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Die lang erwartete Stimme neben Richard David Precht und Matthias Horx "Das alte Denken hat uns weit gebracht, aber es bringt uns nicht mehr weiter." - Petra Bock Wir stehen vor einem gewaltigen Innovationsschub. Technisch, wirtschaftlich und politisch. Vor allem aber menschlich. Wir sehen gerade, wie komplex und fragil unsere Welt ist - unsere innere ebenso wie die äußere-, und dass wir mit unseren bisherigen Strategien so nicht mehr weiter kommen. Keine Spezies lernt schneller als der Mensch. Und keine Spezies hat mehr zu lernen. Wir werden uns neu erfinden.- Petra Bock Die bekannte Management-Beraterin Petra Bock schreibt über altes Denken, wie wir es überwinden, und warum wir nach dem technischen den menschlichen Fortschritt brauchen. Dass die Welt verrückt spielt, dass wir alle mehr oder weniger gestört sind, wer würde da nicht zustimmen? Die Transformations-Forscherin Petra Bock hat ein Muster in unserem Denken entdeckt, das die Ursache unserer heutigen Probleme und der Code der bisherigen menschlichen Zivilisation sein könnte. Es ist ein für die heutige Welt zu kurzsichtig angelegtes, automatisch ablaufendes Überlebensprogramm, das uns Krisen immer schlechter bewältigen lässt. Und es macht uns zu einer ein Spezies, die sich und ihre Welt bis zur Selbstzerstörung ausbeutet. Wollen wir die gigantischen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen, müssen wir ein fundamental neues Denken finden. Petra Bock zeigt, wie es aussehen könnte und entwirft die Vision einer konsequent lebensfreundlichen Zivilisation. Aus dem Inhalt: - Warum wir uns entstören müssen - Das alte Denken und seine Logik - Inner Change - wie wir uns neu erfinden können - Ein kurze Anleitung zur Selbstentstörung - Let's create Planet B - der Prototyp einer neuen Welt - Die großen Themen der Zeit - Klima, Migration, Alterung - anders lösen - Agenda 2050 - so schaffen wir die Transformation
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Seitenzahl: 377
Petra Bock
Der entstörte Mensch
Wie wir uns und die Welt verändern Warum wir nach dem technischen jetzt den menschlichen Fortschritt brauchen
Knaur e-books
Dass die Welt verrückt spielt, dass wir alle mehr oder weniger gestört sind, wer würde da nicht zustimmen? Die Transformationsforscherin Petra Bock, bekannt als Coach und Autorin der MINDFUCK-Bestseller diagnostiziert in ihrer täglichen Praxis unsere Störung vor allem als Selbstsabotage. Daraus leitet sie das Urmuster alten Denkens ab: Entweder – Oder, Oben – Unten und Gut – Böse, mit dem wir ums Überleben kämpfen. Aber darum müssen wir nicht mehr kämpfen in unserer technologisch hochentwickelten Gesellschaft. Wir brauchen ein neues, entstörtes Denken, mit dem wir den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Klimawandel, Migration und Alterung – begegnen können.
Für Linda und Frederic
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Hölderlin
Liebe Leserin, lieber Leser,
an einem regnerischen Morgen im November 2019 stand ich in einer Seminarpause an einem bodentiefen Fenster und blickte auf die Berliner Friedrichstraße. Junge »Fridays for Future«-Demonstranten zogen vorbei. Sie trugen Plakate und Transparente mit sich, auf denen sie ihrem Ärger Luft machten und ihre Sorgen um die Zukunft der Erde zum Ausdruck brachten. Eine junge Frau sah zu mir hinauf. Unsere Blicke trafen sich. Da hob sie die Hand und winkte mir zu. Sie hätte meine Tochter sein können.
Es gibt Momente im Leben, wo sich auf einmal Erkenntnisse verdichten und sich Jahre zurückliegende Erinnerungen vor unserem inneren Auge abspielen. Wie viele Menschen, dachte ich mir, als die junge Frau weiterging, waren in den vergangenen hundert Jahren durch die Straßen Berlins gezogen, um ihren Sorgen und ihrem Ärger Luft zu machen? Wie oft waren an genau diesem Ort, am Bahnhof Friedrichstraße, der über Jahrzehnte zwei Weltsysteme voneinander trennte, Menschen in Angst und Sorge unterwegs? Nun war alles wieder da.
Ich erinnerte mich an das »rote Telefon«, das mich als Kind so beschäftigt hatte. Ich war etwa zehn oder elf Jahre alt. Damals hielt der Kalte Krieg die Welt in Atem. Ich hatte große Angst davor, eines Tages in einem riesigen Feuerball zu verglühen wie die Menschen in Hiroshima, deren Silhouetten sich als Schatten in die Mauern ihrer zerstörten Häuser eingebrannt hatten. Alles schien so sinnlos angesichts der übermächtigen Bedrohung. In der Schule mussten wir üben, uns vor einer Atomexplosion unter den Schulbänken zu verstecken. Wir wussten, wie vergeblich das im Fall der Fälle gewesen wäre. Und verstanden nicht, warum die Welt so war, wie sie war.
Es hieß, auf den Schreibtischen der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion stünde jeweils ein rotes Telefon. Im sogenannten Ernstfall könnten die beiden noch telefonieren, bevor der eine oder beide auf den »Knopf drückten« und der dritte Weltkrieg, ein die Erde vernichtender Atomkrieg, beginnen würde. Ich habe mich damals oft gefragt, warum sie nicht einfach so zum Hörer griffen und miteinander redeten. Warum dieser Wahnsinn sein musste, diese furchtbare Angst und Bedrohung allen Lebens auf der Erde, wo sie doch beide erwachsen waren und alles anders machen konnten.
Etwas Ähnliches mag der damals sechzehnjährigen Greta Thunberg durch den Kopf gegangen sein, bevor sie 2018 in Krakau die Delegierten der Weltklimakonferenz daran erinnerte, dass sie sich doch bitte erwachsen verhalten und ihre Verantwortung für das Leben auf der Erde übernehmen müssten. Wiederholt sich Geschichte?
Heute bin ich selbst lange erwachsen und gehöre einer Generation an, die die Geschicke der nächsten zehn, zwanzig Jahre entscheidend mitprägen wird. Mein ganzes Leben habe ich mich als Wissenschaftlerin und Beraterin mit der Geschichte und den Möglichkeiten menschlicher Veränderung beschäftigt. Es wollte mir nie einleuchten, warum wir nicht andere sein können, reifer, besser, konstruktiver. Und ich meine, einem blinden Fleck auf die Spur gekommen zu sein, den ich in dem vorliegenden Buch aufklären möchte. Er könnte, das ist meine Hoffnung, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wie wir uns und die Welt endlich zum Besseren verändern können.
Jeder, der heute erwachsen ist, hat weltgeschichtliche Umbrüche erlebt. Viele leiden noch heute darunter. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir noch zu unseren Lebzeiten aufhören können mit dem Wahnsinn der Wiederholung der vielen Fehler, die wir innerhalb der menschlichen Zivilisation seit so langer Zeit an uns selbst und anderen Lebewesen begehen. Wir haben heute erstmals nicht nur Anlass, sondern auch die Möglichkeiten dazu.
Es ist die beste Zeit, die es jemals gab, um einen inneren Wandel einzuleiten, der uns nicht nur zu besseren, sondern auch zu glücklicheren, erfüllten Menschen macht. Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich erwachsen. Frei, lebensfreundlich, konstruktiv. Wäre es nicht schön, wenn kommende Generationen uns nicht mehr dazu auffordern müssten?
Ich wünsche mir, dass dieses Buch Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, Erkenntnisse und Inspiration dazu bringt. Möge es Ihnen Anregung bieten, grundlegende Fragen mit anderen Augen zu betrachten und neue, kreative Lösungen zu entwickeln. Auf uns, die heute Lebenden, kommt es an. Lassen Sie uns aus unserer recht übersichtlich bemessenen Zeit auf dieser faszinierenden Erde etwas Besonderes machen. Etwas, auf das wir selbst und die, die nach uns kommen werden, stolz sein können.
Petra Bock
Berlin, im Januar 2020
Reisenden, die auf der Autobahn vom Elsass in Richtung Lyon unterwegs sind, begegnet kurz vor der Stadt Belfort eines der typischen touristischen Hinweisschilder, die gewöhnlich eine Sehenswürdigkeit ankündigen. Dieses Schild ist aber merkwürdig, weil das, worauf es hinweist, nicht sichtbar ist und dennoch die größten Auswirkungen auf das Leben und die Landschaft eines ganzen Kontinents hat. Tief unter der Erdoberfläche verläuft eine Linie, eine Wasserscheide, die sich von Gibraltar bis Moskau quer durch den europäischen Kontinent zieht. Je nachdem, auf welcher Seite ein Regentropfen zu Boden fällt, entscheidet sich, in welchen Fluss und schließlich in welches Meer er fließen wird, ob ihn seine Wege in die Meere des Nordens oder in die des Südens führen werden.
In diesem Buch geht es um ein Ereignis, das ebenfalls in der Tiefe verborgen ist und in seinem Charakter und seinen Auswirkungen auf alles, was das Leben in dieser Zeit und in Zukunft betrifft, nicht weniger weitreichend ist: Es geht um die geistigen Fundamente unseres bisherigen Menschseins. Um die Frage, wie wir diese besser verstehen und verändern können, um uns in diesem Jahrhundert wieder zurechtzufinden und unserem eigenen Leben, ebenso wie allem Leben auf der Erde, eine neue Chance zu geben.
Ich werde zeigen, dass menschliches Denken bis heute einem sehr zwiespältigen Paradigma folgt, das aus einer Epoche der menschlichen Zivilisation stammt, die heute zu Ende geht. Dieses Paradigma hindert uns daran, in einer anderen Qualität zu denken und erfolgreiche Antworten auf die Fragen zu finden, die uns dieses Jahrhundert in bislang beispielloser Weise stellt. Es polt uns dagegen mit geradezu mathematischer Präzision auf Konflikte, auf ein sinnloses Ringen um Dominanz, auf zerstörerische Denkweisen und Strategien, auf ein Verhalten, mit dem wir uns und anderes Leben niedermachen. Es zwingt uns dazu, unsere Probleme zu vertiefen, statt sie endlich gemeinsam zu lösen.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass sich alles um uns herum innerhalb eines knappen Jahrhunderts fundamental verändert hat und weiterhin verändern wird, die menschliche Denkweise in ihrer Ausrichtung und grundlegenden Logik aber bislang gleich geblieben ist. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt hat seit etwa einer menschlichen Lebensspanne alles, buchstäblich alles verändert, aber unser Denken, unsere Überzeugungen und Lebensstrategien haben sich in ihren Grundlagen nicht verändert.
In unseren Köpfen existiert ein feines Geflecht von Überzeugungen, Regeln und Ängsten, die einem Rahmen entstammen, der uns suggeriert, wofür wir das Leben zu halten haben. Alles, was wir wahrnehmen, denken, fühlen und tun, stammt aus diesem unsichtbaren Rahmen, einem fundamentalen Frame, der wahrscheinlich durch den letzten großen Klimawandel und damit zu Beginn der menschlichen Zivilisationen vor rund 12000 Jahren entstanden ist. Dieser Rahmen prägt und steuert das menschliche Denken – über Kulturen hinweg – bis heute. Wir können uns diesen Rahmen, dieses mentale Paradigma vorstellen wie einen inneren Kompass, der uns immer wieder gleich ausrichtet, selbst dann, wenn uns diese Ausrichtung längst in die Irre führt. Es stammt aus einer anderen Zeit, ist für andere Lebensbedingungen gemacht und kann unter den heutigen Umständen nur immer größeren Schaden anrichten. Vielen scheint es, als ob die Zeit aus den Fugen geraten sei, doch in Wirklichkeit ist das menschliche Denken aus der Zeit gefallen. Wir orientieren uns mental an einem Paradigma, das uns unsere Gegenwart weder verstehen noch bewältigen lässt.
Das Panorama, das ich in diesem Buch entfalte, ist naturgemäß kein kleines. Es ist sogar, zugegeben, sehr ambitioniert. Doch ich meine, es ist Zeit, ein denkerisches Wagnis einzugehen, denn niemals zuvor stand so viel auf dem Spiel wie heute. Niemals haben wir als Einzelne und im kollektiven Maßstab so sehr an der Wirklichkeit vorbeigelebt wie heute. Nach dem technischen brauchen wir deshalb den menschlichen Fortschritt. Wir brauchen einen humanistic turn, eine Wende zum Menschen hin und über ihn hinaus. Wir müssen uns der Frage zuwenden, was Menschen heute und in Zukunft brauchen, um erfüllte und konstruktive Lebewesen zu sein, die eine sehr herausfordernde und komplexe Rolle in einer sehr komplexen und aus dem Lot geratenen Welt innehaben. Alles, was wir denken, tun und erschaffen, auch unsere Technologien, sollte sich dieser Frage stellen: Wie kann es uns gelingen, uns zu einer individuell wie kollektiv erfüllten, konstruktiven Spezies zu wandeln? Wie können wir uns und die Welt verändern? Wir brauchen Visionen davon, wie sich Leben im 21. Jahrhundert entfalten kann, eine pragmatische Utopie, wie wir desaströse Denk-, Fühl- und Verhaltenscodierungen der bisherigen menschlichen Zivilisation des Holozäns endgültig hinter uns lassen können und neue Formen des Lebens und Zusammenlebens auf der Erde finden.
Was wir heute also brauchen, sind keine neuen, gut gemeinten Banalitäten und einfachen Erklärungsmuster. Wir brauchen ein Denken neuer Qualität. Eine von Grund auf offene, fluide und lebensfreundliche Denkweise, die die unerhört neuen Bedingungen unserer Zeit, nämlich konstanten Wandel und die Explosion von Komplexität, abbilden und flexibel auf sie reagieren kann, ohne einen ganz bestimmten roten Faden, eine Art Rückgrat elementarer und höchst wirksamer Werte jemals zu verlieren. Einfach gesagt geht es für uns darum, schneller und wirksamer zu werden als die Veränderung selbst und dazu dem menschlichen Denken ein neues Paradigma zugrunde zu legen, das sich vom alten diametral unterscheidet.
Das würde uns erlauben, kulturübergreifend in einer sich beschleunigenden Komplexität zu navigieren, ohne die Orientierung zu verlieren. Wir könnten menschliche Werte stärken, statt sie immer mehr zu verlieren. Wir müssen uns in die Lage versetzen, unsere Kräfte so effektiv zu bündeln wie niemals zuvor, und eine vollkommen neue Qualität des Zusammenlebens und -arbeitens ermöglichen. Wir brauchen dazu einen gemeinsamen ethischen Nenner, der niemandem mehr erlaubt, sich hinter kulturell begründeten Befindlichkeiten zu verschanzen, wo es doch in Wirklichkeit längst darum geht, erstmals in der Geschichte der Menschheit eine gemeinsame humane Sprache zu finden, die den wahren Verhältnissen und ihrer ungeheuren Dynamik auf unserem kleinen Planeten entspricht. Was wir ebenso wenig zulassen dürfen, ist, dass die Interessen von Extremisten jeder Couleur, auch nicht jener aus den digitalen Zentren, diktieren, was in diesem Jahrhundert auf diesem Planeten passiert.
Wir kommen nicht darum herum, uns weiterzuentwickeln. Wir müssen von gestörten zu entstörten Menschen werden. Ich glaube, es ist an uns heute Lebenden, uns aus den Fesseln der Unreife zu befreien und zu voll ausgereiften psychoemotional stabilen erwachsenen Menschen zu werden. Erwachsenen, die sich ernsthaft auf Augenhöhe begegnen und sich mehr Offenheit und Kooperationsfähigkeit abverlangen als alle Generationen vor uns. Es gibt nichts Wichtigeres, als uns selbst und die nächsten Generationen mitzunehmen in den menschlichen Fortschritt. Wir müssen stark sein und offen. Stärker und offener als jemals zuvor. Denn es geht heute um nicht weniger als das Glück des Menschen, die Zukunft unserer Spezies und das Leben der gesamten Biosphäre.
Ich bin überzeugt davon: Mit einem neuen Denken haben wir die Kraft dazu. Die Kraft und die Fähigkeit zu weitaus besseren Ideen. Wie diese gebaut sein müssen, um den großen Fragen unseres Jahrhunderts standzuhalten und dieses wieder zu gestalten, statt sich von ihm hin und her werfen zu lassen, darum geht es in diesem Buch.
Was ich zu sagen habe, wird manchem ungewöhnlich und im besten Sinne des Wortes fragwürdig erscheinen, weil es tatsächlich neu ist. Es muss aufstören, verwirren oder sogar Widerstand erzeugen, denn wenn es das nicht täte, wäre es nicht neu. Wenn es aber nicht neu wäre, könnte es uns keine Antworten auf die absolut neuen und ebenso drängenden Fragen unserer so fremdartig neuen Zeit geben. Zu neuen Denkweisen gehören auch Begriffe, die neu sind oder mit neuem Sinn belegt werden. Das beginnt in diesem Buch mit den Begriffen der Störung bzw. der Entstörung, die weder psychopathologisch noch technisch gemeint sind, obwohl die Prinzipien und Muster, die ich darin ausmache, auch in psychopathologischen oder technischen Phänomenen zu finden sind.
Ich schlage vor, menschliches Denken und Verhalten danach zu beurteilen, ob es Entfaltung auf individueller und kollektiver Ebene ermöglicht oder blockiert, ob es störend oder entstörend wirkt. Es bedeutet konkret die Frage, ob wir einem Open Mind oder einem Closed Mind folgen und wie genau diese Alternativen aussehen. Entstörtes Denken ermöglicht ein kooperatives und im konstruktiven Sinne kreatives Denken. Gestörtes Denken verschließt die menschliche Denkweise für Veränderungen und nutzt sein kreatives Potenzial vor allem dazu, von Grund auf ungerechte Pseudostabilitäten zu erzeugen, menschliche Freiheit und Entfaltungskraft zu zerstören und alles Leben auf der Erde auszubeuten, statt sich entfalten zu lassen. All diese Überlegungen sind verbunden mit der Frage nach einem neuen Menschenbild, für das es aus meiner Sicht höchste Zeit ist.
Ich unternehme in diesem Buch den Versuch, den psychoemotionalen Reifegrad von Menschen zur Unterscheidung von menschlichen Entwicklungspotenzialen zu nutzen. Dieser Zugang geht weg von äußerlichen Merkmalen und hin zu inneren Haltungen und Fähigkeiten, die grundsätzlich jeder Mensch ausprägen kann, die also in ihrem Potenzial tatsächlich konsequent egalitär sind. Wir müssen in diesem Jahrhundert erwachsen werden. Erwachsen sein heißt, sich von Allmachtswünschen und Ohnmachtsängsten zu lösen und individuell bis auf die Ebene der Spezies einen anderen Grad verantwortlicher Wirksamkeit zu erreichen.
Manchmal ist es nicht einfach, sich damit zu konfrontieren, wie sehr wir heute, von der ganz normalen Alltagssituation bis in die höchsten Ebenen der Weltpolitik hinein, in einem für unsere Spezies mehr als fragwürdigen Reifegrad denken und handeln. Die Geschichte der Weltklimakonferenzen seit 1992 ist nur ein Beispiel dafür. In wechselnden Rollen behindern und blockieren sich die Vertreter der Nationen. Bis heute feilschen sie um Ausnahmen und Sonderrechte, steigen wie beleidigte Kinder aus, ändern ihren Kurs und die Bündnisse, als ob sie nicht verstehen würden, dass es nicht um ein Spiel geht, das irgendeiner allein gegen die anderen gewinnen könnte.[1] 2018 forderte die Jugendliche Greta Thunberg die Delegierten auf, sich endlich wie Erwachsene zu verhalten. Und sie hat recht. Nicht nur auf die Klimaproblematik bezogen. Unsere Zeit verträgt nichts weniger als unreife Persönlichkeiten an den Spitzen unserer Gesellschaften. Im 21. Jahrhundert reisen wir mit hoher Geschwindigkeit. Und jeder weiß, dass bei bestimmten Geschwindigkeiten die Fehlertoleranzen schwinden. Wir müssen hinschauen, wen wir da wählen und wem wir es aus welchen Gründen recht machen wollen. Es geht nicht mehr ums Prinzip, sondern um die Möglichkeiten allen Lebens in einem beispiellosen Jahrhundert, für das wir, ob wir wollen oder nicht, als heute lebende Generationen die Verantwortung tragen.
Über die Frage des menschlichen Reifegrades gelangen wir zu einem zeitgemäßen Verständnis menschlicher Intelligenz, die wir heute, ganz im Sinn der Neurowissenschaften als embodied intelligence bezeichnen können. Körper, Gefühl und Verstand gehören zusammen; sie sind weder voneinander getrennt noch werden sie gegeneinander ausgespielt. Gedanken erzeugen Gefühle, und Gefühle vermögen Gedanken zu beeinflussen. Es ist wichtig, dass wir nicht nur eine Technik-, sondern auch eine Denk- und Kommunikationsfolgenabschätzung betreiben und eine lebensfreundliche Rationalität entwickeln. Wer intensiv mit Menschen arbeitet, weiß, wie extrem sensibel sie auf kleinste Signale reagieren, wie schnell Angst und Misstrauen entstehen und wie kraftvoll dagegen Vertrauen und gegenseitiger Respekt wirken. Wir sind an einem Punkt der menschlichen und erdgeschichtlichen Entwicklung angelangt, an dem wir alle mentalen Kräfte bündeln und jede Idee auch daraufhin prüfen müssen, was sie mit Menschen und anderen Lebewesen in einer ganzheitlichen Perspektive macht. Es macht einen Unterschied, ob wir die Zukunft als Katastrophenszenario ausmalen, uns gegeneinander aufhetzen und verlangen, dass Köpfe rollen, oder ob wir uns als menschliche Gemeinschaft verstehen, in der buchstäblich jeder Einzelne zählt und die mit ihrer außerordentlichen Intelligenz und Kreativität gemeinsam ein beispielloses Jahrhundert zum Besseren gestaltet. Wir, die wir heute leben, und diejenigen, die unmittelbar nach uns folgen, haben die Kraft und die Möglichkeit dazu. Erstmals in der menschlichen Zivilisationsgeschichte.
Gehen wir auf die Ebene der Ideen und Konzepte, die wir in diesem Jahrhundert entwickeln müssen, dann stelle ich in diesem Buch die Forderung, weniger zu rekonstruieren und stattdessen zu prokonstruieren. Wirklich neue Ideen zu entwickeln, die für eine sehr bewegte Zukunft taugen, statt nach Ideen zu suchen, die sich schon in der Vergangenheit nicht bewährt haben. Während Rekonstruktion die Aufgabe hat, bereits Gedachtes oder Gemachtes wieder sichtbar zu machen, wagt die Prokonstruktion, also das Weiterführen und Vorausdenken, das Unbekannte und geht das Risiko ein, die menschliche Entwicklung wieder als Fortschritt zu begreifen, ohne in die Fehler einer allzu optimistischen Moderne zurückzufallen, wie es heute wieder zahlreiche sogenannte Technikvisionäre tun. Es ist Zeit, eine bereits Jahrzehnte währende Retroschleife zu verlassen, in der wir Antworten bei Denkern suchen, die unter völlig anderen Zeitumständen gelebt haben. Karl Marx ist tot. Die großen Religionsgründer auch. Die Qualität eines Denkens ist so eng mit den Zeitumständen des Denkenden verwoben, dass der Rückgriff auf alte Konzepte wohl die eine oder andere Inspiration bereithalten mag, niemals aber neue Lösungen für völlig neue Probleme. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als selbst zu denken, neu zu denken.
Da die bisherige menschliche Zivilisation heute deutlich an ihre Grenzen gekommen ist, besteht mein Vorschlag darin, sie in Richtung einer alles Leben auf dem Planeten umfassenden Vivilisation weiterzuentwickeln. Vivilisation ist ein Begriff, der sich aus dem lateinischen Verb vivere, leben, ableitet. Wenn wir Humanität wieder ernst nehmen, werden wir nicht anders können, als die Einsichten, die Natur durch uns als intelligente Lebewesen gewinnt, im Sinne eines umfassenden Verständnisses von Vivilisation umzusetzen, also in einer tatsächlich existierenden, aber gänzlich neu verstandenen Gemeinschaft alles Lebenden auf diesem Planeten. Ein neuer, entstörter Humanismus überwindet sich selbst, nicht etwa indem er den Menschen überwindet oder durch Datenströme und Algorithmen ersetzt, wie es Transhumanisten oder Dataisten in Yuval Noah Hararis Weltbestseller »Homo Deus« denken, sondern indem wir von einem erweiterten Begriff allen Lebens ausgehen, menschliches Leben inklusive.
Ein entstörter Humanismus ist damit auch ein radikaler Humanismus, weil er im Wortsinn an die Wurzel geht (von lat. radix, Wurzel, Ursprung) und den Sinn ebenso wie die Möglichkeiten des Menschseins in diesem Jahrhundert neu definiert. Er bedeutet konsequente und nicht verhandelbare Menschlichkeit, eine klare Linie der Konstruktivität, Ausweis einer reifen, aus sich heraus starken und alles andere als naiven Humanität. Um genau das geht es heute: eine neue, reife und tatsächlich ernst gemeinte Menschlichkeit, die Möglichkeiten eröffnet und, wo es sein muss, Grenzen setzt. Wir brauchen sie überall auf der Welt und in allen Bereichen menschlichen Daseins mehr als jemals zuvor.
Begriffliche Neuschöpfungen, die ich an einigen Stellen vorschlage, entspringen nicht einer Vorliebe für Schlagwörter oder verklausulierender Wichtigtuerei, sondern dienen dazu, das bisher wenig, unscharf oder nicht Gedachte zu einer größeren Klarheit zu bringen. Wie Wittgenstein sagte, existiert für uns Menschen nur das, was wir benennen können, neues Denken braucht deshalb auch neue Begriffe.
An einigen Stellen habe ich mich bewusst für englische Begriffe entschieden, weil die englische Sprache einen deutlich größeren und zugleich präziseren Rahmen für Überlegungen rund um mentale Fragen ermöglicht als die deutsche. Auch hier geht es nicht darum, penetrant trendy zu sein, sondern die besonderen Potenziale einer anderen, weltweit bekannten Sprache zu nutzen, um noch präziser zu bezeichnen, worum es geht.
Bevor wir tiefer in die aus meiner Sicht relevantesten und aufregendsten Fragen unserer Zeit einsteigen, möchte ich, wie es in der Wissenschaft guter Brauch ist, die Hintergründe offenlegen, aus denen heraus ich zu meinen Schlüssen komme. Was ich zu sagen habe, ist kein beliebiges oder gar esoterisches Weltbild, von denen wir heute so viele haben, sondern die Frucht einer nunmehr fünfundzwanzigjährigen Arbeit als Wissenschaftlerin und Beraterin in zahlreichen für das Verständnis unserer Zeit überaus relevanten Kontexten. Ich habe als Historikerin und Politikwissenschaftlerin viele Jahre lang an der Freien Universität Berlin in der Transformationsforschung die großen Systemumbrüche des 20. Jahrhunderts untersucht und analysiert. Ich habe mich damit beschäftigt, wie aus Demokratien Diktaturen und aus Diktaturen Demokratien werden, welche Rolle Ideen und Ideologien dabei spielen und was das mit den Menschen macht, die diesen Wandel erleben. Eine Zeit lang habe ich mich intensiv in Zusammenarbeit mit meinem Doktorvater Peter Steinbach und den Wissenschaftlern an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin mit den Voraussetzungen persönlichen Engagements in unfreien Gesellschaften beschäftigt. Das sind Fragen, die heute wieder überaus aktuell sind:
Was passiert im Kopf und im Herzen von Menschen, wenn sie sich nach einem »starken Mann« an der Spitze der Regierung sehnen und Freiheitsrechte freiwillig abgeben? Und welche Umstände sind nötig, damit Menschen sich zu freien, selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern entwickeln, Mut entwickeln, selbstwirksam werden und die Geschicke ihres Lebens und ihrer Gesellschaften in die Hand nehmen? Wie denken sie? Welche Überzeugungen haben sie? Was machen sie anders? Kurz: Was stärkt Menschen? Was hilft ihnen, als Individuen zu wachsen, selbstwirksam zu sein und sich ebenso als sozial kompetente Mitglieder einer menschlichen Gesellschaft zu entfalten?
Nach meiner Zeit an der Universität habe ich in der Wirtschaft Unternehmen in tief greifenden Change-Prozessen begleitet. Ich habe Reden geschrieben und Manager gecoacht, die sich selbst und ihre Teams durch schwerwiegende Umbrüche führen mussten. In diesen Jahren durfte ich erstmals unmittelbar persönlich erleben, was Umbrüche mit Menschen machen, welche Strategien gut sind und welche weniger.
Seit fast zwanzig Jahren berate ich nun Menschen aus den verschiedensten Kontexten, die beruflich wie privat eine höhere Lebensqualität, mehr Sinn, mehr Erfolg und mehr Erfüllung in ihrem Leben suchen, und ich begleite Teams, meistens Führungsmannschaften, die einen menschlichen Kulturwandel in ihren Organisationen gestalten. Ich habe in diesen Jahren eine Methode der Gesprächsführung entwickelt, die Veränderungen für Menschen in unseren freien, reichen Gesellschaften enorm erleichtert, und darüber einige Bücher geschrieben, die auch in anderen Ländern und Kulturen der Welt gelesen werden.[2]
Es wird heute häufig noch unterschätzt und missverstanden, doch es ist das Arbeitsfeld des Coachings, das absolut essenzielle Probleme unserer Zeit zum Gegenstand hat und, wenn es seriös und fundiert ausgeführt wird, sehr wirksame, vielleicht sogar die derzeit wirksamsten Ansätze bietet, mentale Welten zu erkennen und zu verändern. Dass es ein fundamentales Paradigma im menschlichen Denken gibt, habe ich in den Tausenden Gesprächen mit Menschen unserer Zeit beobachtet, die in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder Norditalien leben und damit in den reichsten und freiesten Ländern des frühen 21. Jahrhunderts. Gerade hier offenbaren sich die Grenzen des alten Denkrahmens am deutlichsten, weil er sich geradezu himmelschreiend von den völlig anderen Umständen wirtschaftlich und politisch weit entwickelter Gesellschaften unterscheidet. Er erscheint so offensichtlich und überdeutlich, weil er Menschen dazu bringt, sich mit Überzeugungen und Ängsten zu konfrontieren, die ganz sicher nichts mehr mit der Lebenslage in den freien und reichen Gegenden der Erde zu tun haben. Der alte Denkrahmen bietet uns keine Orientierung mehr, sondern manövriert uns in die immer gleichen Probleme und Blockadeschleifen. Er wird zum sinnlos wiederholten mentalen Ritual, das längst seine Bedeutung und Wirksamkeit verloren hat.
Sein Leben inmitten von Freiheit und Fülle zu verändern ist deshalb kein Luxusproblem, sondern ein sehr ernstes und weithin unterschätztes, das vor allem westliche Gesellschaften betrifft und hellhörig machen sollte.
Einfach gesagt fehlen uns auf weiten Strecken bis heute die mentalen Fähigkeiten und innovative, für das reale Leben brauchbare Konzepte. Mit Folgen, die nicht nur uns selbst, sondern auch andere leiden lassen. Vieles, was durch westliche Gesellschaften zerstört wird, entstammt einem tiefen Bedürfnis nach Kompensation, einer inneren Leere, die wir endlich auf andere, konstruktive Weise füllen müssen.
Die kommenden Seiten verlangen Ihnen den Mut ab, sich auf Neues einzulassen. Sie fordern auf, möglicherweise irritierenden Gedanken konsequent zu folgen und sich überraschen zu lassen, was sich vor unserem inneren Auge verändert, wenn wir alles, was wir bisher kennen, in ein neues Licht stellen. Der Philosoph Martin Heidegger hat den Begriff des Entbergens geprägt, und genau das unternehmen wir, wenn wir die Dinge entstört betrachten. Es entbergen sich dann andere Wahrheiten und Möglichkeiten, die wir vorher so gar nicht sehen konnten, weil sie im Dunkel eines anderen Denkens lagen.
Doch ab diesem Punkt können wir alles, was wir kennen, in einer gestörten und in einer entstörten Variante denken: unser eigenes Leben und seine Herausforderungen, die Familie, die Wirtschaft, Politik, Demokratie, Fragen der Religion oder der Technologie. Buchstäblich alles ist in beiden Richtungen, diesseits und jenseits der neuen Trennlinie denkbar und wird zu ganz und gar anderen Einsichten und Ergebnissen führen.
Das Buch beginnt mit meinem Blick auf unsere Zeit, ihre beispiellosen Probleme, ihre gigantischen Herausforderungen und ihre zum Teil irrwitzigen Paradoxien, wie sie sich mir als Wissenschaftlerin und Beraterin zeigen. Danach wagen wir einen Blick auf die Zukunft, wie sie sein könnte, wenn wir sie aus einem anderen Denkrahmen heraus verstehen, bevor ich vorstelle, wie der alte Denkrahmen im Moment noch aussieht und warum er uns nicht mehr weiterbringt. Ich werde erklären, woher das alte, heute gestörte Denken kommt, welche Aufgabe es einmal hatte, warum es uns weit gebracht hat, aber heute nicht mehr weiterbringt, um im Anschluss daran ein neues Denken vorzuschlagen, das in meiner Arbeit mit Menschen und Organisationen bereits praktisch erprobt ist und uns grundlegend neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Danach werde ich zeigen, wie uns die Transformation in dieses neue entstörte Denken gelingen kann, was es dazu braucht und wie wir nicht nur uns selbst, sondern auch die Welt in eine positive Richtung verändern können. Greta Thunberg hat den Satz geprägt »There ist no planet B«. Es ist wahr, wir haben keine zweite Erde. Aber ich meine, wir können und sollten genau heute damit beginnen, den Prototypen einer anderen menschlichen Zivilisation zu entwickeln. »Let’s create planet B!« ist das Motto des Abschlusskapitels. Ich werde zeigen, wie es gelingen kann, welche wegweisenden Projekte es dazu heute schon gibt, und Vorschläge machen, was jeder Einzelne von uns tun kann sowie was die Entscheider von heute tun können, um die Vision einer anderen, besseren Welt Wirklichkeit werden zu lassen.
Wie gut das Neue, Entstörte auch immer sein mag, so ist es zunächst irritierend, stößt uns aus lieb gewonnenen Gewissheiten, wo wir doch eine stark nach Sicherheit suchende Spezies sind. Das Neue kann uns beunruhigen, selbst dann, wenn wir wissen, dass es die bessere Wahl ist. In Tausenden Gesprächen konnte ich erleben, wie schwer es ist, sich zu verändern, solange das alte Paradigma in unseren Köpfen aktiv ist, welches Feuerwerk an Ängsten, Bedenken und Blockaden es auslöst. Sobald wir es aber erkannt und durch ein neues, unserem Zeitalter Angemessenes ersetzt haben, ist Veränderung nicht mehr schwer. Sie gehört dann zu unserem Leben wie die Luft zum Atmen. Wandel ist dann etwas Natürliches, etwas Willkommenes. Wir nehmen ihn an und bereichern ihn mit unserer unvergleichlichen menschlichen Kreativität.
Was vor uns liegt, könnte nicht aufregender sein. So, wie sich der Weg eines jeden Regentropfens in den unsichtbaren Wasserscheiden der Erde entscheidet, entscheidet sich in dem feinen Geflecht unserer tief liegenden Überzeugungen, wie dieses Jahrhundert verlaufen wird. Im Gegensatz zu einem Regentropfen kann jeder von uns seine eigene Wahl treffen.
In der westlichen Welt haben wir einen Grad an Wohlstand, Sicherheit und Langlebigkeit erreicht, der historisch gesehen beispiellos ist. Wir leben in Demokratien, genießen Rechtssicherheit. Wir sind frei. Die wenigsten von uns denken noch darüber nach, welche Anstrengungen es Generationen vor uns gekostet hat, da hinzukommen, wo wir heute von Geburt an stehen.
Während Menschen in anderen Teilen der Erde immer noch täglich ums Überleben kämpfen, haben wir andere Sorgen. Wir essen uns krank und sitzen uns schief. Wir trainieren, wie wir gut schlafen können, und einige von uns unterziehen sich Schönheitsoperationen, weil sie nicht ertragen können, so alt auszusehen, wie wir es erst heutzutage werden können. Medizinisch gesehen haben wir die großen Epidemien im Griff. Was aber explodiert, sind die psychischen Krankheiten. Jedes Jahr erkrankt jeder vierte Europäer an einer Angststörung oder Depression.[3] Unser Alltag ist so bequem wie nie, doch laut Prognosen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden die meisten Menschen ab 2020 an den Folgen von chronischem Stress erkranken.[4] Depressionen sollen dabei die zweithäufigste Todesursache sein. Die Symptome zeigen sich auch da, wo sich viele Menschen, wie in Indien oder China, erst seit Kurzem einen westlichen Lebensstil leisten können.[5] Gerade dort, wo Menschen äußerlich alles haben, klafft eine merkwürdige innere Lücke auf.
Dass Geld allein oder ein gutes Bruttosozialprodukt nicht glücklich macht, ist keine Neuigkeit. Schon 1990 haben die Vereinten Nationen nicht mehr die wirtschaftlichen Rahmendaten, sondern die Qualität des Lebens zum Richtwert menschlicher Entwicklung bestimmt.[6] Mit der Lebensqualität sind die Entfaltungsmöglichkeiten gemeint, die ein Mensch hat, unabhängig davon, wer er ist, wo er herkommt und lebt. Viele kluge Köpfe, unter ihnen Wissenschaftler und Denkerinnen von Weltruf, haben sich in den letzten dreißig Jahren Gedanken gemacht, wie sich diese neue Ausrichtung umsetzen lässt[7] – und dabei einen entscheidenden Punkt übersehen. Auch die besten Entwicklungsansätze unserer Zeit legen den Fokus auf Fortschritte im Außen. Auf Versorgung, bessere Infrastrukturen, Bildung, mehr politische Teilhabe, umfangreiche Rechte. All diese Dinge sind ohne Zweifel wichtig. Doch wird außer Acht gelassen, dass sich genau da, wo Menschen all das haben, Probleme zeigen, die anderer Natur sind. Auch die besten Außenumstände schaffen noch keine guten inneren Umstände. Diese sind aber für die tatsächlich empfundene Lebensqualität entscheidend.
Wir wissen mittlerweile viel darüber, was Menschen brauchen, um gesund zu bleiben und sich wohlzufühlen. Gute Beziehungen zu anderen Menschen zum Beispiel.[8] Enge, verlässliche Bindungen zu anderen sind der Schlüssel für Gesundheit und Lebensqualität. Selbstzweifel, Konflikte, Stress oder Einsamkeit lassen die Entzündungswerte im Körper ansteigen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit unserem Immunsystem stehen. Inzwischen lässt sich exakt berechnen, wie sich die Lebenszeit eines Menschen verkürzt, wenn er dauerhaften Beziehungsstörungen und anderen psychoemotionalen Überforderungen ausgesetzt ist.[9] Doch unser Lebensstil zeigt alle Parameter, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen sich isoliert, einsam und abgekoppelt fühlen. Die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt zu, Familien brechen immer früher auseinander, und die meisten Menschen haben das Gefühl, dass der Leistungsdruck am Arbeitsplatz steigt,[10] obwohl es Unternehmen in den deutschsprachigen Ländern rein materiell niemals so gut ging wie in den letzten Jahren. Alles nur Luxusprobleme? Innere Not zeigt sich in äußerlich bestens gestellten Regionen anders als dort, wo Hunger, Krieg und täglicher Terror herrschen. Weniger kameratauglich, aber nicht minder leidvoll, wenn wir die Würde eines Menschen nicht gegen die eines anderen ausspielen wollen.
Die Wahrheit ist: Wir sind so frei und reich wie nie und dennoch nicht glücklich. Das materielle Schlaraffenland, in dem wir heute leben und von dem unsere Vorfahren geträumt haben, ist für viele ein Ort der Einsamkeit, des Leistungsdrucks, der chronischen Sucht nach Kompensation, ein dauerndes Zuviel und ein Gefühl von Ausweglosigkeit. Es ist ein Ort, der umso verrückter erscheint, weil wir im Grunde wissen, dass es uns noch niemals so gut ging wie heute. Sehr viele haben mit ihren Familien in den letzten fünfzig Jahren einen rasanten sozialen Aufstieg erlebt. Und trotzdem will sich das Glück irgendwie nicht einstellen.
Menschen machen sich inmitten der besten Außenumstände immer noch selbst und gegenseitig das Leben zur Hölle. Das beginnt mit den vielen dauernden Unzufriedenheiten, die zum Teil selbst gemacht sind, aber dennoch wehtun. Meckern ist an der Tagesordnung, Freundlichkeit selten. Bagatellen eskalieren blitzschnell zu Streitereien, an denen sich ganze Familien entzweien. Doch das alles ist nur die Spitze des Eisbergs zwischenmenschlicher Probleme, mit denen wir uns herumschlagen.
Immer noch werden Frauen, Kinder und auch Männer in ihrem Zuhause verprügelt, psychisch und körperlich misshandelt und missbraucht. Es wachsen Mobbing, Ausgrenzung und neuerdings auch politische Gewalt.
Die ohnehin hohe Zahl psychischer Erkrankungen wächst besonders stark unter den ganz Jungen und den Alten. Ein Viertel der Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen leidet unter einer Angsterkrankung oder Depressionen.[11] Zwischen 2005 bis 2016 ist ihre Zahl in dieser Altersgruppe um 76 Prozent angestiegen. Ein Viertel der über Fünfundsechzigjährigen in Deutschland leidet unter psychischen Beeinträchtigungen, die von Fachleuten als behandlungsbedürftig eingeschätzt werden.[12] Nach einer Studie des Robert Koch-Instituts[13] nimmt fast ein Viertel der Sechzig- bis Neunundsiebzigjährigen Psychopharmaka ein. Eine nicht unerhebliche Zahl von ihnen trinkt zusätzlich in riskantem Maße Alkohol. Alleinstehende sind davon noch häufiger betroffen. Das alles geschieht in einer Gesellschaft, die in den nächsten drei Jahrzehnten eine beispiellose Alterung vor sich hat und in bisher nicht gekannter Weise auf die jüngere Generation angewiesen ist. Die Infrastruktur ist da, vieles ist gut geregelt, zum Teil besser als im Rest der Welt, und dennoch funktioniert etwas nicht. Die inneren Werte und Traditionen der alten Gesellschaften sind zusammengebrochen, aber wir haben noch keine Idee davon, was diese Lücke füllen könnte. Zu viele Menschen bleiben auf der Strecke. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir noch nicht, wie wir inmitten einer beispiellosen Qualität von Äußerlichkeiten eine innere und vor allem eine zwischenmenschliche herstellen können. Wir wissen noch nicht, wie wir als freie Menschen, in einer Welt, die uns täglich mehr abverlangt, individuell und in Gemeinschaft wirklich zufrieden sein und gut zusammenleben können.
All das erlebe ich in meiner täglichen Arbeit mit Menschen wie in einem Brennspiegel. Ich habe innerhalb von rund zwanzig Jahren mit Tausenden im Einzelsetting oder in Teams Gespräche über ihr Leben, ihre Wünsche und ihre beruflichen Herausforderungen geführt. Einige von ihnen gehören einer Elite aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik an, andere nicht. Was sie einander ähneln lässt, ist das Gefühl, in einem Leben festzustecken, das nicht zu ihnen passt. Zu viele Pflichten, zu viele Möglichkeiten und keine Ahnung, wofür es sich zu leben lohnt. Manche empfinden ihr Leben wie ein Hamsterrad. Die Sehnsucht nach einer anderen Qualität ist groß. Die Freiheit und die Möglichkeiten wären da. Doch es gibt tausend Gründe, die sie daran hindern, ihr Leben zu verändern. Es sind vor allem innere Gründe, nicht so sehr äußere. Es ist ein Feststecken in Ängsten, eine Anpassung an Erwartungen, die es zum Teil gar nicht mehr gibt oder die im heutigen Leben einfach keinen Sinn mehr ergeben. Es gibt viele Ideen. Sie umzusetzen aber erfordert Mut und eine gute Portion Unerschrockenheit. Und genau daran fehlt es.
Ich habe mit Menschen gearbeitet, die jederzeit einen neuen Job finden würden und dennoch in krank machenden Umständen weiterfunktionieren, weil sie Angst haben, etwas Neues zu wagen und wenn es nicht klappt, eines Tages »unter der Brücke« zu landen. Ich habe mit Frauen gesprochen, die als Erste in ihrer Familie einen Doktortitel führen und alles dafür getan haben, in einflussreiche Positionen zu kommen. Doch sie fordern sich gleichzeitig ab, perfekte Partnerinnen, Hausfrauen und Mütter zu sein. Die Überforderung ist vorprogrammiert. Vielen Männern geht es nicht anders. Auch für sie steigt der Stresspegel: erfolgreich und topfit sein, blendend aussehen, ein perfekter Vater und stets ein verständnisvoller Partner sein. Und gleichzeitig ein ganzer Kerl, der sich nimmt, was er will. Aber wie soll das zusammengehen? Nach außen hin ist in unseren Tagen so vieles anders geworden. Im Inneren haben wir noch große Probleme damit.
Es gibt zu viele Ideale, die sich widersprechen. Zu viele Wünsche und Möglichkeiten und keinen klaren Kompass, nach dem man sich richten könnte. Dauernde Ambivalenzen aber kosten Kraft.
In der Arbeitswelt sieht es nicht anders aus. Sehr viele gut ausgebildete junge Frauen und immer mehr Männer haben Angst vor den nächsten Karriereschritten, weil sie befürchten, dass es sie schlichtweg überfordert, alles unter einen Hut zu bringen, was ein lebenswertes Leben ausmachen könnte. Früher gab es ein Hauen und Stechen um die wenigen Führungspositionen. Heute ist es in vielen Unternehmen ein immer größeres Problem, sie überhaupt zu besetzen. Frei nach dem Motto: Stell dir vor, es gibt Führungspositionen und keiner will sie haben. Und was heißt heute eigentlich weiterkommen? Noch mehr arbeiten? Wofür? Manager berichten von aufreibenden Statusspielen, sinnlosem Wettbewerb und chronischem Druck, der auch dann nicht weniger wird, wenn die Zahlen bombastisch sind. Die schöne neue Arbeitswelt ist an vielen Orten nichts weiter als eine rhetorische Blase, die mit der gleichen dogmatischen Unerbittlichkeit gefüllt wird wie die Managementkonzepte der 1980er- und 1990er-Jahre.
Man soll agil sein und zugleich auf seine Gesundheit achten, sich Zeit für sich selbst nehmen. Aber selbstverständlich nur dann, wenn ansonsten alles reibungslos läuft. Man soll offen sein, Vertrauen schenken, Wissen teilen. All das aber lässt sich nicht verordnen. Vor allem dann nicht, wenn die eigentlichen Spielregeln dahinter andere bleiben. Das viele Gute, das man heute unter dem Stichwort »New Work« propagiert, führt allzu oft zu seinem Gegenteil, weil viele nicht beachten, dass all die neuen Reden auf der psychoemotionalen Ebene Menschen, die ein völlig anderes Mindset haben, enorm viel abverlangen. Viele glauben nicht, was sie da hören. Sie fühlen sich sogar verschaukelt und noch weniger sicher in einer unechten, pseudoheilen Welt, in der man, zusätzlich zu dem Druck, der ohnehin herrscht, gut drauf sein muss. Dauernd wird Veränderung gefordert und dabei völlig übersehen, dass es nichts gibt, was Menschen mehr an ihre inneren und äußeren Grenzen bringt als Veränderung. Selbst ein Platzwechsel von einem Schreibtisch zum anderen kann ganze Abteilungen in Unruhe versetzen. Ein Manager, mit dem ich einmal gearbeitet habe, hat seine langjährige Büromanagerin verloren, weil er sie gebeten hatte, ihre mittlerweile üppig wachsenden Zimmerpflanzen lieber mit nach Hause zu nehmen.
Unsere inneren Systeme sind immer noch auf Stabilität ausgerichtet, und in einer Welt, in der so vieles auseinanderbricht, wird diese Neigung gerade da stärker, wo man es vielleicht am wenigsten vermutet. Kein Wunder, dass genau dort, wo Veränderung zum Geschäftsmodell gehört, Menschen mit ganz anderen Methoden bei der Stange gehalten werden.
In manchen Kulturen der New Economy geht es zu wie in einer evangelikalen Sekte: dogmatisch, euphorisch, gläubig. Wer nicht mitmacht, mit dem stimmt etwas nicht. Solche Methoden sind nicht neu, Menschen nutzen sie seit Jahrtausenden, um sich und andere auch gegen Widerstände zum Funktionieren zu bringen. Mit »New Work« hat das herzlich wenig zu tun.
Zu den inneren Ambivalenzen kommen äußere Doppelbotschaften. Auf der einen Seite soll das Arbeitsklima lockerer werden, auf der anderen Seite sehen wir auf allen Kanälen, dass der globale Wettbewerb härter, die Welt immer unsicherer und unberechenbarer wird. Angst und Panik lassen Menschen aber noch stärker festhalten, und irgendwann schalten sie einfach ab, stellen sich tot oder werden aggressiv.