Jagdrevier - Helene Tursten - E-Book
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Jagdrevier E-Book

Helene Tursten

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Beschreibung

Die neue Serie der schwedischen Bestsellerautorin!

In einem abgeschiedenen Wald in der Nähe von Göteborg versammelt sich alljährlich im Spätsommer eine Gruppe von Freunden zur Elchjagd. Darunter die 28-jährige Polizistin Embla Nyström, die durch ihren Onkel Nisse zur Jagd gekommen ist. Am Vorabend der Jagd lernt Embla Peter, den charismatischen Neuling der Gruppe, kennen und verliebt sich sofort in ihn. Doch dem Hochgefühl folgt die Angst, denn in den Wäldern ereignen sich seltsame Dinge. Als ein Teilnehmer tot aufgefunden wird und ein anderer spurlos verschwindet, ist Emblas Ehrgeiz geweckt. Mit Hilfe der überregionalen Einheit der Kriminalpolizei, der sie angehört, beginnt sie zu ermitteln. Wer spielt falsch? Wem kann sie noch trauen?

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Zum Buch

In einem abgeschiedenen Wald in der Nähe von Göteborg versammelt sich alljährlich im Spätsommer eine Gruppe von Freunden zur Elchjagd. Darunter die 28-jährige Polizistin Embla Nyström, die durch Ihren Onkel Nisse zur Jagd gekommen ist. Am Vorabend der Jagd lernt Embla Peter, den charismatischen Neuling der Gruppe, kennen und verliebt sich sofort in ihn. Doch dem Hochgefühl folgt die Angst, denn in den Wäldern ereignen sich seltsame Dinge. Als ein Teilnehmer tot gefunden wird und ein anderer spurlos verschwindet, ist Emblas Ehrgeiz geweckt. Mit Hilfe der überregionalen Einheit der Kriminalpolizei, der sie angehört, beginnt sie zu ermitteln. Wer spielt falsch? Wem kann sie noch trauen?

Zur Autorin

HELENE TURSTENwurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin Irene Huss hat in Deutschland eine riesige Fangemeinde und wurde erfolgreich verfilmt. Ihr neuer Kriminalroman »Jagdrevier« ist der erste Fall für die junge Polizistin Embla Nyström. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Ex-Polizisten.

HELENE TURSTEN BEI BTB:

DIE IRENE-HUSS-KRIMIS

Der Novembermörder. Roman

Der zweite Mord. Roman

Die Tätowierung. Roman

Tod im Pfarrhaus. Roman

Der erste Verdacht. Roman

Feuertanz. Roman

Die Tote im Keller. Roman

Das Brandhaus. Roman

Der im Dunkeln wacht. Roman

Im Schutz der Schatten. Roman

DIE EMBLA-NYSTRÖM-SERIE

Jagdrevier. Roman

HELENE TURSTEN

JAGDREVIER

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Jaktmark« bei Kabusa Böcker, Stockholm.

1. Auflage

Genehmigte Taschenbuchausgabe Februar 2016

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Helene Tursten

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Published by agreement with Leonhardt & Hoier Literary Agency A/S, Copenhagen

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © NTB scanpix/Plainpicture; © LilKar/Shutterstock; Zacarias Pereira da Mata/Shutterstock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-15712-8

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Für Hilmer und Cecilia, meine Liebsten

Nach neun harten Runden wurden die Gegnerinnen sichtlich langsamer. Sie schwitzten. Die Boxerin im rot-weißen Trikot versuchte, den Bauch der Kontrahentin in Blau-Gelb zu treffen, doch es gelang ihr nicht, denn diese konterte mit einer Serie kurzer Schläge in Richtung Kopfschutz und wurde dabei vom Publikum frenetisch angefeuert. Der Kampf war ausgeglichen, sein Ausgang bis zuletzt ungewiss.

Dann ertönte der Gong, und die Boxerinnen zogen sich in ihre Ecken zurück. Sie spuckten beide ihren Zahnschutz aus, und die Trainer reichten ihnen frische Handtücher. Sie nahmen ein paar Schlucke, schütteten sich aber das meiste Wasser ins Gesicht, um sich zu erfrischen.

Dann wurden sie wieder aufgerufen und nahmen rechts und links neben dem Ringrichter Aufstellung. Er hielt beide an den Händen, während die drei Punktrichter ihre Wertungen verlasen. Als der Ringrichter den Arm der Siegerin in die Höhe riss, brach ohrenbetäubender Jubel aus, und die Stimme aus dem Lautsprecher ertrank im Beifall.

»Embla Nyström ist neue nordische Meisterin im Halbweltergewicht!«

Die frischgebackene Medaillenträgerin hörte nichts als den Jubel des Publikums, als sie die Arme hob. Im Siegesrausch spürte sie weder Müdigkeit noch Schmerzen. Strahlend stand sie mitten im Ring, und der Applaus brandete über sie hinweg.

Nach einem Blick in ihr Gesicht begann der Trainer, sie vorsichtig in Richtung Umkleide zu lotsen. Sie blutete über einem Auge – die Brauen waren ihre Schwachstelle –, und sie musste mehrmals mit dem Handtuch darüberwischen. Aber das störte sie nicht im Geringsten. Sie war überglücklich.

Geräuschlos brachte die Sekretärin ein kleines Tablett herein und stellte es diskret auf den antiken Mahagonischreibtisch. Daneben legte sie die fein säuberlich gestapelte Post und machte kehrt. Anders von Beehn dankte ihr mit einem kurzen Kopfnicken und konzentrierte sich wieder auf sein Telefonat.

Eine geraume Weile lauschte er der Stimme von der anderen Seite des Atlantiks. Dann richtete er sich auf.

»Yes, I’m looking forward to seeing you in New York, too. Bye-bye.«

Kaum hatte er aufgelegt, erlosch sein Lächeln. Mit Amerikanern Geschäfte zu machen war etwas ganz anderes als mit Europäern. Die Amis gaben sich oft unbeschwert, aber man durfte sich davon nicht täuschen lassen, und nach Jahren in diversen Führungspositionen in der schwedischen Wirtschaft konnte man ihm so leicht nichts mehr vormachen. Nur noch ein paar Monate, dann würde Scandinvest zu den zehn erfolgreichsten schwedischen Familienunternehmen gehören.

Doch erst einmal erwarteten ihn ein paar wohlverdiente freie Tage bei der Elchjagd. Er hatte hart für diesen Kooperationsvertrag gearbeitet, und das einfache Leben in der Jagdhütte war genau, was er jetzt brauchte, um sich zu entspannen und für die Abschlussverhandlung wieder zu Kräften zu kommen.

Nach dem Vormittagskaffee öffnete er wie immer seine persönliche Post. Um die übrige Korrespondenz kümmerte sich seine Sekretärin. Sein Blick fiel auf einen kleinen, gefütterten Umschlag. Vorsichtig nahm er ihn vom Stapel und wog ihn in der Hand. Der Umschlag sah merkwürdig aus, und er befühlte ihn vorsichtig. Er enthielt einen harten Gegenstand.

Sachte legte er ihn zurück auf den Schreibtisch und drückte auf die Gegensprechanlage.

»Wurde der gefütterte Umschlag durchleuchtet?«, fragte er.

»Ja. Er enthält einen Schlüsselanhänger.«

Mit einem Brieföffner riss Anders von Beehn den Umschlag auf und warf einen Blick hinein. Dann zog er einen BMW-Schlüsselanhänger ohne Schlüssel daraus hervor.

Lange starrte er darauf hinab. Was sollte das? War das ein Werbegeschenk? Oder ein Scherz? Aber was sollte daran bitte lustig sein? Im Lauf der Jahre war er diverse BMWs gefahren, aber auch Autos anderer Marken. Im Augenblick besaß die Familie vier Wagen, darunter in der Tat auch einen nagelneuen BMW.

Als er den Umschlag umdrehte und schüttelte, flatterte ein Zettel auf die glänzende Tischplatte. Er überflog ihn – mehrmals –, ohne zu verstehen.

Ich vergesse nicht. M.

M.? Ihm fiel auf, dass sowohl die Adresse als auch der Text auf dem Zettel mit dem Computer geschrieben waren.

Wer war M.? Mit einem Mal stieß ihm der Kaffee sauer auf. M.? Undenkbar! Wollte sich hier jemand einen schlechten Scherz mit ihm erlauben? Ihm Angst einjagen? Wer wusste von M.? Jan-Eric natürlich. Aber so was Lächerliches würde ihm nicht in den Sinn kommen. Außerdem hatte er niemals darüber sprechen wollen. Nein, Jan-Eric war es nicht gewesen. Aber wer dann? Ola. Aber Ola war tot.

Das elektrische Tor glitt langsam hinter dem schweren Motorrad zu. Der Fahrer hielt bei laufendem Motor, öffnete den Briefkasten in der Innenseite der Mauer und schob die Post in seine Motorradjacke, dann fuhr er die frisch angelegte Allee hinauf.

Pfeifend schloss er die Tür auf, die von der Garage ins Haus führte. Zielstrebig steuerte er die Küche oder, genauer gesagt, den Kühlschrank an. Ein paar Flaschen Bier im Whirlpool gehörten inzwischen zu seiner Abendroutine. Wenn er noch die Kraft hatte, schwamm er manchmal sogar noch ein paar Bahnen. Mittlerweile fühlte er sich nach längeren Motorradfahrten immer ein wenig steif. So ist es wohl, wenn man auf die fünfzig zugeht, dachte er und verzog beim Anblick seines Spiegelbilds in der Terrassentür das Gesicht. Mit Geld ließ sich einiges lösen, aber die Zeit konnte man damit nicht aufhalten. Vorsichtig fuhr er sich mit der Hand durch das zunehmend schüttere Haar.

Nein, jetzt bloß keine düsteren Gedanken. Es war Freitagabend. Morgen würde er die Tasche für die Elchjagd packen, und am Nachmittag ging es los nach Dalsland. Auf das traditionelle Jagdessen am Abend freute er sich schon.

Die Küche erstrahlte in Glas, poliertem Porphyr und Stahl. Er warf die Post auf eine der schimmernden Natursteinablagen. Als er die Kühlschranktür aufzog, spiegelte sich das Licht in den Flaschen und Bierdosen. Er nahm ein tschechisches Bier heraus. Wie immer erfüllte ihn bereits das Zischen beim Öffnen mit großem Wohlbehagen.

Dann riss er die Terrassentür sperrangelweit auf, trat hinaus ins Freie und atmete tief die kühle Herbstluft ein. Als er sich gerade ein zweites Bier holen wollte, fiel sein Blick wieder auf die Post. Die konnte er genauso gut gleich öffnen, ehe er mit ein paar weiteren Dosen Bier im Whirlpool abtauchte.

Er nahm ein scharfes japanisches Messer von der Magnethalterung über dem Herd und schlitzte sämtliche Umschläge auf. Einer davon machte ihn stutzig. Ein viereckiges, gefüttertes Kuvert, wie zum Verschicken von CDs. Doch offensichtlich enthielt es keine CD, sondern einen weichen, leichten Gegenstand. Auf dem Adressetikett stand aufgedruckt sein Name: Jan-Eric Cahneborg. Er drehte den Umschlag um. Kein Absender.

Mit einigem Erstaunen zog er ein Stück dünnen schwarzen Stoff aus dem Kuvert. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er erkannte, worum es sich dabei handelte. Ein Halstuch? Ratlos warf er einen Blick in den Umschlag. Darin lag ganz zuunterst ein kleiner Zettel. Mit etwas Mühe gelang es ihm, ihn herauszuziehen. Auch dieser Text war aufgedruckt.

Ich vergesse nicht. M.

Schlagartig rang Jan-Eric Cahneborg nach Luft. Sein Gesicht nahm eine kränklich graue Färbung an, und er musste sich an der Spüle abstützen.

Die weiße Fassade des Gutshofs Dalsnäs verfärbte sich im Sonnenuntergang rosa. Ein klarer, sonniger Herbsttag ging zur Neige. Die Wettervorhersage für die kommenden Tage war vielversprechend. Nachts Minusgrade, tagsüber überwiegend sonnig, aber kalt. Höchsttemperaturen um drei Grad. Solange es nur nicht regnet, dachte sich Anders von Beehn. Es war wichtig, dass die Jagd ein Erfolg würde, und zwar nicht nur im Hinblick auf den deutschen Gast. Volker Heinz war Eigentümer der DEIGI, einer der größten deutschen Investmentgesellschaften und einer von Scandinvests wichtigsten europäischen Partnern. Außerdem bekleidete er eine Schlüsselposition bei den Verhandlungen mit den USA. Er tätigte schon lange Geschäfte mit Amerikanern. Anders von Beehn hatte auch Lennart Folkesson eingeladen, den Chefjuristen von Scandinvest und einen mit allen Wassern gewaschenen Strategen. Gemeinsam würden sie mit Heinz schon fertigwerden.

Kaum eine halbe Stunde später standen drei neue, glänzende Luxuslimousinen auf dem Kiesrondell vor dem Gutshaus. Nicht weit entfernt parkte ein Hummer H3 Alpha. Das aus den Staaten importierte Ungetüm war Anders von Beehns ganzer Stolz: mit Überlänge und für neun Personen zugelassen. Die Rückbank ließ sich umklappen, falls zusätzlich Platz benötigt wurde. Der Motor schluckt Sprit, als wäre der Tank mit einer Schrotflinte durchlöchert worden, pflegte von Beehn zu sagen. Der Koloss glich einem kleinen Panzer, war aber erstaunlich geländegängig, und nur damit konnten die Wege zum Jagdschloss überhaupt befahren werden. Der Hummer wurde nur für Jagdtransporte verwendet und stand die übrige Zeit in der Garage des Gutshofs. Dort parkte jetzt stattdessen ein nagelneuer Jaguar XJR, den von Beehn nur aus Platzgründen dort abgestellt hatte, anstatt auch dieses Auto auf dem Vorplatz zur Schau zu stellen.

Als Letzter brachte Greger Liljon schleudernd seinen neuen Maserati vor der Freitreppe zum Stehen. Seine Position als Geschäftsführer der kleinsten Scandinvest-Tochtergesellschaft hing mittlerweile am seidenen Faden, doch darüber wollte von Beehn den jungen Mann erst nach der Jagd aufklären. Aber vermutlich wusste Liljon es längst selbst. Die letzten Quartalsabschlüsse waren lausig gewesen, oder vielmehr war Greger lausig, vollkommen unbrauchbar, dachte von Beehn, verriet aber mit keiner Regung, was in ihm vorging, sondern nahm seinen Neffen zur Begrüßung in die Arme.

Der Gastgeber führte seine Besucher durch die Empfangshalle und über die breite Treppe hinauf ins Obergeschoss. Durch die weit geöffneten Terrassentüren traten sie ins Freie, um erst einmal den Blick über den See zu bewundern. Die letzten Sonnenstrahlen glitzerten auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche, deren Goldfärbung zum Herbstlaub am Seeufer passte. Hier und dort leuchtete ein knallroter Ahorn.

Wie aus einem Werbeprospekt, dachte von Beehn zufrieden. Lächelnd reichte er jedem seiner Gäste ein Glas Champagner. Als alle ihre Gläser in Händen hielten, sagte er in einwandfreiem Englisch: »Liebe Freunde, herzlich willkommen in Dalsnäs. Auf eine gute Elchjagd. Skål!«

Er hob sein Glas, und die letzten Sonnenstrahlen funkelten in dem geschliffenen Bleikristall. Die anderen folgten seinem Beispiel, hoben ihre Gläser und prosteten einander zu.

Als alle einen Schluck genommen hatten, räusperte sich von Beehn. »Letztes Jahr waren hier noch die drei Musketiere versammelt. Über vierzig Jahre haben Jan-Eric, Ola und ich zusammengehalten. Leider weilt Ola mittlerweile nicht mehr unter uns. Volker, ich will dir kurz erzählen, was passiert ist. Ola kam letztes Jahr nach der Elchjagd auf dem Heimweg nach Oslo bei einem Autounfall ums Leben. Er hat in unseren Freundeskreis eine große Lücke gerissen, die sich nicht wieder schließen lässt. Ich möchte, dass wir auf das Andenken unseres Freundes und Kameraden Ola Forsnaess anstoßen. Seinem Angedenken! Skål!«

Mit ernsten Gesichtern hoben alle von Neuem ihre Gläser. Einige Minuten lang wurde die Unterhaltung gedämpft fortgesetzt. Volker Heinz war der Einzige, der Ola Forsnaess nie begegnet war. Selbstverständlich hatten ihn die bewegten Worte nicht ganz unberührt gelassen; nach einer Weile begann er trotz allem, mit den anderen über das Nächstliegende zu sprechen: die bevorstehende Jagd. Sein Enthusiasmus färbte ab, und eine erwartungsvolle Stimmung breitete sich aus. Als alle ihren Champagner getrunken hatten und die Sonne längst hinter den Bergen verschwunden war, ging man zu Tisch.

Nach dem Essen zogen sich die Herren in die Bibliothek zurück. Das Feuer im offenen Kamin war heruntergebrannt, und Anders von Beehn legte ein paar große Scheite nach, sodass es wieder aufflammte. Der Feuerschein flackerte über die Goldlettern auf den ledernen Buchrücken hinter den Glastüren der Bücherschränke. Satt und zufrieden saßen alle auf den bequemen Chesterfields und tranken achtzehn Jahre alten Whisky. Erstklassig, da waren sich alle einig, nicht zuletzt Jan-Eric Cahneborg, der sich gleich mehrmals nachschenken ließ.

Als Anders von Beehn in die Küche ging, um eine weitere Flasche zu holen, folgte Jan-Eric ihm auf unsicheren Beinen.

»Anders … du … wir müssen … reden.«

Er brachte die Worte nur mühsam heraus und taumelte zur Seite.

»Jetzt nicht, Janne.«

»Es ist wich… wichtig!«

Er klang wirklich verzweifelt. Leicht schwankend blieb er in der großen Küche stehen.

»Ein Stirnband … ein verdammtes … Stirnband … Wer … wer schickt einem denn so was?«, fragte er und hickste.

Von Beehn war schlagartig wieder nüchtern.

»Hast du etwa auch was mit der Post bekommen?«

Wieder verspürte er ein Brennen in der Magengegend. Vor seinem inneren Auge pendelte ein BMW-Schlüsselanhänger hin und her, und ein kleiner Zettel flatterte aus einem gefütterten Briefumschlag.

»Ja … einen Umschlag …«

Mit einer vollen Whiskyflasche in der einen Hand trat von Beehn auf seinen Freund zu, packte ihn mit der anderen Hand am Oberarm und lotste ihn zurück in Richtung Bibliothek.

»Darüber reden wir später«, zischte er ihm ins Ohr.

Der Kies spritzte in alle Richtungen, als Emblas Volvo 245 schlitternd auf dem Hof zum Stehen kam. So fuhr sie immer vor, damit Nisse auch wirklich mitbekam, wer gerade im Anmarsch war. Wenn sie in seinen sonst so ruhigen Alltag einfiel, pflegte ihr Onkel stets entzückt zu rufen: »Hier kommt die Rockerbraut!« Dieses Wort hatte er erstmals benutzt, als sie sich mit fünfzehn das Moped ihres Bruders »ausgeliehen« und damit den ganzen Weg von Göteborg zu ihm zurückgelegt hatte. Unterwegs hatte sie bei einem Cousin in Vänersborg übernachtet. Sonst wäre es nicht zu schaffen gewesen. Noch Tage später hatte ihr der Hintern wehgetan. Für den Heimweg hatte ihr Onkel die Rückbank seines Volvo umgeklappt, das Moped eingeladen und sie nach Göteborg gefahren.

Dasselbe Auto hatte er Embla drei Jahre später zur bestandenen Fahrprüfung geschenkt.

Mittlerweile fuhr sie den Wagen seit zehn Jahren, und er hatte inzwischen fast 290 000 Kilometer auf der Nadel. Sie liebte die Karre, obwohl sie mit der Zeit ein bisschen altersschwach geworden war. Über den unzuverlässigen Tacho und die kaputte Kraftstoffanzeige ärgerte sie sich am meisten. Seit ihr ein paarmal mitten in der Wildnis das Benzin ausgegangen war, nahm sie auf längere Strecken mittlerweile immer einen Reservekanister mit.

Als Embla aus dem Auto stieg, hörte sie Seppo hinter dem Haus laut bellen. Da er nicht auf sie zustürzte, befand der Jämthund sich vermutlich gerade im Hundezwinger.

Die Haustür flog auf, und Nisse kam mit ausgebreiteten Armen und einem breiten Lächeln auf sie zu.

»Hallo, Rockerbraut!«

Er nahm sie stürmisch in die Arme, und sie vergrub die Nase in seinem blau karierten Flanellhemd, das nach Kuhstall und nach Schweiß roch – oder einfach nach Nisse, ihrem geliebten Onkel, der aus demselben Holz geschnitzt war wie ihre Mutter Sonja und sie selbst. Nisse und seine Schwester hatten in jungen Jahren rotes, lockiges Haar gehabt. Inzwischen konnten nur noch Embla und der jüngste ihrer drei Brüder mit der auffallenden Familienhaarfarbe aufwarten. Sonja und Nisse waren grau geworden, außerdem war ihr Onkel inzwischen fast kahl, was ihn aber wenig kümmerte, da er sich ohnehin regelmäßig den Schädel kurzrasierte. Die kurzen Stoppeln standen ihm hervorragend, wie Embla fand.

»Ich sehe, der Veteran läuft immer noch«, sagte er und legte zärtlich seine Hand auf die Kühlerhaube.

»Allerdings, wie ein Uhrwerk!«

Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber er hörte es gern. Der Volvo war sein Augenstern. Er hatte dem Auto auch seinen Namen gegeben, den Embla anfangs blöd gefunden hatte, aber inzwischen selbst verwendete: der Veteran.

»Mach’s dir bequem, dann dusche ich schnell und ziehe mir etwas Ordentliches an. Wir fahren Karin und Björn besuchen«, verkündete Nisse.

Karin war Emblas einzige Cousine, die noch vor Ort wohnte. Obwohl Embla fünf Jahre jünger war, hatten die beiden in den Sommerferien immer viel Zeit miteinander verbracht. Karin hatte ebenfalls Brüder, allerdings zwei ältere. Vielleicht ersetzten sie einander ja die Schwester, die ihnen beiden stets gefehlt hatte.

Nisse war seit fast drei Jahren verwitwet. Ann-Sofie und er waren früher glücklich verheiratet gewesen, hatten aber zu ihrem großen Bedauern nie eigene Kinder bekommen. Doch während der Sommerferien hatten Embla und ihre drei Brüder den Mangel immer gründlich wettgemacht. Und während ihre Brüder als Teenager des Landlebens bald überdrüssig geworden waren, hatte sie es auch Jahre später noch heiß und innig geliebt – teilweise weil sie ihre Brüder dort ganz einfach los war, hauptsächlich aber weil sie sich auf dem Land und auf dem Bauernhof zu Hause fühlte.

Eine Zeit lang hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, selbst Bäuerin zu werden, aber die Schufterei hatte sie am Ende abgeschreckt. Der Hof hatte nicht einmal Nisse und Ann-Sofie ernähren können; er hatte damals zusätzlich im Sägewerk gearbeitet und sie Zeitungen ausgetragen.

Es war Nisse gewesen, der sie auf die Idee mit dem Boxen gebracht hatte. Vor seiner Hochzeit und dem Einzug auf dem Hof war er selbst Bezirksmeister seiner Gewichtsklasse gewesen. Vielleicht war ihm ja aufgefallen, dass sie als Teenager ein Ventil für ihren Frust gebraucht hatte. Aber nicht einmal ihm hatte sie je erzählt, was der wahre Grund dafür gewesen war.

Sie hatte nie jemandem von Lollo erzählt.

Ihr Onkel war es auch, der in dem Sommer, als sie fünfzehn geworden war, gefragt hatte, ob sie mit auf die Pirsch gehen wolle, und ihr Interesse für die Jagd weckte. Sie wollten ein paar räudige Füchse schießen gehen. Natürlich fand sie das wahnsinnig spannend und war sofort dabei. Allerdings entpuppte es sich dann zunächst als nicht annähernd so aufregend wie erhofft. Lange Zeit standen sie einfach nur reglos herum, um dann in irgendeine Richtung weiterzuschleichen, aus der sie eine Bewegung wahrzunehmen oder ein Rascheln zu hören meinten. Von einem Fuchs keine Spur – weder mit noch ohne Räude –, aber Emblas Interesse war nichtsdestotrotz erwacht, und in den folgenden drei Jahren nahm sie als Treiber an der Elchjagd teil. Mit achtzehn legte sie die Jägerprüfung ab und begleitete Nisse fortan mehrmals im Jahr zum Jagen, hauptsächlich im Herbst, wenn ab August das Rotwild und die Wildschweine zur Jagd freigegeben wurden.

Embla packte ihre Sachen aus und hängte ihre Kleider in den winzigen Schrank unter der Dachschräge. Im Gästebad gab es eine Duschkabine, aber sie hatte bereits in Göteborg geduscht, und so genügte ihr eine schnelle Katzenwäsche, Deo und Parfüm. Dann zog sie sich einen hübschen Pullover an. Wimperntusche und Lipgloss würden als Make-up reichen, schließlich war es nur die Jagdgesellschaft, die sich zwanglos am Abend vor der alljährlichen Elchjagd zusammenfand.

Unten in der Diele wartete Nisse bereits auf sie. In seinem frischen weißen Hemd, dem hellblauen Strickpullover, einer hellgrauen Hose und neuen, ebenfalls hellgrauen Lederschuhen hätte er das Cover von King zieren können. Er duftete nach dem Aftershave, das sie ihm im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte.

»Gut siehst du aus! Wie heißt denn die Glückliche?«, fragte Embla fröhlich.

Sein wettergegerbtes Gesicht nahm die Farbe polierten Kupfers an.

»Ach was … na ja … Ingela«, stammelte er.

»Ist nicht wahr! Ingela Franzén?«

»Die Pastorenwitwe? Bist du verrückt? Nein, Ingela Gustavsson vom ICA. Die kennst du doch, oder?«

Es dauerte ein Weilchen, bis sie sich wieder an die Frau erinnerte.

»Blond, ziemlich klein, ein bisschen jünger als du …«

»Ja, genau. Aber wir … Die Leute reden. Du weißt ja, wie das ist …«

Da stand ihr pensionierter Onkel vor ihr und stotterte wie ein schüchterner Teenager, der zum ersten Mal verliebt war. In der Tat rührend, aber auch nicht wahnsinnig verwunderlich. Immerhin waren Ann-Sofie und er seit der Konfirmation ein Paar gewesen.

Embla nahm ihn in die Arme.

»Das ist doch toll!«

Lächelnd reichte sie ihm eine der Bag-in-Boxes, die sie mitgebracht hatte.

»Und jetzt feiern wir ein bisschen und stärken uns für die Jagd. Halali!«

Sie zogen ihre Jacken an und gingen zum Stall, wo Nisses und Ann-Sofies auf Hochglanz polierte Fahrräder standen. Nisse brachte die Räder vor jedem Jagdessen auf Vordermann. Trunkenheit am Steuer war bei ihm tabu, Trunkenheit am Lenker hingegen ließ er gerade noch mal durchgehen.

Karin und Björn Bergström besaßen die größte Küche der Region und waren daher einhellig zu Gastgebern des diesjährigen Jagdessens auserkoren worden, zu dem die Gäste allerdings samt und sonders etwas beisteuerten.

Um den Tisch hatten sich die acht Teilnehmer der Jagd sowie die drei Kinder der Bergströms und Einar und Tobias Lindbergs Frauen versammelt. Embla kannte sie alle – mit einer Ausnahme: Peter Hansson. Gerade erst zugezogen oder, genauer gesagt, zurückgekehrt und neuestes Mitglied der Jagdgesellschaft.

Embla beobachtete ihn unauffällig. Sie wusste, dass er achtunddreißig Jahre alt war, aber er sah jünger aus. Er war groß und athletisch. Es war ihm anzusehen, dass er regelmäßig trainierte. Außerdem wirkte er mit seinen blauen Augen und seinem kräftigen blonden, verhältnismäßig langen Haar erstaunlich attraktiv. Er trug ein dem Anlass angemessenes legeres, dünnes Leinenhemd, dessen oberster Knopf geöffnet war. Ein kleines goldenes Kreuz blitzte unter dem Kragen hervor. Er stellte sich ihr vor und lächelte sie dabei mit strahlend weißen Zähnen an. Bleicht er die?, fragte sie sich unwillkürlich. Ihr entging nicht, dass auch sie ihm zu gefallen schien, und sie war froh, den hübschen Pulli angezogen zu haben. Der Pullover war kobaltblau und so weit ausgeschnitten, dass er nur eine Schulter bedeckte. Die Farbe passe gut zu ihren Augen, hörte sie oft. Darunter trug sie ein dünnes schwarzes Spaghettiträgertop, das ihre neue Tätowierung auf der rechten Schulter offenbarte – einen angriffslustigen, auf den Hinterbeinen stehenden Grizzlybären. Das kleine, kunstvolle Tattoo hatte sie sich während eines Trainingsaufenthalts in Florida stechen lassen.

Sixten Svensson wies gerade darauf hin, dass die Runde aus dreizehn Personen bestehen würde. »Kein gutes Omen«, brummte er und schielte zu Peter Hansson hinüber.

Von Nisse wusste Embla, dass Vater und Sohn Lindberg den Neuling nicht sonderlich sympathisch fanden. Offenbar hatte Einar Lindberg den Hansgården, der Peter Hansson gehörte, für seinen Sohn Tobias erwerben wollen. Dass Peter ihn nach dem Tod seines Vaters nicht verkauft hatte, sondern selbst dort eingezogen war, hatte ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. In den Augen der Lindbergs war Peter offenbar genauso dickköpfig wie sein Vater, und Sixten Svensson schien ihre Ansicht zu teilen. Er war der Jagdleiter und hatte seit jeher das Revier von Peters Vater gepachtet. Sein eigener Grundbesitz fiel recht bescheiden aus. Dass er das Land gerne gekauft hätte, war in der Runde kein Geheimnis. Inzwischen aber hatte auch Peter selbst die Jägerprüfung abgelegt und beschlossen, von seinem Jagdrecht Gebrauch zu machen, wodurch Sixtens Radius beträchtlich geschmälert worden war.

Wie immer war das Buffet reichhaltig und köstlich: Karins Quiche mit Pfifferlingen, verschiedene Käsesorten, frisch gebackenes Brot, Räucherlachs, Dalslandwurst, kaltes, kräutermariniertes Schweinefilet, Tomatensalat, ein nach Knoblauch duftendes Kartoffelgratin und als Nachtisch karamellisierter Apfelkuchen mit Vanillesoße. Emblas Beitrag waren zwei Bag-in-Boxes eines Weins, der vor Kurzem im Aftonbladet empfohlen worden war. Peter Hansson hatte zwei Kästen Bier und eine Flasche O.-P.-Anderson-Aquavit mitgebracht, was ihn doch gleich etwas beliebter machte.

Embla nahm auf dem freien Stuhl neben Peter Platz. Wie alle anderen Anwesenden überlegte auch sie, was ihn wohl zu der Rückkehr nach Dalsland bewogen hatte, und nach einer Weile erkundigte sie sich danach.

»Ich habe eine IT-Firma in Göteborg. Unsere Spezialität ist die Sicherheit von Datentransfers übers Internet – ein Thema, das jedes Unternehmen angeht«, erklärte er.

»Musst du dann nicht in Göteborg wohnen? Ich meine, wegen der Kunden und deiner Mitarbeiter?«

»Ich fahre ein-, zweimal pro Woche in die Stadt, aber das meiste kann ich von zu Hause aus erledigen.«

Dank des guten Essens und der Getränke stieg die Stimmung zusehends. Es wurde viel geredet und gelacht. Niemanden schien zu interessieren, worüber Embla und Peter sich unterhielten.

»Warum bist du hierher zurückgekehrt?«

Womöglich hielt er sie jetzt für neugierig, aber als Polizistin durfte sie das sein, rechtfertigte sie sich.

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete, und sie hörte ihm an, dass er seine Worte sorgfältig wählte.

»Meine Mutter ist an Krebs gestorben … und meine Lebensgefährtin und ich haben uns getrennt. Dann starben auch noch meine Großeltern kurz hintereinander und schließlich auch noch mein Vater. Das war einfach zu viel … eine schwierige Zeit. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mein Leben verändern«, sagte er leise.

Ausnahmsweise wusste Embla nicht recht, was sie erwidern sollte. Nisse hatte ihr erzählt, dass Peters Schwester in jungen Jahren von zu Hause ausgerissen war. Was aus ihr geworden war, wusste angeblich kein Mensch. Und ohne dass sie darüber nachgedacht hätte, platzte es aus Embla heraus: »Und deine Schwester?«

Peter zuckte sichtlich zusammen, und eine Sekunde lang blitzte etwas in seinem Blick auf. Obwohl er sich sofort wieder gefangen hatte, war es ihr nicht entgangen. Vielleicht war ihre Frage wirklich ein wenig indiskret gewesen.

»Wir haben seit Langem keinen Kontakt mehr.«

Es war ihm deutlich anzumerken, dass er das Thema nicht vertiefen wollte. Embla fiel dazu nichts Passendes mehr ein, also schwieg sie.

»Aber ganz einsam bin ich auf dem Hof ja trotzdem nicht. Ich hab vier Rinder, die bald geschlachtet werden, ein paar Hühner und zwei Katzen«, fuhr er fort.

»Du magst also Tiere.«

»Ja. Nächstes Jahr will ich mir einen anständigen Jagdhund zulegen. Und vier neue Rinder.«

Die Schnapsgläser wurden aufgefüllt, sie hoben zu einem Trinklied an, holten sich am Buffet eine weitere Portion und setzten ihr Gespräch miteinander und mit den anderen am Tisch fort. Peter stellte ihr ein paar Fragen, die ihr Privatleben betrafen, und nach einer Weile kam unweigerlich das Thema auf, das alle Leute früher oder später interessierte.

ENDE DER LESEPROBE