Der im Dunkeln wacht - Helene Tursten - E-Book

Der im Dunkeln wacht E-Book

Helene Tursten

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Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 9

Kriminalinspektorin Irene Huss im Fadenkreuz eines Psychopathen!

Zwei erdrosselte Frauen, in Plastikfolien verpackt. Fundort: zwei Friedhöfe rund um Göteborg. Dem Team um Kriminalinspektorin Irene Huss ist schnell klar, dass es sich um einen Serientäter handeln muss. Beide Opfer waren alleinstehend, beide waren Mitte vierzig, bei beiden fand sich ein Foto mit einer verschlüsselten Botschaft an der Wohnungstür – mit einer Chrysantheme liebevoll verziert.

Was Irene Huss nicht weiß: der Mörder hat bereits ein neues Opfer im Visier, und zwar sie …

Ich beschütze euch vor dem Bösen. Bei mir seid ihr geborgen. Ich bin der, der im Dunkeln wacht.

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Seitenzahl: 419

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Deutsche Erstausgabe November 2010

Copyright © 2010 by Helene Tursten Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Published by agreement with Leonhardt & Høier Agency, Copenhagen Die Bibel wird in leicht abgewandelter Form zitiert nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984, 2. Buch Mose, 20,5, 22,18, 23,21 und 33,27, weiterhin Psalm 277,1. Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

 

 

ISBN 978-3-641-06644-4 V002

 

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Für Johan Fälemark und Hillevi Råberg mit herzlichem Dank für die gute Zusammenarbeit über die Grenzen zwischen Literatur und Film.

Bei mir sind sie geborgen. Ich beschütze sie vor dem Bösen. Das ist Teil der Vereinbarung. Sie lieben mich. Natürlich liebe ich sie alle. Sie unterscheiden sich voneinander, aber trotzdem sind sie sich in Vielem ähnlich. Vor allen Dingen brauchen sie mich. Ihre Einsamkeit ist groß. Ich bin da. Sie können sich geborgen fühlen. Ich schenke Tausenden Gnade, wenn man mich liebt und meine Gebote befolgt. Ich bin der, der im Dunkeln wacht. Ich bin der Wächter.

Dünne Nebelschleier hingen im Lichtschein der Straßenlaternen. Bald würden sie verschwunden sein. Der Wind wehte in immer heftigeren Böen, die Regen verhießen. Die Feuchtigkeit klebte in ihrem Gesicht, als sie leicht vornübergebeugt gegen die Windstöße auf dem Parkplatz ankämpfte. An einem so ungemütlichen Abend ging niemand freiwillig vor die Tür. Selbst die Hundebesitzer verzichteten auf einen letzten Abendspaziergang. Die Reihenhäuser lagen dunkel und still da. Die meisten Nachbarn schliefen bereits. Nur das Küchenfenster von Bosse Gunnarsson leuchtete warm und einladend. Er saß wie immer am Küchentisch und löste Sudokus. Seine Lesebrille war ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht.

Ihr eigenes Haus war dunkel, aber das sollte sich gleich ändern. Sie würde Licht machen, sich eine Kanne Tee kochen und ein Brot mit Ei und Kaviarpaste zurechtmachen, ein paar Kerzen auf den Tisch stellen, sich in eine Decke hüllen und die 23-Uhr-Nachrichten ansehen. Gemütlich. Dann ab ins Bett.

Sie schob die Hand in den Briefkasten und holte die Post heraus. Rechnungen und Reklame. Mit ein paar Schritten war sie bei der Haustür und suchte in der Handtasche nach dem Schlüssel. Gerade als sie ihn hervorgekramt hatte und ins Schloss stecken wollte, bemerkte sie im Dunkeln nahe dem Schuppen eine hastige Bewegung. Dann stand plötzlich jemand dicht hinter ihr. Sie spürte einen eisernen Griff über der Brust, der Angreifer presste sie fest an seinen Körper. Sie bekam keine Luft. Die Kraft des Mannes und sein beißender Geruch lähmten sie. Als sie begriff, was er vorhatte, zwang sie sich zur Gegenwehr. Mit einer Hand versuchte der Mann, ihr eine Schlinge um den Hals zu legen. Er hatte Mühe, sie ihr über den Kopf zu streifen, nicht, weil er kleiner war als sie, sondern weil sie verzweifelt Oberkörper und Kopf hin und her warf, um sich zu befreien. Er knurrte und zischte etwas, aber hatte sie fest im Griff. Nach kurzem Kampf saß die Schlinge. Schnell hob sie instinktiv die Hand und konnte sie gerade noch unter die Schlinge legen. Das alles war so schnell gegangen, dass sie nicht einmal Zeit gehabt hatte zu schreien. Jetzt versuchte sie verzweifelt, um Hilfe zu rufen, aber aus ihrem Mund kam nur ein schwaches Wimmern. Die Schlinge saß bereits zu fest. Sie spürte, wie er den Griff um ihren Oberkörper lockerte, um sie noch fester zu würgen. Sie bekam kaum noch Luft. Vor ihren Augen flimmerte es. Gleich würde sie das Bewusstsein verlieren. Mit letzter Kraft wühlte sie mit der freien Hand in ihrer Jackentasche. Papiertaschentücher, Halspastillen, Feuerzeug … Panik stieg in ihr auf und ihre Bewegungen wurden ungeschickter. Der Schmerz an ihrem Hals war unerträglich. Sie bekam keine Luft mehr.

Plötzlich spürte sie den Autoschlüssel mit dem kleinen Zylinder am Schlüsselring. Mit zitternden Fingern umfasste sie ihn. Ihr Daumen rutschte ab, dann spürte sie den Knopf. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte drückte sie, so fest sie noch konnte.

Das Schrillen des Alarms dröhnte durch die Reihenhaussiedlung. Der Angreifer erstarrte und hielt kurz inne. Da hob sie den Fuß und trat mit aller Kraft nach hinten. Der Absatz ihres Lederstiefels traf ihn unterhalb des Knies. Er zuckte zusammen und stöhnte leise. Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er seinen Griff. In diesem Moment hörte sie, wie Bosse Gunnarsson die Tür öffnete und rief:

»Hallo? Was ist da los? Was ist das für ein Lärm? Ich rufe die Polizei!«

Und plötzlich war er nicht mehr hinter ihr. Sie hörte die Gartenpforte, als er sie öffnete und Richtung Parkplatz verschwand.

»Hallo! Stehen bleiben! Was soll das?«

Das war wieder Bosses Stimme. Gesegneter Bosse. Sie sank zu Boden und versuchte, um Hilfe zu rufen, aber es kam nur ein klägliches Krächzen aus ihrer Kehle.

Sie war davongekommen. Sie lebte noch.

Panisch hielt sie den kleinen Zylinder umklammert. Sie konnte den kleinen Gegenstand, der ihr das Leben gerettet hatte, nicht loslassen.

Normalerweise war Irene Huss keine Frühaufsteherin, aber an manchen Tagen erwog sie ernsthaft, es zu werden. Wie heute. Die Luft war kristallklar und die Kälte der Nacht noch frisch. Am Horizont flammte ein strahlender Sonnenaufgang in intensiven Goldtönen. Konnte ein Tag perfekter beginnen? Irene kuschelte sich in ihren Morgenmantel, blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und atmete tief ein. Die Feuchtigkeit des Regens vom Vorabend verstärkte die Gerüche. Ihr Garten wirkte wie in der Stunde der Schöpfung, ein letztes trotziges Aufbäumen gegen den unbarmherzig herannahenden Herbst. Die üppigen Herbstastern glühten dunkelrot in den gusseisernen Behältern neben der Treppe. In diesem Jahr blühten sie besonders prächtig.

In Pantoffeln machte sie sich auf den Weg zu der niedrigen Gartenpforte, beugte sich schließlich darüber und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten am Zaun. Sie drehte sich um und wollte eben wieder zurückgehen, hielt aber mitten im Schritt inne. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie es realisierte. Das Bänkchen, das sonst zwischen den beiden Küchenfenstern stand, war verschoben worden. Jetzt stand es mitten im Beet, unter einem Fenster. Die frisch gepflanzten Rosenbüsche hatten gelitten, mehrere Zweige waren abgeknickt. Erzürnt hob Irene die Bank hoch und stellte sie an ihren Platz an der Wand zurück. Merkwürdig. Hatte sie gestern Abend nicht noch dort gestanden?

 

»Glaube ich auch«, antwortete Krister, als sie ihn wenig später fragte.

Er stand am Herd und briet Spiegeleier. Auf einem Teller lagen bereits knusprig gebratener Speck und einige Tomatenhälften. Was Irene betraf, war eine solide Mahlzeit am Morgen verlorene Liebesmüh. Seit mehreren Jahrzehnten bestand ihr Standard frühstück aus drei Tassen schwarzem Kaffee und einem oder zwei Käsebroten. Neuerdings war ihr Mann jedoch der Auffassung, ihre Frühstücksgewohnheiten seien verwerflich. Vielleicht stimmte das ja auch, aber ihr passten sie. Wenn Irene wagte, Spiegeleier mit Speck und ihrem schädlichen Cholesterol als nicht sonderlich gesund zu bezeichnen, wischte Krister diesen Einwand mit der Bemerkung beiseite: »Glyx-Diät! Eine Welt von Diätjunkies kann nicht irren!« Die Wahrheit war allerdings, dass er abnehmen musste, und nicht etwa sie.

Krister stellte ihr einen Teller Glyx-Frühstück hin. Wie immer stocherte sie nur darin. In solchen Augenblicken war sie versucht, Veganerin zu werden. Wie Jenny. Ihre Tochter praktizierte das seit nunmehr fast zehn Jahren. Sie ließ sich gerade an einer Schule in Amsterdam im vegetarischen Kochen ausbilden, Schwerpunkt vegane Kost. Jenny war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, wenn auch nicht ganz so, wie dieser sich das vorgestellt hatte.

»Aber du musst doch zugeben, es ist seltsam, dass die Bank auf einmal woanders steht«, beharrte Irene.

»Ach was, das waren sicher Viktor und seine Freunde, die sich einen Spaß erlaubt haben«, meinte Krister.

»Warum sollte Viktor … ja, vielleicht.«

Der Junge aus dem Nachbarhaus war zehn und machte mit seinen Freunden die Gegend unsicher. Aber Irene hatte den Eindruck, dass sich die Jungen trotz allem gut mit den meisten Nachbarn verstanden. Zu großen Unfug hatten sie bisher nicht getrieben. Sie konnte sich auch schwer vorstellen, warum die Jungen das Bänkchen in die Rosenbüsche gezerrt haben sollten. Das erschien sinnlos. Das Küchenfenster lag so niedrig, Viktor konnte auch ohne Bank hineinschauen und musste sich dabei nicht einmal auf die Zehenspitzen stellen.

Sie schob die Gedanken an die Bank beiseite und goss sich ihre dritte Tasse Kaffee ein.

 

Am Morgen darauf erwachte Irene bereits um sieben Uhr, obwohl es ihr freier Samstag war. Krister war am Vorabend erst spät aus dem Restaurant heimgekommen. Sie hörte seine ruhigen, leise zischenden Atemzüge neben sich. Er würde noch eine Weile gut schlafen. Sie stahl sich aus der Wärme des Bettes. Als sie aus dem Bad kam, zog sie ihre Joggingsachen an und streifte sich wie immer auch den elastischen Knieschutz über. Inzwischen bekam sie Schmerzen, wenn sie ihn beim Laufen nicht benutzte. Der Verfall setzt ein, dachte sie grimmig.

Sie öffnete die Haustür und nahm die Treppe mit einem Satz. Dann blieb sie einige Sekunden bewegungslos mit nach vorne gerichtetem Blick stehen. Ganz langsam drehte sie sich um. Die prächtigen Herbstastern waren aus den Kübeln gerissen worden und lagen verstreut auf dem Rasen.

 

»Viktor würde so etwas nie tun!« Malin, Viktors Mutter, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ausgesprochen beleidigt aus. Irene versuchte es mit einem versöhnlichen Tonfall.

»Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass …«, begann sie.

»Warum kommen Sie dann und beschuldigen ihn, wenn Sie selbst nicht daran glauben?«, fauchte Malin.

Irene sah ein, dass dieser Wortwechsel den nachbarschaftlichen Beziehungen nicht sonderlich zuträglich war. Ihr berufliches Ich musste darüber hinaus zugeben, dass es sich um keine geglückte Vernehmung handelte.

»Ich beschuldige ihn ja gar nicht. Ich will nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und mich erkundigen, ob er vielleicht was weiß«, versuchte Irene sich zu rechtfertigen.

»Verdammter Polizeimissbrauch!«, schrie Malin und knallte die Tür zu.

Polizeimissbrauch? Sie meinte wohl Machtmissbrauch. Irene konnte Malins Entrüstung gut verstehen, obwohl sie fand, dass sie überreagierte. Warum eigentlich, wenn sie von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt war?

Wie als Antwort auf ihre Überlegungen kam Viktor selbst angestiefelt. Er öffnete die Gartenpforte und lächelte fröhlich.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo, Viktor. Du … Ich habe deine Mutter gerade etwas gefragt. Sie wurde sehr böse auf mich.« Viktors Lächeln erlosch, und er sah sie unsicher an. Irene lächelte ihm aufmunternd zu und sagte freundlich:

»Jemand hat in unserem Garten komische Sachen angestellt, unsere kleine Bank herumgetragen und ein paar Blumen zerstört. Ich wollte dich nur fragen, ob du etwas darüber weißt.«

Der Junge schüttelte den Kopf. Er wirkte aufrichtig erstaunt.

Irene sah Viktor in die Augen und lächelte ihn erneut an. Er schaute unsicher zu ihr auf, beantwortete aber dann ihr Lächeln. So sah kein schuldbewusster Zehnjähriger aus.

Aber wenn nicht Viktor die Blumen zerstört und die Bank verschoben hatte, wer dann?

 

Mein Liebling gibt eine Einladung. Das gefällt mir nicht. Männer und Frauen, alle halten sie Gläser in den Händen. Alkohol. Und führe sie nicht in Versuchung, sondern erlöse sie von dem Bösen.

Ich bin für sie da. Sie weiß, dass ich über sie wache. Wir sind in unserer Liebe vereinigt. Auf ewig. Amen. Zwei Männer und zwei Frauen. Sie sitzen am Tisch und essen. Und trinken. Immer dieser Alkohol. Sie muss weg von diesen verderblichen Einflüssen. Siehe, ich werde dir einen Engel senden, der dich auf dem Weg halten und zu dem Platz führen wird, den ich ausersehen habe. Ich werde mich um dich kümmern, mein Liebling. Wir werden auf ewig in unserer Liebe vereint sein.

Ich bin da und wache. Ich bin der Wächter.

 

Es ist verboten, Hunde auf dem Friedhof Gassi zu führen, aber die Not kennt kein Gebot. Egon musste raus. Also eine kurze Runde über den Westfriedhof. Um diese Zeit war auch kaum jemand dort, der sich daran stören konnte, dass sie den Haufen nicht aufsammelte. Er war ohnehin nicht der Rede wert. Wegen ihres Asthmas fiel es ihr schwer, sich zu bücken. Sie hatte Glück und fand einen Parkplatz direkt neben dem Tor. Schwer atmend und mit Mühe stieg sie aus ihrem Skoda. Bevor sie den Hund aus dem Auto ließ, nahm sie ihn an die Leine. Dann ging sie durchs Tor. Der Dackel folgte ihr widerwillig. Er hätte gerne noch an ein paar interessanten Ecken geschnuppert.

»Egon! Komm jetzt! Wir haben keine Zeit.«

Sie schimpfte auf den Hund ein, der sich jetzt erst recht weigerte. Schließlich setzte er sich resolut auf die Erde. Mit einem Ruck seines Kopfes gelang es ihm, sich seines ausgeleierten Halsbandes zu entledigen. Ha! Frei! Egon verschwendete keine Zeit und verschwand über die Wiese, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Aus einem Gebüsch an der Mauer drangen liebliche Düfte. Mit Wohlbehagen bohrte er seine Schnauze in das nasse Laub und atmete all die Pheromone ein, die eine unbekannte Schönheit zurückgelassen hatte. Wäre sein Frauchen nicht gewesen, hätte er stundenlang verweilen können. Er hörte ihre schweren, schlurfenden Schritte auf der Wiese, und obwohl er ihre schrille Stimme zu ignorieren versuchte, erkannte er die Tonlage : Frauchen war nicht froh. In der Tat klang sie richtig wütend. Als sie sich mit hoch erhobener Leine näherte, wurde ihm bewusst, dass es vermutlich das Gesündeste war, noch eine Weile auf Abstand zu bleiben. Er verzog sich in die Rhododendronbüsche. Frauchens Stimme wurde noch schriller und wütender, aber dort drinnen würde sie ihn nicht zu fassen kriegen. Ein anderer Geruch mischte sich mit dem Duft der Hündin. Zunächst blieb Egon unschlüssig zwischen den Sträuchern stehen, aber schließlich gewann seine Neugier doch die Oberhand. Er musste herausfinden, was so seltsam roch. Entschlossen neigte er seine Schnauze zu Boden und nahm die Fährte auf. Hinter den Büschen und ungesehen von seinem Frauchen folgte er der Ziegelmauer. Wo das Gebüsch zu Ende war, lag die Quelle der seltsamen Gerüche. Egon kläffte aufgeregt. Er begann an der dicken Folie zu nagen, die den Geruch einschloss. Er wurde unvorsichtig und merkte plötzlich, wie ihm das Halsband wieder über den Kopf gezogen wurde. Aber statt zu fluchen und ihn anzuschreien starrte sein Frauchen nur auf das in Folie eingeschlagene Paket. Plötzlich stieß sie kurze, schrille Geräusche aus, die ihn in den Ohren schmerzten. Egon kauerte sich verängstigt zusammen. Seine empfindliche Nase nahm einen Geruch wahr, der jenen, der aus dem interessanten Paket drang, überlagerte. Ein beißender Gestank kam aus jeder Pore seines Frauchens: Angst. Sie war vor Schreck gelähmt.

 

Als Irene Huss und ihr Kollege Kriminalinspektor Fredrik Stridh eintrafen, war der Fundort bereits abgesperrt. Beamte in Uniform hatten sich überall postiert, um neugierige Passanten fernzuhalten. Mehrere Streifenwagen sowie der Lieferwagen der Spurensicherung standen in der Nähe geparkt. Das im Dunkeln aufblitzende Blaulicht verlieh den Schaulustigen in regelmäßigen Abständen eine unheimliche, bläulich-bleiche Gesichtsfarbe. Bedachte man, dass es schon auf zehn Uhr zuging, war es erstaunlich, wie viele Leute sich auf dem Friedhof aufhielten. Auf einem feuchtkalten Friedhof herumzustehen konnte wohl kaum als Abendvergnügen gelten. Aber ein Mord lockte immer sensationslüsterne Zuschauer an, das wusste Irene nach vielen Jahren als Ermittlerin des Dezernats für Gewaltverbrechen. Irene hätte gerne etwas anderes getan, als um diese Zeit zum Westfriedhof aufzubrechen. Wäre nicht Jonny Blom und seine ganze Familie plötzlich von einer Magenverstimmung heimgesucht worden, dann wäre sie auch nicht hingefahren. Jonny Blom und Fredrik hatten eigentlich zusammen Wochenendbereitschaft. Und als die Meldung über den Fund auf dem Friedhof einging, rief Fredrik Irene an und bat sie, ihn zu begleiten. Am Montag würde er wieder zu seinem Ermittlerteam Bandenkriminalität zurückkehren, und jemand anderes aus ihrem Dezernat musste den Fall übernehmen. Warum nicht sie? Seufzend hatte sie eingewilligt. Krister arbeitete das ganze Wochenende, und sie war ohnehin allein zu Hause.

Irene und Fredrik zeigten ihren uniformierten Kollegen bei der Absperrung ihre Dienstausweise, hoben das Absperrband an und gingen zu dem hellerleuchteten Fundplatz. Die großen Rhododendronbüsche raubten den neugierigen Zuschauern effektiv die Sicht. Im Scheinwerferlicht tauchte ein in Plastikfolie eingeschlagenes Bündel auf. Dass es sich wirklich um eine Leiche handelte, war durch die durchsichtige Folie zu erkennen.

Sie begrüßten Svante Malm und die anderen Kriminaltechniker.

»Schon was gefunden?«, fragte Irene.

Svante Malm schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nichts außer der verpackten Leiche. Die wird gleich zur Gerichtsmedizin gebracht, dann können wir das Terrain besser absuchen. Aber ich bin nicht sonderlich optimistisch. Hier liegt überall eine Unmenge Müll, den Leute einfach in die Büsche geschmissen haben. Irgendwas sagt mir, dass der Mörder vorsichtig war. Die sorgfältige Verpackung spricht dafür.«

Irene konnte ihm da nur recht geben. Das ganze Paket wurde von langen Streifen braunen Paketklebebands zusammengehalten. Irene wusste aus Erfahrung, dass sich die Herkunft von Klebeband nicht klären ließ. Es wurde in großen Mengen überall im Land, ja, auf der ganzen Welt, verkauft. Die einzige Hoffnung war, dass der Täter Spuren auf dem Plastik oder auf der Leiche hinterlassen hatte.

»Ich habe mit der Gerichtsmedizin gesprochen. Es ist okay, wenn wir es dort öffnen«, meinte Svante.

»Dann fahren wir mit zur Gerichtsmedizin«, entschied Irene.

 

Irene und Fredrik Stridh nahmen den neuen Kriminaltechniker Matti Berggren im Auto mit, als sie zur Gerichtsmedizin fuhren. Matti erzählte, er habe beim Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping gearbeitet. Irene schätzte ihn auf fünfundzwanzig, aber wahrscheinlich war er ein paar Jahre älter, als er aussah. Ihr Kollege Fredrik Stridh war etwa so alt gewesen, als er beim Dezernat angefangen hatte. Vor zehn Jahren. Seither war ein sehr guter Ermittler aus ihm geworden. Schade, dass die Abteilung für Bandenkriminalität auf ihn aufmerksam geworden war.

»Warum seufzst du?«, fragte Fredrik.

»Habe ich geseufzt? Vermutlich, weil ich gerade darüber nachgedacht habe, wie gemütlich es wäre, jetzt mit einem guten Glas Wein und Knabberspaß zu Hause einen Film anzuschauen. Dann früh ins Bett. Etwas in dieser Art. Schließlich ist das mein freies Wochenende«, sagte Irene.

»In einem anderen Leben, Irene«, erwiderte Fredrik todernst. Die Jammerei war eher eine Vorführung für den Grünschnabel Matti. Doch es schien ihm nicht sonderlich zu imponieren. Er sah neugierig aus dem Fenster, als sie am Scandinavium vorbeifuhren. Die Abendveranstaltung war zu Ende, und das Publikum, Tausende von Menschen, strömte aus dem Gebäude.

 

Sie hatten Glück. Zum einen war es recht ruhig in der Gerichtsmedizin, zum anderen hatte Morten Jensen Bereitschaft. Irene und Fredrik kannten ihn gut, da er schon seit mehreren Jahren dort arbeitete.

Und Jensen schien froh zu sein, Gesellschaft zu bekommen. Oder wie er es ausdrückte: »An einem Samstagabend kann es hier schon mal ziemlich tot sein.«

Matti Berggren zog die Augenbrauen hoch und lächelte dann höflich. Wahrscheinlich wusste er nicht, ob der Gerichtsmediziner Witze machte oder ob es ihm ernst war. Irene fand es immer befreiend, mit Morten Jensen zu tun zu haben. Er war viel unkomplizierter als seine Chefin, Prof. Yvonne Stridner, was allerdings kein großes Kunststück war, wie Irene fand. Eine große Mehrheit der Göteborger Polizeibeamten hätte ihr zugestimmt. Aber das Risiko, Yvonne Stridner an diesem Abend zu begegnen, war minimal. Professoren hatten nachts keine Dienstbereitschaft und am Wochenende schon gar nicht.

Matti nahm eine Probe von der Außenseite der Plastikfolie. Ein dunkelbrauner Fleck, groß wie eine Handfläche, interessierte ihn besonders. Er fiel ihnen auf, als sie die eingepackte Leiche umdrehten. An einigen anderen Stellen waren ähnliche, allerdings kleinere Flecken zu erkennen.

»Irgendein dünnes Öl … wahrscheinlich Motorenöl«, murmelte er vor sich hin.

Er wirkte zufrieden, als er das Wattestäbchen mit dem Öl in ein steriles Reagenzglas fallen ließ. Anschließend entfernte er vorsichtig sämtliche Klebestreifen von der Folie und legte sie sorgfältig in verschiedene kleine Glasgefäße.

»Klebebänder können Unmengen von Informationen liefern. Dort bleiben Dinge hängen, die sich der Täter gar nicht vorstellen kann«, sagte er.

Er machte einen gründlichen und ernsthaften Eindruck. Es hieß, dass Svante Malm im nächsten Jahr in Pension gehen werde. Dieser junge Mann schien ein würdiger Nachfolger zu sein.

Behutsam wickelte Matti die Folie ab, die die Leiche umgab.

»Ziemlich viel Wasser auf der Innenseite«, stellte er fest.

Als die Leiche vollkommen freigelegt war, sahen sie, dass es sich um eine Frau mittleren Alters handelte. Der ganze Körper war feucht. Die Feuchtigkeit hatte sich auf der Innenseite der Folie gesammelt und war nicht verdunstet, da der Täter die Folie luftdicht verklebt hatte. Das schulterlange Haar lag feucht am Kopf an, es war zu vermuten, dass es blondiert war. Die Tote war relativ klein und mollig.

»Erdrosselt«, sagte Morten Jensen.

Aus seiner Stimme war jetzt jegliche scherzhafte Nuance verschwunden. Er deutete auf ein scheußlich dunkellila verfärbtes Würgemal, das um den Hals des Opfers verlief. Der Täter hatte so fest zugezogen, dass nur noch die langen Enden der Schlinge im Nacken der Toten zu sehen waren. Irene wusste, um was für eine Schnur es sich handelte. Genau so eine blaue Nylonleine hing in ihrer Waschküche als Wäscheleine. Die Enden hatte der Mörder zu großen Schlingen geknotet, um nicht abzurutschen.

Jensen griff zu einem Maßband und stellte fest, dass die Tote 155 cm groß war. Dann ermittelte er die Körpertemperatur, betrachtete die Totenflecken und schaute sich an, wie weit die Leichenstarre fortgeschritten war. Die Ergebnisse gab er zusammen mit der Außentemperatur der letzten vierundzwanzig Stunden in den Computer ein und rechnete dann rasch im Kopf. Anschließend teilte er mit, die Ermordete sei seit maximal achtundvierzig Stunden tot. Wahrscheinlich sei sie später gestorben, aber wohl kaum mehr als fünf Stunden später.

»Sie wurde also vor dreiundvierzig bis achtundvierzig Stunden ermordet, das heißt zwischen 16 und 21 Uhr am Donnerstag. Das ist ein ziemlich langer Zeitraum«, meinte Irene, nachdem sie einen Blick auf die Uhr an der Wand geworfen hatte.

»Ja. Genauer lässt es sich aber nicht sagen. Es gibt noch zu viele unsichere Faktoren. Die Leichenflecken deuten daraufhin, dass sie vier bis zwölf Stunden nach Eintritt des Todes verlagert wurde. Sie wurde vom Bauch auf den Rücken gedreht. Auf der Vorderseite der Leiche sind schwache Totenflecken zu sehen. Morgen werde ich die Leiche genauer in Augenschein nehmen und Proben entnehmen. Bis zur Obduktion werden noch ein paar Tage vergehen«, meinte Jensen bedauernd.

Irene wusste, dass daran nichts zu ändern war. Sie hatten trotzdem einige wichtige Informationen erhalten. Zunächst hatte jetzt die Feststellung der Identität höchste Priorität. Noch in der Nacht würde Fredrik die Liste der vermissten Personen durchgehen. Am Sonntag würden sie dann gemeinsam weitersuchen. Es war wichtig, zu Anfang einer Ermittlung, das Tempo nicht zu verlieren.

 

Fredrik machte sie schnell ausfindig: Ingela Svensson, 46 Jahre alt, geschieden, alleinstehend. Das Blumengeschäft am Frölunda Torg hatte Alarm geschlagen, als sie am Freitagmorgen nicht zur Arbeit erschienen war. Ingela Svensson war eine gute Floristin, und für eine Beerdigung am Samstag warteten bereits eine Menge Bestellungen auf sie. Am Telefon war die Besitzerin des Blumenladens außer sich vor Sorge gewesen. Ingela sei eine äußerst zuverlässige Person, die sich nur im äußersten Notfall krank schreiben lasse und nicht ohne ein Wort zu sagen verschwinden würde.

Ingela Svenssons Schwester in Kungälv hatte man bereits am Nachmittag verständigt, als es sich noch um eine Vermisstensache gehandelt hatte. Von ihr dieselbe Aussage: Ihre Schwester würde nie grundlos verschwinden. Außerdem habe sie erst kürzlich einen Mann aus Borås kennengelernt, der sie förmlich habe aufblühen lassen. Die Schwester hatte sich darüber gefreut, denn Ingelas Ehe war nicht sonderlich glücklich gewesen.

Exmänner und neue Männer waren bei Vermisstenangelegenheiten und Morduntersuchungen immer von Interesse. Eine rasche Überprüfung von Ingelas Exmann hatte ergeben, dass dieser seit zwei Jahren wieder verheiratet war. Man konnte ihn außerdem sofort von der Liste der Verdächtigen streichen. Die Familie wohnte in Marbella. Dort verkaufte er Immobilien an sonnenhungrige Skandinavier.

Schweren Herzens rief Irene am frühen Sonntagmorgen die Schwester in Kungälv an. Sie brach am Telefon zusammen, als sie erfuhr, dass es sich bei der Person, die man am Vorabend ermordet auf dem Westfriedhof aufgefunden hatte, höchstwahrscheinlich um Ingela handelte.

Einige Stunden später fuhr ihr Mann sie nach Göteborg. Sie identifizierte die Tote zweifelsfrei als Ingela Svensson. Irene bat die Schwester und den Schwager, sie zu einem ersten Gespräch ins Präsidium zu begleiten.

 

Die Schwester hieß Christina Mogren. Sie nannte ihnen auch den Namen des Mannes in Borås. Leif Karlberg. Die Eheleute Mogren hatten ihn erst am Wochenende zuvor kennengelernt. Ingela lud sie nach Hause ein, damit sie den neuen Mann in ihrem Leben endlich einmal trafen. Er machte einen sehr guten Eindruck auf Christina und ihren Mann. Sie erzählten, dass Leif Karlberg und Ingela sich vor drei Monaten bei einem Wochenendtrip nach Prag kennengelernt und umgehend ineinander verliebt hätten. Und Ingela habe gewagt, die Liaison auch nach der Rückkehr fortzusetzen, obwohl sie sich geschworen hatte, nie mehr eine feste Beziehung einzugehen. Sie war dann einige Male bei Karlberg in Borås zu Besuch, und er bei ihr in Göteborg. Laut der Schwester verlief die Beziehung erfreulich. Ingrid sei zum ersten Mal seit ihrer Scheidung wieder richtig verliebt gewesen.

»Er kann es nicht gewesen sein. Ingela und er waren so verliebt. Sie hatten nur Augen füreinander. Er wirkte so … so lieb! «, sagte Christina.

Irene waren im Laufe der Jahre etliche Mörder untergekommen, die mit ähnlichen Worten beschrieben worden waren. Sie behielt es für sich und ließ die Schwester weitererzählen. Plötzlich mischte sich Christinas Ehemann ein:

»Wusste sie denn nun, von wem die Blume war?«

Christina hielt inne und dachte nach. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Mir hat sie jedenfalls nichts gesagt.«

»Hat ihr jemand Blumen geschickt?«, fragte Irene.

»Eine einzelne Blume. Eine große weiße Chrysantheme mit einer Karte, auf der etwas Unverständliches stand.«

»Erinnern Sie sich, was das war?«

»Nein. Sie sagte, dass auf der Karte kein Name gestanden habe, nur ein paar hingeschmierte Zahlen und Buchstaben.«

»Merkwürdig, jemandem, der in einem Blumenladen arbeitet, eine Blume zu schicken«, dachte Irene laut nach.

»Das hat Ingela auch gesagt«, pflichtete ihr Christina bei.

»Wann hat sie diese Blume bekommen?«

Die Eheleute Mogren versuchten sich gemeinsam daran zu erinnern, an welchem Tag der Woche es gewesen war.

»Wir haben immer montags oder dienstags miteiander telefoniert. Bereits seit wir von zu Hause ausgezogen waren. Wir waren uns immer sehr nah.«

Christinas Augen füllten sich mit Tränen, als ihr klar wurde, was sie gerade gesagt hatte. Sie trocknete sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen, schluckte ein paarmal und fuhr dann fort:

»Ingela muss mich letzten Dienstag angerufen haben. Wir konnten nicht lange reden, weil ich Tobbe zum Hockey fahren musste. Sie erzählte, dass eine Blume an der Klinke ihrer Wohnungstür gehangen habe, als sie am Vorabend von der Arbeit gekommen sei. Also am Montag. Als Ingela sie auswickelte, sah sie, dass es sich nur um eine einzelne Chrysantheme handelte. Und dann noch dieser bekloppte Zettel. Erst dachte sie, Leif hätte sich einen Spaß erlaubt. Aber als sie ihn anrief und sich für die Blume bedanken wollte, wusste er von nichts.«

Irene dachte darüber nach, ob die Blume von Bedeutung sein könnte. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass alles, was in einer Ermittlung von der Normalität abwich, in der Regel für den Fall relevant war.

»Die Blume war also nicht von einem Boten gebracht worden ?«, fragte sie der Deutlichkeit halber nach.

»Nein. Ingela sagte, sie sei in normales Zeitungspapier gewickelt gewesen«, antwortete die Schwester.

»Wissen Sie, was sie mit der Blume gemacht hat?«

»Was weiß ich … Vermutlich hat sie sie in eine Vase gestellt. Aber ich weiß es nicht. Darüber haben wir nicht gesprochen.«

»Haben Sie die Wohnungsschlüssel dabei?«

»Ja. Ich vermute, dass wir dort nicht hinkönnen, ehe Sie mit Ihren Untersuchungen …«

»Genau so ist es. Wir müssen uns dort erst einmal umsehen, bevor Sie die Wohnung wieder betreten können. Sie bekommen die Schlüssel so rasch wie möglich zurück«, sagte Irene und erhob sich, um zu signalisieren, dass das Gespräch beendet sei.

 

Früher waren die Arbeiterhäuser in Majorna heruntergekommen, aber seit der Renovierung der alten Landshövdinge-Häuser hatte sich der Stadtteil in eine attraktive Gegend verwandelt. Nicht zuletzt die schönen Innenhöfe verliehen dem Viertel einen gemütlichen Charakter.

Ingela Svensson hatte eine Zweizimmerwohnung in der Såggatan bewohnt. Vor Betreten der Räume streiften sich die Beamten bequeme Plastikhandschuhe, Schuhschutz und OP-Mützen über. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, war aber luftig und hell. Der Verkehr von der Karl Johansgatan und vom Götaleden war bis in die Wohnung zu hören, allerdings nur als leises Rauschen. Das Wohnzimmer lag zur Straße. Vom Küchen- und Schlafzimmerfenster aus hatte man Aussicht auf den kleinen Innenhof. Er war sehr idyllisch mit seiner großen Kastanie und mehreren Beeten, in denen immer noch unterschiedliche Rosen blühten.

Ingelas Wohnung war sehr ordentlich. Nichts deutete auf einen Kampf hin. In einem Kleiderschrank befanden sich Mäntel und Schuhe. In einer hübschen Handtasche aus schwarzem Leder lagen Ingelas Handy, ihre Brieftasche und diverse Kosmetikartikel. Einen Schlüsselbund konnte Irene nirgends entdecken, weder in der Handtasche noch in irgendeiner Manteltasche. Also musste Ingela ihre Schlüssel dabeigehabt haben, als sie ihrem Mörder begegnete. Aber warum nur die Schlüssel und nicht die ganze Tasche? Offensichtlich war sie davon ausgegangen, dass sie nicht länger wegbleiben werde.

Von der Diele führte eine Tür in ein kleines, mit schwarzen und weißen Fliesen frisch renoviertes Badezimmer.

Das Wohnzimmer wirkte mit einem Mix aus älteren Möbeln kombiniert mit dem IKEA-Standardsortiment recht persönlich eingerichtet. Neben einer aufgeschlagenen Frauenzeitschrift stand ein Weinglas, in dem sich noch ein Rest roter Flüssigkeit befand.

Das Schlafzimmer war ziemlich klein. Auf dem Boden lag ein weißer Flokati, die Fenster zierten hauchdünne Gardinen. Die hellgrauen Wände und dazu passenden Schranktüren schenkten dem kleinen Raum Ruhe. Irene wurde von Fredriks Stimme aus der Küche in ihren Überlegungen gestört.

»Schau dir das mal an.«

Er stand neben der Küchentür und deutete auf die Spüle. Die Tür unter der Spüle stand weit offen.

»Leer. Kein Mülleimer«, stellte Irene fest.

Sie sah sich rasch in der kleinen Küche mit den glatten, weiß lackierten Schranktüren um. Die Einrichtung war etwas in die Jahre gekommen, aber alles wirkte blitzsauber. Das Einzige, was die Ordnung störte, war die offene Tür unter der Spüle und dass es dort leer war.

»Sie hat den Abfall hinausgetragen«, sagte Irene.

»Wo leert man den aus? Und wo ist der Eimer?«, fragte Fredrik.

»Wir gehen auf den Hof und sehen nach. Oft stehen die Mülltonnen in der Durchfahrt zum Innenhof.«

Sie zogen Handschuhe und Haarschutz aus, bevor sie die Wohnung verließen. Eine halbe Treppe führte zur Hoftür. Durch ein Fenster in der Tür waren der kräftige Stamm der stattlichen Kastanie zu sehen sowie deren untersten Äste, die sich träge im Wind bewegten. Die Tür quietschte, als sie sie aufstießen und den gepflasterten Hof betraten. Sie gingen auf die Durchfahrt zu. Dort standen mehrere Mülltonnen aufgereiht.

Sie hoben die Deckel an und sahen nach, ob dort vielleicht ein Mülleimer oder etwas anderes von Interesse lag. Dann suchten sie die gesamte Durchfahrt ab, ohne etwas zu finden, was sich Ingela Svensson zuordnen ließ.

»Was hat sie bloß mit dem Mülleimer und mit dem Abfall angestellt ?«, fragte Irene.

Fredrik deutete auf die Wand oberhalb der Mülltonnen. Auf einem handgeschriebenen Schild stand in Druckbuchstaben: »Bitte Glas, Holz, Chemikalien und anderes nicht in unsere Mülltonnen legen, sondern in die dafür vorgesehenen Behälter der Recyclingstation!« Darunter befand sich eine Skizze darüber, wo sich die nächste Recyclingstation befand.

»Vielleicht ist sie ja dorthin gegangen«, sagte er.

 

Die Recyclingstation lag in einer Ecke eines größeren Parkplatzes. Sie sah aus und stank wie die meisten dieser Anlagen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit dem Suchen zu beginnen. Einige Leute hatten alle möglichen Dinge dort abgestellt, von denen sie nicht recht wussten, wo sie sie lassen sollten. Alte Nachttischlampen, eine kaputte Küchenmaschine, ein zerbrochener Küchenstuhl und ein paar durchgeweichte Bananenkartons. Keine angenehme Arbeit, sich durch die Abfallbehälter zu wühlen und sich zu überlegen, was aus Ingelas Müll stammen konnte. Irene hatte nicht übel Lust, aufzugeben und die weitere Suche den Kriminaltechnikern zu überlassen.

»Ziemlich trostlos«, seufzte sie.

»Stimmt. Aber wir haben Glück. Laut Aushang wird erst am Dienstag geleert«, meinte Fredrik.

Sie riefen bei der Spurensicherung an, und die Kollegen versprachen, so schnell wie möglich zu kommen. Irene und Fredrik suchten noch ein wenig weiter, aber ein Mülleimer war nirgends zu finden.

»Wahrscheinlich liegt tonnenweise anderer Müll darüber. Falls er überhaupt hier ist«, meinte Irene.

Fredrik antwortete nicht, sondern betrachtete nachdenklich den igluförmigen Behälter für Buntglas. Er ging die Umgebung sorgfältig ab, fand aber nur eine leere Papiertüte. Anschließend verließ er die Recyclingstation und suchte vor dem Zaun weiter. Methodisch durchforstete er ein angrenzendes Fliedergebüsch, hob einige herabhängende Zweige an und schaute unter die Büsche. Der Schein seiner Taschenlampe fiel in das Grün.

»Yes!«, rief er plötzlich.

Irene eilte zu ihm. Triumphierend hob er ein paar Äste an. Eingebettet in die Vegetation lag ein grauer Eimer.

»In dem Eimer sind ein paar Weinflaschen. Sie hatte ja am Wochenende eine Einladung. Sie kam her, um die leeren Flaschen wegzuwerfen«, meinte Fredrik.

Er sah sich suchend um.

»Das hier ist mit großer Wahrscheinlichkeit der Tatort. Der Mörder schlich hinter ihr her und erdrosselte sie. Dann warf er den Eimer mit den Flaschen unter die Büsche. Wahrscheinlich war er in Eile. Schließlich musste er die Leiche wegschaffen, bevor jemand kam.«

Fredriks Stimme verriet seine Aufregung. Die Lokalisierung des Tatortes bedeutete einen Durchbruch in den Ermittlungen. Dieses Mal hatten sie Glück gehabt. Sie hatten den Platz recht früh ausgemacht.

»Ich denke auch, dass es hier passiert ist. Da sie erst gegen sechs Feierabend hatte, kann sie kaum vor sieben Uhr hier gewesen sein«, dachte Irene laut nach.

Vorsichtig ging sie um den Altglascontainer herum. Plötzlich fiel ihr Blick auf etwas Funkelndes neben dem Zaun. Sie trat näher heran und sah, dass es sich um einen Schlüsselbund handelte. Auf dem emaillierten Anhänger standen die Initialen »I.S.«. Ohne ihn zu berühren, machte Irene Fredrik darauf aufmerksam.

»Jetzt haben wir wirklich mit größter Wahrscheinlich den Ort des Geschehens!«, rief er.

»Er muss einen Wagen gehabt haben, um die Leiche von hier wegzuschaffen. Wohin er sie auch gebracht haben mag. Aber es wird kein Problem gewesen sein, das Auto bis hierher heranzufahren«, setzte Irene ihre Überlegungen fort.

»Auf Reifenspuren würde ich allerdings nicht hoffen«, meinte Fredrik.

Er hatte recht, da der gesamte Parkplatz asphaltiert war. Aber für Spuren blieben die Büsche, in denen der Eimer versteckt worden war, und das Areal um den Altglascontainer, wo der Überfall stattgefunden hatte.

 

Irene betrat Ingelas Wohnung noch einmal allein. Fredrik hatte in der Zwischenzeit ein Auge auf den Eimer und den Tatort, bis die Kriminaltechniker eintrafen. Er wollte vermeiden, dass dort Leute herumliefen, bevor nicht alle Spuren gesichert waren.

Sie streifte sich OP-Mütze, Schuhschutz und Plastikhandschuhe wieder über. Obwohl der Mörder Ingela bei der Recyclingstation angegriffen hatte, konnte es in der Wohnung weitere Spuren geben. Eine wichtige Feststellung war, dass etwas fehlte: die weiße Chrysantheme. Wahrscheinlich hatte Ingela diese zusammen mit der Karte mit den unbegreiflichen Zahlen und Buchstaben weggeworfen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Mülltonnen in der Durchfahrt noch genauer zu durchsuchen. Hoffentlich waren auch diese Mülltonnen seit Dienstag nicht mehr geleert worden.

Ingela Svensson hatte Ordnung gehalten. In Schränken und Schubladen lag alles an seinem Platz, nichts war irgendwie auffällig. In der Speisekammer standen vier Boxweinkartons, drei weiße und ein roter. Eine Flasche Kognak Marke Grönstedt und einige Flaschen Rotwein mittlerer Preislage gab es auch. Daran war nichts weiter auffällig, sah man einmal davon ab, dass der Weinvorrat für eine alleinstehende Frau relativ groß war.

Irene hatte die Hoffnung, etwas von Interesse zu finden, schon fast aufgegeben, als ihr aufffiel, dass es noch einen Mülleimer gab, den sie sich nicht angesehen hatte. Auf dem Badezimmerfußboden stand ein kleiner Treteimer mit einem Deckel aus kupferfarbenem Metall. Irene hob den Deckel an und schaute hinein. Ein paar Pads mit Make-up-Resten, eine ausgedrückte Zahnpastatube und eine leere Toilettenpapierrolle. An der Innenseite des Deckels pappte ein Foto. Sie löste es vorsichtig ab und betrachtete es.

Ingela lächelte und prostete dem Mann zu, der neben ihr auf dem Sofa saß. Die Kerzen spiegelten sich in ihren Augen, und sie wirkte sehr glücklich. Der Mann war ihr zugewandt und saß mit dem Rücken zur Kamera. Er trug ein helles Jackett. Darunter war ein heller Hemdkragen zu erkennen. Sein Haar war bereits leicht gelichtet.

Das Foto war offensichtlich durch Ingelas Wohnzimmerfenster aufgenommen worden. Der Fotograf musste auf der Såggatan gestanden haben. Das Datum in der unteren rechten Ecke verriet, dass das Foto an dem Samstagabend vor jenem Wochenende aufgenommen worden war, an dem der Dackel den in Folie verpackten Leichnam auf dem Westfriedhof gefunden hatte. Und da Ingela zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast zwei Tagen tot war, bedeutete es, dass das Foto fünf Tage vor Ingelas Ermordung aufgenommen worden war.

 

Gegen vier Uhr nachmittags erreichten sie Leif Karlberg. Er erklärte, mit seinem jüngeren Sohn ein Fußballspiel besucht zu haben. Er wirkte, als wisse er nichts von Ingela Svenssons Schicksal. Vielleicht war er aber auch nur ein sehr guter Schauspieler.

»Wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten«, sagte Irene.

»Ach? Und worüber?«

Das Erstaunen in seiner Stimme klang ganz echt. Irene beschloss, es ihm nicht am Telefon zu sagen.

»Haben Sie die Möglichkeit, heute nach Göteborg ins Präsidium zu kommen?«, fragte sie.

»Nein, ich habe die Jungen diese Woche. Leider kann ich nicht weg.«

Irene dachte schnell nach. Es war genauso gut, es hinter sich zu bringen. Je schneller, desto besser.

»Dann kommen wir zu Ihnen«, entschied sie.

Am anderen Ende blieb es recht lange still, dann war Leif Karlbergs Stimme wieder zu hören. Jetzt klang er eindeutig besorgt.

»Ist etwas passiert?«

»Ich erkläre Ihnen alles, wenn wir da sind«, antwortete Irene.

 

Leif Karlberg wohnte im Ortsteil Sandared, von dem weder Fredrik noch Irene genau wussten, wo er lag. Irene war zwei Mal im Tierpark von Borås gewesen, ihre einzigen Besuche in der Textilstadt. Fredrik hatte dort einmal ein Date gehabt, aber weder das Mädchen noch die Stadt hatten einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Aber dank Navigationsgerät fanden sie die angegebene Adresse mühelos.

Irene drückte auf die Klingel neben dem Namensschild »L. Karlberg«. Die Tür wurde geöffnet, noch ehe das Klingeln ganz verklungen war.

»Hallo. Ich habe Sie vom Parkplatz kommen sehen … Kommen Sie rein«, sagte Leif Karlberg.

Wir brauchen gar nicht erst zu versuchen, unauffällig zu wirken, dachte Irene resigniert. Wie immer hatte man ihnen schon von ferne angesehen, dass sie Bullen waren.

Aus dem Melderegister hatten sie einige Informationen über Karlberg: 44 Jahre alt, geschieden, zwei Söhne. Elektriker, eigene Firma zusammen mit dem Bruder. Im Jahr zuvor zwei Monate Führerscheinentzug wegen zu schnellen Fahrens. Keine Vorstrafen.

Der Mann war mittelgroß und hatte einen leichten Bauch. Sein Gesicht war rund, und er hatte freundliche blaugraue Augen und ein nettes Lächeln. Das sandfarbene Haar war oben auf dem Schädel leicht gelichtet. Durchschnittlich war eine passende Beschreibung Leif Karlbergs.

Er führte seine beiden Gäste ins Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. Noch ehe sie das getan hatten, fragte er ängstlich :

»Worum geht es denn? Ich habe meine Eltern, meinen Bruder und sogar meine Exfrau angerufen. Nichts ist vorgefallen, und niemand wusste von was, und …«

»Haben Sie auch Ingela angerufen?«, fiel ihm Fredrik ins Wort.

»Ingela? Nein. Warum?«

Karlberg sah sie nur erstaunt und mit großen Augen an. Er schaute zwischen ihnen hin und her, als sei er Zuschauer beim Tennis.

»Mein Gott … Ingela. Geht es um Ingela? Was ist passiert?«, fragte er.

»Wann hatten Sie zuletzt mit ihr Kontakt?«, fragte Irene ruhig, als hätte sie seine Fragen nicht gehört.

»Am Mitt… nein, am Donnerstag.«

»Haben Sie sie angerufen?«

»Nein, sie hat mich angerufen.«

»Was wollte sie?«

Leif Karlberg holte tief Luft, schluckte und sagte dann:

»Sie hatte ein Foto erhalten. Jemand hatte es in ihren Briefkasten geworfen. Es … aber eigentlich fing es schon am Montag an.«

Er verstummte und schien nachzudenken. Die beiden Beamten sagten nichts, sondern ließen die Stille für sich arbeiten. Nach einer Weile fuhr Karlberg fort:

»Wir hatten uns am vorhergehenden Wochenende getroffen. Ingela wollte, dass ich ihre Schwester und ihren Schwager kennenlerne. Es war sehr nett und … ja, alles sehr nett. Dann rief sie mich am Montag darauf an und bedankte sich für die schöne Blume. Ich war sprachlos. Ich hatte ihr keine Blume geschickt. Ich glaubte erst, das sei eine Spitze oder so, weil ich es eben nicht getan hatte. Aber als sie begriff, dass ich es wirklich nicht gewesen war, fand sie das sehr merkwürdig, denn es hatte sich nur um eine einzelne Blume gehandelt und keinen Blumenstrauß. An der Blume hing auch eine Karte in einem Umschlag, auf den etwas geschrieben war. Sie konnte es aber nicht entziffern.«

Karlberg war bis zur Kante seines Sessels vorgerutscht. Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie und gestikulierte lebhaft, während er sprach. Er schien ihnen alles erzählen zu wollen und gab sich Mühe, sich an alle Einzelheiten zu erinnern. Irene hatte das immer deutlichere Gefühl, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was mit Ingela passiert war.

»Konnte sie sich irgendeinen Reim machen, was das auf der Karte zu bedeuten hatte?«

»Ingela sagte nur, dass es mit Filzstift geschrieben war. Gekritzelt und unleserlich. Sie sagte allerdings auch noch, dass es sich um Zahlen und Buchstaben handelte.«

»Ihr Gespräch über die Blume und die Karte fand also vergangenen Montag statt«, fasste Irene zusammen.

»Ja.«

»Und wann hat sie Sie dann am Donnerstag angerufen?«

»Gegen sieben. Ich kam mit den Jungs gerade vom Training und hatte also nicht so viel Zeit, mit ihr zu sprechen. Die Kinder waren müde und hungrig. Ich stand in der Küche und briet ihnen gerade Pfannkuchen, als mein Handy klingelte.«

»Was sagte sie?«

»Dass sie ein Bild erhalten habe. Ein Foto. Dieses Mal war nichts dazugeschrieben.«

»Sagte sie, was auf dem Foto zu sehen war?«

»Ja … wir. Es zeigte uns. Am Samstag zuvor. Jemand hatte offensichtlich durch ihr Wohnzimmerfenster hindurch eine Aufnahme gemacht. Sie wohnt im Erdgeschoss.«

» Waren ihre Schwester und ihr Schwager ebenfalls auf dem Foto abgebildet?«, fragte Irene, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

»Nein. Nur sie und ich. Sie sagte, wir hätten auf dem Sofa gesessen. «

»Wie hat sie diese Sache aufgefasst?«

»Das müssen Sie sie schon selbst fragen.«

Zum ersten Mal klang er etwas irritiert, aber das konnte auch einfach Nervosität sein.

»Und wie haben Sie reagiert?«, fragte Irene.

» Wie ich reagiert habe? … Ich fand es seltsam. Im Scherz meinte ich, das sei sicher derselbe Typ, der ihr auch die Blume an die Türklinke gehängt habe. Aber da wurde sie richtig sauer. Sie fand die ganze Sache wohl ziemlich unheimlich.«

»Sie waren also am Donnerstagabend beim Fußballtraining und konnten nicht nach Göteborg fahren und sie treffen?«, warf Fredrik ein.

»Genau. Die Jungs sind diese Woche bei mir. Montag ist Wechsel. Ich hole sie vom Hort ab, und dann bleiben sie die ganze Woche bis zum folgenden Montag bei mir. Aber ich will nicht, dass die Jungs Ingela jetzt schon treffen. Sowohl wegen der Kinder als auch wegen Ingela. Sie hat keine eigenen Kinder, und die Jungs müssen sich auch erst einmal an den Gedanken gewöhnen. Obwohl ihre Mutter schon vor unserer Trennung einen neuen Mann hatte, finde ich, dass man Rücksicht auf die Gefühle der Kinder nehmen muss. Später …«

»Arbeiten Sie Vollzeit?«, unterbrach Irene seinen Vortrag.

»Ja, sogar mehr. In den Wochen, in denen die Jungs bei ihrer Mutter sind, arbeite ich fast rund um die Uhr. Da wird es abends sehr spät. Aber wenn sie bei mir sind, höre ich immer pünktlich um halb vier auf, hole sie vom Hort ab und koche. Montag und Donnerstag haben sie Fußballtraining. Ich trainiere die Mannschaft, in der der Jüngere spielt.«

»Wo sind Ihre Söhne jetzt?«, fragte Irene.

»Bei ihrer Großmutter, also bei meiner Mutter. Wir essen heute dort zu Abend, ich habe meine Mutter gebeten, sie vor Ihrem Besuch hier abzuholen. Ich fand es beunruhigend, dass die Polizei mit mir reden will. Jetzt ist mir klar, dass es um Ingela geht. Bitte … was ist passiert?«

Sie sagten es ihm. Seine Reaktion war wohl kaum gespielt. Irene war sich sicher, dass sein Alibi ihrer Überprüfung standhalten werde.

Leif Karlberg hatte Ingela Svensson nicht ermordet.

 

Es war dunkel, als Irene auf ihre Einfahrt einbog. Ihr wurde warm ums Herz, als sie Kristers alten Volvo dort stehen sah. Es war kurz vor acht, und die Aussichten waren gut, dass das Essen schon auf dem Tisch stand. Beim Gedanken an eine warme Mahlzeit wurde sie munter, gleichzeitig merkte sie, wie hungrig sie war. Irene öffnete die Haustür, atmete tief ein und versuchte zu erraten, was ihr Mann Leckeres gekocht hatte.

Nichts.

Sicherheitshalber schnupperte sie noch ein paarmal, aber es roch nur nach etwas Staub und nach dem Schluck Kaffee, der am Morgen in der Kaffeemaschine vergessen worden war. Die Lampe über dem Küchentisch brannte, aber die Küche war leer. Gedeckt war auch nicht. Aus dem Obergeschoss schallte das Fernsehwetter, die Vorhersage für morgen. Irene hängte ihre Jacke auf und ging die Treppe hinauf.

Krister saß schnarchend auf einem der Sessel. Neben ihm auf dem Tisch stand eine geöffnete Dose Bier. Das war alles. Weder ein leerer Teller noch Krümel von einem Butterbrot. Er hatte das Bier einfach direkt aus der Dose getrunken.

Irene trat auf ihn zu und küsste ihn vorsichtig auf die Stirn. Er zuckte zusammen und sah sie schlaftrunken an.

»Krister, mein Lieber, bist du krank?«, fragte Irene und lächelte aufmunternd.

»Krank? Nein. Nur verdammt müde«, antwortete er.

Nach seiner Stimme zu urteilen schlief er fast schon wieder ein.

»Willst du was essen?«, fragte Irene versuchsweise.

»Nein. Nur schlafen.«

Er seufzte und erhob sich langsam von dem Sessel.

Irene wurde nervös. War das wieder das Burn-out-Syndrom? Vor einigen Jahren war er deswegen längere Zeit krank geschrieben gewesen. Seit dieser schlimmen Zeit war er vorsichtiger geworden und arbeitete weniger. Das schien ihm gutzutun, aber jetzt sah er vollkommen erschöpft aus. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er:

»Keine Angst, das ist nicht wieder diese alte Sache. Aber zwei Köche waren dieses Wochenende krank, und Vertretungen gibt es keine. Natürlich war das Restaurant voll. Ich kann mich nicht mehr so abrackern.«

Irene hatte das Gefühl, dass sie darüber reden mussten, wusste aber nicht recht, was sie sagen sollte.

»Krister, Lieber … Ich brate uns ein Omelett. Salat gibt es auch noch, Brot, Käse und ein paar Scheiben Schinken … Ich mache das schnell«, sagte sie.

Er hob die Hand und sah sie an. Ein müdes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Du und ein Omelett braten. Nein danke, ich erledige das. Kümmer du dich um den Rest.«

Irene wusste, dass sie eine fürchterliche Köchin war, aber das war seine Schuld. Er hatte sie verwöhnt. Mit ein paar Schritten war sie bei ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Warm und geborgen und dazu sein Geruch.

»Du bist der Beste«, sagte sie und leckte ihn am Ohrläppchen.

»Pass auf, dass mir nicht die Lust aufs Essen vergeht und ich Lust auf auf etwas ganz anderes bekomme!«

»Eins nach dem anderen. Denk an deinen Hexenschuss«, sagte Irene und küsste ihn auf die Nasenspitze.

Gemeinsam bereiteten sie das Essen zu. Das Omelett mit einer Füllung aus Zwiebeln, Schinken und Tomaten duftete verführerisch. Auf dem Tisch standen ein Tomatensalat mit dünn geschnittenen roten Zwiebeln, ein Stück Brie und getoastetes Brot. Und Irene hatte endlich das Gefühl, dass es in der Küche jetzt duftete, wie es sollte.

Da klingelte das Telefon. Ihr erster Impuls war, nicht dranzugehen, aber dann dachte sie, dass es eine der Töchter sein könnte. Irene stand auf und ging in die Diele, wo das Telefon an der Wand hing.

»Hallo. Hier ist Malin.«

Irene erkannte die Stimme ihrer Nachbarin. Vielleicht wollte sich Viktors Mutter ja für ihr Benehmen vom Vortag entschuldigen ? Bevor Irene noch etwas sagen konnte, fuhr Malin fort:

»Håkan und ich sind eben nach Hause gekommen. Als wir das Auto abgestellt hatten und ins Haus gehen wollten, sahen wir jemanden durch Ihre Gartenpforte kommen. Diese … Gestalt ging in unsere Richtung. Als er oder sie uns jedoch sah, drehte sich die Person auf dem Absatz um und ging rasch in die andere Richtung.«

Was sollte das? Versuchte Malin die Schuld einem Phantom zuzuschieben, das die Gärten der Reihenhäuser unsicher machte, statt Viktor und seine Freunde zur Rede zu stellen? Doch dann besann Irene sich auf ihre Begegnung mit Viktor. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass nicht er ihren Garten verwüstet hatte.

»Wann war das?«

»Gerade eben«, antwortete Malin.

»Ich gehe gleich mal nachsehen. Dann sage ich Ihnen Bescheid«, sagte Irene schnell.

Noch ehe Krister sie fragen konnte, was das für ein Anruf gewesen sei, war sie, ohne sich ihre Jacke anzuziehen, durch die Haustür verschwunden.