erschütterten die Stellung von Nikolaus II. und führten zur Einführung einiger bürgerlicher und politischer Rechte in der Ukraine, darunter der Erlaubnis, in der Öffentlichkeit Ukrainisch zu sprechen.20

Als 1917 das Russische Reich und 1918 Österreich-Ungarn zerbrachen, glaubten viele Ukrainer, sie könnten endlich einen Staat errichten. Diese Hoffnung wurde auf dem ehemals habsburgischen Territorium rasch ausgelöscht. Nach einem kurzen, aber heftigen polnisch-ukrainischen Krieg, der 15000 Ukrainer und 10000 Polen das Leben kostete, wurde das multiethnische Gebiet der Westukraine, einschließlich Galiziens und Lwiws Teil des neuen polnischen Staats und blieb es bis 1939.

Die Folgen der Februarrevolution 1917 in Petrograd (wie St. Petersburg seit 1914 hieß) waren komplizierter. Die Auflösung des Zarenreichs brachte in Kiew für kurze Zeit die ukrainische Nationalbewegung an die Macht, aber zu einem Zeitpunkt, als niemand aus der zivilen oder militärischen Führungsschicht des Landes bereit war, volle Verantwortung dafür zu übernehmen. Als 1919 in Versailles die Grenzen der neuen Staaten gezogen wurden – darunter das moderne Polen, Österreich, Jugoslawien und die Tschechoslowakei –, gehörte die Ukraine nicht dazu. Dennoch blieb dieser Moment nicht folgenlos. Mit den Worten von Richard Pipes markierte die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 26. Januar 1918 »nicht den Endpunkt des Prozesses der Staatsbildung der Ukraine, sondern ihren ernsthaften Beginn«.21 Die wenigen stürmischen Monate der Unabhängigkeit und die intensive Debatte über die nationale Identität sollten die Ukraine für immer verändern.

Ukrainisches Volk! Deine Zukunft liegt in deinen Händen. In dieser Stunde der Prüfung, der völligen Unordnung und des Zusammenbruchs beweise durch deine Einigkeit und Reife, dass du, ein Volk von Bauern, stolz und würdevoll deinen ebenbürtigen Platz unter allen anderen organisierten mächtigen Nationen einnehmen kannst.

Erster Universal [Manifest] der Zentralna Rada, 19171

Wir werden das Reich des Sozialismus nicht mit weißen Handschuhen auf einem polierten Fußboden betreten.

Leo Trotzki, 19172

KAPITEL 1Die ukrainische Revolution, 1917

In späteren Jahren gab es größere Demonstrationen, eloquentere Redner und professionellere Parolen. Doch der Marsch am Sonntagmorgen des 1. April 1917 in Kiew war außergewöhnlich, weil er der erste war. Nie zuvor war die ukrainische Nationalbewegung auf dem Territorium des ehemaligen Zarenreichs so stark aufgetreten. Wenige Wochen nachdem die Februarrevolution den Zaren Nikolaus II. gestürzt hatte, schien alles möglich.

Es wehten sowohl blaue und gelbe Fahnen für die Ukraine wie rote für den Sozialismus. Die Menge aus Kindern, Soldaten, Fabrikarbeitern, Blaskapellen und Beamten trug Spruchbänder wie »Eine freie Ukraine in einem freien Russland!« oder »Eine unabhängige Ukraine mit eigenem Hetman!« – ein alter militärischer Titel der Kosaken. Manche trugen Porträts des Nationaldichters Taras Schewtschenko. Ein Redner nach dem anderen forderte die Menge zur Unterstützung der neuen Zentralna Rada (Zentralversammlung) auf, die sich wenige Tage zuvor gebildet hatte und nun die Regierungsgewalt über die Ukraine beanspruchte.

Schließlich betrat der frisch gewählte Vorsitzende der Zentralna Rada das Podium. Der bärtige und bebrillte Mychajlo Hruschewskyj war einer der Intellektuellen, die als erste die Ukraine ins Zentrum ihrer eigenen Geschichte gestellt hatten. Der Autor der zehnbändigen Geschichte der Ukraine-Rus und vieler anderer Bücher war ganz am Ende des 19. Jahrhunderts politisch aktiv geworden. Als Exilant hatte er im Dezember 1899 im habsburgischen Galizien die Ukrainische Nationaldemokratische Partei mitbegründet. 1905 kehrte er ins Zarenreich zurück und nahm seine Arbeit wieder auf, wurde aber 1914 festgenommen und ging erneut ins Exil. Nach der Revolution kehrte er im Triumph nach Kiew zurück. Nun begrüßte ihn die Menge mit dem lauten Ruf »Slava batkovi Hruschevskomu!« (Es lebe Vater Hruschewskyj).3 Er antwortete im selben Geist: »Lasst uns in diesem großen Augenblick alle schwören, die große Sache vereint zu betreiben und nicht zu ruhen, bis wir die freie Ukraine geschaffen haben!« Die Menge rief: »Wir schwören es!«4

Von heute aus gesehen wirkt das Bild eines Historikers als Anführer einer Nationalbewegung seltsam, aber damals erschien es keineswegs ungewöhnlich. Seit dem 19. Jahrhundert hatten ukrainische Historiker wie ihre Kollegen in vielen kleineren europäischen Ländern bewusst daran gearbeitet, eine Nationalgeschichte wiederzuentdecken und zu propagieren, die lange nur als Teil der Geschichte größerer Reiche angesehen worden war. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zum politischen Aktivismus. Ebenso wie Schewtschenko das »ukrainische Wesen« mit dem Kampf der Bauern gegen die Unterdrückung verbunden hatte, hoben auch Hruschewskyjs Bücher die Rolle des »Volkes« in der politischen Geschichte der Ukraine hervor und betonten die zentrale Rolle ihres Widerstands gegen verschiedene Formen der Tyrannei. Es war nur logisch, dass er dasselbe Volk dazu inspirieren wollte, in die Politik der Gegenwart mit Worten und Taten einzugreifen. Besonders interessierte er sich dafür, die Bauern aufzurütteln und hatte das Geschichtsbuch Über die alten Zeiten in der Ukraine speziell für eine bäuerliche Leserschaft geschrieben. 1917 wurde es dreimal nachgedruckt.5

Hruschewskyj war keineswegs der einzige Intellektuelle, dessen literarische und kulturelle Produktion die Souveränität der Ukraine förderte. Auch der Graphiker Heorhij Narbut kehrte 1917 nach Kiew zurück. Er war Mitbegründer der ukrainischen Akademie der Schönen Künste und entwarf ein ukrainisches Staatswappen, Banknoten und Briefmarken.6 Wolodymyr Wynnytschenko, auch er Mitglied der Zentralna Rada, schrieb neben seiner politischen Tätigkeit Romane und Gedichte. Ohne Souveränität – und ohne einen Staat, der Politiker und Beamte ernähren konnte – ließen sich nationale Gefühle nur durch Literatur und Kunst vermitteln. So war es in ganz Europa. Bevor sie einen eigenen Staat errangen, hatten Dichter, bildende Künstler und Autoren eine wichtige Rolle bei der Etablierung der nationalen Identität Polens, Italiens und Deutschlands gespielt. Innerhalb des Russischen Reichs erlebten sowohl die baltischen Staaten, die 1918 unabhängig wurden, als auch Georgien und Armenien, denen das nicht gelang, ähnliche nationale Wiedergeburten. Die zentrale Rolle der Intellektuellen bei diesen nationalen Projekten war damals Befürwortern wie Gegnern völlig bewusst. Sie erklärt, warum das zaristische Russland ukrainische Bücher, Schulen und Kultur verbot und warum ihre Unterdrückung später für Lenin wie für Stalin so wichtig war.

Obwohl sie als selbsternannte Sprecher der nationalen Sache begannen, bemühten sich die Intellektuellen der Zentralna Rada um demokratische Legitimierung. Von einem prächtigen weißen klassizistischen Gebäude im Herzen Kiews aus – das vorher passenderweise für die Treffen des Ukrainischen Clubs, einer Gruppe nationalistischer Schriftsteller und politischer Aktivisten gedient hatte – berief die Zentralna Rada für den 19. April 1917 einen Allukrainischen Nationalkongress ein.7 Mehr als 1500 Menschen, alle irgendwie von Ortsräten oder Fabriken gewählt, kamen in der Kiewer Nationalphilharmonie zusammen, um die neue ukrainische Regierung zu unterstützen. Weitere Kongresse von Kriegsveteranen, Bauern und Arbeitern fanden im Sommer in Kiew statt.

Die Zentralna Rada versuchte auch, Koalitionen mit einer Reihe politischer Organisationen zu bilden, darunter jüdischen und anderen Minderheitenorganisationen. Sogar der radikale linke Flügel der Ukrainischen Sozialrevolutionären Partei, einer großen populistischen Bauernpartei, bekannt als Borotbysty – nach ihrer Zeitung Borotba (Kampf) –, unterstützte die Rada. Auch ein Teil der Bauern schloss sich an. Zwischen 1914 und 1918 hatten in der Armee des Zaren mehr als drei Millionen Ukrainer gedient, in der habsburgischen Armee weitere 250000. Viele dieser Bauernsoldaten hatten aus den schlammigen Schützengräben Galiziens aufeinander geschossen.8 Nach Kriegsende erklärten aber rund 300000 Mann, die in »ukrainisierten« Bataillonen aus ukrainischen Bauern gedient hatten, ihre Loyalität zum neuen Staat. Manche brachten Waffen mit und schlossen sich der neuen Miliz der Zentralna Rada an. Der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, hatte sie dazu motiviert, aber auch die Versprechen der neuen Regierung von revolutionärem Wandel und nationaler Erneuerung.9

In den folgenden Monaten genoss die Zentralna Rada einige Unterstützung, nicht zuletzt wegen ihrer radikalen Rhetorik. Im Einklang mit den damaligen linken Idealen propagierte sie eine Zwangsbodenreform, die Umverteilung des Besitzes der großen kirchlichen und privaten Landbesitzer an die Bauern. »Niemand kann besser wissen, was wir brauchen und welche Gesetze für uns am besten sind«, erklärte die Rada im Juni 1917 im ersten einer Folge von »Universalen«, Manifesten an die Bevölkerung:

Niemand kann besser als unsere Bauern wissen, wie sie ihr eigenes Land bestellen sollen. Darum wünschen wir, dass – nachdem alle Ländereien von Adel, Staat, Klöstern und Zar beschlagnahmt und Volksbesitz geworden sind und nachdem dies durch Gesetz von einer allrussischen gesetzgebenden Versammlung beschlossen ist – das Recht zur Verwaltung ukrainischen Bodens uns, unserer ukrainischen Volksvertretung zukommen soll. … Das Volk hat uns, die ukrainische Zentralna Rada, aus seiner Mitte gewählt und uns angewiesen … eine neue Ordnung in einer freien autonomen Ukraine zu schaffen.10

Derselbe Universal forderte auch die »Autonomie«. Der Dritte Universal verkündete im November, die Ukraine sei jetzt die Ukrainische Volksrepublik innerhalb der Russischen Föderation, und forderte Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung.11Im Januar 1918 erklärte dann der Vierte und letzte Universal die Ukraine für unabhängig.

Obwohl einige erwartungsgemäß gegen die Wiederbelebung der ukrainischen Sprache waren, war auch dies populär, besonders bei den Bauern. Wie in der Vergangenheit wurde das Ukrainische wieder zum Synonym der wirtschaftlichen und politischen Befreiung; sobald die Vertreter des Staats Ukrainisch sprachen, hatten Bauern Zugang zu Gerichten und Ämtern. Der öffentliche Gebrauch ihrer Muttersprache wurde auch zu einer Quelle des Stolzes und diente als »eine solide Basis emotionalen Rückhalts« für die Nationalbewegung.12 Es folgte eine Welle von Wörterbüchern und Rechtschreibfibeln. Zwischen 1917 und 1919 wurden in der Ukraine 59 Bücher über die ukrainische Sprache veröffentlicht, im ganzen 19. Jahrhundert waren es nur elf gewesen. Zu den Neuerscheinungen gehörten drei ukrainisch-russische und 15 russisch-ukrainische Wörterbücher. Die starke Nachfrage nach letzteren kam von der großen Anzahl russischsprachiger Menschen, die sich plötzlich auf Ukrainisch verständigen mussten, was nicht allen gefiel.13

Während ihres kurzen Bestehens hatte die ukrainische Regierung auch einige diplomatische Erfolge, die später weitgehend vergessen wurden. Nach der Unabhängigkeitserklärung vom 26. Januar 1918 konnte der 28 Jahre alte Außenminister Oleksandr Schulhyn (auch er ein Historiker) die De-facto-Anerkennung der Ukrainischen Republik bei allen europäischen Großmächten erreichen: Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Deutschland, Bulgarien, Türkei und sogar Sowjetrussland. Im Dezember schickten die USA einen Diplomaten, um ein Konsulat in Kiew zu eröffnen.14 Im Februar 1918 schloss eine ukrainische Delegation in Brest-Litowsk einen Friedensvertrag mit den Mittelmächten, unabhängig von dem bekannteren Vertrag der neuen Führer Sowjetrusslands wenige Wochen später. Die junge ukrainische Delegation beeindruckte allgemein. Einer ihrer deutschen Gesprächspartner erinnerte sich: »Sie handelten mutig und zwangen in ihrer Sturheit [den deutschen Verhandlungsführer], allem zuzustimmen, was ihnen vom nationalen Standpunkt wichtig war.«15

Doch es reichte nicht aus. Die Ausbreitung des Nationalbewusstseins, die ausländische Anerkennung und sogar der Vertrag von Brest-Litowsk genügten nicht, um einen ukrainischen Staat zu errichten. Die von der Zentralna Rada vorgeschlagenen Reformen – vor allem die entschädigungslose Enteignung der Grundbesitzer – stifteten auf dem Land Verwirrung und Chaos. Die öffentlichen Paraden, die Flaggen und die Freiheit, die Hruschewskyj und seine Anhänger im Frühjahr 1917 mit so viel Optimismus begrüßt hatten, führten nicht zur Schaffung einer funktionierenden Bürokratie, einer Verwaltung, welche die Reformen durchsetzen konnte, oder einer Armee, die stark genug war, Invasionen zurückzuschlagen und die Grenzen zu schützen. Ende 1917 planten alle Militärmächte in der Region, einschließlich der gerade aufgestellten Roten Armee, der Weißen Armeen des alten Regimes und der Truppen aus Deutschland und Österreich, die Ukraine zu besetzen. In unterschiedlichem Ausmaß zielten ihre Angriffe nicht nur auf das Territorium der Ukraine, sondern auch gegen die ukrainischen Nationalisten, den ukrainischen Nationalismus und sogar die ukrainische Sprache.

Lenin autorisierte im Januar 1918 den ersten sowjetischen Angriff auf die Ukraine und installierte im Februar ein kurzlebiges antiukrainisches Regime in Kiew, über das noch zu sprechen sein wird. Dieser erste sowjetische Versuch, die Ukraine zu erobern, endete nach wenigen Wochen, als deutsche und österreichische Truppen einmarschierten und erklärten, den Vertrag von Brest-Litowsk »durchsetzen« zu wollen. Statt die liberalen Gesetzgeber der Zentralna Rada zu unterstützen, stellten sie sich aber hinter Pawlo Skoropadskyj, einen ukrainischen General mit der Vorliebe für dramatische Uniformen, einschließlich Kosakenschwert und -mütze.

Einige Monate lang gab Skoropadskyj den Anhängern des alten Regimes einen Funken Hoffnung und behielt zugleich einige Elemente der ukrainischen Autonomie bei. Er gründete die erste Ukrainische Akademie der Wissenschaften und die erste Nationalbibliothek und benutzte Ukrainisch als Amtssprache. Er sah sich als Ukrainer und führte den Titel »Hetman«. Zugleich führte Skoropadskyj aber auch zaristische Gesetze wieder ein, holte zaristische Beamte zurück und trat für die Integration in einen künftigen russischen Staat ein. Unter Skoropadskyjs Herrschaft wurde Kiew sogar für kurze Zeit zum Zufluchtsort von Flüchtlingen aus Moskau und Petrograd. In seinem satirischen Roman Die weiße Garde (1926) schrieb Michail Bulgakow, der damals in Kiew lebte, über sie:

Es flüchteten grauhaarige Bankiers mit ihren Frauen, es flüchteten erfolgreiche Geschäftsleute, die in Moskau Vertrauenspersonen zurückgelassen … hatten. … Es flüchteten Journalisten aus Moskau und Petersburg, käuflich, habgierig, feige. Es flüchteten Kokotten, anständige Damen aus aristokratischen Familien, ihre verwöhnten Töchter, blasse Petersburger Halbweltdamen mit karminrot gefärbten Lippen. Es flüchteten die Sekretäre der Departementsdirektoren, junge passive Päderasten. Es flüchteten Fürsten und Knauser, Dichter und Wucherer, Gendarmen und Schauspielerinnen der kaiserlichen Theater.16

Skoropadskyj bekräftigte auch die alten Besitzverhältnisse und zog die Versprechen einer Landreform zurück. Es überrascht nicht, dass diese Entscheidung unter den Bauern zutiefst unpopulär war, die »diesen Herrn Hetman wie einen tollwütigen Hund hassten« und keine »blöde herrschaftliche Reform« wollten.17 Der Widerstand gegen die Regierung, die rasch als deutsche Marionette gesehen wurde, organisierte sich in unterschiedlichen militärischen Formen: »Ex-Obersten, selbsternannte Generäle, Kosakenhetmans und Batki [lokale Kriegsherrn] erblühten wie wilde Rosen in diesem revolutionären Sommer.«18

Mitte 1918 hatte sich die Nationalbewegung unter Führung von Symon Petljura neu gruppiert, einem Sozialdemokraten mit Talent zur paramilitärischen Organisation. Unter seinen Zeitgenossen war er höchst umstritten. Manche sahen ihn als Möchtegerndiktator, andere als zu früh gekommenen Propheten. Bulgakow, der den ukrainischen Nationalismus ablehnte, tat ihn ab als »Unsinn, Legende, Fata Morgana. Das ist nur ein Wort, in dem ungestillte Wut, bäuerlicher Rachedurst … zusammenflossen …«19 Als junger Mann war Petljura seinem aktivistischen Zeitgenossen Serhij Jefremow durch seine »Großsprecherei, doktrinäre Art und Leichtfertigkeit« aufgefallen. Später änderte er seine Meinung und erklärte, Petljura habe sich zum »einzigen unzweifelhaft ehrlichen Menschen entwickelt«, den die ukrainische Revolution hervorgebracht habe. Während andere aufgaben oder sich in kleinliche Flügelkämpfe verstrickten, »blieb nur Petljura standhaft und schwankte nicht«.20 Später schrieb Petljura selbst, er wolle, dass die volle Wahrheit über seine Handlungen ans Licht komme: »Die negativen Aspekte meiner Persönlichkeit, meiner Handlungen müssen beleuchtet, nicht vertuscht werden. … Für mich hat das Urteil der Geschichte begonnen. Ich fürchte mich nicht vor ihm.«21

Das Urteil der Geschichte über Petljura bleibt ambivalent. Gewiss war er so mutig, eine Gelegenheit zu ergreifen, denn er glaubte, das Ende des Ersten Weltkriegs biete der ukrainischen Nationalbewegung eine neue Chance. Als sich die deutschen Truppen aus dem Land zurückzogen, formte er eine zusammengewürfelte Truppe aus »Ex-Obersten, selbsternannten Generälen, Kosakenhetmans und Batki« zu einer pro-ukrainischen Truppe namens Direktorium und belagerte die Hauptstadt. Obwohl die russischsprachige Presse das Direktorium als »Diebesbande« schmähte und ihren Staatsstreich einen »Skandal« nannte, gaben Skoropadskyjs Truppen erstaunlich schnell, fast kampflos auf.22 Am 14. Dezember 1918 marschierten Petljuras Soldaten im überraschten Kiew, Odessa und Mykolajiw ein, und die Macht wechselte erneut in andere Hände.

Die Herrschaft des Direktoriums sollte kurz und gewaltsam werden, nicht zuletzt weil Petljura niemals völlige Legitimität gewann und vielfach rechtlose Zustände herrschten. Wirtschaftlich stand das Direktorium ebenso weit links wie die Zentralna Rada vor ihm. In Übereinstimmung mit den immer radikaleren Ansichten ihrer Unterstützer berief die Führung kein Parlament, sondern einen »Arbeiterkongress« aus Vertretern von Bauern, Arbeitern und arbeitender Intelligenz ein. Petljuras wahre Autorität gründete sich aber auf seine Bauernarmee, und nach den Worten eines seiner Kritiker schuf das »weder eine gute Regierung noch eine gute Armee«.23 Ihr gehörten viele »Abenteurer« an, die unterschiedlichste Uniformen und Kosakenkostüme trugen und denen es nichts ausmachte, mit vorgehaltenem Revolver jeden zu berauben, der wohlhabend aussah. Die Bewohner der bürgerlichen Bezirke Kiews wechselten sich mit der Wache vor ihren Mietshäusern ab.24

Innerhalb der Stadt war eine der wenigen Maßnahmen, die das Direktorium nach den abfälligen Worten eines Zeitgenossen »nicht nur verkündete, sondern auch ausführte«, das Ersetzen russischer Schilder durch ukrainische: »Russisch durfte nicht einmal neben Ukrainisch stehenbleiben.« Angeblich wurde dieser umfassende Austausch befohlen, weil viele Soldaten des Direktoriums aus Galizien stammten, kaum Russisch sprachen und sich in einer russischsprachigen Stadt verloren vorkamen. »Für ein paar fröhliche Tage verwandelte sich die ganze Stadt in eine Malerwerkstatt«, und die tiefe Verbindung zwischen Sprache und Macht wurde den Einwohnern Kiews erneut vor Augen geführt.25

Außerhalb der Hauptstadt kontrollierte Petljura nur sehr wenig Territorium. Bulgakow beschrieb das Kiew seiner Zeit als eine Stadt, in der es »immerhin eine Schutzpolizei, ein Ministerium und sogar ein Heer, auch Zeitungen mit verschiedenen Namen [gab], aber was ringsum vor sich ging, in der wirklichen Ukraine, die größer als Frankreich ist, in der Dutzende Millionen Menschen leben, das wusste niemand«.26 Laut Richard Pipes wurden in Kiew »Edikte erlassen, Kabinettskrisen gelöst, diplomatische Gespräche geführt – aber der Rest des Landes lebte für sich, und dort war die Waffengewalt die einzig wirksame Herrschaft«.27

Ende 1919 war die mit so viel Energie und Hoffnung gestartete Nationalbewegung zersplittert. Der von den Unruhen aus Kiew vertriebene Hruschewskyj sollte bald wieder ins Exil gehen.28 Die Ukrainer waren in vieler Hinsicht gespalten: Die einen unterstützten die alte Ordnung, die anderen nicht; die einen wollten mit Russland verbunden bleiben, die anderen nicht; die einen waren für eine Bodenreform, die anderen dagegen. Der Sprachkonflikt hatte sich verschärft und wurde immer unversöhnlicher. Die Flüchtlinge aus Moskau und Petrograd fuhren bereits weiter auf die Krim, nach Odessa und ins ausländische Exil.29 Der tiefste politische Graben aber, der auch den Gang der kommenden Jahrzehnte bestimmen sollte, war jener zwischen den Anhängern der Ideale der ukrainischen Nationalbewegung und den Unterstützern der Bolschewiki, einer revolutionären Gruppe mit völlig anderer Ideologie.

Zu Beginn des Jahres 1917 waren die Bolschewiki in Russland eine kleine Minderheitspartei, der radikale Flügel der marxistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Sie agitierten aber das Jahr über auf den russischen Straßen mit einfachen Parolen wie »Land, Brot und Frieden«, die die größtmögliche Zahl von Soldaten, Arbeitern und Bauern ansprechen sollten. Ihr Staatsstreich vom Oktober (nach dem von ihnen später übernommenen »neuen Kalender« am 7. November) brachte sie inmitten eines Zustands des totalen Chaos an die Macht. Unter Führung des paranoiden, verschwörerischen und zutiefst undemokratischen Lenin hielten die Bolschewiki sich für die »Vorhut des Proletariats«; ihr Regime nannten sie die »Diktatur des Proletariats«. Sie strebten die absolute Macht an und verdrängten schließlich alle anderen politischen Parteien und Gegner durch Terror, Gewalt und bösartige Propagandakampagnen.

In der Ukraine hatten die Bolschewiki Anfang 1917 noch weniger Anhänger. Die Partei umfasste dort 22000 Mitglieder, die meisten davon in den großen Städten und den industriellen Zentren Donezk und Krywyj Rih. Nur wenige sprachen Ukrainisch. Über die Hälfte verstanden sich als Russen, etwa ein Sechstel waren Juden. Eine winzige Minderheit, darunter einige, die später eine wichtige Rolle in der Regierung der Sowjetukraine spielen sollten, glaubten an die Möglichkeit einer autonomen bolschewistischen Ukraine. Doch Georgij Pjatakow – der in der Ukraine geboren wurde, sich aber nicht als Ukrainer verstand – sprach für die Mehrheit der Partei, als er bei einer Versammlung der Kiewer Bolschewiki im Juni 1917, nur wenige Wochen nach Hruschewskyjs Rede, sagte: »Wir sollten die Ukrainer nicht unterstützen.« Die Ukraine sei keine »eigenständige Wirtschaftsregion«. Wichtiger noch, Russland war von ukrainischem Zucker, Getreide und Kohle abhängig, und Russland hatte für Pjatakow Vorrang.30

Diese Einstellung war nicht neu. Verachtung für die bloße Idee eines ukrainischen Staats war schon vor der Revolution ein fester Teil des bolschewistischen Denkens. Vor allem rührte das schlicht daher, dass fast alle führenden Bolschewiki wie Lenin, Stalin, Trotzki, Pjatakow, Sinowjew, Kamenew und Bucharin im Russischen Reich aufgewachsen und zur Schule gegangen waren – damals hatte es nur eine Provinz »Südwestrussland« gegeben, keine »Ukraine«. Für sie war Kiew die alte Hauptstadt der Kiewer Rus, des Großfürstentums, das sie als Vorläufer Russlands kannten. In der Schule, in den Zeitungen und im Alltag nahmen sie die russischen Vorurteile gegen eine Sprache auf, die zumeist als Dialekt des Russischen beschrieben wurde, und gegen ein Volk, in dem man weithin primitive frühere Leibeigene sah.

Alle russischen Parteien jener Epoche, von den Bolschewiki über die bürgerliche Mitte bis zur extremen Rechten, teilten diese Verachtung. Viele weigerten sich, auch nur den Namen »Ukraine« zu benutzen.31 Selbst russische Liberale weigerten sich, die Legitimität der ukrainischen Nationalbewegung anzuerkennen. Dieser blinde Fleck – und die daraus folgende Weigerung aller russischen Gruppen, mit den Ukrainern eine antibolschewistische Koalition zu bilden – war letztlich einer der Gründe, warum die Weißen Armeen den Bürgerkrieg nicht gewannen.32

Neben ihrem nationalen Vorurteil hatten die Bolschewiki auch besondere politische Gründe dafür, die ukrainische Unabhängigkeit abzulehnen. Die Ukraine war immer noch weitgehend eine Nation von Bauern, und laut der marxistischen Theorie, welche die bolschewistische Führung ständig las und diskutierte, spielten Bauern eine bestenfalls zwiespältige Rolle. 1852 hatte Marx erklärt, sie seien keine »Klasse« und hätten darum kein Klassenbewusstsein: »Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.«33

Während Marx den Bauern keine wichtige Rolle in der kommenden Revolution zumaß, veränderte der pragmatischere Lenin diese Position etwas. Er hielt die Bauern für potenziell revolutionär und akzeptierte ihren Wunsch nach einer radikalen Bodenreform, glaubte aber, sie müssten von der progressiveren Arbeiterklasse angeführt werden. »Natürlich verhalten sich nicht alle Bauern, die für Land und Freiheit kämpfen, vollauf bewusst zu diesem Kampf«, schrieb er 1905. Klassenbewusste Arbeiter würden ihnen beibringen müssen, dass die echte Revolution nicht nur eine Bodenreform, sondern »Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals« erfordere. Unheilvollerweise hegte Lenin auch den Verdacht, viele Kleinbauern würden wie kapitalistische Kleinbesitzer denken, weil sie über etwas Eigentum verfügten. Das erkläre, warum »sich nicht alle Kleinbauern unter die Kämpfer für den Sozialismus« einreihten.34 Die Vorstellung, dass die kleinsten Landbesitzer, später Kulaken genannt, im Grunde eine konterrevolutionäre, kapitalistische Kraft seien, sollte einige Jahre später schwerwiegende Konsequenzen haben.

Die Ambivalenz der Bolschewiki gegenüber dem Nationalismus ließ sie auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine mit Argwohn betrachten. Marx wie Lenin hegten komplizierte und sich ständig verändernde Ansichten über den Nationalismus, den sie manchmal als revolutionäre Kraft sahen, manchmal als Ablenkung vom wahren Ziel des universellen Sozialismus. Marx verstand, dass die demokratischen Revolutionen von 1848 teilweise von nationalen Gefühlen inspiriert gewesen waren, hielt aber diese »bürgerlich-nationalen« Gefühle für ein vorübergehendes Phänomen, eine bloße Entwicklungsphase auf dem Weg zum kommunistischen Internationalismus. Wenn der Staat abstarb, würde das irgendwie auch für Nationen und nationale Gefühle gelten: »Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.«35

Lenin war auch für kulturelle Autonomie und nationale Selbstbestimmung, solange sie nicht seinen Interessen widersprach. Schon vor der Revolution lehnte er nicht-russischsprachige Schulen ab, ob jiddische oder ukrainische, weil sie zu Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse führen würden.36 Obwohl er theoretisch den nichtrussischen Regionen des Reichs wie Georgien, Armenien und den zentralasiatischen Völkern das Recht zugestand, sich abzuspalten, scheint er nicht geglaubt zu haben, dass dies je geschehen würde. Außerdem bedeutete die Anerkennung eines »Rechts« auf Unabhängigkeit nicht, dass Lenin sie unterstützte. Im Fall der Ukraine akzeptierte er den ukrainischen Nationalismus, solange dieser sich gegen den Zaren oder 1917 gegen die Provisorische Regierung richtete, und lehnte ihn ab, wenn er dadurch die Einheit des russischen und ukrainischen Proletariats gefährdet sah.37

Diesem komplizierten ideologischen Puzzle fügte Stalin seine eigenen Gedanken hinzu. Er war Nationalitätenexperte der Partei und ursprünglich weit weniger flexibel als Lenin. Stalins Aufsatz »Marxismus und nationale Frage« hatte 1913 argumentiert, der Nationalismus lenke von der Sache des Sozialismus ab. »Es bedarf einer einmütigen und unermüdlichen Arbeit der konsequenten Sozialdemokraten gegen den nationalistischen Nebel, woher er auch kommen möge.«38 1925 hatte sein Denken sich dahin entwickelt, im Nationalismus eine wesentlich bäuerliche Kraft zu sehen. Nationalbewegungen bräuchten Bauern, um bestehen zu können: Die Grundlage der nationalen Frage, ihr inneres Wesen bilde die Bauernfrage. »Daraus erklärt sich denn auch, dass die Bauernschaft die Hauptarmee der nationalen Bewegung abgibt, dass es ohne Bauernarmee keine machtvolle nationale Bewegung gibt, noch geben kann.«39

Diese These, die offensichtlich seine Sicht der ukrainischen Ereignisse widerspiegelte, wurde später noch bedeutungsvoller. Wenn es nämlich keine mächtige Nationalbewegung ohne die Bauernarmee gab, dann musste jemand, der eine Nationalbewegung vernichten wollte, mit der Vernichtung der Bauern beginnen.

Letztlich war den Bolschewiki die Ideologie weniger wichtig als ihre persönlichen Erfahrungen in der Ukraine, besonders die des dortigen Bürgerkriegs. Für jedes Mitglied der KP war die Zeit des Bürgerkriegs ein persönlicher wie politischer Wendepunkt. Zu Beginn des Jahres 1917 hatten nur wenige von ihnen schon viel im Leben geleistet. Sie waren obskure Ideologen und in jeder Hinsicht erfolglos. Wenn sie Geld verdienten, dann durch das Schreiben für illegale Zeitungen; sie hatten wiederholt im Gefängnis gesessen, führten ein kompliziertes Privatleben und hatten keine Erfahrung mit Regierungsarbeit und Management.

Unerwarteterweise stieß die Russische Revolution sie ins Zentrum des internationalen Geschehens. Sie brachte ihnen auch zum ersten Mal Ruhm und Macht. Sie holte sie aus der Versenkung und rechtfertigte ihre Ideologie. Der Erfolg der Revolution bewies für die Führer der Bolschewiki wie für viele andere, dass Marx und Lenin recht gehabt hatten.

Doch die Revolution zwang sie auch schnell, ihre Macht zu verteidigen, und konfrontierte sie nicht nur mit ideologischen Konterrevolutionären, sondern mit einer realen und sehr blutigen Konterrevolution, die sie schnell besiegen mussten. Der folgende Bürgerkrieg zwang sie zum Aufbau einer Armee, einer politischen Polizei und eines Propagandaapparats. Vor allem hielt der Bürgerkrieg für die Bolschewiki Lehren über Nationalismus, Wirtschaftspolitik, Lebensmittelversorgung und Gewalt bereit, auf die sie später zurückgriffen. Die Erfahrungen der Bolschewiki in der Ukraine unterschieden sich auch stark von ihren Erfahrungen in Russland und schlossen auch eine spektakuläre Niederlage ein, die ihren jungen Staat zu zerstören drohte. Viele spätere bolschewistische Positionen gegenüber der Ukraine, etwa der Zweifel an der Loyalität der Bauern, das Misstrauen gegenüber ukrainischen Intellektuellen und die Abneigung gegen die ukrainische KP haben ihren Ursprung in dieser Periode.

Die Erfahrung des Bürgerkriegs, vor allem in der Ukraine, prägte auch Stalins Überzeugungen. Am Vorabend der Russischen Revolution war Stalin Ende dreißig und hatte im Leben wenig erreicht. Er hatte »kein Geld, keinen festen Wohnsitz und keinen anderen Beruf als den eines Ideologen«, wie kürzlich ein Biograph geschrieben hat.40 Er stammte aus Georgien, war im Priesterseminar erzogen worden, und sein Ruf im Untergrund beruhte auf seinem Talent für Banküberfälle. Mehrmals hatte er im Gefängnis gesessen. Zur Zeit der Februarrevolution 1917 lebte er in einem Dorf nördlich des Polarkreises in der Verbannung. Als Zar Nikolaus II. abgesetzt wurde, kehrte Stalin nach Petrograd zurück (der Name der russischen Hauptstadt St. Petersburg war 1914 russifiziert worden und sollte 1924 erneut geändert werden, dieses Mal in Leningrad).

Der Staatsstreich der Bolschewiki vom Oktober 1917 stürzte die Provisorische Regierung und gab Stalin den ersten, herrlichen Geschmack echter politischer Macht.41 Als Volkskommissar für Nationalitäten gehörte er der ersten bolschewistischen Regierung an. In dieser Rolle war er direkt für die Verhandlungen mit all den nichtrussischen Nationen und Völkern verantwortlich, die zum Zarenreich gehört hatten – und vor allem dafür, sie zu überzeugen oder zu zwingen, sich der Sowjetmacht zu unterwerfen. In seinem Umgang mit der Ukraine hatte er zwei klare und unmittelbare Prioritäten, die aus der extremen Situation herrührten. Die erste war das Untergraben der Nationalbewegung, offensichtlich der wichtigste Rivale der Bolschewiki in der Ukraine. Die zweite war die Sicherung des ukrainischen Getreides. Beide Aufgaben ging er schon wenige Tage nach der Machtergreifung der Bolschewiki an.

Bereits im Dezember 1917 griff Stalin in der Prawda den Dritten Universal der Zentralna Rada an, in dem die Ukrainische Volksrepublik ausgerufen und die Grenzen der Ukraine festgelegt wurden. Wer, so fragte er rhetorisch, werde eine unabhängige Ukraine unterstützen?

Großgrundbesitzer in der Ukraine, dann Alexej Kaledin [ein General der Weißen Armee] und seine »Militärregierung« am Don, d.h. Kosakenlandbesitzer. … Hinter beiden verbirgt sich die großrussische Bourgeoisie, die vorher der wütende Feind aller Forderungen des ukrainischen Volks gewesen ist, jetzt aber die Zentralna Rada unterstützt …

Dagegen stünden »alle ukrainischen Arbeiter und die ärmsten Teile der Bauernschaft« in Opposition gegen die Zentralna Rada, so behauptete er, was ebenfalls kaum der Wahrheit entsprach.42