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Band fünf und sechs mit Irene Huss, der findigen schwedischen Kriminalkommissarin.
„Der erste Verdacht“: Mord aus Leidenschaft oder eiskaltes Verbrechen? Die Göteborger Polizei stochert im Nebel. Als der fünfzigjährige Hotel- und Restaurantbesitzer Kjell B. Ceder in seiner luxuriösen Villa in den Schären tot aufgefunden wird – niedergestreckt mit zwei Schüssen aus einer kleinkalibrigen Waffe –, fällt der Verdacht sofort auf seine wesentlich jüngere Frau Sanna. Sie lebt von ihm getrennt und scheint mehr als genug Gründe zu haben, ihm die Pest an den Hals zu wünschen. Dann sterben zwei Geschäftsleute auf ähnliche Weise wie Ceder – einer von ihnen hatte früher beruflich mit Sanna zu tun, verscherbelte gemeinsam mit ihr Luxusgüter über das Internet. Ist sie etwa ebenfalls in Gefahr? Oder ist sie viel raffinierter, als es den Anschein hat? Kriminalinspektorin Irene Huss nimmt die Ermittlungen auf – und stößt auf eine heiße Spur, die sie bis nach Paris führt. Dann wird auf einer Schäreninsel vor Göteborg die fast verweste Leiche eines Mannes gefunden, und die Karten scheinen völlig neu gemischt zu werden …
„Feuertanz“: Als Irene Huss mit der Leiche der jungen Tänzerin Sophie konfrontiert wird, schrillen bei der Kommissarin alle Alarmglocken. Zu sehr erinnert sie dieser Fall an ein anderes Verbrechen, das nie aufgeklärt werden konnte. Der Stiefvater der damals achtjährigen Sophie war auf ganz ähnliche Weise ermordet worden wie nun sie selbst. Damals stand das Mädchen unter dringendem Tatverdacht. Was haben die beiden Fälle miteinander zu tun?
»Tursten tut es wieder! Ein Top-Krimi, top erzählt.« (Bild am Sonntag)
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Seitenzahl: 893
»Der erste Verdacht«: Als der 50-jährige Hotelbesitzer Kjell B. Ceder tot in seiner Luxusvilla aufgefunden wird, niedergestreckt mit zwei Schüssen aus einer kleinkalibrigen Waffe, fällt der Verdacht sofort auf seine wesentlich jüngere Frau Sanna. Sie lebte von ihm getrennt und scheint verdächtig unbewegt angesichts seines Todes. Dann sterben zwei Geschäftsleute auf ähnliche Weise wie Ceder – einer von ihnen hatte früher geschäftlich mit Sanna zu tun. Ist sie etwa ebenfalls in Gefahr? Oder ist sie raffinierter, als es den Anschein hat? Kriminalinspektorin Irene Huss nimmt die Ermittlungen auf. Als plötzlich die fast verweste Leiche eines weiteren Mannes gefunden wird, scheinen die Karten völlig neu gemischt zu werden …
»Feuertanz«: Eine mörderische Familie?
Als Irene Huss mit der Leiche der jungen Tänzerin Sophie konfrontiert wird, schrillen bei der Kriminalinspektorin die Alarmglocken. Zu sehr erinnert dieser Fall an ein anderes Verbrechen, das nie aufgeklärt werden konnte. Der Stiefvater der damals achtjährigen Sophie war auf ganz ähnliche Weise ermordet worden. Was haben die beiden Fälle miteinander zu tun? Sind die Malmborgs einfach vom Pech verfolgt? Viel eher scheint es sich um eine wahrhaft mörderische Familie zu handeln. Sophies Bruder, der Tänzer ist, scheint etwas zu verbergen. Geht es um eine von Sophies Choreografien? Und wieso ist die Mutter der Toten so gelassen? Irene Huss sucht verbissen nach der Lösung des Rätsels. Aber noch ein weiteres Unglück muss geschehen, ehe die Inspektorin auf der richtigen Spur ist …
Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Mit ihren Kriminalromanen um Inspektorin Irene Huss begeisterte sie Schwedens Kritiker und Publikum auf Anhieb und schrieb sich auch in Deutschland in die Herzen der Krimileser und -leserinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin wurde jetzt erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Ex-Polizisten.
Helene Tursten
Band fünf und sechs der Irene Huss-Krimis in einem Band
btb
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»Der erste Verdacht«
Die schwedische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Guldkalven« bei Alfabeta Anamma, Stockholm.
Genehmigte Ausgabe Februar 2007
Copyright © der Originalausgabe 2004 by Alfabeta Anamma, Stockholm
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Design Team, München
Coverfoto: © Wolf Huber
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
EM · Herstellung: AW
»Feuertanz«
Die schwedische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Eldsdansen« bei Alfabeta Anamma, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Helene Tursten, published by agreement with Alfabeta Bokförlag, Stockholm and Leonhardt & Høier Literary Agency, Copenhagen
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Design Team, München
Coverfoto: © Getty Images/Hewes
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: LW
978-3-641-31987-8
www.btb-verlag.de
Für meine Schwester Pia
Februar 2000
Verschwommene Bilder, von der Überwachungskamera einer Bank aufgenommen, flimmerten über den Bildschirm. Drei maskierte Männer richteten ihre Waffen auf Kunden und Personal. Die Bankräuber waren identisch gekleidet, dunkle Overalls, schwarze Mützen und schwarze Lederhandschuhe. Ihre Augen ließen sich hinter den Löchern der Mützen, die sie bis über das Kinn gezogen hatten, nur erahnen. Einer der Männer stand hinter dem Schalter und warf der Kassiererin eine große Nylontasche zu. Mitten in der Schalterhalle lag ein Mann auf dem Bauch. Einer der Räuber zielte mit einem Gewehr auf seinen Kopf. Der dritte Bewaffnete hatte sich neben der Tür postiert und hielt nervös Ausschau. Er stand mit dem Rücken zur Kamera, seine Waffe war auf die Tür gerichtet. Plötzlich sah man am oberen Bildrand, wie die Glastür geöffnet wurde und jemand den Schalterraum betrat. Zwei dürre Schienbeine in bequemen halbhohen Lederschuhen erschienen in der Türöffnung. Der Vermummte an der Tür trat einen Schritt vor und zerrte eine ältere Frau ins Bild. Er packte ihren Arm, sie machte eine Viertelumdrehung und stürzte kopfüber zu Boden.
Alle drei Räuber bewegten sich ruckartig, als sei der Verlauf in Sequenzen gefilmt worden, um Videoband zu sparen. Trotzdem war deutlich zu erkennen, dass sie nach dem Sturz der alten Dame nervöser geworden waren, der Mann hinter dem Schalter bedeutete der Kassiererin mit bedrohlichen Gesten voranzumachen. Mit zitternden Händen versuchte sie, die Tasche der Räuber mit Scheinen zu füllen. Einige fielen daneben, was den maskierten Mann verärgerte. Unvermittelt versetzte er ihr mit dem Gewehrlauf einen Schlag ins Gesicht. Die Kassiererin sackte zusammen und verschwand hinter dem Schalter.
»… diese brutalen Bilder stammen aus der Bank. Ein vierter Mann wartete vor der Tür mit dem Fluchtwagen. Laut Zeugenaussagen handelte es sich um einen roten Saab 9000. Nur wenige Stunden zuvor wurde ein entsprechendes Fahrzeug in Arvika gestohlen. Nach Ansicht der Polizei ist es mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Wagen der Bankräuber identisch. Eine landesweite Fahndung wurde eingeleitet. Die ältere Frau, die die Bank während des Überfalls betreten hatte, brach sich durch einen Sturz den Oberschenkelhals. Sie steht unter Schock. Die Kassiererin verlor ihre Schneidezähne und steht ebenfalls unter Schock. Beide Frauen werden stationär behandelt. Den Geiseln und dem Bankpersonal steht ein Krisenteam bei. Die Beute soll dieses Mal über eine Million Kronen betragen haben. Es ist der vierte große Bankraub in diesem Jahr im Norden von Värmland. Für keinen der Überfälle konnte bislang ein Verdächtiger dingfest gemacht werden. Vermutlich kommt es deshalb so häufig zu Banküberfällen in den nördlichen Provinzen, weil hier die Polizeipräsenz äußerst gering ist. Wenn die Alarmglocken schrillen, ist es gut möglich, dass sich der einzige diensttuende Streifenwagen bis zu fünfzig Kilometer vom Tatort befindet«, sagte die Stimme einer Reporterin aus den Lautsprechern des Großbildschirms.
»Schweine!«, sagte der Mann auf dem Sofa und schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus. Nachdem das Bild erloschen war, herrschte einen Augenblick Stille im Zimmer.
»Wie schrecklich! Stell dir vor, da steht einer und richtet sein Gewehr auf deinen Kopf! Nicht auszudenken!«, erwiderte seine junge Freundin und lachte nervös.
Dann verstummte sie und sah zu, wie er ihr Weinglas nachfüllte.
»Andererseits, Philip, eine Million ist ja auch nicht gerade von Pappe. Vermutlich das beste Verbrechen, um zu Geld zu kommen«, sagte das Mädchen kichernd und nahm einen großen Schluck Rotwein.
»Zu gefährlich. Man kann dabei erschossen werden.«
Er hob sein Glas an die Nase und schnupperte lange und genüsslich.
»Hm. Sonnengereifte Brombeeren und eine Spur Vanille. Hoffentlich erwischen sie die Gauner und sperren sie in den Bunker von Kumla. Da können sie verrotten«, sagte der Mann, der daran beteiligt gewesen war, hundert Millionen zu unterschlagen. Dollar, keine Kronen.
Die Kriminalinspektoren Irene Huss und Tommy Persson hielten hinter den beiden blauweißen Streifenwagen. Vor diesen stand das Auto der Spurensicherung, ein normaler Personenwagen. Die Garagenauffahrt des Hauses wurde von einem nachlässig abgestellten, silbermetallic lackierten Mercedes Cabrio mit geschlossenem Verdeck blockiert.
Sie stemmten sich gegen den starken Wind, der vom Meer herwehte, und suchten sich vorsichtig ihren Weg zur Haustür. Der Neubau schien fertiggestellt zu sein, doch das Grundstück war noch eine einzige große Schlammwüste. Ein Tritt neben den Plattenweg, und schon blieb möglicherweise der Schuh im Lehm stecken. Obwohl der Garten noch nicht angelegt war, fiel Irene Huss die phantastische Lage des Hauses auf. Es thronte auf einer Anhöhe und bot eine weite Sicht über das Wasser des Askimviken. Wo bekam man nur so ein Baugrundstück her? Das Haus war aus terrakottafarbenen Ziegeln und viel Glas. Das von einem Stararchitekten entworfene Haus hatte mit Sicherheit ein Vermögen gekostet.
Tommy Persson blieb stehen und betrachtete das Cabrio. Beeindruckt pfiff er durch die Zähne und sah Irene viel sagend an. Dann ging er weiter und klingelte an der Haustür. Sofort öffnete eine Polizistin in Uniform. Sie war jung und wirkte sehr ernst.
»Hallo. Tommy Persson und Irene Huss vom Dezernat für Gewaltverbrechen.«
»Hallo. Stina Lindberg. Die Spurensicherung ist auch gerade eingetroffen«, entgegnete ihre uniformierte Kollegin.
Im Haus schrie ein Kind. Nervös schaute Stina Lindberg in die Richtung, aus der der Lärm kam, und versuchte, rasch zu erklären:
»Das ist das Baby. Ihr Baby… seine Frau hat ihn gefunden … ihren Mann … als sie nach Hause kam.«
Stinas bleiche Wangen und ihr verbissenes Ringen um Fassung verrieten, dass ihr die Situation zu schaffen machte. Ein Mord machte immer allen zu schaffen, aber noch schlimmer war es, wenn Kinder Teil des Szenarios waren.
Ein hoch gewachsener Polizist mit Schutzkleidung über der Uniform trat in die geräumige Diele. Irene und Tommy kannten ihn gut. Sie begrüßten sich herzlich. Inspektor Magnus Larsson informierte sie über den Stand der Dinge, während sie sich ebenfalls Schutzoveralls sowie Hauben, Plastikhandschuhe und Plastikschlappen überzogen.
»Die Frau alarmierte den Notruf und sagte, sie habe ihren Mann erschossen aufgefunden. Wir trafen etwa eine Viertelstunde später ein. Da war sie noch recht gefasst, aber kurz darauf erlitt sie einen Zusammenbruch. Die Telefonnummer ihrer Mutter war in ihrem Handy gespeichert. Ich hab sie bereits angerufen. Schließlich muss sich jemand um das Kind kümmern. Die Mutter ist unterwegs. Aber es wird noch dauern, sie kommt aus Borås.«
»Wie heißen die Leute, die hier wohnen?«, fragte Irene.
»Sanna Kaegler-Ceder und Kjell Bengtsson Ceder.«
Irene meinte, beide Namen schon einmal gehört zu haben, konnte sie jedoch nicht einordnen. Tommy schien es genauso zu gehen. Fragen konnte sie ihn nicht, denn in diesem Moment plärrte das Baby im hinteren Teil des Hauses los. Alle drei Beamten eilten auf das Geräusch zu.
Das Wohnzimmer mit seiner Fensterwand aufs Meer hinaus war überaus geräumig. Die Aussicht war wirklich phantastisch. Zusammengesunken saß eine junge Frau in einem drehbaren, eierschalenfarbenen Ledersessel. Sieben weitere solcher Sessel waren um einen elliptischen Glastisch gruppiert. Unter dem Tisch lag ein flauschiger Teppich, ebenfalls eierschalenfarben. Die helle Farbe kontrastierte eindrucksvoll mit dem dunklen, terrakottaroten Klinkerboden. Die Wände waren ein paar Nuancen heller als die Ledersessel. Ein großes modernes Ölgemälde bildete den Blickpunkt an der fast weißen Wand.
Irene und Tommy begrüßten die beiden uniformierten Kollegen, die neben der Frau standen. Dann betrachteten sie die erstarrte Gestalt im Sessel genauer. Irene kam das Gesicht vage bekannt vor.
Sanna Kaegler-Ceder starrte dumpf vor sich hin. Ihre bleiche Farbe und ihre versteinerte Miene verwandelten ihr Gesicht in eine Gipsmaske. Zu ihren Füßen stand eine Babywippe aus hellblauem Cord. Irene schätzte, dass das Kind höchstens ein halbes Jahr alt war. Es schrie aus Leibeskräften und war vor Anstrengung hochrot im Gesicht.
An die Glaswand schloss sich ein mehrere Meter breiter Durchbruch in ein verglastes, achteckiges Zimmer an. Von diesem aus führte eine Wendeltreppe aus Stahl ins Obergeschoss. Der Ehemann von Sanna Kaegler-Ceder lag unter der Treppe. Die beiden Männer von der Spurensicherung, die neben der Leiche standen und ihre Fotoausrüstung wegpackten, nickten Irene und Tommy zu, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Wir brauchen noch eine Viertelstunde«, meinte der ältere.
»Okay«, erwiderte Tommy.
Irene trat auf Sanna Kaegler-Ceder zu und berührte sie sachte an der Schulter. Sie schien es nicht einmal zu spüren.
»Hallo. Ich heiße Irene Huss. Glauben Sie, dass Sie Ihrem Kind etwas zu essen geben könnten?«
Ein schwaches Zucken der Augenlider war die einzige Reaktion.
Irene seufzte und nahm das kleine, verheulte Bündel hoch. Ein durchdringender Geruch stieg von dem Kind auf. Höchste Zeit zum Windelwechseln.
»Komm, Tommy. Du musst mir helfen, den Wickeltisch und die Fläschchen zu finden«, sagte Irene energisch.
»Bitte? Soll ich … sollen wir?«
»Ja. Schließlich ist es noch nicht lange her, dass du bei deinen eigenen Kindern die Windeln gewechselt hast.«
»Wie wahr. Natürlich werden wir dafür sorgen, dass der Kleine eine trockene Windel und einen Big Mac mit einer extra großen Portion Pommes und Ketchup bekommt.«
Er schnalzte mit den Lippen und kitzelte den Bauch des Babys. Noch einmal schluchzte das Kind auf und hörte dann auf zu weinen.
Nachdem sie verschiedene Türen geöffnet hatten, gelangten sie in ein großes Badezimmer, das bis zur Decke mit rosa Marmor verkleidet war. Auf einem riesigen Wickeltisch lag alles, was ein kleines Kind für seine tägliche Pflege brauchte. Irene wechselte die Windel und stellte fest, dass es sich um einen Jungen handelte. Diesen Verdacht hatte sie bereits beim Anblick der Babywippe und der Kleidung gehabt. Der Strampelanzug war aus superweichem Jeansstoff, und auf dem hellblauen Pullover stand in knalligen silbernen Lettern »Made in New York«. Als Irene den Kleinen vom Wickeltisch hob, begann er erneut zu wimmern. Jetzt, wo er trocken war, machte sich wieder der Hunger stärker bemerkbar.
Tommy war in die Küche vorgegangen. Als es Irene mit dem Baby auf dem Arm ebenfalls gelungen war, sich zu orientieren, hielt er ihr bereits triumphierend ein gefülltes Fläschchen entgegen, das er im Kühlschrank gefunden hatte.
»Jetzt gibt’s was zu futtern!«, meinte er gutgelaunt und stellte das Fläschchen in die Mikrowelle.
Auf dem Arbeitstisch unter der Mikrowelle lag der Gummisauger, den Tommy mit einer raschen Handbewegung festschraubte. Routiniert überprüfte er die Temperatur, indem er ein paar Tropfen auf die Innenseite des Handgelenks spritzte. Dann reichte er Irene die angewärmte Flasche. Obwohl ein paar Jahre vergangen waren, seit seine Jüngste die Flüssignahrung hinter sich gelassen hatte, beherrschte er nach drei Kindern alles noch wie aus dem Effeff.
Irene beobachtete das Kind, das gierig an der Flasche zog. Sie befanden sich noch immer in der ultramodernen Küche mit dem Steinboden, den Küchenmaschinen aus Stahl und den Glasvitrinen. Sie schaute sich nach einem Stuhl um, aber es gab nur ein paar hohe Barhocker an einer Theke. Irene lehnte sich gegen einen der Hocker, und der Junge trank laut schlürfend die letzten Tropfen. Dann lehnte sie ihn gegen ihre Schulter und klopfte ihm leicht auf den Rücken. Als Belohnung kam ein ordentliches Bäuerchen.
»Möwenschiss auf der Jacke, Huss«, kommentierte Tommy.
Es lokalisierte den Küchenkrepp in einem Stahlzylinder. Dann half er Irene, den Fleck wegzuwischen.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer schlummerte der Kleine ein. Er schlief schon tief, als Irene ihn wieder in die Babywippe setzte. Sie breitete eine weiche gelbe Decke über ihn, die über einem der Stühle hing.
Sanna Kaegler-Ceder hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Katatonisch saß sie in derselben Stellung da, in der sie sie zurückgelassen hatten. Sie trug eine hellbraune Wildlederhose und ein tief ausgeschnittenes kobaltblaues Top. In ihrem Ausschnitt funkelte ein großes, über und über mit funkelnden weißen und blauen Steinen besetztes Kreuz. Die intensiven Lichtreflexe konnten nur von echten Diamanten und Saphiren herrühren. Sanna Kaegler-Ceder trug ein Vermögen um den Hals. Und die Kapitalreserve funkelt am linken Ringfinger, dachte Irene, als sie den Blick auf Sannas Hände senkte.
Åhlén, der Mann von der Spurensicherung, streckte seinen Glatzkopf durch den Durchgang zum Fensterzimmer. Er gab Irene und Tommy ein Zeichen. Sie gingen auf ihn zu, begrüßten ihn und warteten dann gespannt. Wie immer schob Åhlén seine Brille mit den dicken Gläsern mit dem linken Zeigefinger auf seiner Kartoffelnase höher, ehe er zu sprechen begann:
»Ich habe der Gattin bereits die Fingerabdrücke abgenommen und ihre Jacke in Verwahrung genommen. Keine sichtbaren Schmauchspuren. Wir müssen die Analyse abwarten. Das Verbrechen fand hier statt. Waffen haben wir keine gefunden. «
»Bist du dir ganz sicher, dass wir hier den Tatort haben?«, wandte Irene ein.
»Zweifellos. Schau selbst«, antwortete Åhlén und deutete mit einer ausladenden Geste auf die Leiche.
Das Opfer war schlank und trug einen dunklen Anzug. Die Stirn wies eine Schussverletzung auf, und der Kopf lag in einer Blutlache. In einigem Abstand von der Leiche lagen die Splitter eines Glases, und im Zimmer schwebte unverkennbar Whiskygeruch.
»Er ist schon etliche Stunden tot. Die Leichenstarre ist bereits vollständig eingetreten«, fuhr der Mann von der Spurensicherung fort.
»Hingerichtet mit mindestens zwei Schüssen in den Kopf«, stellte Tommy fest.
Irene war erstaunt, dass Kjell Bengtsson Ceder so viel älter als seine Ehefrau gewesen war. Obwohl ein gewaltsamer Tod die Menschen nur in den seltensten Fällen schöner macht, war zu erahnen, dass er sehr gut ausgesehen haben musste. Das blutverkrustete Haar war dicht und stahlgrau. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie wusste, wer er war: der Restaurantkönig Göteborgs. Da Irenes Mann Küchenchef eines Konkurrenzunternehmens war, hatte sie Ceders Namen schon öfters gehört. Krister arbeitete im Glady’s Corner, einem der besten Restaurants Göteborgs, ausgezeichnet mit einem Stern in einem internationalen Restaurantführer. Die beiden anderen Lokale mit Stern gehörten Kjell Bengtsson Ceder. Das eine lag im 28. Stockwerk des Hotel Gothenburg. Es war das größte Hotel der Stadt und befand sich ebenfalls in Ceders Besitz. Wenn Irene im Büro ihres Chefs Sven Andersson aus dem Fenster schaute, konnte sie seine imposante Silhouette sehen. Etwas weiter in südwestlicher Richtung standen die Zwillingstürme Gothia Towers beim Messegelände. Auch hier gab es ein Hotel und Restaurants, die wichtigste Konkurrenz des Hotel Gothenburg.
»Die Stridner hat versprochen, gleich höchst selbst zu erscheinen. Ich glaube, sie ist gerade im Anmarsch«, teilte Åhlén mit.
Irene und Tommy hatten das energische Geklacker von Absätzen auf Steinboden ebenfalls gehört. Nur die Professorin in Gerichtsmedizin Yvonne Stridner bewegte sich an einem Tatort in diesem Tempo.
Sie rauschte in den gläsernen Anbau, stellte ihre Tasche ab und ließ ihren Blick rasch über den Ort des Geschehens schweifen. Ohne einen der Polizisten zu begrüßen, sagte sie laut vor sich hin:
»Ist er wirklich ermordet worden?«
Dem Mann von der Spurensicherung und den beiden Kriminalinspektoren blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. Die Frau Professor fragte sonst nie, sie neigte in der Tat eher dazu, unerschütterliche Behauptungen aufzustellen oder Kommandos zu erteilen.
»Mit zwei Kugeln erschossen«, lautete Åhléns lakonische Antwort.
Ohne weiteren Kommentar zog Frau Professor Schutzkittel, Handschuhe und Schuhschutz an. Typisch, dass sie die Schutzkleidung nicht schon bei Betreten des Hauses anlegt, dachte Irene.
Nonchalant warf die Stridner ihren Mantel über einen Stuhl aus schwarzeloxiertem Stahl mit einem Sitz- und Rückenpolster aus weißem Leder. Vielleicht war er bequemer, als er aussah. Im Zimmer standen noch fünf weitere solcher Stühle sowie ein Tisch aus Stahl. Über dem Tisch hing ein Kronleuchter, der zu den Möbeln passte.
Die Stridner ging auf das Opfer zu und begann mit ihrer Arbeit. Tommy stieß Irene mit dem Ellbogen an und sagte:
»Komm. Wir versuchen noch mal, mit Sanna Kaegler-Ceder zu reden.«
Irene nickte. Hier konnten sie ohnehin nichts mehr ausrichten. Solange die Leiche noch da lag, konnten sie auch nicht die Wendeltreppe hochgehen und sich das Obergeschoss ansehen.
Sanna Kaegler-Ceder saß immer noch auf demselben Stuhl, wenn auch nicht in derselben Haltung. Sie hatte den Sessel zur Fensterwand, an der der Regen herablief, gedreht und starrte nach draußen in die zunehmende Dämmerung. Der kleine Junge schlief noch immer tief und fest in seiner Babywippe, in glücklicher Unkenntnis, dass er gerade vaterlos geworden war.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie in Ihrer Trauer stören muss. Ich heiße Tommy Persson und bin Kriminalinspektor. Glauben Sie, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten können?«
Sie bewegte sich nicht, sondern starrte weiter in das ungemütliche Herbstwetter hinaus. Als sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, zu ihr durchzudringen, hob sie langsam den Kopf. Tommy deutete das als Nicken und schob rasch eine Frage nach, bevor sie ihre Entscheidung bereuen konnte:
»Wann sind Sie nach Hause gekommen? Und wann haben Sie die Leiche Ihres Mannes gefunden?«
Sie schluckte einige Male, bevor es ihr endlich gelang, die Antwort über die Lippen zu bringen:
»Ich habe sofort … angerufen.«
»Der Notruf ging um 16.23 Uhr ein«, warf Magnus Larsson ein.
»Und der erste Streifenwagen war eine knappe Viertelstunde später da?«, wollte Tommy wissen.
»Korrekt«, bestätigte der Beamte.
Tommy wandte sich wieder an Sanna Kaegler-Ceder und fragte mit leiser Stimme:
»Haben Sie sich vor dem Eintreffen der Polizei Ihren Mann näher angesehen?«
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Ich sah, dass er tot war. Das ganze Blut…«
»Wo standen Sie, als Sie ihn entdeckt haben?«
»Im Durchgang…«
Ihre Stimme versagte, und sie schluckte.
»Blieben Sie im Durchgang zum Glasanbau stehen?«
»Ja«, flüsterte sie.
Obwohl es kaum möglich schien, wurde sie noch bleicher. Ihre Lippen waren jetzt blaugrau. Irene war klar, dass sie ohnmächtig werden würde. »Kommen Sie. Legen Sie sich auf den Teppich«, sagte sie deshalb.
Beherzt half sie Sanna, sich auf den hochflorigen Teppich zu legen. Vorsichtig hob Irene ihre Unterschenkel an und hielt sie einige Handbreit in die Luft. Langsam bekam Sannas Gesicht wieder mehr Farbe. Nach einer Weile meinte sie:
»Ich will mich setzen.«
Irene half ihr wieder in den Sessel. Die junge Frau war so bleich, dass ihr Gesicht fast denselben Farbton hatte wie der eierschalenfarbene Bezug. Zweifellos hatte sie wirklich einen Schock erlitten. Vielleicht waren das aber auch die Spätfolgen einer Bluttat.
»Wann haben Sie heute das Haus verlassen?«, fragte Tommy.
»Nicht heute. Das war gestern Nachmittag.«
»Um welche Zeit?«
»Gegen vier. Wir waren bei meiner Schwester. Über Nacht.«
»Hatten Sie den Jungen dabei?«
»Ja.«
»Sie haben also bei Ihrer Schwester übernachtet?«
»Ja.«
»Warum?«
Sanna wandte den Kopf zur Seite und sah ihn zum ersten Mal an. Sie wirkte erstaunt.
»Warum?«, wiederholte sie.
»Ja. Warum haben Sie bei Ihrer Schwester übernachtet?«
»Ihr Mann hatte Dienst. Wir wären beide über Nacht allein gewesen.«
»Wissen Sie, wen Ihr Mann am Abend und in der Nacht treffen wollte?«
»Keine Ahnung.«
Ihre Stimme klang desinteressiert und müde.
»Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Mann gesprochen?«, warf Irene ein.
»Gestern, gegen neun Uhr in der Früh.«
»Erzählte er von einer Verabredung am Abend?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Haben Sie Ihre Schwester anschließend angerufen und ihr vorgeschlagen, bei ihr zu übernachten, oder hatten Sie das bereits vorher verabredet?«
»Ich habe Sie gegen Mittag angerufen. Wir hatten schon früher darüber gesprochen… Wir wollten es uns mit einer Flasche Wein gemütlich machen und uns etwas Gutes kochen. Sie ist ebenfalls im Erziehungsurlaub.«
»Haben Sie Ihren Mann angerufen und ihm erzählt, dass Sie bei Ihrer Schwester übernachten würden?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das hatte ich ihm bereits erzählt, als wir am Morgen miteinander telefoniert hatten.«
»Was haben Sie ihm da gesagt?«
»Dass ich bei ihr anrufen und etwas verabreden würde.«
»Sie haben heute nicht versucht, ihn telefonisch zu erreichen ?«
»Nein. Er wusste, dass Ludwig und ich bei Tove übernachten und deswegen nicht zu Hause sein würden.«
»Tove, das ist Ihre Schwester?«
»Ja. Tove Fenton. Ihr Mann ist Arzt. Er hatte Dienst…«
Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, und sie beendete den Satz nicht. Ehe einer der Polizisten eine weitere Frage stellen konnte, betrat die junge Beamtin das Zimmer. Bislang war sie an der Haustür postiert gewesen. Irene erinnerte sich vage, dass sie Stina hieß. Den Nachnamen hatte sie bereits vergessen.
»Die Mutter ist da. Also ihre Mutter.«
Stina deutete verstohlen auf Sanna Kaegler-Ceder. Aus dem Bereich der Haustür war eine aufgebrachte Frauenstimme zu vernehmen:
»… ich will wissen, was … schließlich meine Tochter! Und Ludwig …«
Am breiten Durchbruch zum Wohnzimmer kam es zu einem Tumult. Sanna Kaegler-Ceders Mutter versuchte einzutreten, wurde aber von den beiden Polizisten, deren Namen Irene nicht wusste, daran gehindert. Die Mutter war nicht so groß wie die Tochter, aber ebenso hellhäutig. Steif erhob sich Sanna vom Stuhl und ging auf unsicheren Beinen ihrer Mutter entgegen.
»Sanna, Kleines! Was ist passiert? Die Polizei hat bei mir angerufen …«
Die Mutter hielt inne, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah. Sie versuchte nicht mehr, sich an den Polizisten vorbeizudrängen.
»Ist es … Ludwig?«, flüsterte sie verzweifelt.
»Wieso hast du diese alte, hässliche Jacke an?«, fragte Sanna Kaegler-Ceder, ehe sie auf dem Boden zusammensank.
Er ist mit zwei Schüssen aus unmittelbarer Nähe getötet worden. Die Austrittswunden sind nicht zu sehen. Wahrscheinlich befinden sich die Kugeln noch im Schädel. Das deutet auf eine kleinkalibrige Waffe hin«, meinte Frau Professor Stridner.
»Wann ist er gestorben?«, wollte Tommy wissen.
»Die Leichenstarre nimmt bereits wieder ab. Die Klinker, auf denen er liegt, sind warm, da das Haus Fußbodenheizung hat. Vor etwa achtzehn bis vierundzwanzig Stunden. Genauer kann ich es im Augenblick nicht sagen.«
Jetzt trat sie wieder so professionell auf wie sonst. Im gleichen Atemzug fuhr sie fort:
»Kjell und ich kannten uns als Kinder. Er war ein Jahr jünger als ich. Wir wohnten damals in derselben Gegend und haben recht viel miteinander gespielt.«
Irene war überrascht. Also ein alter Spielkamerad der Professorin! Hatte sie wirklich mit anderen Kindern gespielt und nicht nur Frösche und tote Vögelchen zerlegt?
Sie standen im luftigen Wohnzimmer. Kjell Bengtsson Ceders Leiche war bereits auf dem Weg zur Gerichtsmedizin. Sanna, Ludwig und seine Großmutter waren zur Wohnung der Ceders im Göteborger Stadtteil Vasastan gefahren. Offenbar hatten sie sie behalten, obwohl die Familie schon eine ganze Weile in dem neuen Haus gewohnt zu haben schien.
»Haben Sie sich auch als Erwachsene noch getroffen?«, fragte Tommy, der sich als Erster wieder gefasst hatte.
»Aber sicher. Mein Mann und ich waren zur Einweihung des Hotels eingeladen. Ziemlich schick, muss ich sagen. Wir waren auch auf der Hochzeit der beiden. Mein Mann und Kjell kennen… kannten sich von den Rotariern. Manchmal ist die Welt doch klein.«
»Wissen Sie, ob Ceder vorher schon einmal verheiratet war?«, mischte sich Irene in das Gespräch ein.
»Das war er.«
»Hatte er Kinder aus dieser Ehe?«
Die Stridner schüttelte ihre knallrote Mähne.
»Nein. Die Frau ist tragisch bei einem Segelunfall ums Leben gekommen. Da waren sie erst zwei oder drei Jahre verheiratet. «
»Ist das lange her?«, fuhr Irene fort.
Die Professorin warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Sicher an die fünfzehn Jahre. Warum ist das von Interesse? «
»Das bedeutet, dass Sanna Kaegler-Ceder und ihr Sohn die einzigen Erben sind.«
Die Stridner warf ihr einen langen, nachdenklichen Blick zu.
»Kjell ist … war immer ein Herzensbrecher. Er hatte immer irgendwelche Frauengeschichten am Laufen. Wir hätten nie geglaubt, dass er wieder heiraten würde. Dass er dann plötzlich Sanna Kaegler heiratete, erstaunte alle, die ihn kannten. Seine erste Frau war sehr wohlhabend gewesen, und er hatte immer das Leben eines Playboys geführt. Natürlich nicht nur von dem Geld, das sie ihm hinterlassen hatte. Schließlich war er auch selbst in der Hotel- und Restaurantbranche erfolgreich. «
»Wann haben Sanna und er geheiratet?«
»Vor ziemlich genau einem Jahr, und zwar Ende September mit einem großen Fest im Restaurant Le Ciel im Hotel Gothenburg. «
»Vor einem Jahr. Ludwig ist etwa ein halbes Jahr alt. Sanna muss also schwanger gewesen sein, als sie geheiratet haben.«
»Ja. Aber das sah man nicht. Sie war atemraubend schön. Aber Kjells Freunde hatten durch die Bank Bedenken. Schließlich war sie wegen ihrer Geschäfte recht verrufen!«
»In den Zeitungen war die Rede davon, dass sie über enorme Summen verfügt haben soll. Wissen Sie, ob von diesem Geld noch was geblieben ist?«, warf Tommy ein.
»Keine Ahnung. Falls nicht, war das wohl ein Grund mehr, Kjell zu heiraten«, antwortete die Stridner säuerlich.
Sie warf einen Blick auf ihre elegante Armbanduhr.
»Ich will versuchen, noch heute Abend einen Blick auf ihn zu werfen. Die Obduktion führe ich dann morgen im Laufe des Tages durch. Ich lasse von mir hören«, sagte sie und rauschte an den Kriminalpolizisten vorbei.
Sie hörten noch, wie ihr letzter Satz auf dem Korridor verklang, begleitet vom Klappern ihrer Absätze auf dem Klinkerboden.
Irene und Tommy waren die Wendeltreppe hochgestiegen und befanden sich jetzt im oberen Stockwerk des Glasanbaus. Das Zimmer ragte über das Hausdach und war in alle Himmelsrichtungen verglast. Es war dem Architekten gelungen, den Eindruck eines Leuchtturms entstehen zu lassen.
»Was für eine Aussicht! Stell dir vor, man sieht hier abends die Sonne über dem Meer untergehen«, sagte Irene und spähte in die zunehmende Dunkelheit.
»Ein Glück, dass man nicht so eine Aussicht hat.«
»Wieso das?«
»Zu teuer. Die ließe sich ohne Drink in der Hand nicht ertragen«, antwortete Tommy und verzog das Gesicht.
Wahrscheinlich hatte er Recht. Das Erste, was sie beim Hochkommen gesehen hatten, war eine wohlgefüllte Hausbar auf Rollen gewesen. Ein riesiges Korbsofa mit großen roten Daunenkissen dominierte das Turmzimmer. Zwei halbkugelförmige Korbsessel hingen an Ketten von der Decke. Irene fühlte sich an zwei Vogelnester erinnert, als sie im Luftzug der offenen Tür zum Meer langsam hin und her schwangen. Tommy war auf den schmalen Balkon mit dem hohen Geländer getreten, um die Aussicht zu genießen. Rasch kam er wieder herein und zog die Tür hinter sich zu. Durch den Wind war es im Zimmer schnell kalt geworden.
»Glaubst du, Sanna ist die Täterin?«, fragte Irene.
»Rein statistisch gesehen: Jawohl!«
»Åhlén hat keinerlei Spuren auf ihren Jackenärmeln gesehen. «
»Nein. Aber schließlich wissen wir nicht, was sie gestern Nachmittag, als sie ihn erschossen hat, trug. Falls sie es wirklich gewesen sein sollte.«
Irene dachte nach und fuhr dann fort:
»Du glaubst, dass sie Ceder erschossen hat und dann zu ihrer Schwester gefahren ist, um dort zu übernachten. Einen Tag später ist sie zurückgekommen und hat ihn erschossen aufgefunden.«
»So ungefähr.«
»Wir müssen uns mit der Schwester unterhalten und herausfinden, was Sanna gestern getragen hat. Außerdem wäre es schön, mehr darüber zu erfahren, ob es jemanden gibt, der gestern nach 16 Uhr noch mit Kjell Bengtsson Ceder gesprochen hat.«
Tommy nickte.
»Wir können genauso gut gleich loslegen«, meinte er. »Ich rufe Sven an. Er soll Birgitta oder jemand anderen bitten, in Ceders Büro vorbeizugehen und das dortige Personal zu befragen. Diese Schwester müssten wir eigentlich mühelos ausfindig machen können. So viele Ärzte namens Fenton wird es nicht geben.«
Die Schwester von Sanna Kaegler-Ceder wohnte nicht sonderlich weit entfernt einige Kilometer südlich. Tove Fenton war es gelungen, in dem Göteborger Nobelvorort Hovås eine Bleibe zu finden. Irene und Tommy bogen in die kurze Straße ein, die von älteren Einfamilienhäusern aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren gesäumt wurde. Es waren große Grundstücke. Familie Fenton wohnte am unteren Ende, und die Kriminalbeamten stellten fest, dass sie ebenfalls Meerblick hatten. Bei dem Regen und in der Dunkelheit konnte man das Meer zwar nicht sehen, aber die tosende Brandung durchaus hören. Es roch nach Salzwasser und Tang, und Irene holte ein paarmal tief Luft. Ihr eigenes Reihenhaus lag zwar nur zwei Kilometer vom Meer entfernt, aber dem unverkennbaren Geruch des Meeres war es nie geglückt, an den Einfamilien- und Reihenhäusern vorbeizukommen, die zwischen ihr und dem Wasser lagen.
Der Bungalow aus dunkelbraun gebeiztem Holz und weißem Stein, der vor ihnen lag, war recht groß. Als Irene klingelte, war lautes Kindergeschrei von innen zu vernehmen. Es wurde jedoch nicht geweint, sondern gejauchzt. Nachdem Irene noch ein weiteres Mal auf die Klingel gedrückt hatte, wurde die Haustür von einer Frau geöffnet. Einen verwirrenden Augenblick lang meinte Irene, Sanna Kaegler-Ceder vor sich zu haben. Die Schwestern sahen sich verblüffend ähnlich. Ein paar Falten der Müdigkeit, die sich in den Augenwinkeln andeuteten, legten jedoch nahe, dass Tove ein paar Jahre älter war als Sanna.
»Guten Tag. Ich bin Kriminalinspektorin Irene Huss. Dürfen mein Kollege Tommy Persson und ich einen Augenblick reinkommen? «, fragte Irene und hielt ihr die Hand zum Gruß hin.
»Sagen Sie mir, was passiert ist! Meine Mutter hat angerufen …«
Die Stimme von Tove Fenton zitterte bedenklich, und sie schluchzte auf, trat jedoch nicht beiseite, um die Beamten vorbeizulassen.
»Das werden wir auch, aber vorzugsweise nicht hier draußen«, entgegnete Irene ruhig.
Widerwillig trat die Frau zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Ein kleines, blond gelocktes Mädchen im Alter von drei oder vier Jahren kam in die Diele gelaufen. Sie jauchzte fröhlich und schwenkte einen kleinen, herzförmigen Ballon aus rosa Alufolie, auf dem Puh der Bär abgebildet war. Als sie Irene und Tommy zu Gesicht bekam, blieb sie wie angewurzelt stehen und verstummte.
»Hallo«, sagten Irene und Tommy gleichzeitig. Sie lächelten sie an und winkten.
»Felicia! Du wolltest doch baden! Geh zurück ins Badezimmer! «, schrie Tove Fenton.
Das Mädchen sah seine Mutter erschreckt an.
»Hast du nicht gehört…«
Die aufgebrachte Mutter verstummte, als sie sah, dass sich zu Füßen des Mädchens eine Pfütze bildete. Wie praktisch, dass sie auch einen Klinkerboden haben, dachte Irene. In der Diele wurde es still, und alle hörten, während es noch plätscherte, dass der Schlüssel in der Haustür umgedreht wurde. Als sie sich öffnete, war Irene klar, dass es sich hier nur um Dr. Fenton handeln konnte.
Er war groß und um die Fünfzig, sein Haar war schon etwas gelichtet, und er war eine Spur korpulent. Als er die Kriminalbeamten sah, hielt er ihnen die Hand hin, um sie zu begrüßen, was seine Frau nicht getan hatte. Ein freundliches und herzliches Lächeln breitete sich auf seinem sonnengebräunten Gesicht aus.
»Morgan Fenton«, verkündete er mit englischem Akzent.
Irene und Tommy stellten sich ebenfalls vor. Aus den Augenwinkeln sah Irene, wie seine Frau das schluchzende Mädchen wegtrug.
»Meine Frau hat mich angerufen. Ich kam, so schnell ich konnte. Was ist Kjell zugestoßen?«
Der Arzt hatte Probleme, den Namen Kjell auszusprechen. Im Übrigen war sein Schwedisch ausgezeichnet.
»Wir erzählen Ihnen das Wenige, was wir wissen, wenn Ihre Frau kommt«, antwortete Irene.
»Natürlich. Bitte, hängen Sie doch Ihre Jacken auf«, sagte Morgan Fenton und deutete auf die Garderobe.
Er führte sie in ein großes Wohnzimmer. Der Architekt hatte den Meerblick maximal genutzt. Die Fenster waren riesig, und davor zeichnete sich eine große Terrasse ab. Das Zimmer war mit Chesterfieldsofas und Tischen und Schränken aus dunklem Holz möbliert. Den Mittelpunkt bildete ein großer offener Kamin. Bilder und Vorhänge verstärkten den britischen Eindruck noch. Der Unterschied zwischen den Wohnzimmern der beiden Schwestern hätte nicht größer sein können. Es war anzunehmen, dass Morgan Fenton bei der Einrichtung mitgewirkt hatte. Sie war klassisch, britisch, altmodisch.
Irene und Tommy setzten sich auf Ledersessel, gleichzeitig betrat Tove das Zimmer. Eine hektische Röte hatte sich von ihrem Hals auf ihre Wangen ausgebreitet.
»Erzählen Sie schon! Ich muss es wissen!«, sagte sie scharf.
»Erst benötigen wir die Antworten auf ein paar Fragen«, meinte Irene ruhig.
Tove Fenton sah sie abwartend an. Sie versuchte, ihre Ungeduld zu bändigen.
»Um wie viel Uhr traf Ihre Schwester gestern bei Ihnen ein?«
»Kurz nach vier«, antwortete Tove rasch.
»Was hatte sie an?«
»Warum…? Sie trug das braune Wildlederkostüm.«
»Wie sieht dieses Wildlederkostüm aus?«
»Lange Hosen und kurze Jacke aus hellbraunem Wildleder. Wieso fragen Sie danach?«
»Reine Routinefragen. Wie wirkte sie?«
»Wie meinen Sie das?«
Die ohnehin schon angespannte Frau wirkte verärgert. Das lauter werdende Kindergeschrei aus dem Hintergrund verstärkte ihre Nervosität noch.
»Liebling, ich kümmere mich um sie«, sagte ihr Mann und stand auf.
Tove ließ sich auf seinen Platz auf dem Sofa sinken. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als versuche sie, den letzten Rest innerer Wärme zu bewahren.
»Wirkte Sanna erregt, unruhig oder…?«
»Nein, wie immer.«
»Hat es Sie überrascht, oder hatten Sie geplant, dass sie mit ihrem Jungen herkommen würde?«
»Wir hatten mehrfach darüber gesprochen, gemeinsam einen gemütlichen Abend zu verbringen. Morgan hat schließlich regelmäßig Dienst. Gestern rief mich Sanna an, und wir fanden, dass es jetzt endlich an der Zeit sei.«
»Ihre Schwester hat gesagt, Sie hätten was Gutes gegessen und dann abends Wein getrunken?«
»Ja.«
»Und Sie waren zu zweit?«
»Ja … mit den Kindern.«
»Aber die sind ja noch recht klein.«
»Tja, Ludwig, Felicia und Robin sind noch klein, aber Stoffe… also Christopher, war ebenfalls hier.«
»Wer ist Christopher?«
»Morgans Sohn. Er ist fünfzehn.«
»Wohnt er ebenfalls hier?«
»Jede zweite Woche. Diese Woche ist er hier.«
Irene würde sich mit Christopher unterhalten müssen, um sich die Zeiten bestätigen zu lassen.
»Ist er zu Hause?«
»Nein, aber er kann jeden Augenblick kommen. Er spielt Eishockey.«
»Hat Sanna, während sie hier war, irgendwann ihren Mann angerufen?«
Tove schien gründlich nachzudenken. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
Morgan Fenton betrat mit einem schlaftrunkenen Baby auf dem Arm das Zimmer. Es war ein paar Monate älter als Ludwig. Das konnte nur der kleine Robin sein. Er war müde und lehnte sein Flaumhaar an die Brust des Vaters. Dabei lutschte er so intensiv an seinem Schnuller, dass das schmatzende Geräusch im ganzen Zimmer zu hören war.
Irene erzählte den Eheleuten Fenton, was Kjell Bengtsson Ceder zugestoßen war. Tove schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Ihr Mann wurde bleich. Er wirkte schockiert.
»Großer Gott! Ermordet!«, sagte er bestürzt.
»Ist Ihnen vielleicht etwas bekannt, was darauf hindeuten könnte, dass Ceder bedroht wurde?«, fragte Tommy.
»Nein, obwohl in der Restaurantbranche gelegentlich raue Sitten herrschen sollen«, meinte Morgan Fenton.
Tove nahm die Hände von ihrem roten, verweinten Gesicht und sah Tommy anklagend an.
»Deswegen haben Sie so viel nach Sanna gefragt! Sie glauben, dass sie es war! Aber sie hat es nicht getan! Sie konnte nicht…! Sie war bei mir!«, kreischte sie hysterisch.
Beschützend legte ihr ihr Mann einen Arm um die Schultern und versuchte gleichzeitig, seinen kleinen Sohn zu beruhigen, der zusammen mit seiner Mutter zu weinen begonnen hatte.
Aus den Augenwinkeln sah Irene eine Bewegung in der Türöffnung. Ein Gesicht, das rasch wieder verschwand. Hastig stand sie auf und eilte hinter dem Schatten her. Als sie in die Küche schaute, bemerkte sie, wie eine Tür am anderen Ende vorsichtig geschlossen wurde. Jemand wollte Aufmerksamkeit vermeiden. Mit ein paar raschen Schritten war sie an der Tür und klopfte an. Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie die Klinke und trat ein.
Christopher Fenton war fast so groß wie sie und für sein Alter ungewöhnlich muskulös. Wenn erst einmal die Akne aus seinem Gesicht verschwunden wäre, war er vermutlich ein ungewöhnlich gut aussehender junger Mann. Vielleicht würde er dann auch keine ausgebeulten Hosen und Fubu-T-Shirts mehr tragen, sondern Kleider, die passten.
»Hallo. Ich heiße Irene Huss und bin Kriminalinspektorin. Mein Kollege und ich sind mit der Aufklärung eines schweren Verbrechens befasst.«
Der Junge stand unbeweglich vor ihr und schaute sie abwartend an. Da Irene Teenager gewohnt war, sowohl ihre eigenen Kinder als auch die anderer Leute, ließ sie sich davon nicht aus der Fassung bringen, sondern fuhr fort:
»Die Ermittlungen haben gerade begonnen, und wir benötigen Zeugenaussagen, die den fraglichen Zeitraum betreffen. Wir müssen Alibis überprüfen und all so was. Reine Routine. Es wäre uns eine große Hilfe, wenn du uns ein paar Fragen beantworten könntest.«
Seine abweisende Haltung begann sich abzuschwächen. Sie wurde von purer, unverhohlener Neugier ersetzt. Das funktionierte meist. Der Polizistenjargon hatte auf Menschen jedweden Alters schon immer eine unwiderstehliche Faszination ausgeübt.
Irene verschaffte sich einen raschen Überblick über das unordentliche Zimmer. Das Bett war nicht gemacht. Auf dem überfüllten Schreibtisch stand ein Computer, umgeben von einer Menge leerer Chipstüten. Es war nicht leicht, sich in dem Zimmer zu bewegen, ohne auf irgendein Kleidungsstück, einen Comic, eine CD oder Müll zu treten. An den Wänden hingen Poster, Eishockeystars und Hip-Hop-Gruppen, sowie Fotos einer fast nackten Britney Spears. Das ganze Zimmer hatte die Aura eines Fünfzehnjährigen in der schlimmsten Phase der Pubertät.
Mehr des Effekts wegen zog Irene ihr kleines Notizbuch und einen Bleistift mit abgebrochener Spitze hervor. Dass die Spitze abgebrochen war, spielte keine Rolle, sie hatte ohnehin nicht vor, etwas aufzuschreiben. In freundlichem, aber dienstlichem Ton fragte sie:
»Wann bist du gestern nach Hause gekommen?«
Er zuckte leicht mit den Achseln.
»Weiß nicht.«
»Wann glaubst du?«
»Vielleicht so um halb fünf.«
»War Sanna Kaegler-Ceder bereits da, als du nach Hause gekommen bist?«
»Ja. Ihr Schlitten ist megageil.«
Einen Augenblick vergaß er, cool zu sein.
»Ja. Das ist wirklich ein ungewöhnliches Auto.«
»Die CLK-Klasse kann man in Schweden gar nicht kaufen. Man muss sie aus den USA importieren lassen oder so«, informierte sie Christopher.
»Wirklich? Dann muss sie viel Geld haben…«
»Ihr Alter hat Kohle.«
Irene tat so, als würde sie etwas auf ihren Block schreiben, und fragte dann weiter:
»Warst du den Rest des Abends zu Hause? Ich meine, hier im Haus?«
»Ja.«
»Warst du mit Tove und Sanna zusammen?«
Sie merkte, dass die Frage falsch formuliert war, denn er zuckte zusammen und schaute sie wütend an:
»Was glauben Sie denn? Ich war nie mit einer der beiden zusammen!«
Er sah zutiefst beleidigt aus.
»Nein. Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, ob du mitgekriegt hast, was sie so machen. Hast du gesehen, ob sie am späten Nachmittag oder Abend weggegangen sind?«
»Glaub ich nicht. Sie haben die ganze Zeit rumgealbert und gelacht.«
»Du hast nicht mit ihnen zusammen in der Küche gegessen?«
»Nee. Ich hab hier gefuttert, am Computer.«
Irene schaute auf den Schreibtisch, auf dem der Computer stand, und auf das einzige Fenster des Zimmers, das direkt dahinter lag.
»Hättest du es gemerkt, wenn der Mercedes im Verlauf des Abends weggefahren wäre?«
»Klar. Der stand ungefähr da, wo Ihr Wagen jetzt steht.«
Er nickte in Richtung Fenster. Im Schein der Straßenlaterne sah sie das Auto, mit dem Tommy und sie gekommen waren.
»Was ist eigentlich passiert? Warum weint Tove?«, fragte er plötzlich.
»Sannas Mann Kjell ist gestorben. Erschossen worden, um genau zu sein. Ermordet.«
Christopher starrte sie lange an.
Der schlaksige Halbwüchsige ließ weder Entsetzen noch Trauer erkennen, eher neugieriges Interesse. Als sei der Ermordete eine Person aus einer Fernsehserie gewesen und nicht jemand, der ihm nahe stand.
»Wie fandest du Kjell Bengtsson Ceder?«
Christopher zuckte erneut mit den Achseln.
»Ich hab ihn kaum gekannt. Hab ihn nur zwei oder drei Mal gesehen.«
Das erklärte zumindest zum Teil die Unberührtheit des Jungen.
»Erinnerst du dich, was Sanna gestern Abend anhatte?«
Er schien einen Augenblick nachzudenken.
»Wildlederhosen und ein blaues T-Shirt.«
»Keine Jacke?«
»Nee.«
»Sie hatte also dieses blaue, tief ausgeschnittene Top an?«
»Ja.«
Eine Röte breitete sich auf den Wangen des Jungen aus, und Irene begriff, dass Sanna mit größter Wahrscheinlichkeit nicht aus dem Haus hätte verschwinden können, ohne dass er es bemerkt hätte.
Irene fielen keine weiteren Fragen mehr ein. Sie dankte Christopher für seine Hilfe.
Im Wohnzimmer war Tommy inzwischen aufgestanden und sprach mit Morgan Fenton vor der Terrassentür. Tove saß mit dem Jungen auf dem Schoß auf dem Sofa. Beide hatten sich etwas beruhigt. Der kleine Robin war auf dem besten Weg, wieder einzuschlafen. Tove schaute auf und sah Irene an.
»Sie haben mit Stoffe geredet«, stellte sie fest.
»Ja. Er hat bezeugt, dass Sanna ab halb fünf und den Rest des Abends hier war.«
»Genau«, erwiderte Tove zufrieden.
Sie stand auf und setzte den Jungen auf die Hüfte.
»Ich gebe Robin nur schnell was zu essen und lege ihn dann hin. Dann fahre ich zu Mama und Sanna«, sagte sie.
Im Auto referierte Tommy seine Unterhaltung mit Morgan Fenton.
»Er erzählte, er hätte Kjell Bengtsson Ceder seit Jahren gekannt. Auch Sanna hätte Ceder lange gekannt, bevor sie ein Paar wurden und heirateten. Sie begegneten sich, als sie noch in der Wirtschaft tätig war. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann hat Morgan Fenton einen Bruder, der bei einer Bank in London arbeitet. Seine Bank war in ihre Internetgeschäfte verwickelt. Ceder kannte diesen Banker auch. Sie haben auch gemeinsame Geschäfte gemacht, als das Hotel Gothenburg gebaut wurde. Alles recht unübersichtlich, aber so habe ich das jedenfalls verstanden.«
»Hm. Es gab also bereits mehrere Jahre vor der überraschenden Hochzeit Berührungspunkte. Eine Bank in London, bei der Morgan Fentons Bruder angestellt ist, und die Freundschaft zwischen Sannas Schwager Morgan und ihrem späteren Mann Kjell.«
»Scheint so zu sein.«
»Der Verdacht liegt nahe, dass Morgan Fenton seiner Schwägerin bei den Kontakten zur Bank in London behilflich war. Über seinen Bruder«, überlegte Irene.
»Ein klarer Verdachtsmoment. Aber Fenton sagte, er sei überrascht gewesen, dass man Ceder in der Villa in Askim erschossen habe. Er fand, es wäre nicht so erstaunlich gewesen, wenn das in der Wohnung in der Stadt passiert wäre. Offenbar hielt sich Ceder nur selten in dem Haus auf.«
»Wieso das?«
»Laut Fenton war Ceder von der Villa nicht sonderlich begeistert. Sie ist mehr eine Schöpfung von Sanna. Sie wollte mit dem Jungen irgendwo wohnen, wo er mehr Auslauf hat.«
»Hatte Ceder das Haus für sie und den Sohn gebaut?«
»Diesen Eindruck hatte ich.«
»Seltsam. Es ist schließlich ein Riesenkasten. Hat sicher ein Vermögen …«
Irene unterbrach sich. Ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen.
»Glaubst du, sie wollten sich scheiden lassen?«
»Möglich.«
»Als reiche Witwe steht Sanna Kaegler finanziell vielleicht besser da denn als geschiedene Mutter.«
»Ebenfalls möglich.«
»Du hast selbst gesagt, dass sie rein statistisch gesehen die Täterin ist. Aber dann müsste sie ihn erschossen haben, bevor sie zu ihrer Schwester fuhr. Christopher hatte ihr Auto die ganze Zeit im Auge. Es stand vor seinem Fenster geparkt. Er hat die Schwestern den ganzen Abend reden und lachen gehört.«
»Wo ist die Waffe?«
»Keine Ahnung. Wir müssen in der Umgebung und zwischen den Häusern der Schwestern suchen.«
»Wir wissen aber immer noch nicht, wann genau er erschossen wurde.«
»Nein. Aber ich wette, dass es gestern Nachmittag um vier war.«
Die Stridner hat gestern, gerade als ich gehen wollte, angerufen. Sie sagt, Ceder sei irgendwann zwischen 19 und 21 Uhr erschossen worden. Sie gibt uns nach der Obduktion Bescheid, vielleicht kann sie dann den Zeitpunkt noch etwas genauer eingrenzen. Sonst müssen wir warten, bis das Labor fertig ist. Die brauchen immer so verdammt lange.«
Kommissar Sven Andersson verstummte und schaute über den Rand seiner billigen Lesebrille. Vier Inspektoren waren bei dieser zeitigen Morgenbesprechung zugegen. Die anderen waren zu einem Doppelmord in Långedrag gerufen worden, von dem noch keine Einzelheiten bekannt waren, nur dass zwei Männer erschossen in einem Haus aufgefunden worden waren. Mit am Tisch saßen Irene Huss, Tommy Persson und Birgitta Moberg-Rauhala. Für Birgittas Ehemann Hannu, der sich im Erziehungsurlaub befand, hatten sie eine Vertretung bekommen, Kajsa Birgersdotter. Sie kam vom Dezernat für allgemeine Kriminalität wie Hannu ursprünglich auch. Jetzt war sie fast schon zwei Monate lang bei ihnen. Wenn der Kommissar gefragt worden wäre, dann hätte er behauptet, dass sie keinen Gewinn für die Abteilung darstellte. Zwei Frauen im Dezernat reichten. Obwohl er zugeben musste, dass die beiden, die er bereits hatte, für Frauenzimmer wirklich anständig arbeiteten. Kajsa erinnerte ihn an seine Lehrerin in der Sonntagsschule, sie war genauso farblos und flach wie eine Flunder. Aber das waren heutzutage die meisten jungen Frauen. Ihnen fehlten feminine Formen, die Männer hatten nichts mehr zum Anfassen.
Tommy und Irene tauschten einen viel sagenden Blick. Der nach hinten verschobene Todeszeitpunkt schwächte ihre Theorie. Es würde ihnen schwer fallen, das Alibi von Sanna Kaegler-Ceder zu erschüttern. Davon, dass jetzt Birgitta das Wort ergriff, wurde es auch nicht besser:
»Gestern habe ich kurz mit Kjell Bengtsson Ceders Sekretärin am Telefon sprechen können. Kurz vor halb sieben verließ Ceder sein Büro. Der Wachmann in der Tiefgarage hat den Zeitpunkt bestätigt. Ich habe mich auch mit dem Sicherheitschef Michael Fuller unterhalten. Die Garage ist videoüberwacht. Um 18.29 Uhr ist auf Video festgehalten, wie Ceder seinen Jaguar holt und wegfährt.«
»Hat er seiner Sekretärin gesagt, wo er hinwollte?«, fragte Tommy.
»Nein. Ich habe sie gefragt. Er hat nichts gesagt.«
»Sanna hat angegeben, dass er auch zu ihr nichts gesagt hat. Wir müssen sie noch mal durch die Mangel drehen. Vielleicht erinnert sie sich ja heute besser«, meinte Irene.
»Dann kannst du ja zusammen mit Tommy die frischgebackene Witwe noch mal vernehmen. Birgitta und Kajsa können mit den Angestellten im Hotel und im Restaurant sprechen. Versucht, diesen Sicherheitschef aufzutreiben, und bittet ihn um das Video. Ich habe bereits zwei Leute nach Askim geschickt, die dort von Haus zu Haus gehen. Vielleicht erfahren wir so, wann Ceder heimgekommen ist«, bestimmte Andersson.
»Vielleicht. Der Jaguar stand in der Garage. Ich habe ihn nicht gesehen, aber Åhlén hat sich über ihn ausgelassen, als ich ihn vorhin getroffen habe. Er hat nachgeschaut, ehe er gestern aufgebrochen ist«, sagte Irene.
»Åhlén hat ein Faible für Autos. Wusstet ihr, dass er einen MG hat, einen Oldtimer?«, warf Tommy ein.
»MG! Wie will er denn Frau und sieben Kinder in einem MG unterbringen?«, meinte Birgitta und verdrehte ihre hübschen braunen Augen, mit denen sie den finnischen Eisblock Hannu zum Schmelzen gebracht hatte.
»Das geht nicht, und vermutlich ist das auch der Witz daran.« Tommy grinste.
»Sie haben natürlich noch ein größeres Auto«, stellte Birgitta fest.
Seit sie Mutter geworden war, hatte sie eine praktische Ader. In den letzten zwei Monaten hatte Irene nichts übers Skifahren, Tauchen oder über irgendwelche wilden Partys gehört. Sie hatten sich über die Vor- und Nachteile von fertiger und anderer Babynahrung unterhalten, das neu gebaute Haus bei Alingsås und die horrenden Windelpreise. Für Irene war das alles schon sehr weit weg. Nächsten Sommer würden ihre Töchter ausziehen. Dann hatten beide das Gymnasium beendet. Katarina wollte vor dem Studium ein Jahr lang in Australien jobben. Sie wusste noch nicht, was sie machen wollte. Jenny wollte sich ganz ihrer Band Polo widmen, die in Göteborg und Umgebung inzwischen recht erfolgreich war.
»Åhlén hat auch noch auf was anderes hingewiesen. Die Alarmanlage des Hauses war abgestellt. Er hatte den Eindruck, dass sie noch nicht endgültig installiert ist«, fuhr Irene fort.
»Nichts wird je rechtzeitig fertig«, meinte Tommy.
»Gegen Mittag sind Jonny und Fredrik wieder hier und erstatten über den Doppelmord in Långedrag Bericht. Bisher wissen wir nur, dass es sich um zwei erschossene Männer handelt«, sagte der Kommissar.
»Konnten sie nicht identifiziert werden?«, fragte Birgitta.
»Nein. Noch nicht.«
Irene trank den kalten Rest aus ihrem Kaffeebecher und beschloss, ihn rasch noch einmal aufzufüllen. Ihren morgendlichen Koffeinbedarf hatte sie bei weitem noch nicht befriedigt, und das war nötig, wenn sie sich auf ihr eigenes Mordopfer konzentrieren wollte.
»In dieser Stadt sind eindeutig zu viele Schusswaffen in Umlauf«, murmelte sie auf dem Weg zum Kaffeeautomaten.
Als Irene in der Wohnung in Vasastan anrief, ging Sanna Kaegler-Ceders Mutter an den Apparat und erklärte, Sanna habe auf Anweisung ihres Arztes am gestrigen Abend und in der Nacht einige Schlaf- und Beruhigungsmittel genommen. Man würde erst im Lauf des Nachmittags mit ihr sprechen können. Sie einigten sich darauf, dass Irene sie um 14 Uhr aufsuchen würde.
»Das war das. Was machen wir jetzt?«, fragte Irene Tommy.
Er saß ihr gegenüber und fuhrwerkte mit einem Wattestäbchen in seinem Ohr herum. Diese Angewohnheit war äußerst irritierend, Irene hatte ihn mehr als einmal darauf hingewiesen, dass es gefährlich sein könnte. »Mein Doktor hat früher immer gesagt, dass man nichts Spitzeres als den Ellbogen in den Gehörgang schieben sollte«, ermahnte sie ihn.
»Klar«, erwiderte Tommy, drehte das Wattestäbchen um und begann, im anderen Ohr herumzupulen.
Wie ein altes Ehepaar! dachte Irene oft, sprach es aber nicht aus. Sie hatten zusammen an der Polizeihochschule in Stockholm studiert und sich dort angefreundet, da sie die einzigen richtigen Göteborger ihres Jahrgangs gewesen waren. Zwei Typen aus Kungsbacka und eine Frau aus Stenungsund kamen zwar auch aus ihrer Gegend, aber eben nicht direkt aus Göteborg.
Tommy hielt, das Wattestäbchen im Ohr, inne und sagte nachdenklich:
»Ich denke an diese erste Frau von Ceder. Du weißt, die mit dem Segelunfall. Vielleicht sollten wir uns mal darum kümmern. «
»Glaubst du, dass es was mit dem Mord an Kjell Bengtsson Ceder zu tun haben könnte? Wofür steht übrigens dieses Bengtsson?«
»Bengtsson. Das habe ich gestern in Erfahrung gebracht. Nein, ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Unfall und dem Mord gibt. Ich finde es nur auffällig, dass sie beide keines natürlichen Todes gestorben sind. Du weißt, Statistik. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eheleute mit fünfzehn Jahren Abstand eines gewaltsamen Todes sterben?«
Irene dachte eine Weile darüber nach.
»Du hast Recht. Laut der Stridner hat er eine Menge Geld geerbt. Da erwachen wirklich meine Schnüfflerinstinkte.«
»Und seinen Instinkten sollte man nachgeben.«
»Tu das. Ich fahr nach Askim und schau mich dort mal um«, meinte Irene.
Das Haus der Kaegler-Ceders lag auf einer Anhöhe. Etwas unterhalb verlief eine schmale, asphaltierte Straße. Auch die Auffahrt bis zum Garagentor war asphaltiert. Von der Garage führten Steinplatten zur breiten Eingangstreppe. Im Übrigen war alles eine trostlose Schlammwüste. Keine Büsche, von Bäumen ganz zu schweigen, offen in alle Richtungen. Die Lage war ideal, um bei den Nachbarn zu klopfen und Fragen zu stellen; irgendjemand musste was gesehen haben.
Aber niemand hatte auch nur das Geringste gesehen. Das Haus lag abgeschieden, und bis zum nächsten Nachbarn waren es fast einhundert Meter. Die vier Nachbarhäuser, von Architekten entworfene Luxusvillen aus den achtziger Jahren, lagen gleich am Anfang der schmalen Straße. Die Bewohner der ersten hielten sich seit einigen Wochen irgendwo am Mittelmeer in der Sonne auf. Offenbar handelte es sich um Pensionäre, die laut ihrer mitteilsamen Nachbarin erst Ende des Monats zurückerwartet wurden. Diese war bei einem Treffen eines Aktionärsclubs gewesen, »mehr, um meine Freundinnen zu treffen. Denn so, wie der Aktienmarkt heute aussieht, ist es vorbei mit dem schnellen Geld, obwohl es wieder leicht nach oben geht«. Erst kurz nach zwölf war sie wieder zu Hause gewesen. Ihr Mann war in Brüssel und schon Sonntagabend dorthin aufgebrochen. Sie bedauerte aufrichtig, dass sie keine größere Hilfe sein könne.
Leider war ihr Nachbar nicht ebenso wohlwollend und mitteilsam. Er war älter, übergewichtig und glatzköpfig. Er öffnete erst nach mehrmaligem Klingeln und trug einen hellblauen Frotteebademantel. Dieser war sicher einmal elegant gewesen, jetzt aber nur noch als Lumpen zu bezeichnen. Ob der Morgenmantel oder sein Besitzer mehr nach Urin und Schweiß stanken, war schwierig zu sagen, aber die Fahne ging ganz eindeutig von ihm aus. Seine nackten Füße steckten in löchrigen Lederpantoffeln. Nein, er habe gestern Abend nichts gesehen oder gehört. Er habe ferngesehen. Er wohne allein. Ob irgendwelche Autos zu dem Haus auf dem Hügel gekommen seien? Nicht dass er wüsste. Ob was passiert sei? Ach, ein Mann sei in dem neuen Haus ermordet worden? »Hoffentlich reißen sie diesen verdammten Kasten jetzt ab. Er hat meine Aussicht zerstört!«, lautete sein Schlusswort, ehe er der Polizistin die Tür vor der Nase zuknallte.
Im letzten Haus wohnte eine Familie mit drei Mädchen zwischen acht und fünfzehn Jahren. Viertel vor sechs hatten sie das Haus verlassen. Die Mutter hatte die Achtjährige zuerst zum Ballett ins Zentrum von Göteborg gefahren, anschließend hatte sie die Elfjährige zum Schlittschuhlaufen gebracht. Die Fünfzehnjährige hatte sich allein zum Reitunterricht aufgemacht, aber von dort fuhr nach acht kein Bus mehr. Deswegen hatte die Mutter sie auf dem Rückweg mitnehmen müssen. Kurz nach neun waren sie wieder zu Hause gewesen. Der Vater war mit einem wichtigen Kunden zum Essen verabredet gewesen und erst gegen elf nach Hause gekommen.
Seltsam. Diese Menschen wohnten in den teuersten Villen von Göteborg, schienen aber keine Zeit zu haben, das exklusive Milieu zu Hause zu genießen. Die meiste Zeit standen die Häuser leer. Irene fielen die großen Schilder an allen auf, die potenzielle Einbrecher darauf hinwiesen, dass Alarmanlagen für Sicherheit sorgten. Das war sicher eine gute Investition.
Ein Polizist, der vor dem Ceder-Haus Wache hielt, ließ Irene ein. Ihr war ein Gedanke gekommen, dem sie nachgehen wollte. Unheimlich hallten ihre Schritte auf dem Klinkerboden wider. Sie war auf dem Weg zu den Schlafzimmern.
Ludwigs Zimmer war in überraschend hübschen Farben gehalten, die Wände in einem warmen Hellgelb mit einer gemalten himmelblauen Borte mit Booten. Der Teppichboden im selben schönen Blau war seidenweich. Auf einem Regal und auf Wandborden lagen Unmengen Stofftiere in allen Größen, und über dem Gitterbett hing ein fröhliches Mobile. Über dem Bett war ein Farbfoto aufgehängt, die lächelnde Sanna mit dem neugeborenen Ludwig auf dem Arm. Mitten im Zimmer stand ein knallroter Minisportwagen, für den der Junge die nächsten drei Jahre sicher noch zu klein sein würde, weil er mit den Füßen nicht an die Pedale kam. Aber Irene war nicht wegen dieses Zimmers ins Haus gekommen.
Sannas Schlafzimmer nebenan war groß und hell, da es verglaste Schiebetüren aufs Meer hatte. Das Zimmer wurde von einem riesigen runden Bett dominiert. Neben dem Bett stand eine kleine Konsole. Irene probierte die Knöpfe aus, und schwere, schwarze Vorhänge glitten vor die Glastüren und versenkten das Zimmer in tiefste Dunkelheit. Mit einem Druck auf den richtigen Knopf öffneten sie sich wieder. Da es draußen immer noch regnete, war der Lichteinfall nicht gerade umwerfend. Sie drückte einen anderen Knopf, und ein riesiger Bildschirm an der Wand erwachte zum Leben. Aber Irene war auch nicht gekommen, um fernzusehen, und ebenfalls nicht, um die Einrichtung zu bewundern. Sie wusste bereits, dass in diesem Haus nur das Teuerste gut genug war. Sie fand es kalt und unpersönlich, aber durchaus dem Geschmack der Zeit entsprechend. Schließlich fand sie den richtigen Knopf auf der Konsole, und die Schiebetüren aus Spiegelglas glitten zur Seite und gaben den Blick auf den Inhalt der Kleiderschränke frei.
Irene hatte noch nie so viele Kleider gesehen, zumindest nicht für eine Person. Eine rasche Durchsicht bestätigte ihren Verdacht: nur Damenbekleidung. Das einzige Herrenbekleidungsstück war ein weißer Samtbademantel. Wahrscheinlich gehörten die unbenutzten Pantoffeln in Größe 44 ebenfalls nicht Sanna, aber alles andere war ihr Besitz. Irene las die Etiketten: Versace, Kenzo, Prada. Es gab andere Marken, die ihr nichts sagten, aber sie war überzeugt davon, dass sie ebenfalls erstklassig waren.
Langsam und methodisch durchsuchte sie alle Zimmer des Hauses. In Sannas Schlafzimmer und in der Diele hingen Fotos von Mutter und Sohn. Ein Bild von Kjell Bengtsson Ceder suchte sie jedoch vergebens. Von ihm gab es nicht die geringste Spur. Auch nicht von irgendeinem anderen Mann, vom Bademantel und den Pantoffeln einmal abgesehen. Im Badezimmer neben dem Schlafzimmer fand Irene eine ungeöffnete Dose Rasierschaum und eine Tüte mit Wegwerfrasierern.
Als hätte Ludwig keinen Vater gehabt, aber als erwarte man Herrenbesuch.
Nur die Aussage eines Mannes, der einige hundert Meter vom Tatort entfernt wohnte, ließ sich als positive Zeugenaussage werten. Trotz des Sauwetters war er mit seinem Hund unterwegs gewesen. Ehe er zum Haus der Ceders gekommen war, hatte er den Rücken eines Joggers gesehen, der auf einen kleineren Pfad, der zum Fahrradweg führte, zugelaufen war. Dieser Fahrradweg führte die Küste entlang nach Billdal und erfreute sich bei Joggern großer Beliebtheit. Der Abstand hatte etwa hundert Meter betragen, und der Zeuge hatte denjenigen welchen nur von hinten gesehen. Deswegen konnte er nicht sagen, wie der Jogger ausgesehen hatte. Er hatte einen dunklen Trainingsanzug und eine dunkle Mütze getragen. Er war etwas größer als gewöhnlich gewesen und offenbar gut trainiert, da er schnell gelaufen war. Weiter kamen sie mit der Personenbeschreibung nicht.
Der Mann mit dem Hund hatte vor dem Haus der Ceders kehrtgemacht. Obwohl die Straße schmal und kaum befahren war, hatte sich die Stadt Straßenlaternen bis zur Abzweigung zum Fahrradweg geleistet. Er glaubte, dass es Viertel nach sieben gewesen war, als er umgekehrt war. Mit absoluter Sicherheit konnte er sagen, dass zu dieser Zeit in der Garagenauffahrt kein Auto gestanden hatte. Er war sich ebenso fast sicher, dass im Haus kein Licht gebrannt hatte, nur die Außenbeleuchtung über dem Garagentor und der Haustür.
»Eigentlich sagt das nichts. Schließlich stand der Jaguar in der Garage. Vielleicht war Ceder auch noch nicht da. Die Außenbeleuchtung schaltet sich vermutlich bei Einbruch der Dunkelheit automatisch ein. Oder sie lassen sie rund um die Uhr brennen. Diese Runde ist bei Joggern sehr beliebt. Wenn man an Ceders Haus vorbeiläuft, kann man auf den Fuß- und Fahrradweg am Meer entlang abbiegen. Obwohl es wirklich ein ungemütliches Wetter zum Joggen war«, meinte Irene.
»Wir müssen unbedingt rauskriegen, wer bei diesem Sauwetter um diese Zeit gejoggt ist. Wir können den Jogger nicht von der Liste der Verdächtigen streichen, solange wir nicht wissen, wer er ist«, stellte Tommy fest.
Sie unterhielten sich leise, um die anderen Gäste nicht zu stören, die wie sie hier im Restaurant saßen und zu Mittag aßen. Sie hatten sich in einem Sushilokal in Vasastan verabredet. Irene war erstaunt gewesen, dass Tommy es mit der Begründung vorgeschlagen hatte, er wolle etwas Leichtes essen. Vielleicht hatte er in den letzten Jahren wirklich ein paar Kilo zugenommen, aber so dramatisch fand sie das nicht. Da sie selbst gern Sushi aß, war sie mit dem Restaurant Nippon sofort einverstanden gewesen.
Ihre Kellnerin, eine kleine, rundliche Asiatin in weißer Bluse und schwarzem Rock, brachte Mineralwasser und Essstäbchen. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber wahrscheinlich war sie um die Fünfzig. Ein älterer Mann, vermutlich der Ehemann, bereitete an einem Glastresen hinten im Lokal in rasendem Tempo verschiedene Sorten Sushi zu. In der Küche dahinter brutzelte ein Koch die warmen Gerichte. Die Einrichtung war japanisch ohne unnötigen Firlefanz.