Die Tätowierung / Tod im Pfarrhaus (2in1 Bundle) - Helene Tursten - E-Book
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Die Tätowierung / Tod im Pfarrhaus (2in1 Bundle) E-Book

Helene Tursten

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  • Herausgeber: btb Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Band drei und vier mit Irene Huss, der findigen schwedischen Kriminalkommissarin.

„Die Tätowierung“: Eines Morgens im Mai wird am Fjordufer von Göteborg eine grausam verstümmelte männliche Leiche gefunden. Wer ist der Tote? Die Polizei tappt lange im Dunkeln, bis sie über eine ungewöhnliche Tätowierung auf der Achsel des Opfers dem unheimlichen Mörder ein Stück näher kommt. Die Ermittlungen führen Inspektorin Irene Huss schließlich nach Kopenhagen, wo zwei Jahre zuvor eine Prostituierte unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Hat man es mit einem Serienmörder zu tun? Fest steht nur eines: der ungewöhnlich brutale Mörder scheint Irene Huss wie ein Schatten zu folgen ...

„Tod im Pfarrhaus“: Ein neuer Fall für Irene Huss, Kriminalinspektorin aus Göteborg: Drei Leichen geben der Polizei Rätsel auf – ein Pfarrer und seine Frau wurden im Schlaf erschossen, der gemeinsame Sohn liegt tot im Sommerhaus. Hat man es mit einer Familientragödie zu tun? Sind die Täter gar in kirchlichen Kreisen zu suchen? Die Recherchen führen Irene Huss bis nach England – zu einem Abgrund aus verwirrter Liebe und falsch verstandener Solidarität.

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Seitenzahl: 1038

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Die Bücher:

»Die Tätowierung«: Eines Morgens im Mai wird am Fjordufer von Göteborg eine männliche Leiche gefunden. Es handelt sich um einen Torso – Arme, Beine und Kopf wurden abgetrennt, der Körper grausam verstümmelt. Wer ist der Tote? Die Polizei tappt lange im Dunkeln, bis sie über eine seltsame Tätowierung auf der Achsel des Opfers dem unheimlichen Mörder ein Stück näher kommt. Hat man es mit einem gerissenen Serienmörder zu tun? Eine Reihe weiterer grausamer Morde scheint diese Theorie zu bestätigen.

Auf der Suche nach dem offensichtlich außer Kontrolle geratenen Täter steht Irene Huss vor einer Vielzahl von Rätseln: Was verschweigt Tom Tanaka, der ehemalige Sumo-Ringer mit Kontakten zu einigen der Opfer? Ist er das Bindeglied zwischen den Toten? Warum verhalten sich einige ihrer dänischen Kollegen so seltsam bedeckt? Und kann sie überhaupt noch jemandem trauen? Denn längst spürt sie, dass sich der Mörder wie ein Schatten an ihre Fersen geheftet hat …

»Tod im Pfarrhaus«: Drei Leichen geben der Polizei Rätsel auf – ein Pfarrer und seine Frau wurden im Schlaf erschossen, der gemeinsame Sohn liegt tot im Sommerhaus. Hat man es mit einer Familientragödie zu tun? Oder sind die Täter eher unter den Satanisten zu suchen, die im Vorjahr eine kleine Holzkirche ganz in der Nähe niederbrannten? Doch so einfach ist die Sache nicht, wie Kriminalinspektorin Irene Huss bei ihren Befragungen schon bald feststellen muss. Es gibt mehrere Verdächtige, und das sogar in höchsten kirchlichen Kreisen. Ihre Recherchen führen sie schließlich bis nach England – in einen Abgrund aus verwirrter Liebe und falsch verstandener Solidarität …

Die Autorin:

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren und arbeitete lange Jahre als Zahnärztin, ehe sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Mit ihren Kriminalromanen um Inspektorin Irene Huss begeisterte sie Schwedens Kritiker und Publikum auf Anhieb und schrieb sich auch in Deutschland in die Herzen der Krimileser und -leserinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin wurde jetzt erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt. Helene Tursten lebt in Sunne/Värmland und ist verheiratet mit einem Ex-Polizisten.

Helene Tursten

Die TätowierungTod im Pfarrhaus

Band drei und vier der Irene Huss-Krimis in einem Band

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

»Die Tätowierung«

Die schwedische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Tatuerad torso« bei Anamma Böcker, Göteborg

Copyright © 2000 by Helene Tursten

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Aus dem Schwedischen von Holger Wolandt

Covergestaltung: semper smile, München

nach einem Entwurf von Design Team, München

Coverfoto: © Design Team

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

»Tod im Pfarrhaus«

Die schwedische Originalausgabe erschien 2002

unter dem Titel »Glasdjävulen« bei Anamma Böcker, Göteborg

Copyright © 2002 by Helene Tursten Copyright

© der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Published by agreement with Alfabeta Anamma, Göteborg, und Leonhardt & Hoier Literary Agency, Copenhagen

Aus dem Schwedischen von Holger Wolandt

Covergestaltung: semper smile, München

nach einem Entwurf von Design Team, München

Coverfoto: © Wolf Huber

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

RK · Herstellung: Augustin Wiesbeck

978-3-641-31986-1

www.btb-verlag.de

Die Tätowierung

Ich lege Wert auf die Feststellung, dass sich dieses Buch weder in Kopenhagen noch in Göteborg als Reiseführer verwenden lässt. Straßen, Gassen, Plätze und andere Orte benutze ich mit großer künstlerischer Freiheit. Ebenso findet sich keiner der Charaktere in der Wirklichkeit wieder, jedenfalls nicht, soweit ich mir dessen bewusst bin.

Sammie weist es von sich, jemals Mischlingswelpen gezeugt zu haben. Er ist stolzer Vater von neun garantiert reinrassigen Nachkömmlingen.

 

HELENE TURSTEN

Prolog

Durch nichts ließ der Wind auf das Entsetzliche schließen. Im Gegenteil. Für Anfang Mai war die tanggesättigte Meeresbrise, die vom eisigen Wasser herüberwehte, erstaunlich mild. In den niedrigen Wellenkämmen funkelte die Sonne und versuchte so zu tun, als sei der Sommer bereits gekommen. Es war einer dieser ungewöhnlich warmen Frühlingstage, die so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Die Frau mit dem schwarzen Labrador war allein unten am Strand. Der Hund tat, was er konnte, um eine Lachmöwe aufzuscheuchen, die nur wenige Meter über der Wasserfläche ihre Kreise zog und ihrem Namen alle Ehre einlegte.

Schließlich war der Hund die ärgerliche Möwe leid. Unmittelbar am Wasser, bei dem von den Winterstürmen angeschwemmten Treibgut, fand er einen schweren Ast, den er sich schnappte. Er war über einen Meter lang und ließ sich nur schwer in der Schnauze balancieren. Leicht schwankend nahm er Kurs auf seine Besitzerin. Flehenden Blickes legte er ihr den grauen, von Sonne und Salzwasser gebleichten Ast vor die Füße. Sie beugte sich vor und versuchte vergeblich, ein Stück davon abzubrechen. Schließlich gab sie es auf und warf den ganzen Ast unbeholfen und nicht sehr weit, was den Hund nicht weiter störte. Eifrig rannte er los und trug ihn stolz zu ihr zurück, ließ sich loben und kraulen, ließ sein schönes Spielzeug wieder auf den Boden fallen und wartete ungeduldig darauf, dass sie den Ast ein weiteres Mal schleudern würde. Sein glänzendes schwarzes Fell bebte vor ungebändigter Kraft. In dem Moment, in dem sie den Ast erneut über den Kopf schwang, machte er schon einen Satz nach vorne.

Es war ein lustiges Spiel, und der Hund wurde nicht müde, es zu spielen. Dagegen begann die Kraft, die seine Besitzerin in die Würfe legte, bald zu schwinden. Schließlich ging sie zu einem flachen Stein und setzte sich. Mit lauter Stimme sagte sie: »Nein, Allan. Jetzt ist gut. Frauchen muss sich ausruhen.«

Vor Enttäuschung fiel der Hund förmlich in sich zusammen. Der eben noch so stolz wedelnde Schwanz fiel schlapp nach unten. Er stupste ihre Hände noch ein paar Mal mit der Schnauze an, aber sie ließ sie eilig in ihren Jackentaschen verschwinden, drehte das Gesicht zur Sonne und schloss die Augen. Lange saß sie reglos so da.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihn nicht mehr an dem menschenleeren Strand. Beunruhigt stand sie auf und schaute sich in alle Richtungen um. Erleichtert lachte sie schließlich laut auf, als sie seinen Schwanz plötzlich hinter einem großen Felsbrocken entdeckte, der ein Stück weiter draußen im Wasser lag.

Im Sommer spielten die Kinder immer zwischen den drei mächtigen Felsbrocken, die ein kleines, dreieckiges Bassin bildeten. Der eine Winkel des Dreiecks zeigte nach Westen. Die Öffnung aufs Meer zu war eng, nur knapp einen halben Meter breit. Die Kinder schrien immer laut auf vor Entzücken, wenn sich die Wassermassen zwischen den Klippen hindurchpressten und über sie hinwegbrandeten. Es gab nicht viel Platz, aber zehn Kindern gelang es immer, sich zwischen den Steinblöcken zusammenzudrängen.

Jetzt stand das Wasser ungewöhnlich niedrig, und deswegen hatte der Hund es auch gewagt, zu den Klippen hinauszutrotten. Er hatte sich zwischen zwei Felsblöcken hindurchgezwängt und stand jetzt vollkommen unbeweglich da.

»Allan! Bei Fuß!«

Immer wieder rief die Frau, aber vergeblich. Plötzlich verschwand der Hund ganz hinter den Klippen. Unwillig ging sie ans Wasser hinunter, um ihn zurückzulocken. Zögernd blieb sie vor den plätschernden Wellen stehen. Das Wasser war eiskalt.

»Allan! Komm jetzt! Bei Fuß!«

Aber egal, welches Kommando und welchen Tonfall sie auch verwendete – der Hund reagierte nicht.

Wütend streifte sie Schuhe und Strümpfe ab. Leise fluchend krempelte sie die Hosenbeine auf und begann, in das eisige Wasser hinauszuwaten. Glücklicherweise reichte es ihr nur knapp über den Spann. Die Klippenformation lag vielleicht zehn Meter weit im Wasser. Bereits Meter davor bemerkte sie einen schwachen, ekelhaften Geruch. Wütend, wie sie war, nahm sie ihn jedoch erst dann richtig wahr, als sie sich mit großer Mühe zwischen den großen Steinen hindurchgezwängt hatte.

In dem dreieckigen Bassin schwamm ein schwarzer Plastiksack, in den die Möwen Löcher gehackt hatten. Schnell watete die Frau auf den Hund zu und schrie:

»Nein! Allan! Nein!«

Sie packte den Hund im Nacken. Mit wütendem Knurren verteidigte der seine Beute. Unter Einsatz ihrer ganzen Kräfte gelang es der Frau, die Hinterbeine des großen Labradors zu packen und ihn herumzuwerfen. Jetzt ragten seine Beine in den stahlblauen Himmel. Erst da ließ er ab. Jaulend plumpste er ins Wasser. Nur noch sein Kopf ragte über die Oberfläche. Schnell drückte sie ihm eine Hand gegen die Gurgel und hielt mit der anderen die eine Vorderpfote in einem eisernen Griff. Durchdringend starrte sie dem Hund in die Augen, während sie gleichzeitig ein brummendes Geräusch von sich gab. Er knurrte wütend zurück und starrte sie aus rot unterlaufenen Augen an. Schließlich verstummte er und schaute zur Seite, um zu zeigen, dass er aufgab. Langsam ließ sie ihn wieder aufstehen. Mit klammen Fingern leinte sie ihn an. Erst dann warf sie einen Blick auf den durchlöcherten Sack.

Erst hielt sie es für einen Stempel vom Schlachthof. Sekunden später erkannte sie jedoch, dass es sich nur um eine Tätowierung handeln konnte.

Kapitel 1

Einzig Kommissar Sven Andersson, Inspektorin Irene Huss und ihr Kollege Jonny Blom hatten sich an diesem Abend im Zimmer des Kommissars im Polizeipräsidium versammelt. Es war schon fast halb acht. Der Kommissar hielt es für unnötig, sämtliche Inspektoren des Dezernats für Gewaltverbrechen zusammenzutrommeln. Die zwei, die am Tatort gewesen waren, mussten genügen. Die Übrigen würden am nächsten Tag bei der Morgenbesprechung alles erfahren.

Mit ihren dampfenden Kaffeebechern machten sie es sich um den Schreibtisch herum bequem. Ohne weitere Vorrede begann Sven Andersson:

»Was habt ihr rausgekriegt?«

»Die Meldung kam mittags herein. Eine Dame mittleren Alters war am Strand mit ihrem Hund spazieren gegangen…«

Fast schroff unterbrach der Kommissar Jonny:

»Wo am Strand?«

»Bei der Insel Stora Amundön. Eher etwas unterhalb, fast vor der Insel Grundsö. Dort gibt es einen schönen kleinen Sandstrand, der Killevik heißt. Besonders auffallend sind ein paar Felsen, die ein Dreieck bilden. In diesem Dreieck hat der Hund der älteren Dame einen schwarzen Plastiksack gefunden und…«

»Entschuldige, dass ich dich unterbreche, aber die ältere Dame ist auch nur zwei Jahre älter als ich und drei Jahre jünger als du. Außerdem heißt sie Eva Melander. Sie wohnt in Skintebo am Klyfteråsvägen. Nicht weit von Killevik«, sagte Irene Huss.

»Hat sie keinen Job? Ich meine, weil sie mitten in der Woche freihat?«, wollte Andersson wissen.

»Sie ist Kinderkrankenschwester und hatte am Wochenende Dienst. Deswegen hatte sie zwei Tage frei. Gestern blies der Wind zu stark. Da war sie mit dem Hund nicht am Strand, aber heute war ja auf einmal Superwetter. So schönes Wetter hatten wir seit Ostern nicht mehr. Seither hat es doch nur noch gestürmt und geregnet. Wirklich ein fürchterlicher Frühling.«

»Könnten wir aufhören, übers Wetter zu reden, und uns auf das Wesentliche konzentrieren?«, sagte Jonny Blom scharf.

Ehe die beiden anderen noch etwas darauf erwidern konnten, fuhr er fort, wo er unterbrochen worden war:

»Im Sack war ein großes Loch, für das wahrscheinlich die Vögel verantwortlich sind. Offenbar hat der Hund seine Schnauze in dieses Loch gesteckt und die Leiche mit den Zähnen gepackt. Am Ende vom Armstumpf kann man deutlich den Abdruck seiner Zähne erkennen, und das Gewebe ist zerfetzt. Die Arme sind etwa zehn Zentimeter unterhalb der Achseln abgetrennt worden. Auf der rechten Achsel befand sich eine große mehrfarbige Tätowierung. Das ist alles, was wir bislang wissen. Die Pathologie wird uns wahrscheinlich bald mehr über das Leichenteil sagen können.«

»Was heißt Leichenteil? Es gibt also weder Kopf noch Unterleib? «

»Nein. Der Größe nach zu urteilen scheint der Körper in der Mitte geteilt worden zu sein.«

»Ihr wisst nicht, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt?«

Irene und Jonny sahen sich an, ehe Jonny etwas zögernd meinte:

»Nein. Das wissen wir nicht, aber wir haben darüber nachgedacht. Irene und ich haben gesehen, dass dort, wo die Brust hätte sein sollen, nur eine einzige große Wunde ist … Natürlich könnten auch Vögel dort herumgehackt haben, und die Leiche war stark verwest.«

»Verstümmelte Brust. Ein Sexualmord. Das ist wirklich mit das Schlimmste. Und dann müssen wir auch noch nach dem Rest von der Leiche suchen«, meinte der Kommissar düster.

Er stand auf und ging zur Landkarte, die an der Wand hing. Göteborg mit Umgebung, von Kungälv im Norden bis Kungsbacka im Süden, großer Maßstab. Mit dem Zeigefinger folgte er der Küstenlinie von der Hafeneinfahrt Göteborgs bis runter nach Killevik. Dann markierte er den Fundplatz des Sacks mit einer kurzen roten Stecknadel.

Er trat einen Schritt zurück und betrachtete eine Weile nachdenklich die Karte. Schließlich wandte er sich an seine beiden Ermittler und sagte:

»Wir müssen in Erfahrung bringen, wo die Strömungen verlaufen und wie stark sie sind. Vielleicht wäre es auch sinnvoll, herauszufinden, wie das Wetter in letzter Zeit gewesen ist. Wann Sturm war beispielsweise.«

»Stürme? Warum reden wir jetzt schon wieder vom Wetter? «, jammerte Jonny.

»Weil sich eine Leiche, in dem Zustand, wie du sie beschreibst, nicht selbst im seichten Wasser zwischen Steinblöcken zur Ruhe begibt.«

Andersson warf Jonny Blom einen Blick zu, der ebenso schneidend war wie sein Tonfall, und fuhr dann fort:

»Das Leichenteil könnte also auf unterschiedliche Art und Weise dort hingeraten sein. Jemand kann es einfach dort abgelegt haben. Dann stellt sich allerdings die Frage, warum nicht sämtliche Leichenteile an ein und derselben Stelle liegen. Wenn man davon ausgeht, dass sie an unterschiedlichen Orten an der Küste deponiert wurden, müssten andererseits inzwischen noch weitere aufgetaucht sein.«

»Westlich und südwestlich von Killevik liegen eine Reihe unbewohnter Inselchen«, warf Irene ein.

»Genau. Da werden wir morgen alles absuchen lassen. Auch die Strände südlich und nördlich des Fundplatzes. Es könnte natürlich auch sein, dass der Sack recht weit geschwommen ist, da sich bei der Verwesung Gase bilden…«

Der Kommissar unterbrach sich, und Irene bemerkte deutlich, dass ihn eine Woge des Unwohlseins erfasste. Er schluckte, bevor er fortfuhr:

»Der Sack kann, wie gesagt, geschwommen und bei einem Sturm über den Felsblock gespült worden sein. Vielleicht hat der Sack auch ein Loch bekommen, als er gegen die Klippen geschlagen wurde, und ist deswegen nicht wieder aufs offene Meer gespült worden. Deswegen stellt sich auch die Frage, wann es in letzter Zeit richtig gestürmt hat. Das könnte uns einen Anhaltspunkt geben, wie lange der Sack dort gelegen hat.«

Er verstummte und ging die Sache im Geiste noch einmal durch. Die Frage war natürlich, wo die anderen Leichenteile waren.

Und wer das Opfer war.

»Wenn ich heute Abend mit den Journalisten rede, gedenke ich ihnen nur zu sagen, dass wir den Oberkörper eines toten Menschen gefunden haben. Keine weiteren Auskünfte, bis das Ergebnis der Obduktion vorliegt.«

Irene und Jonny nickten. In dieser einleitenden Phase der Ermittlungen hatten sie wirklich nicht viel, womit sie arbeiten konnten. Nicht einmal das Geschlecht des Opfers kannten sie. Es hatte keinen Kopf, keinen Unterleib, keine Arme und keine Beine. Und die Todesursache kannten sie auch nicht.

Kapitel 2

Teil eines zerstückelten Mordopfers an Badeplatz gefunden«, lautete die Überschrift von Göteborgs-Posten. Irene Huss las den Artikel und hatte den Schlaf noch in den Augen. Niemand hatte ihr je den Vorwurf machen können, morgens sonderlich munter zu sein. Jetzt versuchte sie, mit der zweiten Tasse Kaffee etwas Leben in ihre grauen Zellen zu bringen.

Krister kam herein und setzte sich an den Frühstückstisch. Das Poltern auf der Treppe zum Obergeschoss kündigte die Zwillinge an.

»Mordopfer. Niemand weiß bisher, ob es sich um ein Mordopfer handelt«, knurrte Irene.

»Es wird sich wohl kaum um einen Selbstmord handeln«, konterte ihr Mann verräterisch milde.

Er kannte die allmorgendliche schlechte Laune seiner Frau nur allzu gut und wusste genau, wie leicht sie sich provozieren ließ, bevor sie die ersten Tassen Kaffee getrunken hatte. Aber man durfte auch nicht zu weit gehen. Sonst konnte es allen Beteiligten den Tag ruinieren.

»Das kann es durchaus!«, fauchte ihn Irene an.

»Ach? Adieu, du grausame Welt! Jetzt schneide ich mir Arme und Beine und den Kopf noch dazu ab, damit ich mir auch ganz sicher sein kann, wirklich mausetot zu sein!«

Krister machte eine theatralische Geste, legte den Arm über die Augen und hob den anderen mit geballter Faust gen Himmel.

Schlecht gelaunt meinte Irene:

»Es gibt Nekrophile. Die stehlen Leichen…«

Sie unterbrach sich, als sie ihre Töchter in der Tür entdeckte.

»Lauschiges Gesprächsthema habt ihr beiden da zum Frühstück«, meinte Katarina ungerührt.

»Du hast wirklich einen üblen Job, Mama.«

Jennys Kommentar machte Irene zu schaffen. Sie liebte ihre Arbeit und hatte nie etwas anderes als Polizistin werden wollen. Vor allem hatte sie das immer für eine sinnvolle Arbeit gehalten. Gewiss hatte ihr Beruf Schattenseiten, aber irgendjemand musste den Job schließlich machen. Das ließ sich zwei Teenagern, von denen die eine Sängerin »in so einer Band wie den Cardigans« werden wollte und die andere Leiterin von Überlebenstrainings in Dschungeln und entlegenen Gebirgsregionen, nur schlecht vermitteln. Katarina konnte sich allerdings auch vorstellen, für irgendein Reiseprogramm im Fernsehen exotische und entlegene Reiseziele zu erkunden.

Irene nahm einen großen Schluck vom extrastarken Kaffee und stählte sich für den Tag.

 

Bei der Morgenbesprechung informierte Kommissar Andersson das gesamte Team über das wenige, was sie im Fall des Leichenteilfundes bei Killevik in Erfahrung gebracht hatten. Bisher waren keine weiteren Leichenteile mehr aufgetaucht und auch keine weiteren Anhaltspunkte. Ungeduldig wartete Andersson auf den Bericht der Pathologie. Geduld war nicht gerade seine starke Seite.

Außer Irene und Jonny bestand das Team aus drei weiteren Inspektoren.

Birgitta Moberg war neben Irene die einzige Frau, eine grazile Blondine mit wachen braunen Augen, die bedeutend jünger wirkte als ihre dreißig. Viele Männer ließen sich von ihrem liebreizenden Äußeren täuschen, aber zu spaßen war nicht mit ihr.

Ihr Nebenmann war Hannu Rauhala. Sein Stoppelhaar war hellblond, fast weiß. Meist war er einsilbig und sprach leise, aber alle wussten, dass er unglaublich effektiv war, was das Aufspüren von Personen und Recherchen aller Art anging.

Der dritte Inspektor im Team hieß Fredrik Stridh. Obwohl er mit seinen achtundzwanzig Jahren bereits drei Jahre beim Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet hatte, nannten ihn alle immer noch ihren Benjamin. Aber das war durchaus liebevoll gemeint. Seine Kollegen respektierten seine gute Laune und seine Beharrlichkeit. Hatte er einmal die Witterung aufgenommen, ließ er nicht mehr von ihr ab, mochte sie auch noch so schwach sein.

In der Runde fehlte nur Tommy Persson, Irenes Partner und Intimus, seit sie gemeinsam die Polizeihochschule in Ulriksdal bei Stockholm besucht hatten. An diesem Morgen lag er auf einem OP-Tisch im Krankenhaus Ost und ließ sich einen Leistenbruch operieren. Mindestens eine Woche lang würde er der Arbeit fern bleiben müssen. Irene hatte noch am vorgestrigen Abend mit seiner Frau Agneta telefoniert. Mit verschwörerischer Stimme hatte diese ihr anvertraut, dass Tommy überhaupt nicht nervös sei, aber natürlich sein Testament gemacht habe. Im Hintergrund hatte Irene Tommy lautstark protestieren hören. Er hatte seiner Frau fürchterliche Rache geschworen, sollte diese weiter Lügen verbreiten. Agneta war Stationsschwester im Kreiskrankenhaus von Alingsås und für Irene die Person, die einer besten Freundin am nächsten kam. Am nächsten stand ihr Tommy. Er fehlte ihr bereits jetzt.

»Die Wasserwacht bekommt Verstärkung und setzt ihre Suche auf den Inseln und Schären vor Killevik fort. Die Marine stellt uns Taucher zur Verfügung. Mit dem Tauchen beginnen wir in Killevik und erweitern den Radius dann bis zum Askimsfjord. «

Irene wurde von der Stimme des Kommissars aus ihren Gedanken gerissen. Er stand vor der Küstenkarte, und sein Arm beschrieb einen Halbkreis über das hellblaue Wasser. Anderssons Blick wanderte rasch über die Gruppe und blieb dann an Hannu Rauhala hängen.

»Du rufst heute Mittag die Pathologie an und versuchst herauszufinden, wie lange unsere Leiche schon tot ist. Anschließend kannst du dann die Liste der Personen durchgehen, die vermisst gemeldet wurden, als die Leiche noch frisch war.«

Hannu nickte.

Der Kommissar wandte sich an die anderen:

»Alle außer Irene fahren nach Skintebo und gehen dort von Haus zu Haus. Vielleicht sind jemandem irgendwo ähnliche schwarze Säcke aufgefallen oder Personen, die zu einer merkwürdigen Tageszeit schwarze Säcke durch die Gegend geschleppt haben oder Ähnliches, ihr wisst schon.«

Er unterbrach sich, seufzte tief und fuhr dann fort:

»Irene und ich werden versuchen, die Mordsache in Angered zum Abschluss zu bringen. Alle sind verhört, und die Schläger haben ein Geständnis abgelegt, aber heute Vormittag haben wir einen Termin bei der Staatsanwältin, wo wir den ganzen Fall noch einmal durchgehen wollen.«

 

Irene bewunderte Inez Collin außerordentlich. Sie waren etwa gleich alt. Kommissar Andersson seinerseits hatte immer Probleme mit der Staatsanwältin gehabt. Vermutlich, weil sie eine Frau ist, dachte Irene, noch dazu eine gut aussehende, die studiert hat.

Wie immer sah Inez Collin phantastisch aus. An diesem Tag trug sie ein taubengraues Kleid und farblich darauf abgestimmte Schuhe. Die nüchterne Kostümjacke über dem gerade geschnittenen Kleid war etwas dunkler. Das blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der von einer großen silbernen Haarspange gehalten wurde. Lippen und Fingernägel hatten denselben wunderbar hellroten Farbton.

Wie immer war es unkompliziert, mit ihr zusammenzuarbeiten, und kurz vor Mittag waren sie fertig. Andersson hatte es eilig, das Zimmer zu verlassen. Vielleicht hat er Angst, Inez Collin könnte vorschlagen, gemeinsam in die Kantine zu gehen, dachte Irene.

Die Wahrheit war, dass Andersson wissen wollte, ob die Pathologen von sich hatten hören lassen. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, auf den Aufzug zu warten, sondern begann die Treppen hinunterzugehen. Auf dem Weg nach unten bereute er seinen Übermut bereits. Als er in das Stockwerk mit dem Dezernat für Gewaltverbrechen kam, war er hochrot im Gesicht und keuchte wie ein defekter Blasebalg. Langsam schritt er den Korridor entlang und versuchte Puls und Atem unter Kontrolle zu bringen.

Hannu kam gerade aus seinem Zimmer und blieb stehen, als er seinen schwer atmenden Chef sah. Er musterte die roten Flecken auf Anderssons Hals und Wangen, enthielt sich aber wie immer jeglichen Kommentars. Verlegen versuchte der Kommissar das Ganze mit einer scherzhaften Bemerkung abzutun:

»Mit fast sechzig sollte man vielleicht besser nicht mehr mit sportlichen Übungen anfangen.«

Hannu verzog höflich die Mundwinkel, aber eine Andeutung von Unruhe war in seinen eisblauen Augen auszumachen.

»Hast du auf der Pathologie jemanden erreicht?«, wollte Andersson wissen.

»Ja. Frau Professor Stridner lässt ausrichten, dass sie nicht vor zwei Uhr fertig werden.«

Andersson wurde noch röter.

»Zwei! Dauert dieses Fitzelchen etwa länger als das Zerlegen einer ganzen Leiche!«

Hannu zuckte mit den Achseln, ohne sich dazu weiter zu äußern. Andersson holte ein paar Mal tief Luft und hakte nach:

»Weißt du, ob sie in Killevik noch mehr gefunden haben?«

Zur Antwort erhielt er nur ein Kopfschütteln. Der Kommissar sah Hannu irritiert an und verschwand in Richtung seines Büros.

Irene, die gerade den Korridor entlangkam und den letzten Wortwechsel aufgeschnappt hatte, lächelte Hannu zu und sagte mit leiser Stimme:

»Er ist heute etwas aus dem Gleichgewicht. Am Vormittag Inez Collin und anschließend auf einen Bescheid von Yvonne Stridner warten müssen… das ist zu viel für ihn.«

Hannu lachte leise. Wenn es dem Kommissar in Gesellschaft der distanziert-eleganten Staatsanwältin schon unwohl war, dann musste er gegen die Professorin der Pathologie Yvonne Stridner fast schon eine Phobie haben. Sie war eine auffällige Frau mit Ausstrahlung und dazu noch äußerst kompetent. Sie galt als eine der Koryphäen der skandinavischen Pathologie. Alle waren dieser Meinung, vor allem auch sie selbst.

»Tja. Vielleicht sollten wir solange was essen gehen«, meinte Irene.

»Leider bin ich schon verabredet.«

Eine schwache Röte breitete sich auf seinen hohen Wangenknochen aus. Hoppla! Zum ersten Mal in den zwei Jahren, die Hannu jetzt schon bei ihnen war, ließ er so etwas wie Gefühle erkennen. Irene malte sich sofort ein romantisches Tête-à-tête mit einer Unbekannten aus. Oder vielleicht mit einem Mann? Eigentlich hatte sie keine Ahnung, ob Hannu mit jemandem zusammenlebte, ob er verheiratet oder ein Single war.

Sie kam fast um vor Neugierde, wusste aber, dass ihr Hannu nichts verraten würde. Vielleicht sollte sie eine interne Ermittlung in Gang setzen? Ein hässlicher Gedanke, aber gerade deshalb äußerst verlockend. Ohne mit einer Miene erkennen zu geben, was sie dachte, meinte Irene leichthin:

»Schade. Für mich, meine ich. Dann bis um zwei.«

Das Ganze war fast zu einfach. Irene hörte, wie Hannu seine Tür schloss und den Korridor entlangeilte. Sie stellte sich hinter das Fenster ihres Zimmers. Hannu verließ das Präsidium und ging quer über den Parkplatz. Zielstrebig hielt er auf einen kleinen, klapprigen VW Golf zu. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

Dieses Auto erkannte Irene problemlos. Nur noch wenige Exemplare aus den Achtzigerjahren rollten auf Göteborgs Straßen umher, und Kriminalinspektorin Birgitta Moberg besaß eines von ihnen. Sie hütete den Wagen wie ihren Augapfel, und es wäre ihr nie eingefallen, ihn auszuleihen. Mit größter Sicherheit saß also Birgitta selbst am Steuer.

 

»Was fällt ihr ein! Immer noch nicht fertig? Jetzt ist es schon zwei, und sie hatte den ganzen Tag Zeit!«

Kommissar Andersson war außer sich, als die Nachricht aus der Pathologie kam. Irene hatte das Gespräch entgegengenommen und ihren Chef informiert. Er sah Irene wütend und vorwurfsvoll an. Sie nahm es gelassen, da sie wusste, dass dieser Blick Frau Professor Stridner galt.

Andersson ging zum Fenster und sah durch die schmutzige Scheibe auf den Ernst Fontells Plats. Seinem leisen Gemurmel entnahm Irene, dass er nachdachte. Nach einer Weile drehte er sich um und sagte:

»Wir fahren zur Pathologie. Irgendwas muss die Stridner schließlich zu sagen haben! Dann geht’s weiter nach Killevik. Ich will die Fundstelle sehen.«

 

Immer wenn er das Gebäude der Pathologie betrat, überkam Andersson ein großes Unbehagen. Irene wusste das. Sie sah es ihm auch an, tat aber so, als bemerke sie es nicht. Dass der blonde Bodybuilder, der dort als Pförtner arbeitete, ihnen mitteilte, die Frau Professor sei im Obduktionssaal, machte das Ganze nicht besser. Auch er wusste, dass der Kommissar Obduktionen verabscheute, und warf ihm ein charmantes, aber gerade deswegen provozierendes Lächeln zu. Seine strahlend weißen Zähne kontrastierten mit seiner sonnengebräunten Haut. Mit seinem Pferdeschwanz wirkte er in dieser Umgebung vollkommen fehl am Platz, aber er arbeitete schon seit vielen Jahren auf der Pathologie. Irene kannte nur seinen Vornamen, Sebastian, der auch auf seinem Namensschild stand.

Der Geruch war das Schlimmste. War man ihm täglich ausgesetzt, gewöhnte man sich vielleicht daran, dachte Irene. Aber wenn man wie sie und der Kommissar die Räume nur ab und zu betrat, machte er einem immer von neuem zu schaffen.

Andersson blieb vor der Tür stehen. Zu ihrem Erstaunen stellte Irene fest, dass er sie vor sich herschob. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als bis zu dem Stahltisch weiterzugehen, an dem Yvonne Stridner gerade den aufgefundenen Brustkorb sezierte.

Sie schaute über die Oberkante ihrer Lupenbrille und runzelte verärgert die Stirn.

»Was wollen Sie denn hier?«, fragte sie scharf.

Da der Kommissar nichts sagte, fühlte sich Irene aufgefordert, zu antworten.

»Wir fragen uns, ob Sie nicht vielleicht doch etwas … Brauchbares herausgefunden haben?«

Stridner schnaubte verächtlich.

»Wenn ich fertig bin, sage ich Ihnen Bescheid.«

»Wissen Sie schon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt?«

»Nein, aber der Pectoralis major, also der große Brustmuskel, ist auf beiden Seiten fast vollständig entfernt worden. Was seltsam ist.«

»Inwiefern ist das seltsam?«, erdreistete sich Andersson zu fragen.

»Die Verstümmelung von Brüsten beschränkt sich meist auf das Drüsen- und Fettgewebe. Aber hier ist jemand ganz weit nach unten gegangen und hat den gesamten Muskel entfernt. Ich kann also nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Der Schnitt beschreibt eine Ellipse von elf mal siebzehn Zentimetern. Höchstwahrscheinlich haben wir es tatsächlich mit den Brüsten einer Frau zu tun, die dort entfernt worden sind. Aber um das abschließend beurteilen zu können, bedarf es noch einiger eingehenderer Untersuchungen…«

»Und die Todesursache?«

»Unmöglich zu sagen. Der Kopf, findet man ihn, gibt einem vielleicht einen Anhaltspunkt. In ähnlichen Fällen wurde das Opfer meist erdrosselt.«

»Sehen Sie auf dem Hals irgendwelche Abdrücke?«

»Es gibt keinen Hals, auf dem ich irgendwelche Abdrücke sehen könnte. Der Kopf ist oberhalb des siebten Halswirbels abgetrennt worden. Alle inneren Organe wurden entfernt. Keine Lungen, kein Herz, keine anderen inneren Organe. Der Brustkorb ist bis zum Halsansatz geöffnet. Das gesamte Sternum, also das Brustbein, ist aufgesägt.«

»Wie lange hat die Leiche … oder das Leichenteil … in dem Sack gelegen?«

»Diese Frage lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Nach dem Grad der Verwesung zu urteilen kann es sich um zwei bis vier Monate handeln. Den ganzen Februar und März war es sehr kalt, und das spielt natürlich auch eine Rolle. Und seit April ist es nie länger warm gewesen. Wir haben die üblichen Proben entnommen, werden sie natürlich auch toxikologisch überprüfen lassen. In ein paar Tagen haben wir die Befunde und können dann in dieser Frage näher Auskunft geben.«

Irene hörte, sich der Kommissar bereits hinter ihrem Rücken auf den Ausgang zubewegte. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft. Irgendwas hatte sie doch noch fragen wollen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein:

»Die Tätowierung. Kann man erkennen, um was es sich dabei eigentlich handelt?«, fragte sie.

»Ja. Es sieht aus wie ein auf dem Kopf stehendes schmales Y mit einem Querstrich an der Gabelung und einem weiteren Querstrich etwas weiter oberhalb. Ich finde, dass es wie ein chinesisches Schriftzeichen wirkt. Um dieses Zeichen herum windet sich ein Drache, der sich selbst in den Schwanz beißt. Eine sehr hübsche Tätowierung. In der Tat ein richtiges Kunstwerk, außerdem mehrfarbig. Sehen Sie selbst.«

Stridner drehte den lappigen grau-grünen Brustkorb herum, damit Irene die Tätowierung erkennen konnte. Schon möglich, dass sie sehr schön war, aber Irene hatte plötzlich wenig Sinn dafür. Sie tat so, als würde sie das Kunstwerk eingehend betrachten, bedankte sich und verließ den Obduktionssaal eiligst. Andersson wartete bereits vor der Tür.

 

Sie fuhren auf dem Länsväg 158 und bogen bei Järnbrott Richtung Särö ab. Erst als sie bei Brottkärr wiederum abzweigten, jetzt nach Skintebo, brach Irene das Schweigen.

»Ich finde schon, dass wir einiges erfahren haben.«

Der Kommissar murmelte etwas vor sich hin. Irene fand, dass es wie »viel zu viel« klang, aber sie war sich nicht ganz sicher.

»Sollen wir heute Abend die bisherigen Erkenntnisse durchgehen? «, fragte sie, mehr um das Gesprächsthema zu wechseln.

»Nein. Da brennt nichts an. Wir warten damit bis zur Morgenbesprechung. «

Irene fuhr am Park von Billdal vorbei und bog nach einer Weile auf dem schmalen Weg hinunter nach Killevik ab. Von hier aus konnte man bereits das Boot sehen, von dem aus die Taucher der Marine im Einsatz waren. Träge schaukelte es in dem leichten Seegang vor ein paar kleineren, ein paar hundert Meter vom Ufer entfernten Schären. Blau-weiße Flaggen markierten das Gebiet, das die Taucher gerade absuchten. In der Ferne konnte man das Boot der Wasserwacht dröhnen hören, von dem aus die unzähligen Inseln und Inselchen abgesucht wurden.

»Wo stecken denn alle unsere Leute?«, wollte Andersson wissen.

»Wahrscheinlich sind sie damit beschäftigt, von Haus zu Haus zu gehen«, antwortete Irene.

Andersson murmelte etwas, das sie nicht verstand. Er zog sein Handy hervor und begann dann in seinen Taschen zu wühlen. Schließlich hatte er offenbar das Gesuchte gefunden, denn seine Stimmung hob sich sichtlich, als er den zerknitterten Zettel glättete. Irene konnte mit Mühe das mit rotem Filzstift geschriebene Wort »Wasserwacht« ausmachen. Darunter stand eine Telefonnummer, die Andersson jetzt wählte.

»Hallo. Hier Andersson. Habt ihr was gefunden?«

Seine Miene verdüsterte sich, als die Person am anderen Ende antwortete.

»Nein, nein. Die Taucher auch nicht …? Nein, nein.«

Die Enttäuschung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Lasst von euch hören… ich meine… falls ihr was findet. Schön. Vielen Dank.«

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er sein Handy wieder einsteckte, aber Irene kannte ihren Chef viel zu gut, um sich täuschen zu lassen.

Andersson lehnte sich gegen die Windschutzscheibe und starrte düster auf die drei Felsblöcke. Lange saß er so da und fixierte die Steine im Wasser. Die Sonne verbarg sich hinter dünnen grauen Wolkenschleiern, aber einzelne Strahlen brachen durch und überzogen die Wogen mit einem silbernen Schimmer. Tief kreisten die Möwen über dem Wasser und reflektierten das Licht magnesiumweiß. Andersson verschwendete keinen Blick auf die Schönheit um sich herum, sondern saß in Gedanken versunken da. Irene sagte nichts, sondern wartete darauf, dass er das Schweigen brechen würde.

»Wie zum Teufel ist der Sack nur dort hingekommen?«

»Ich glaube an deine Theorie, dass er bei einem Sturm zwischen die Steine gespült worden ist. Sonst hätten wir noch weitere Säcke an derselben Stelle oder in der Nähe gefunden.«

»Wo kam er her?«

Irene zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung. Vielleicht von einer der Inseln.«

»Hm. Styrsö liegt direkt vor der Küste. Donsö auch. Aber ich habe keine Ahnung, wie die Strömung verläuft. Vielleicht kam der Sack auch von der Vrångö. Wir müssen uns das mit den Strömungen genauer anschauen. Obwohl so ein Sack wahrscheinlich nicht sehr weit treibt.«

Irene nickte.

»Ich überprüfe das.«

Es kam ihr ein Gedanke.

»Ich werde Birgitta fragen, ob sie eine Seekarte hat. Sie segelt ziemlich viel.«

»Es ist schon fast halb fünf. Ich fahre dich nach Hause. Oder bist du heute mit dem Auto da?«, wollte Andersson wissen.

»Nein. Heute hat Krister den Wagen. Er ist erst nach Mitternacht fertig.«

Zwei Autos konnten sie sich nicht leisten. Ihr System funktionierte leidlich. Der Wagen stand immer auf dem Parkplatz hinter dem Präsidium, und der war nur fünf Minuten vom Szenerestaurant Glady’s Corner entfernt. Hier arbeitete Krister als Küchenchef. Wer von ihnen morgens zuerst mit der Arbeit begann, meist Irene, fuhr mit dem Auto. Wenn sie zusammen loskonnten, taten sie das. Wer zuletzt aufhörte, fuhr mit dem Wagen nach Hause. Dankbar nahm sie deshalb jetzt Anderssons Angebot an. Der Gedanke, im überfüllten Bus sitzen zu müssen, war alles andere als verlockend.

 

Sie fuhren auf dem Länsväg 158 durch die zartgrüne Natur zurück. Obwohl einige Gebiete dicht mit Einfamilien- und Reihenhäusern bebaut waren, war es in anderen Gegenden immer noch sehr idyllisch. Irene unterließ es tunlichst, ihre Begeisterung zu zeigen, da sie wusste, dass ihr Chef im Augenblick nichts für die Schönheiten der Natur übrig hatte.

»Zerstückelte Leichen sind ungewöhnlich. Jetzt bin ich seit fast fünfundzwanzig Jahren bei der Kriminalpolizei, und in dieser Zeit hat es nur drei oder vier solcher Fälle gegeben. Ich habe nur in einem davon ermittelt. Das hier ist der zweite«, sagte er plötzlich.

»Wer war damals das Opfer?«

»Eine Prostituierte, Drogenmilieu. Das sind die, denen am ehesten so was zustößt. Irgendwie haben die Psychopathen es immer auf sie abgesehen. Vermutlich eine Art Berufsrisiko. Ist man Schlangenbeschwörer, muss man halt damit rechnen, irgendwann mal gebissen zu werden.«

»Diese Frauen sind wirklich sehr verletzbar.«

Andersson brummte zustimmend. Irene fragte weiter:

»War diese Leiche auch aufgeschlitzt und ausgeweidet worden? «

»Nee. Es war so ein gestörter Typ, der sie nach einem extrawilden Sexspiel in seiner Wohnung getötet hatte. Er wusste nicht, wie er die Leiche loswerden sollte, und geriet in Panik. Also hat er sie in der Badewanne zerstückelt und die Teile in drei große Reisetaschen gestopft. Dann hat er die Reisetaschen in einen großen Container auf einer Baustelle in der Nähe geworfen. «

»Hat es lange gedauert, bis ihr ihn gefunden habt?«

»Vier Tage. Nach dem Mord hat er sich sinnlos betrunken. Irgendwann stand er dann auf seinem Balkon und hat geschrien: ›Ich hab sie zerstückelt! Ich war’s!‹ Nachdem er das eine Stunde lang geschrien hatte, waren es die Nachbarn leid und riefen uns an. Wir mussten dann nur noch hinfahren und ihn mitnehmen. Er hatte das Badezimmer nicht einmal ordentlich gewischt, und die Kleider der Schönen lagen auch noch auf dem Fußboden!«

Andersson musste bei dem Gedanken daran immer noch lachen.

»Aber das hier ist etwas anderes. Viel schlimmer«, sagte er und war sofort wieder ernst.

»Wie meinst du das?«

»Einen Menschen zu töten und dann die Leiche systematisch auszuweiden wie ein… Brathähnchen. Das ist ziemlich krank!«

»Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber schließlich wissen wir noch nicht, was eigentlich passiert ist. Ob es sich um einen Mord handelt oder um einen Nekrophilen, der einen Toten geklaut und zerstückelt hat, um sich daran aufzugeilen…«

Irene unterbrach sich, als sie merkte, dass Andersson stöhnte.

»Pfui Teufel. Pfui Teufel!«, sagte er mit Nachdruck.

Irene nickte und beschloss, das Thema auf sich beruhen zu lassen. Obwohl sie und ihr Chef seit vielen Jahren mit Morden und Mördern zu tun hatten, gab es Dinge, die schlimmer waren als andere.

 

Aus bloßem Zufall hatte Irene vor einigen Wochen eine Anzeige in der Göteborgs-Posten entdeckt: »Willkommen im Friseurcenter am Frölunda Torg! Jetzt haben wir auch Mittwoch- und Donnerstagabend bis 20 Uhr geöffnet!« Sofort hatte sie sich ans Telefon gehängt und einen Termin vereinbart. Endlich eine Friseuse, die begriff, wann die Kundschaft Zeit hatte, sich die Haare schneiden zu lassen! Sie hatte einen Termin um halb sieben bekommen, was ihr sehr gut passte. Da konnte sie vorher noch eine Runde mit Sammie drehen.

Die Zwillinge waren direkt nach der Schule wieder ausgeflogen. Jenny war sehr musikalisch und spielte Gitarre und Flöte. Außerdem sang sie in zwei Chören. Heute war der Flötenunterricht an der Reihe. Von Katarina glaubten alle, dass sie die schwedische Juniorenmeisterschaft im Jiu-Jitsu gewinnen würde, da sie bereits im Vorjahr auf dem Siegertreppchen gestanden hatte. Irene selbst war vor bald zwanzig Jahren Europameisterin in diesem Sport gewesen. Damals war sie die einzige Frau Skandinaviens mit einem schwarzen Gürtel, dritter Dan.

Sammie wartete bereits hinter der Tür und sprang freudig an ihr hoch. Das ist der Vorteil von einem Hund, dachte Irene. Er ist immer gleich glücklich, egal wann man nach Hause kommt.

Sie hatte noch kaum die Jacke ausgezogen, als das Telefon klingelte.

»Irene Huss.«

»Hallo, Irene. Hier ist Monika Lind. Erinnerst du dich?«

Es dauerte eine Weile, bis bei Irene der Groschen fiel, aber schließlich erinnerte sie sich.

»Natürlich. Wir waren doch jahrelang Nachbarn. Aber seid ihr nicht vor vier oder fünf Jahren nach Trollhättan umgezogen? «

»Nach Vänersborg. Vor fünf Jahren.«

Monika Linds Tochter Isabell war ein Jahr älter als die Zwillinge. Die Mädchen hatten viel miteinander gespielt, als sie kleiner gewesen waren, aber als Familie Lind weggezogen war und auch noch bis nach Vänersborg, war der Kontakt immer spärlicher geworden und zum Schluss ganz eingeschlafen. Irene fragte sich, was ihre ehemalige Nachbarin wohl von ihr wollte.

»Es geht um Isabell. Die Polizei kümmert sich nicht. Ich musste einfach mit einer vernünftigen Polizistin sprechen!«

Bei diesem letzten Satz brach Monikas Stimme. Zu ihrem Entsetzen hörte Irene, wie sie anfing zu schluchzen. Irene versuchte es mit einem beruhigenden Tonfall:

»Was ist passiert? Hat Isabell Probleme mit der Polizei?«

»Nein, sie ist weg! Verschwunden! Ich habe nach ihr gesucht … aber niemanden kümmert das!«

Wieder war lautes Schluchzen zu hören.

»Monika, bitte. Versuch, von vorne anzufangen.«

Eine Weile war es still. Offensichtlich bemühte sich Monika Lind um Fassung. Mit zitternder Stimme begann sie dann zu erzählen:

»Letzten Herbst besuchte Isabell die zweite Oberstufenklasse, das sozialkundliche Programm. Aber es gefiel ihr nicht. Sie hatte die ganze Zeit Probleme, sich auf dem Gymnasium zurechtzufinden. Dann gewann sie letzten Sommer in einem Schönheitswettbewerb, und danach wollte sie nur noch eins … Fotomodell werden. Ein Fotograf hier in der Stadt machte sehr schöne Aufnahmen von ihr, die ein Vermögen kosteten… aber schließlich wollte sie es so gerne.«

Monika Lind verstummte erneut. Irene konnte ihre Atemzüge hören. Offensichtlich kostete es sie große Überwindung, das alles zu erzählen.

»Weihnachten ging dann gar nichts mehr. Sie weigerte sich, weiter aufs Gymnasium zu gehen. Sagte, sie hätte die falsche Fächerkombination gewählt. Sie wollte im Herbst mit dem Medienprogramm anfangen. Und dann ist sie in Kontakt zu dieser Modellagentur in Kopenhagen gekommen.«

»Wie?«, warf Irene ein.

»Über eine Anzeige. Es wurden schwedische Mädchen gesucht, die bereit waren, in Kopenhagen zu arbeiten.«

»Wie hieß die Agentur?«

»Scandinavian Models. Sie verhandelte mit einer Fotografin, die Jytte Pedersen heißt. Ich habe zweimal mit ihr gesprochen, ehe Bell gefahren ist. Die Agentur kümmerte sich um die Fahrkarten, die Wohnung und…«

Monikas Stimme brach erneut. Sie schluchzte verzweifelt.

»Hatte sie in Kopenhagen eine eigene Wohnung?«

»Nein. Sie teilte sich eine mit zwei anderen Mädchen. Einer aus Oslo, die Linn heißt, und einer aus Malmö, einer gewissen Petra.«

»Wo liegt die Wohnung? In welchem Stadtteil von Kopenhagen? «

Irene war nur einmal in ihrem Leben in der dänischen Hauptstadt gewesen. Im letzten Jahr des Gymnasiums. Wahrscheinlich wegen des guten und billigen dänischen Biers und der fehlenden wachsamen Augen irgendwelcher Eltern waren ihre Erinnerungen daran nur noch verschwommen.

»Sie liegt direkt am Freihafen. Die Straße heißt Østbanegade. «

»Hast du sie dort nie besucht?«

»Nein. Doch. Wie man’s nimmt … Ich wollte in den Ferien im Februar hinfahren. Ein Nachteil des Lehrerberufs ist, dass man sich an die Schulferien halten muss. Mein Mann versprach, sich um Elin zu kümmern… Du erinnerst dich vielleicht, dass ich schwanger war, als wir nach Vänersborg gezogen sind. Isabell hat eine kleine Schwester, die jetzt auch schon fast fünf ist. Genauer gesagt ist sie ihre Halbschwester. Aber dann wollte Bell nicht, dass ich komme, da sie gerade die Wohnung renovierten. Dann wollte ich Ostern fahren, aber da sagte sie dann, sie hätte so viel Arbeit. Sie wollte nach London, weil dort Aufnahmen gemacht werden sollten und was weiß ich nicht alles. Ich… ich hatte das immer deutlichere Gefühl, dass sie gar nicht wollte, dass ich komme. Die Mädchen hatten kein Telefon in der Wohnung, sondern Bell rief immer bei uns an. Ich schrieb ihr mindestens einmal in der Woche.«

»Wie oft hat sie angerufen?«

»Meist einmal die Woche. Gelegentlich vergingen auch mal zehn Tage zwischen den Anrufen.«

»Wann hast du zuletzt von ihr gehört?«

»An einem Abend Mitte März. Janne war am Apparat. Ich hatte Elternabend.«

»Was hat sie gesagt?«

»Nicht viel. Wie gesagt war Janne am Apparat.«

»Wie ist das Verhältnis von Isabell und deinem Mann?«

Ein deutlicher Seufzer war am anderen Ende zu hören.

»Wie du weißt, gab es bereits Probleme, als wir noch in Fiskebäck wohnten. Als Janne und ich uns kennen lernten, war Bell elf Jahre alt. Da der Kontakt zu ihrem Vater seit der Scheidung schlecht war, war ich mit ihr fünf Jahre lang praktisch allein gewesen. Und jetzt drängte sich Janne dazwischen. Du erinnerst dich doch vermutlich noch an alle die Male, die sie zu euch ausgerissen ist? Ihr durftet nicht erzählen, wo sie steckt. Sie wollte, dass ich mir Sorgen mache.«

»Kann es jetzt nicht auch wieder so was sein? Sie geht dir aus dem Weg, damit du dir Sorgen machst …«

»Genau davon will mich die Polizei in Schweden und auch in Dänemark die ganze Zeit überzeugen! Sie wollen nicht glauben, dass es sie nicht mehr gibt!«

»Es sie nicht mehr gibt? Was meinst du damit?«

»Es gibt sie nicht mehr in Kopenhagen! Der ganze April verging, ohne dass ich auch nur einen einzigen Ton von ihr gehört hätte. Am Donnerstag vor dem ersten Mai habe ich mir dann freigenommen und bin nach Kopenhagen gefahren. Erst einmal zu Bells Adresse. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein verkommenes Haus das war! Ein großes, schmutziges Mietshaus am südlichen Freihafen. Ich ging das Treppenhaus hoch, aber nirgendwo war eine Wohnung, in der drei junge Mädchen wohnten. Natürlich habe ich überall geklingelt und bei den Nachbarn nachgefragt. Niemand hatte die drei Mädchen je gesehen oder überhaupt von ihnen gehört.«

Monika machte eine kurze Pause.

»Ich besorgte mir ein Telefonbuch und begann nach Modellagenturen und Fotografen zu suchen. Eine Agentur mit dem Namen Scandinavian Models gibt es nicht und eine Fotografin namens Jytte Pedersen auch nicht. Dann klapperte ich alle Fotografen und Agenturen ab, die es gab. Ich hatte ein Bild von Bell dabei, das ich allen zeigte. Keiner der Fotografen hatte sie je gesehen. Und dann kam das Wochenende, und ich fuhr nach Hause. Aber vorher zeigte ich Bells Verschwinden noch bei der dänischen Polizei an.«

Sie hatte erneut Mühe zu sprechen, und Irene musste lange warten. In der Zwischenzeit machte sie sich auf dem Block, der neben dem Telefon hing, Notizen.

Monika schniefte und fuhr dann mit zitternder Stimme fort:

»Sie haben mich… fast verhöhnt! Sie fanden es überhaupt nicht beunruhigend, dass eine Siebzehnjährige in Kopenhagen verschwindet. So was passiere jeden Tag, sagten sie. Junge Mädchen verschwinden, weil sie was erleben wollen in der Großstadt. Offenbar ist das ganz normal! Sie sagten, dass die Polizei nicht mehr machen könne, als eine Vermisstenanzeige aufzunehmen und zu warten, ob sie in irgendeinem Zusammenhang wieder auftaucht. Fast hätten sie mir ins Gesicht gesagt, dass sie nicht die Absicht haben, überhaupt etwas zu unternehmen!«

Was sollen sie schon tun? Streifen losschicken, um Isabell aus Vänersborg zu suchen?, dachte sich Irene im Stillen. Sie war aber lieber ruhig. Es auszusprechen wäre nicht sehr taktvoll gewesen. Stattdessen fragte sie:

»Hast du auch die Polizei in Schweden verständigt?«

»Ja. Am 2. Mai, also letzten Sonntag. Dort haben sie dieselbe Einstellung wie in Dänemark.«

Irene dachte intensiv nach und sagte dann:

»Du hast gesagt, dass Isabell angerufen hätte. Hat sie nie Karten oder Briefe geschrieben?«

»Nein. Sie hatte noch nie viel fürs Schreiben übrig.«

»Versuch dich daran zu erinnern, was sie gesagt hat. Über die Wohnung. Über die beiden anderen Mädchen. Über die Arbeit als Model… alles!«

»Von den Mädchen, mit denen sie die Wohnung teilt, hat sie nur die Vornamen erwähnt. Linn und Petra. Meist hat sie über all die neuen Leute geredet, die sie kennen gelernt hatte. Die waren aus der ganzen Welt. Ein Engländer, der Steven hieß, und ein Amerikaner namens Robin. Die Mädchen gingen immer zusammen aus, und dann trafen sie offenbar immer eine Menge Leute. Natürlich auch eine Menge anderer Models. Eine Freundin hieß Heidi. Dann sprach sie davon, dass es Spaß mache, sich fotografieren zu lassen, dass es aber auch anstrengend sei.«

»Von den Leuten, die sie erwähnt hat, kennst du keine Nachnamen? «

»Nein. Sie erzählte, dass sie eine Menge Kleider kaufen würde. Sie und die Mädchen gingen zusammen zum Shoppen in die Stadt. Auf Kleider war sie immer ganz versessen, und jetzt verdient sie schließlich eine Menge Geld. So wie ich sie kenne, gibt sie alles für Kleider und Make-up aus.«

»Wie hat sie die Wohnung und das Haus beschrieben?«

»Sie fand alles sehr schön und angenehm.«

»Aber das stimmte mit der Wirklichkeit nicht überein?«

»Nein.«

»Gibt es noch mehr, was sie gesagt hat, wovon du später gemerkt hast, dass es gelogen ist?«

»Im Moment fällt mir nichts ein.«

Irene wählte sorgfältig ihre Worte und sagte dann:

»Es ist vermutlich leider so, wie meine dänischen und schwedischen Kollegen sagen. Die Polizei kann nicht viel tun, solange kein Verdacht auf ein Verbrechen besteht oder sie in irgendeinem polizeilichen Zusammenhang auftaucht. Aber du kannst dir natürlich einen Privatdetektiv nehmen.«

»Das wird zu teuer. Aber vielleicht muss ich das wirklich. Was glaubst du, kann ihr zugestoßen sein?«

»Schwer zu sagen. Eine Möglichkeit ist, dass sie sich aus irgendeinem Grund absichtlich versteckt hält. Eine andere, dass sie nicht mehr in Kopenhagen ist. Besteht nicht die Möglichkeit, dass sie wieder nach England gefahren ist?«

»Aber dann hätte sie doch von sich hören lassen!«

»Ja. Das ist es eben, was so beunruhigend ist, dass sie das nicht getan hat. Ich finde, dass du die Polizeibeamten hier in Schweden bitten solltest, sie auch via Interpol zu suchen.«

Monika schwieg lange. Irene hatte das Gefühl, selbst alles gesagt zu haben, was es zu sagen gab. Sie wartete ab.

»Rufst du mich an, wenn du was herausfindest?«

»Natürlich. Kannst du mir deine Telefonnummer zu Hause und in der Arbeit geben?«

Hastig schrieb Irene beide Nummern auf den Block neben dem Telefon. Sie hegte keine größeren Hoffnungen, dass sie für diese Nummern in naher Zukunft einmal Verwendung haben würde. Jemand, der bei der Polizei in Göteborg angestellt war, konnte da nicht viel ausrichten.

 

Die Friseuse hatte zu kurz geschnitten. Als sie ihrem Mann das Ergebnis vorführte, bestätigte sein Kommentar ihre Befürchtungen. Ihr Mann, den sie vor siebzehn Jahren geheiratet hatte, betrachtete ihr Haar eingehend und kritisch. Dann hob er grüßend die Hand und sagte:

»Tachchen, Bosse.«

Natürlich war sie beleidigt. Gleichzeitig musste sie zugeben, dass sie das Schlimmste noch rechtzeitig hätte verhindern können. Irene fand trotzdem, dass es der Fehler der Friseuse war. Diese hatte ihr das Bild eines jungen, wunderschönen Models unter die Nase gehalten und gesagt:

»Sehen Sie. Genau Ihr Stil. Cool, aber trotzdem feminin. Die Sechziger sind wieder angesagt. Falls Sie sich an die Twiggy-Frisur erinnern. Pflegeleicht. Und dann färben wir in einem etwas dunkleren Rot-Braun.«

Natürlich konnte sich Irene an die Twiggy-Frisur erinnern … So hatten alle Mädchen Ende der Sechzigerjahre aussehen wollen. Damals war sie neun oder zehn gewesen. Ohne ihrer Mutter etwas zu sagen, hatte sie sich im Damensalon am Guldhedstorget einen Termin geben lassen. Die füllige Friseuse mit dem knallroten Lippenstift, die einen so angenehmen Duft verströmte, hatte damals freundlich gefragt, ob Irene auch wirklich ihr langes Haar abschneiden lassen wollte. Bestimmt hatte Irene erklärt, das wolle sie wirklich. Schließlich hatte sie so aussehen wollen wie Twiggy.

Möglicherweise hatte die Frisur eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Twiggy gehabt, jedoch nicht der Rest von Irene. Niemand hätte sie je verwechselt, weder damals noch später.

Jetzt war sie wieder darauf reingefallen.

Mit einem kritischen Seufzer betrachtete sich Inspektorin Irene Huss im Spiegel der Diele. Sie sah eine große, schlanke Frau in schwarzen Hosen und einem Top aus Baumwolle mit V-Ausschnitt. Das Haar war sehr kurz, aber die Farbe war gut getroffen. Das natürliche Dunkelbraun hatte einen tiefroten Glanz. Das Grau war verschwunden. Im Licht der Diele sah sie jünger aus als ihre Vierzig. Jedenfalls solange sie nicht zu nahe an den Spiegel trat.

Da wurde mit einem heftigen Ruck die Haustür aufgerissen, und ihre Zwillingstöchter versuchten sich gleichzeitig in die Diele zu drängen. Als sie den Streit um den einzigen freien Kleiderbügel beigelegt hatten, wandten sie sich an ihre Mutter.

»Wir haben sie uns angeschaut. Es war eindeutig Sammie«, sagte Jenny.

»Kein Zweifel«, pflichtete ihr Katarina bei.

Gemeinsam zogen Mutter und Töchter in die Küche, in der sich die beiden männlichen Mitglieder der Familie aufhielten. Da Krister als Küchenchef arbeitete und Kochen nicht nur als Beruf, sondern auch als Hobby betrachtete, hatte er bereits mit der Zubereitung des späten Abendessens begonnen. Erwartungsvoll saß Sammie neben seinem Herrchen und konzentrierte sich ganz auf jede seiner Bewegungen. Schließlich konnte es passieren, dass irgendein Leckerbissen versehentlich auf dem Fußboden landete.

»Katarina und Jenny haben sie sich angeschaut. Kein Zweifel, da war Sammie am Werk«, sagte Irene.

»Da hatte dieser alte Drachen also doch Recht, als sie hier bei uns zeternd angerufen hat«, stellte Krister fest.

»Meine Güte, war die außer sich! Ihr reinrassiger Pudel und verlustiert sich mit einem Terrier! Aber sie ist auch selber schuld. Man lässt eine läufige Hündin einfach nicht im Garten seines Reihenhauses frei herumlaufen. Jedenfalls nicht bei so niedrigen Zäunen wie hier bei uns. Sie hat übrigens noch zu mir gesagt, dass ihre Hündin auf irgendwelchen internationalen Hundeausstellungen Preise gewonnen hat«, erzählte Irene.

»Sammie, Sammie! Hast dich also auch noch mit einer Schönheitskönigin vergnügt!«, sagte Krister barsch, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.

Hätten sie sich in einem Zeichentrickfilm befunden, dann wäre jetzt mit einem Pling ein Fragezeichen über Sammies Kopf aufgetaucht. So ratlos sah er alle Mitglieder seines Rudels an. Schließlich konnte Jenny nicht länger an sich halten und brach in prustendes Gelächter aus. Die anderen stimmten ein, und bald lachten alle, dass ihnen die Tränen nur so über die Wangen liefen. Was Sammie nun wirklich übel nahm. Mit gesenktem Schwanz verließ er die Küche und trottete die Treppe zum Obergeschoss hoch. Dort verkroch er sich unter Jennys Bett.

Irene und Krister begannen wieder zu kichern, wurden aber von Jenny unterbrochen:

»Es sind drei. Wahnsinnig süß! Zwei Weibchen und ein Männchen. Sie sehen ungefähr so aus wie Sammie als Welpe. Natürlich viel kleiner, weil sie erst drei Wochen alt sind, und außerdem sind sie viel dunkler und …«

»Natürlich! Die Frau Mama ist schließlich schwarz«, mischte sich Katarina ein.

»Das blicke ich schon auch noch, dass das deswegen ist! Aber die Alte hat gedroht, die Welpen einschläfern zu lassen, wenn wir ihr nicht dabei helfen, sie loszuwerden.«

»Mischling aus Pudel und Terrier klingt auch nicht so wahnsinnig geglückt. Was das Aussehen angeht, könnten sie ganz entzückend werden. Aber Temperament und Psyche… ich weiß nicht«, meinte Irene nachdenklich.

»Was hast du mit deinen Haaren angestellt?«, platzte Katarina plötzlich heraus.

Bislang war ihr die neue Frisur ihrer Mutter gar nicht aufgefallen.

»Das ist das Neueste vom Neuen. Der letzte Schrei«, antwortete Irene selbstbewusst.

»Und wie ihr euch angestellt habt, als ich mir die Haare abgeschnitten habe«, meinte Jenny.

»Von wegen abschneiden! Du hast sie dir damals abrasiert!«, erinnerte sie Katarina.

Jenny vertiefte das Thema nicht weiter. Vor zwei Jahren hatte sie das Haar superkurz getragen. Beide Mädchen schwiegen und begutachteten den neuen Look ihrer Mutter. Irene starrte in Gedanken versunken zurück. Da hatte sie nun Zwillinge, und die waren so unterschiedlich, dass die meisten sie nicht einmal für Schwestern hielten.

Katarina sah so aus wie sie selbst in diesem Alter. Sie war bereits ein Meter achtzig groß, außerdem schlank und durchtrainiert. Auch die Farben waren die von Irene: dunkelbraunes Haar, tiefblaue Augen und eine Haut, die in der Sonne leicht braun wurde.

Jenny war das Ebenbild ihres Vaters oder vielleicht vor allem das seiner Schwestern. Zu ihrem großen Kummer war sie die Kleinste der Familie und maß nur einen Meter dreiundsiebzig. Jennys Haar war leuchtend blond, die Augen waren hellblau, ihre Haut war rötlich und sehr empfindlich gegen die Sonne. Sie murrte häufig, wie ungerecht das Schicksal sie im Vergleich mit ihrer Schwester behandelt habe, was ihr Aussehen angehe. Die Wahrheit war, dass Jenny bildhübsch war, aber sie selbst sah das anders.

Um dem kritischen Starren ihrer Töchter ein Ende zu bereiten, fragte Irene:

»Was gibt’s zu essen?«

»Es ist Mittwoch. Was Vegetarisches. Ich koche eine thailändische Gemüsepfanne mit Kokosmilch«, antwortete Krister.

Irene seufzte innerlich. Obwohl sie jetzt bereits seit fast zwei Jahren drei Tage in der Woche vegetarisch aß, hatte sie immer noch Mühe, sich an dieses andersartige Essen zu gewöhnen. Als sich Jenny dazu entschlossen hatte, Veganerin zu werden, und Krister der Meinung gewesen war, mindestens zwanzig Kilo abspecken zu müssen, hatte die Familie ihre Essgewohnheiten radikal umgestellt. An den Tagen, an denen die anderen Geflügel, Fisch oder Fleisch schlemmten, machte sich Jenny über die Reste der vegetarischen Mahlzeiten her. Krister hatte zwar keine zwanzig Kilo abgenommen, wog mittlerweile aber immerhin etwas unter hundert Kilo. Da er sehr groß war, wirkte er trotzdem nicht dick, eher kräftig und stattlich. Aber Irene wusste, dass seine Knie gegen die überflüssigen Kilos protestierten. Deswegen unternahm er auch nicht die langen Spaziergänge mit Sammie, wie er es sich damals eigentlich vorgenommen hatte. Hingegen schwamm er in der Woche mindestens zwei Kilometer in der Schwimmhalle von Frölunda. Im Herbst wurde er fünfzig. Irene hatte keine großen Hoffnungen, dass er bis dahin fitter oder dünner werden würde. Sie würde sich wohl mit seinen verbesserten Essgewohnheiten und seinen Besuchen in der Schwimmhalle zufrieden geben müssen.

Kapitel 3

Das durchsuchte Gebiet wurde immer größer, aber bisher hatte sich noch nichts Neues ergeben.

Kommissar Andersson versuchte die Pathologie zu erreichen. Professorin Stridner ließ ausrichten, sie sei beschäftigt, würde aber von sich hören lassen, sobald sie Zeit habe. Hannu ging die Listen der seit Neujahr verschwundenen Personen durch. Noch war ihm nichts viel Versprechendes aufgefallen. Dies trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung des Kommissars zu heben.

»Wir treten auf der Stelle. Irgendjemand müsste diesen Menschen doch vermissen!«, rief er.

Irene versuchte ihn zu beruhigen.

»Es sind doch erst knapp achtundvierzig Stunden vergangen, seit wir den Sack gefunden haben, außerdem weiß die Öffentlichkeit noch nichts von der Tätowierung. Die könnte uns auf die Spur des Opfers bringen.«

Andersson schwieg ein Weilchen. Schließlich räusperte er sich verlegen:

»Tätowierung … ich habe sie nicht so genau erkennen können. Was war da eigentlich abgebildet?«

Mehrere Meter vom Obduktionstisch entfernt hatte er die Tätowierung natürlich nicht sehen können. Taktvoll unterließ es Irene, ihn auf diesen Umstand hinzuweisen. Stattdessen wandte sie sich an die übrigen Kollegen im Zimmer.

»Die Stridner glaubt, dass es sich um ein chinesisches Schriftzeichen handelt, das von einem Drachen umgeben ist, der sich in den Schwanz beißt. Es war natürlich nicht so leicht zu sehen, da der Hund genau in die Tätowierung gebissen hatte und die Leiche außerdem angefressen war… na, ihr wisst schon. Aber sie hat das Schriftzeichen als ein umgekehrtes Y beschrieben, mit zwei Strichen quer durch die senkrechte Linie. Der Drache ist in mehreren Farben tätowiert. Laut Stridner ein richtiges Kunstwerk.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass es sich um eine gewöhnliche Tätowierung handelt. Also kann sie keiner von den üblichen Stümpern gemacht haben«, meinte Birgitta.

»Finden wir den Tätowierer, dann sind wir auch dem Opfer auf der Spur«, pflichtete ihr Fredrik Stridh bei.

»Am besten wäre es, wir hätten ein Foto von der Tätowierung, womit wir uns auf die Suche begeben könnten«, sagte Jonny.

»So wie die Tätowierung jetzt aussieht, willst du sie keinesfalls auf einem Foto herumzeigen. Glaub mir!«, versicherte Irene.

Sie dachte kurz nach und meinte dann:

»Könnten wir statt eines Fotos nicht eine Zeichnung anfertigen lassen? Gezeichnet würde die Tätowierung auch viel deutlicher. «

Anderssons Miene hellte sich auf, und er nickte.

»Das ist eine gute Idee. Ich werde versuchen, das zu arrangieren. «

Er wandte sich an Fredrik.

»Wie läuft es mit dem Erstochenen von heute Nacht?«

»Das Opfer wurde als Lennart Kvist identifiziert, in Fixerkreisen bekannt als Laban. Ein alter Bekannter, der so manchen Deal auf dem Kerbholz hat. Offenbar hat es bei einem Geschäft Streit gegeben. Ein Zeuge hat im Park hinter dem Florahügel laute Hilferufe gehört und die Polizei verständigt. Im Park fand eine Streife dann Labans Leiche. Neben ihm eine Tüte mit gestrecktem und verkaufsfertigem Heroin. Das Wahrscheinlichste ist, dass es sich bei dem Täter um einen Kunden handelt, der nicht den gewünschten Kredit bekam.«

»Hat der Zeuge jemanden vom Tatort weglaufen sehen?«, fragte Andersson.

»Nein. Wahrscheinlich ist der Mörder durch den Park den Kanal entlang Richtung Stadttheater verschwunden.«

»Okay. Du und Birgitta, ihr kümmert euch um diese Sache. Schließt euch mit dem Rauschgiftdezernat kurz, wenn ihr das nicht schon getan habt. Irene, Jonny und Hannu beschäftigen sich weiter mit der zerstückelten Leiche. Wir sehen uns dann hier wieder heute Nachmittag gegen fünf.«

 

Im Branchenverzeichnis boten sieben Tätowierer ihre Dienste an. Bei einigen von ihnen konnte man sich auch piercen lassen. Schmerzhafte Behandlungen, denen sich Leute freiwillig aussetzen, dachte Irene. Sie selbst hatte es nicht einmal gewagt, sich Löcher in die Ohren stechen zu lassen.

»Es hat keinen Sinn, die Tätowierer abzuklappern, bevor wir ein Bild zum Vorzeigen haben«, meinte Jonny.

»Ich frage Andersson, ob er inzwischen einen Zeichner aufgetrieben hat und schon was von der Stridner gehört hat.«

Irene hatte das Bedürfnis, sich die Beine zu vertreten. Weder sie noch Jonny hatten ein richtig gutes Konzept, wie sie die Ermittlung fortsetzen sollten. Sie mussten erst mal der Identität des Opfers auf die Spur kommen.

Auf dem Weg in Anderssons Zimmer stieß sie mit Hannu zusammen. Wie ein Kavalier hielt er ihr die Tür auf, und sie machte als Scherz einen Knicks, als sie an ihm vorbeiging.

»Müsst ihr so ein Theater machen, bloß weil ihr aneinander vorbeigeht?«, ließ sich die säuerliche Stimme des Kommissars vernehmen.

Aha, dachte Irene, es gibt also immer noch nichts Neues. Sie beeilte sich, ihr Anliegen vorzubringen.

»Nein. Kein Zeichner. Und die Stridner hat auch noch nicht…«

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Er riss den Hörer an sich.

»Kommissar Andersson. Ja. Ach so? Hm.«

Andersson lauschte der Stimme am anderen Ende. Seiner verbissenen Miene und der geschäftigen Stimme entnahmen sie, dass er mit Frau Stridner persönlich sprach. Der mürrische Gesichtsausdruck des Kommissars wich einer eher erstaunten Miene. Er machte zustimmende Geräusche, ehe es ihm endlich gelang, die strenge Stimme am anderen Ende der Telefonleitung zu unterbrechen.

»Wir haben da ein kleines Problem. Wir bräuchten eine Zeichnung von der Tätowierung… nein, lieber kein Foto… eine Zeichnung, ja … das wird etwas deutlicher. Ach, wirklich? Sehr gut!«

Bei den letzten Worten strahlte er förmlich und warf seinen beiden Inspektoren einen triumphierenden Blick zu.

»Vielen Dank.«

Er legte auf und rieb sich unwillkürlich die Hände vor Zufriedenheit.

»Frau Stridner kümmert sich um die Zeichnung. Einer ihrer Assistenten will Maler werden. Er hat heute Dienst. Sie schicken das Bild mit Boten, wenn es fertig ist.«