Sandgrab - Helene Tursten - E-Book
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Helene Tursten

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Beschreibung

Es ist kurz vor Weihnachten, und die neunjährige Amelie verlässt ihre Schule in Strömstad in Südschweden, um nach Hause zu fahren. Doch sie kommt nie an. Kurz darauf verschwindet ein weiteres Kind, und der Verdacht richtet sich gegen einen schweigsamen und sonderbaren Teenager in dem kleinen Ort. Doch als ein Polizist tot aufgefunden wird und kurze Zeit später ein explosionsartiger Brand in einer Scheune ausbricht, ist die Polizei hoch alarmiert. Kriminalinspektorin Embla Nyström von der Mobilen Einheit der Bezirkskriminalpolizei Västra Götaland, übernimmt den Fall. Leben die Kinder noch? Oder läuft im idyllischen Strömstad ein Serienmörder frei herum?

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Seitenzahl: 446

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HELENE TURSTEN BEI BTB:DIE IRENE-HUSS-KRIMIS

Der Novembermörder. Roman

Der zweite Mord. Roman

Die Tätowierung. Roman

Tod im Pfarrhaus. Roman

Der erste Verdacht. Roman

Feuertanz. Roman

Die Tote im Keller. Roman

Das Brandhaus. Roman

Der im Dunkeln wacht. Roman

Im Schutz der Schatten. RomanDIE EMBLA-NYSTRÖM-SERIE

Jagdrevier. Roman

Sandgrab. Thriller

HELENE TURSTEN

SAND

GRAB

THRILLER

Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg

Die schwedische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Sandgrav« bei Massolit Förlag, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Genehmigte Taschenbuchausgabe Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Helene Tursten

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © plainpicture/BY; ensuper/Shutterstock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-21732-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Anneli Höier mit herzlichem Dank für deine Freundschaft und professionelle Unterstützung

TEIL I DEZEMBER

Amelies Herz pochte laut, und ihr Magen krampfte sich vor lauter Nervosität zusammen. Schon während der letzten zehn Unter­richtsminuten war sie angespannt gewesen wie ein Flitzebogen. Als endlich der Gong ertönte, sprang sie von ihrem Stuhl auf und rannte dicht gefolgt von Tuva in den Korridor hinaus.

»Ich komm bis zur Bushaltestelle mit!«, rief Tuva.

Während die Mädchen auf den Ausgang zuliefen, zogen sie sich ihre Jacken über. Auf der Treppe blieben beide stehen, um die Reißverschlüsse hochzuziehen und sich ihre Mützen aufzusetzen. Draußen war es schon dunkel, und der heftige Wind vom Meer blies ihnen eiskalt ins Gesicht. Obendrein hatte es auch noch angefangen, in Strömen zu regnen. Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten und nicht eine Schneeflocke in Sicht. Wie öde!, dachte Amelie. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre wieder zu ihren Klassenkameraden hineingegangen, aber sie müsste erst nach Hause, um ihr Lucia-Gewand und die Kerze zu holen.

Ihre Musiklehrerin hatte darauf bestanden, dass sich alle umziehen, damit die letzte Probe vor dem Krippenspiel und der ­Lucia-Prozession auch echt wirken würde. Generalprobe hatte sie gesagt.

Heute Morgen war es zu Hause ziemlich hektisch zugegangen. Wie immer wollte Julien, dieser Morgenmuffel, partout nicht in den Kindergarten. Ihre Mutter hatte beim Anziehen einen regelrechten Kampf mit ihm ausfechten müssen. Deshalb waren sie erst viel zu spät von zu Hause losgekommen und hatten in der Eile die Plastiktüte mit den Lucia-Sachen auf dem Fußboden im Flur vergessen.

Amelie besaß eine eigene Monatskarte, weil sie keine Lust mehr auf den Hort hatte. Mit dem Bus war es von ihrer Schule bis nach Önnaröd, wo sie wohnte, zwar nur eine Station, aber im Dunkeln an der schmalen Landstraße entlangzugehen, war zu gefährlich. Obwohl ihre Stiefel und Jackenärmel mit Reflektoren versehen waren, bestand ihre Mutter darauf, dass sie mit dem Bus fuhr. Tuva hingegen wohnte in der Nähe der Schule, sodass sie keine Monatskarte benötigte. Die Mädchen waren beste Freundinnen und gingen in die dritte Klasse. Amelie würde in zwei Monaten und drei Tagen zehn werden, und sie fand, dass der Hort etwas für Kleinkinder war. Tuva teilte ihre Auffassung, obwohl sie erst am fünften Mai Geburtstag hatte.

Jetzt glaubten die Mädchen zu hören, wie der Bus in die Haltestelle einbog. Oder fuhr er etwa schon wieder los?

»Ej, warten!«, riefen sie.

Sie rannten, so schnell sie konnten, den Hügel hinunter, nur um kurz darauf die roten Rücklichter im Dunkeln verschwinden zu sehen. Der nächste Bus würde erst in zwanzig Minuten kommen. Scheiße auch! Die beiden müssten unbedingt in einer halben Stunde wieder zurück in der Schule sein!

Die Mädchen hielten nach dem Wettlauf einen Augenblick an der leeren Bushaltestelle inne, um durchzuschnaufen. Wahrscheinlich wäre es schneller, einfach zu Fuß nach Hause zu laufen, denn das dauerte nur zehn Minuten. Aber dann werde ich klitschnass, dachte Amelie. Im selben Augenblick hörten sie ein vertrautes knatterndes Motorengeräusch. Kristoffer! Tuva und er waren verwandt, auch wenn Amelie nicht genau wusste, wie, aber die beiden hatten schon mehrfach in seinem EPA-Traktor, einem Pick-up-ähnlichen Gefährt, mitfahren dürfen. Obwohl er ihn selbst A-Traktor wie Arbeitstraktor nannte. EPA-Traktor sagte man früher dazu in Anspielung auf selbst gebaute Billigfahrzeuge.

Entschlossen stellte sich Tuva an den Straßenrand und winkte eifrig, als sich das Fahrzeug langsam näherte. Als Kristoffer anhielt, bekam Amelie heftiges Herzklopfen. Er kurbelte die Seitenscheibe herunter und schaute sie beide fragend an. Aus den Lautsprechern seines Autoradios dröhnte Rockabilly-Musik, die im Wartehäuschen der Haltestelle widerhallte.

»Hej! Kann Amelie mitfahren? Sie hat den Bus verpasst … darf sie? Bitte, bitte!«

Er nickte, und Amelie lief um den Wagen herum zur Beifahrerseite. Bevor sie die Tür öffnete und hineinhüpfte, winkte sie Tuva fröhlich zu. Dann sank sie mit einem Seufzer der Erleichterung auf den weichen Sitz. Weiße Ledersitze, fesch. Dieser EPA-Traktor, oder besser gesagt A-Traktor, gefiel ihr wirklich gut. Kristoffer war sehr penibel, was die Bezeichnungen von Autos anging. Der Wunderbaum, der vor der Windschutzscheibe baumelte, duftete angenehm. Oder war es vielleicht eher das Haargel, das Kristoffer benutzte, um seine Schmalzlocke in Form zu halten? Elvis-Tolle, nannte Tuva sie. Sie fand seinen Style cool, aber Amelie stand nicht unbedingt drauf. Sie war ein Fan von One Direction, und keiner der Jungs aus der Boygroup trug eine solche Frisur. Kristoffers Kapuzenpulli wies Öl- und Schmutz­flecken auf, ebenso wie seine Jeans. Er und sein Vater werkelten viel mit Autos herum, das wusste Amelie.

Als sich das Gefährt in Bewegung setzte, winkte sie Tuva noch einmal fröhlich zu.

»Wir haben gleich Probe, und da müssen wir unser Lucia-Gewand tragen. Aber Glitter brauchen wir noch nicht. Erst morgen. Krippenspiel, du weißt schon. Alle Eltern kommen und schauen es sich an. Tuva und ich nehmen an der Lucia-Prozession teil. Wir singen die ganze Zeit, und die Kleineren aus der ersten und zweiten Klasse sind Schafe und Hirten, und wir sind die Engel und …«

Amelie plapperte einfach drauflos. Sie kannte Kristoffer nur flüchtig, weil er Tuvas Cousin zweiten Grades oder so war, und obwohl sie schon öfter in seinem A-Traktor hatten mitfahren dürfen, war Amelie noch nie mit ihm allein gewesen. Immer nur gemeinsam mit Tuva. Aber er verhielt sich genauso wie sonst auch. Vielleicht redete sie nur so viel, weil sie wusste, dass er nicht antworten würde. Er war nämlich ziemlich wortkarg und sagte kaum etwas. Aber er war nett. Schließlich fuhr er sie gerade nach Hause. In der Gewissheit, dass sie es nun pünktlich bis zur Probe schaffen würde, lehnte sie sich bequem auf ihrem Sitz zurück.

Genauso quengelig, wie Julien morgens gewesen war, verhielt er sich auch am Nachmittag, als Maria in den Kindergarten kam, um ihn wieder abzuholen. Jetzt wollte er auf keinen Fall nach Hause, weil Malte und er gerade etwas aus Lego zusammen­bauten, das nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. Maria spürte, wie ihr der Schweiß am Rücken hinunterlief, während sie zunehmend genervt versuchte, dem widerspenstigen Jungen die Jacke überzustreifen. Er war übermüdet und gereizt. Die Trotzphase eines Fünfjährigen lässt grüßen! Allerdings hat Juliens Trotzphase schon bei seiner Geburt angefangen, dachte Maria missmutig. Sie wechselte einen resignierten Blick mit der Erzieherin, die sich zu ihnen in den leeren Flur gesellt hatte. Gemeinsam gelang es ihnen schließlich, dem Jungen Jacke und Stiefel anzuziehen, während er sich vehement weigerte, die Regenhose überzuziehen. Auf dem Weg zum Auto fiel er prompt hin und landete in einer großen Pfütze. Als seine Jeans klitschnass wurde, begann er erneut zu plärren.

»Wir müssen nur noch kurz Amelie abholen, und danach fahren wir geradewegs nach Hause. Dann mach ich uns einen heißen Kakao mit Sahne und tau für jeden von uns eine Zimtschnecke auf. Findest du nicht auch, dass wir uns das nach einem Tag wie diesem verdient haben?«

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und hob ihn ins Auto. Beim Anschnallen verhedderte sich wie befürchtet der Gurt am Kindersitz. Was für ein Tag! Erst als Maria schließlich auf den Fahrersitz sank, atmete sie erleichtert aus. Zum Glück dauerte die Fahrt zu Amelies Schule nur ein paar Minuten. Allmählich begann sie sich selbst nach einem Becher heißen Kakao und einer Zimtschnecke zu sehnen.

Maria schaute fragend von Tuva zu Therese Jansson, der Musik­lehrerin, und wieder zurück. Sie waren nur noch zu dritt in der Aula der Schule, wo das Krippenspiel stattfinden würde. Der erleuch­tete Weihnachtsbaum in der Ecke verbreitete einen intensiven Geruch nach Harz. Seine Zweige waren schwer mit dem selbst gebastelten Baumschmuck der Kinder behängt.

»Sie ist nicht wieder zurückgekommen?«

»Nee. Ich hab es tausendmal versucht. Aber sie geht nicht ans Handy«, antwortete Tuva.

»Ich habe auch probiert, sie zu erreichen. Sowohl auf dem Handy als auch unter Ihrer Festnetznummer. Aber ich hatte natür­lich alle Hände voll zu tun mit der Probe …«

Die Lehrerin setzte eine entschuldigende Miene auf und schluckte befangen. Maria sah, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie ihre große Hornbrille auf der Nase nach oben schob. Sie macht sich also auch Sorgen, dachte Maria.

»Amelie ist doch sonst nicht der Typ, der schwänzt«, sagte sie.

»Nein, gar nicht. Und sie hat sich wirklich auf das Solo in ›Glanz über See und Ufer‹ gefreut«, pflichtete die Lehrerin ihr bei.

»Sonst geht sie immer an ihr Handy«, warf Tuva mit Nachdruck ein.

Sie hat recht, Amelie geht immer ran, dachte Maria mit zunehmender Besorgnis.

»Tuva, ich fahr dich heim«, sagte sie rasch.

»Können Sie mich kurz anrufen, wenn Sie sie gefunden haben? Auch wenn es schon spät sein sollte«, bat die Lehrerin nervös.

»Natürlich.«

Maria lief schon wieder nach draußen zum Auto.

Das Haus und der Garten waren abgesucht. Julien war völlig aufgekratzt überall herumgelaufen und hatte nach seiner Schwester gesucht. Er kannte alle Verstecke, denn Verstecken spielte er am liebsten. Doch er konnte sie nirgends finden.

In der Spüle lag eine Bananenschale, und auf der Arbeitsplatte stand ein Glas mit einem Rest Milch darin. Bevor Amelie von zu Hause losging, war sie offensichtlich auf der Toilette gewesen, hatte in der Eile aber vergessen zu spülen. Maria konnte die Plastiktüte mit dem Lucia-Gewand und der kleinen batteriebetriebenen Kerze nirgends finden. Ihre Tochter war also nach Hause gekommen, hatte in der Küche etwas gegessen, die Toilette aufgesucht und sich danach die Plastiktüte gegriffen, bevor sie sich bei dem Sauwetter in der Dunkelheit wieder auf den Weg gemacht hatte. Wo war sie nur abgeblieben?

Mechanisch bereitete Maria den heißen Kakao für ihren Sohn zu und taute die versprochene Zimtschnecke in der Mikrowelle auf. Während er zufrieden anfing zu essen, klemmte sie sich ans Telefon und rief alle Freunde und Bekannten an, bei denen Amelie eventuell aufgetaucht sein könnte. Doch keiner hatte sie gesehen oder etwas von ihr gehört. Maria wählte in regelmäßigen Abständen die Nummer ihres Handys und hörte das Freizeichen, doch niemand meldete sich. Tuva hatte recht, Amelie ging sonst immer ran, denn sie war furchtbar stolz auf ihr neues Handy.

Vor lauter Angst schnürte es Maria die Kehle zu. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefasst hatte, um ihre Schwiegermutter anzurufen. Mit zittrigen Händen wählte sie ihre Nummer. Als Maria die ruhige Stimme von Iris Holm hörte, verlor sie die Beherrschung und begann zu weinen. Hauptsächlich aus Erleichterung darüber, Iris zu Hause anzutreffen, die ihr immer eine Stütze gewesen war. Unter Schluchzen informierte Maria sie darüber, dass Amelie verschwunden war. Sie bat Iris, zu kommen und auf Julien aufzupassen, um selbst rausgehen zu können und die Gegend abzusuchen.

»Hast du Johannes schon angerufen?«, lautete Iris’ erste Frage, als sie das Haus betrat.

»Nein, aber ich hab alle anderen angerufen, bei denen sie eventuell sein könnte. Ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen. Von dort aus, wo er gerade ist, kann er ja sowieso nichts unternehmen«, antwortete Maria.

»Das stimmt natürlich … Wenn du sie innerhalb der nächsten Stunde nicht findest, rufen wir die Polizei.«

Marias Schwiegermutter besaß sowohl in privaten als auch in beruflichen Zusammenhängen die Fähigkeit, in schwierigen Situationen die Fassung zu wahren und klar zu denken. Sie würde in einem halben Jahr in Rente gehen, arbeitete aber noch immer Vollzeit als Bibliothekarin. Behutsam nahm sie Maria in die Arme und hielt sie fest, ohne noch etwas zu sagen. Als das Schluchzen der Schwiegertochter nachließ, tätschelte sie ihr sanft die Wange.

»Ist ja gut. Und jetzt ab mit dir, damit du Amelie findest«, sagte sie.

Kurz darauf lief Maria draußen im strömenden Regen durch die Dunkelheit. Sie trug Regenkleidung und hatte eine starke Taschenlampe bei sich. Mit raschen Schritten ging sie auf der linken Seite die Landstraße entlang und leuchtete dabei mit ihrer Lampe auf den Seitenstreifen und in den Graben hinunter. Durch den zunehmenden Wind kam der Regen inzwischen von vorn, sodass sie kaum etwas erkennen konnte. Maria legte den knappen Kilometer bis zur Schule zurück, ohne etwas Nennenswertes zu entdecken. Unterwegs rief sie ungefähr alle fünf Minu­ten Amelies Handy an, doch es meldete sich niemand.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie blieb stehen und suchte auf ihrem Handy nach einem aktuellen Foto von ihrer Tochter. Schließlich fand sie eines von einer lächelnden Amelie mit fröhlich leuchtenden Augen und einer neuen Haarspange, die ihren Pony seitlich fixierte. Das süße Foto ihrer Tochter brachte sie erneut zum Weinen, und ihre Tränen mischten sich mit den Regentropfen, die ihr ins Gesicht peitschten. Mit zitternden Fingern postete sie das Foto auf Facebook mit der Bitte an alle, von sich hören zu lassen, die das Mädchen auf dem Foto am heutigen Tag nach fünfzehn Uhr gesehen hatten.

Auf dem Rückweg kam sie am Recyclinghof vorbei, der ungefähr zweihundert Meter von der Bushaltestelle entfernt lag. Mechanisch klickte sie Amelies Namen auf dem Display an und wartete mit klopfendem Herzen aufs Freizeichen. Lieber Gott, bitte mach, dass sie rangeht! Lieber Gott … Als sie plötzlich aus dem Inneren eines Müllcontainers ganz leise den Refrain von Jingle Bells dudeln hörte, unterbrach sie abrupt ihre innigen Gebete. Diesen Klingelton hatte Amelie erst ein paar Wochen zuvor heruntergeladen, um sich selbst und ihre Umwelt daran zu erinnern, dass bald Weihnachten war.

»Amelie! Amelie! Wo bist du?«

Ihre Stimme brach, während sie rief. Mit laut pochendem Herzen lief sie auf die aufgereihten Container zu. Nur wenige Sekunden später hatte sie die Weihnachtsmelodie lokalisiert; sie kam aus dem ersten Container. Da die Öffnung zu klein war, um den Kopf hineinstecken zu können, leuchtete sie mit ihrer Taschen­lampe hinein. Offensichtlich war der Behälter gerade erst geleert worden, denn sie konnte darin keinen Müll entdecken, doch jetzt hörte sie den beharrlichen Klingelton ganz deutlich. Obwohl sie realisierte, dass das Mädchen keinesfalls im Müllbehälter sein konnte, rief sie durch die Öffnung:

»Amelie! Amelie!«

Zur Antwort erhielt sie nur das Echo ihrer eigenen Stimme, das sich mit dem synthetischen Klang des Klingeltons mischte. Maria hob den Kopf und versuchte nachzudenken. Sie drückte auf die Stopptaste ihres eigenen Handys, um das schreckliche Gedudel zu beenden.

Dann tippte sie unbeholfen die 112 ein. Als eine junge weib­liche Stimme ihr erklärte, dass sie den Notruf gewählt hatte, fühlten sich ihre Stimmbänder wie verknotet an.

»Amelie … meine Tochter … ist verschwunden!«, gelang es ihr schließlich hervorzubringen.

»Wie alt ist das Mädchen?«

»Neun …«

»Und wie lange ist sie schon verschwunden?«

Vergeblich versuchte Maria es im Kopf nachzurechnen, doch sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.

»Sie ist kurz von der Schule nach Hause gegangen, um ein paar Sachen zu holen … dort wollten sie gerade ein Krippenspiel einstudieren … aber sie kam nicht wieder!«

»Wie spät war es da?«

»Drei … drei Uhr.«

»Also fast vier Stunden. Haben Sie schon bei Freunden und Nachbarn angerufen?«

»Ja! Bei allen! Und wir haben auch das Haus … und den Garten … und die nähere Umgebung abgesucht. Ich bin gerade die Strecke von unserem Haus bis zur Schule abgegangen. Mit einer Taschenlampe. Und …«

»Wie lang ist diese Strecke?«

»Einen knappen Kilometer. Und jetzt stehe ich auf dem Recyclinghof. Als ich ihre Nummer gewählt habe … hörte ich ­plötzlich den Klingelton ihres Handys. Er kam aus einem der Müllcontainer!«

Die letzten Worte schrie sie unfreiwillig heraus. Am anderen Ende wurde es für ein paar Sekunden still, bevor die ruhige Stimme wiederkehrte.

»Wie heißen Sie?«

»Maria Holm.«

»Und wo genau befinden Sie sich gerade?«

»Beim Wertstoffhof … Recyclinghof, oder wie es heißt … zwischen Önnaröd und Mällby.«

»Die nächste Stadt?«

»Strömstad.«

»Wie weit entfernt von Strömstad befinden Sie sich?«

»Direkt nördlich von … zwei Kilometer.«

»Ich schicke eine Streife. Bleiben Sie dort.«

Nach zehn Minuten kam eine Polizeistreife. Die beiden Beamten baten Maria, ihnen das Foto von Amelie zu zeigen und ihre Kleidung zu beschreiben: rote Daunenjacke, weiße Mütze, blaue Handschuhe, Jeans und blaue Stiefel. Einer der Beamten stellte sich als Polizeimeister Patrik Lind vor. Er war etwas über zwanzig und wirkte durchtrainiert, zugleich aber leicht übergewichtig. Da er nicht besonders groß war, und seine Uniformjacke am Rücken bedenklich spannte, machte er einen leicht gedrungenen Eindruck. Er betrachtete das Foto eingehend, bevor er sagte:

»Sie haben keine Drohungen oder dergleichen erhalten? Das Kind ist ja ziemlich dunkelhäutig.«

Maria starrte ihn verständnislos an, bevor ihr aufging, was er meinte.

»Ja, ich bin in Guadeloupe … in der Karibik geboren worden. Aber mein Mann kommt aus Strömstad und ist Schwede. Ich wohne schon seit zehn Jahren hier, bin aber nur sehr selten wegen meiner Hautfarbe diskriminiert worden. Und Amelie hat auch nichts dergleichen erwähnt.«

»Ich dachte nur, dass es sich vielleicht um eine rassistische Tat handeln könnte«, entgegnete der junge Polizist.

Er linste zu seiner Kollegin rüber, die einen halben Kopf ­größer war als er und deren pechschwarze Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Maria fiel es nicht ganz leicht, den Ausdruck in ihren dunklen mandelförmigen Augen zu deuten, als er das Wort »rassistisch« aussprach. Patrik Lind hingegen wusste, dass Alice Åslund aus China stammte und adoptiert worden war. Seit einem Jahr lebte sie mit einer etwas älteren Frau zusammen auf einem Reiterhof außerhalb von Fjällbacka. Mit ihrem deutlich asiatischen Aussehen und ihrer sexuellen Orientierung war Alice der Begriff »Rassismus« ganz sicher in all seinen Schattierungen bekannt.

Nachdem er das Foto zuerst an sein eigenes Handy und dann an das seiner Kollegen geschickt hatte, gab er Maria das Handy zurück. Dann ging er wankenden Schrittes mit seitlich leicht abstehenden Armen zurück zum Wagen und ließ sich schwer auf den Beifahrersitz sinken. Bevor die beiden wieder fuhren, gelang es Patrik Lind, Kontakt mit dem Chef der Betreiberfirma des Recyclinghofs aufzunehmen, und nachdem er ihm seinen spätabendlichen Anruf plausibel erklärt hatte, versprach dieser, umgehend jemanden zu schicken, um den Container zu öffnen.

»Wir fahren los und suchen nach ihr«, sagte Patrik Lind durch die heruntergelassene Seitenscheibe.

Dann schloss er sie rasch wieder, um nicht völlig vom Regen durchnässt zu werden. Polizeimeisterin Åslund saß bereits am Steuer. Mit einem Kavalierstart bog sie auf die Landstraße ein, um die Suche nach dem Mädchen einzuleiten.

Maria stand bereits seit einer halben Stunde allein in der Dunkelheit im Regen und zitterte vor Kälte und Sorge, traute sich aber nicht, das Gelände zu verlassen. In gewisser Weise erschien es ihr wichtig, über die einzige Spur zu wachen, die sie von ihrer Tochter hatte auftreiben können.

Als der Mann von der Recyclingfirma endlich auftauchte, bog auch der Polizeiwagen erneut aufs Gelände ein. Doch Patrik Lind und Alice Åslund konnten Maria nur den deprimierenden Bescheid überbringen, dass sie nicht die geringste Spur von ihrer Tochter aufgetan hatten, aber immerhin teilten sie ihr mit, dass eine weitere Streife zur Unterstützung der Suche unterwegs war.

Der Mann von der Recyclingfirma öffnete den Container, aus dem der Klingelton von Amelies Handy gedrungen war, und erblickte auf dem Boden des fast leeren Behälters ein Handy. Daraufhin sprang Alice Åslund hinein, um das Gerät vorsichtig in eine Papiertüte zu befördern. Maria identifizierte das Telefon mit dem rosafarbenen Etui, auf dem ein paar Katzenbabys abgebildet waren, als Amelies.

Jetzt liegt es also in einem Beweismittelbeutel. Beweise? Nur wofür?, fragte sie sich.

Im Lauf des Abends wurde eine umfangreiche Suchaktion eingeleitet, bei der sowohl die Polizei als auch das Militär involviert waren. Zusätzlich nahmen auch mehrere Freiwillige teil, die ­Marias Bitte auf Facebook gelesen hatten. In den frühen Morgenstunden stieg ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera auf und begann das Gebiet abzusuchen. Die Einsatzleitung hatte Maria versprochen, dass er so lange in der Luft bleiben würde, bis sie das Mädchen gefunden hätten.

Maria war dankbar dafür, dass Iris über Nacht bei ihnen blieb. Ihre Schwiegermutter war auch diejenige, die bei Johannes anrief, um ihn über Amelies Verschwinden zu informieren, damit er die Nachricht nicht aus den Medien erfahren musste. Er war natürlich vollkommen außer sich, wusste aber, dass er nichts weiter tun konnte. Der Hubschrauber mit der Ablösung würde erst am nächsten Morgen zur Ölplattform hinauskommen und die Mannschaft mitnehmen, die dann ihre Dreiwochenschicht absolviert hätte. Johannes arbeitete seit vier Jahren als Koch auf einer Offshore-Bohrinsel im Nordmeer, die nur mit dem Hubschrauber erreichbar war. Der Hubschrauber würde sie nach Kristiansund bringen, von wo aus sie mit dem Flugzeug nach Oslo weiterfliegen würden. Von Oslo aus nahm Johannes immer den Bus, sofern er nicht das Glück hatte, dass sein Freund Ted auch gerade von der Arbeit auf dem Flughafen Gardermoen nach Strömstad zurückfuhr und ihn mitnahm. Und morgen war ein solcher Freitag, an dem Johannes mitfahren konnte.

Als Maria plötzlich das Klingeln eines Telefons hörte, fuhr sie erschrocken aus ihrem unruhigen Halbschlaf hoch. Zuerst wusste sie nicht genau, wo sie war und warum sie vollständig angezogen im Sessel saß. Doch dann begriff sie, dass ein Anruf übers Festnetz kam. Sie sprang auf und lief in den Flur, wo sie mit ungelenken Fingern den Hörer abhob und ans Ohr hielt. Hatten sie Amelie etwa gefunden? Lieber Gott … Lieber Gott …

»Maria«, meldete sie sich, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.

»Hej. Hier ist Evelyn.«

Die Frau am anderen Ende war Tuvas Mutter. Maria kannte sie, auch wenn sie keinen engen privaten Kontakt hatten.

»Hej.«

Maria hörte selbst, wie schwer es ihr fiel, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Haben Sie schon was Neues über Amelie erfahren?«

»Nein.«

Maria klang kurz angebunden, doch im Augenblick fehlte ihr einfach die Kraft, um freundlicher zu sein.

Evelyn zögerte kurz, bevor sie fortfuhr:

»Tuva ist furchtbar traurig. Sie sitzt hier und weint. Will nicht zur Schule gehen und auch nicht mehr beim Krippenspiel mitmachen. Gestern habe ich nichts weiter aus ihr herausgekriegt, aber heute Morgen meinte sie dann plötzlich, dass … Amelie bei Kristoffer mitgefahren ist.«

Es dauerte einen Moment, bis sich Maria an Tuvas Verwandten, einen Autofan, erinnerte.

»Kristoffer Sjöberg?«

»Ja. Seine Mutter ist zwar schon seit einigen Jahren tot, aber sie und ich waren Cousinen. Tuva und Kristoffer sind also Cousinen beziehungsweise Cousins zweiten Grades. Aber …«

»Warten Sie … wann ist sie bei ihm mitgefahren?«, unterbrach Maria sie.

In ihrem Kopf drehte sich vor lauter Müdigkeit und Sorge alles, und sie hatte keinen Nerv, sich jede Menge belanglose Informationen zu verwandtschaftlichen Beziehungen anzuhören.

»Gestern. Als Amelie nach Hause wollte, um die Sachen zu holen, die sie vergessen hatte. Draußen hat es in Strömen geregnet, und sie hat den Bus verpasst. Tuva stand zusammen mit ihr an der Bushaltestelle, als plötzlich Kristoffer mit seinem A-Traktor auftauchte. Sie hat ihn gefragt, ob er Amelie mitnehmen könnte, was er auch getan hat.«

Maria spürte, wie ihr Herz heftig zu schlagen begann.

»Danke für die Info!«

Sie legte rasch auf und griff nach ihrem Handy, in dem sie die Durchwahl der Polizei gespeichert hatte, wo sie jederzeit anrufen konnte.

Polizeimeister Patrik Lind und seine Kollegin Alice Åslund erhielten den Auftrag, Kristoffer Sjöberg zur Vernehmung abzuholen. Beide Polizisten hatten in der Nacht nur wenig geschlafen und waren nicht gerade bester Laune. Patrik gähnte so ausgiebig, dass es in seinen Kiefergelenken knackte, und er musste die Augen in regelmäßigen Abständen weit aufreißen, damit ihm die Augenlider nicht zufielen.

Der Wind hatte im Lauf der Nacht abgenommen, doch der Regen ließ einfach nicht nach. Es war schon neun Uhr morgens, doch draußen war es noch immer nachtschwarz. Einzig die Advents­leuchter und Christsterne in den Fenstern sowie die Weihnachtsdeko vor den Häusern spendeten etwas Licht.

»Er wohnt draußen in Hällestrand. Oder besser gesagt, kurz davor. Auf der linken Seite …«, erklärte Patrik, doch Alice unter­brach ihn.

»Ich weiß. Den Kasten kennt doch jeder in Strömstad«, entgegnete sie in säuerlichem Tonfall.

Damit hatte sie recht, denn die meisten Leute im Ort kannten sowohl das Gut als auch seinen Besitzer. Kristoffers Vater Olof Sjöberg war eine bekannte Persönlichkeit in Strömstad. Das Gebäude, in dem er und sein Sohn lebten, war eigentlich einmal ein ehemaliger Landsitz gewesen, den er hatte sanieren und mehrfach erweitern lassen. Im Lauf der Jahre war das Gut bis zur Unkenntlichkeit ausgebaut worden. Inzwischen mutete es mit seinen zwei Seitenflügeln eher wie ein kleines Schloss an. Mit mehreren Wintergärten, von denen einer mit einem Whirlpool ausgestattet war, und einem zwanzig Meter langen Schwimmbecken unter einer Glaskuppel, das an ein modernes Spa erinnerte. Vor ein paar Jahren war in Strömstads ­Tidning, der örtlichen Zeitung, eine Homestory darüber erschienen. Olof hatte die Repor­terin und den Fotografen stolz herumgeführt und ihnen alle modernen Ausstattungen präsentiert, die er innerhalb der alten Mauern hatte einbauen lassen. Die Leute im Ort hatten widerwillig zugeben müssen, dass die Renovierung geschmackvoll gelungen war und zum Stil des alten Gebäudes passte. Mit allen Anbauten, Terrassen und Wintergärten war die Grundfläche mehr als vervierfacht worden. Das Einzige, was Olof Sjöberg nicht verändert hatte, war der ursprüngliche Name des Guts, Breidablick. Der Name stand unten an der Landstraße auf einem altmodischen Schild aus Gusseisen, das mittels eines Pfeils den steilen Weg auf die Anhöhe hinaufwies. Das Gut lag auf dem Kamm eines prominenten Hügels und bot eine phänomenale Aussicht in alle Himmelsrichtungen. Die Zufahrtsstraße wurde von einer Birkenallee gesäumt, und zwischen den Bäumen standen Gaslaternen auf stabilen gusseisernen Pfählen.

In der Mitte des Rondells vor dem Anwesen thronte ein ausladender Weihnachtsbaum mit Kerzen, und entlang der gesamten Dachkante des großen Hauses hingen künstliche Eiszapfen, die jeweils mittels LEDs erleuchtet wurden. In allen Fenstern standen Adventsleuchter beziehungsweise hingen Weihnachtssterne. Alles, was erleuchtet werden konnte, leuchtete.

Als der Polizeiwagen auf den Hof fuhr, wurden die beiden Flügel der Außentür von innen geöffnet, und Olof Sjöberg trat auf die breite Vortreppe heraus. Die roten Stufen aus Bohus-Granit glitzerten im Schein der Laternen an der Allee. Er drehte sich um und schloss die Tür hinter sich. Dann blieb er abwartend unterm Vordach stehen, das auf zwei runden Granitpfeilern ruhte, und betrachtete die Polizisten, die durch den eiskalten strömenden Regen auf ihn zueilten. Hier oben auf der Anhöhe gab es außer dem Wohnhaus und einer etwas entfernt stehenden Scheune keinerlei Windschutz.

»Guten Tag! Oder sollte ich besser guten Morgen sagen?«

Olof Sjöberg schlug einen gut gelaunten Ton an, doch Alice bemerkte, dass er leicht lallte. Die ausladende Geste, mit der er seine Hand vorstreckte, um sie zu begrüßen, verstärkte ihren Verdacht noch, dass Olof Sjöberg nicht mehr nüchtern war.

Beide Polizisten stellten sich vor. Der Mann auf der Treppe war groß gewachsen, und die Hand, die er ihnen reichte, war grob und schwielig. Sein stahlgraues Haar war zurückgekämmt, konnte jedoch die Glatze auf seinem Oberkopf nicht ganz verbergen. Seine Füße steckten in abgetretenen Holzclogs. Als Kontrast dazu trug er eine elegante dunkelgraue Hose mit einem dunkelblauen Jackett, darunter ein blütenweißes Oberhemd mit einer Krawatte und dazu passendem Einstecktuch. Seine Kleidung signalisierte eher, dass er gerade auf dem Sprung zu einem Geschäftstermin war, als körperliche Arbeit auf dem Hof zu verrichten. Ihn umgab ein starker Duft von exklusivem Rasierwasser und Herrenparfüm. Vielleicht ist es ein Versuch, seine Alkoholfahne zu übertünchen, dachte Alice.

»Womit kann ich der Ordnungsmacht helfen?«

Sein Tonfall war leicht jovial und scherzhaft, während er noch immer direkt vor der Tür stand, ohne Anstalten zu machen, die Polizisten hereinzubitten.

»Haben Sie schon gehört, dass gestern Nachmittag hier in der Gegend ein kleines Mädchen verschwunden ist?«, fragte Alice ihn direkt.

Seine freundliche Miene verschwand und wurde durch Sorgenfalten ersetzt, die ihn an eine Bulldogge erinnern ließen.

»Ja. Ich hab es in den Morgennachrichten gesehen. Äußerst tragisch … Haben Sie sie gefunden?«

Patrik Lind räusperte sich und antwortete in mündigem Ton:

»Nein. Aber wir haben erfahren, dass sie kurz vorher bei Ihrem Sohn Kristoffer im A-Traktor mitgefahren ist. Deshalb würden wir ihn gern mit aufs Revier hinunternehmen und mit ihm reden.«

Unbewusst blies er seinen Brustkorb auf und fixierte Olof ­Sjöberg mit dem Blick. Entspann dich, Patrik, dachte Alice, während sie versuchte, einen Seufzer zu unterdrücken.

»Aha. Das würden Sie also gern.«

Die Kälte in Sjöbergs Worten war nicht zu überhören. Seine Jovialität war plötzlich wie weggeblasen, und seine Aussprache verriet nun deutlich, dass er nicht mehr nüchtern war. Er türmte sich wie ein bedrohlicher dunkler Schatten vor ihnen auf, was durch den Schein der Lampen beidseits der Haustür hinter ihm noch verstärkt wurde. Selbst Patrik begriff, dass sich dieser Auftrag womöglich als nicht ganz so simpel erweisen würde wie angenommen.

»Wir wollen nur mit ihm reden. Und keine offizielle Vernehmung oder dergleichen durchfüh…«

Alice bemühte sich, den Mann zu besänftigen, doch seine Körpersprache verriet, dass er ihr die Erklärung nicht abnahm.

»Nicht ohne meine Anwältin«, unterbrach er sie.

»Aber die benötigen Sie gar nicht … Gegen Kristoffer liegt kein Verdacht vor … Wir wollen wie gesagt nur mit ihm reden …«

»Mein Sohn wird nicht mit aufs Revier nach Strömstad runterkommen, um von irgendwelchen inkompetenten Idioten von Bullen ausgefragt zu werden, ohne dass meine Anwältin anwesend ist!«

Olof Sjöberg ballte während seiner Tirade beide Hände zur Faust.

Alice war klug genug, nichts zu entgegnen, was auf ihren Kollegen leider nicht zutraf.

»Das Gespräch werden die Kriminalinspektoren aus Trollhättan führen. Und die RL, also die Regionale Leitstelle in Göte­borg, wird dafür verantwortlich zeichnen. Nicht Strömstad«, warf er ein.

Er wirkte zufrieden darüber, den wichtigtuerischen Sjöberg zurechtgewiesen zu haben, und bemerkte seinen Fehler erst zu spät.

»Sagt der dämlichste aller Bullenidioten! Richten Sie diesen Idioten aus Trollhättan aus, dass meine Anwältin sich bei ihnen melden wird und wir dann gern einen Termin unten auf dem Revier vereinbaren können. Aber nur in Anwesenheit meiner Anwältin und mir!«

Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt, ging wieder ins Haus und zog die beiden Türhälften krachend hinter sich zu. Alice befürchtete, dass die beiden hübschen Kränze, die außen an der Tür hingen, herunterfallen könnten oder gar die Buntglasscheiben zu Bruch gehen würden.

»Verdammt …«

Patrik starrte ungläubig auf die geschlossene Haustür.

»Komm jetzt, du dämlichster aller Bullenidioten. Wir machen die Biege«, sagte Alice.

Aber sie sagte es mit einem Lächeln. Patrik wusste nicht recht, ob er lachen oder vor Wut schnauben sollte.

»Wir sollen also hier sitzen und darauf warten, bis dieser eingebildete Schnösel und sein Sohn endlich die Güte haben aufzutauchen? Warum haben Sie nicht darauf bestanden, den Jungen sofort herzubringen?«

Der stellvertretende Polizeidistriktleiter aus Trollhättan, Roger Wilén, warf den beiden Polizeimeistern Lind und Åslund auffordernde Blicke zu. Doch noch bevor einer der beiden eine Antwort parat hatte, ergriff ihr Vorgesetzter Kommissar Sven-Ove Berglund das Wort.

»Na ja, Roger. Mit Olof Sjöberg springt man nicht einfach so um. Das kann ich Ihnen versichern«, sagte er und zog vielsagend die buschigen Augenbrauen hoch.

»Und warum nicht? Muss er denn immer ’ne Extrawurst kriegen, oder was?«, wollte Wilén wissen.

Der Kommissar schaute hinunter auf seine braun gefleckten runzligen Hände, die gefaltet auf der Schreibtischplatte lagen. Vielleicht fleht er ja gerade eine höhere Macht um Beistand an, dachte Alice.

»Olof ist ein einflussreicher Mann in dieser Stadt. Ich kenne ihn gut, weil wir zusammen aufgewachsen sind und viele Jahre lang Klassenkameraden waren. Er war schon immer eine … tonangebende Person. Wir sehen uns auch jetzt noch häufig bei diversen Veranstaltungen; die Stadt ist ja nicht gerade groß. Manchmal spielen wir auch zusammen Golf, und im Lauf der Jahre sind wir schon öfter zusammen gesegelt.«

Er hob den Blick und schaute Wilén an, der mit kerzengeradem Rücken vor seinem Schreibtisch stand. Die Uniform saß wie angegossen auf den breiten Schultern des stellvertretenden Poli­zeidistriktleiters, und die Bügelfalten seiner Hose waren messerscharf. Die kaum sichtbaren Haarstoppeln auf seinem Kopf verstärkten den militärischen Eindruck noch, den er auf seine Kollegen machte. Er sah aus, als würde er strammstehen. Leg doch endlich deinen Eispanzer ab, dachte Alice genervt, ohne es jedoch laut zu sagen.

»Ach ja?«, meinte Wilén herausfordernd.

Der Kommissar dachte kurz nach, bevor er weitersprach. Man merkte, dass er seine Worte sorgfältig abwog.

»Er hat von seinem Vater eine florierende Firma geerbt. Und Olof ist genau in dessen Fußstapfen getreten. Die beiden haben einiges für die Wirtschaft in Strömstad geleistet. Als Unternehmer. Und viele Arbeitsplätze geschaffen.«

»Und in welcher Branche?«

Die Frage des stellvertretenden Polizeidistriktleiters kam wie aus der Pistole geschossen. Der ältere Kommissar breitete in einer ausladenden Geste die Arme aus und lächelte dezent.

»Fragen Sie lieber, in welcher Branche nicht. Sein Vater hatte eine große Autowerkstatt gegründet und dann später mit dem ersten und größten Kfz-Vertrieb in Strömstad fusioniert. Und das unmittelbar nach dem Krieg. Aber er war weitsichtig genug, um parallel dazu Grund und Boden zu erwerben, auf dem er Mietshäuser errichten ließ. Olof arbeitete zuerst mit seinem Vater zusammen, und als der Mitte der Achtzigerjahre starb, übernahm Olof die Geschäfte. Er hat sein Erbe gut verwaltet und schließlich expandiert. Jetzt verkauft er Autos, Boote und Häuser. Und nicht erst in den letzten Jahren hat er jede Menge davon an die Norweger veräußert.«

Patrik Lind räusperte sich, und zu Alices Erschrecken schien er etwas sagen zu wollen.

»Uns gegenüber war er jedenfalls ziemlich unhöflich. Und hundert pro betrunken. Es war ja noch nicht mal halb zehn am Morgen«, erklärte er.

Wenn er auf seine Äußerung hin erstaunte Reaktionen erwartet hatte, musste er sich vom Kommissar eines Besseren belehren lassen.

»Tja, das liegt auf der Hand. Wir waren nämlich gestern auf derselben Weihnachtsfeier. Genauer gesagt, Lions Club. Und dort gab es jede Menge Glögg und Weihnachtsbier, kann ich euch sagen. Wenn ich vor ein paar Stunden hätte blasen müssen, hätte der Alkomat bestimmt noch ausgeschlagen.«

Er bedachte den stellvertretenden Polizeidistriktleiter mit einem amüsierten Seitenblick, bevor er hinzufügte:

»Aber natürlich nicht stark. Schließlich musste ich heute zur Arbeit. Aber immerhin habe ich das Auto stehen lassen und bin zu Fuß hergekommen.«

Roger Wilén warf seinem älteren Kollegen einen strengen Blick zu.

»Wussten Sie, dass das Mädchen schon seit gestern Abend verschwunden ist?«

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich bin im Lions-Festkomitee und war schon gegen fünf im Lokal. Normalerweise schließen wir die Wache um siebzehn Uhr, aber ich habe eine Überstunde abgebummelt und bin früher gegangen. Der Notruf ist erst gegen neun reingekommen und direkt an die RL geleitet worden. Die Kollegen dort haben entschieden, drei Leute aus Trollhättan zu schicken, weil in Udde­valla so viele an Grippe erkrankt sind. Und außerdem haben sie dort den Serienvergewaltiger noch immer nicht gefasst. Eine der betroffenen Frauen wurde fast erwürgt und ist nach wie vor ziemlich übel dran. Diese Ermittlung hat höchste Priorität.«

Davon wusste Wilén zwar bereits, aber er nickte dennoch zustimmend.

Er war am Morgen gemeinsam mit zwei von seinen Kriminalinspektoren in Strömstad eingetroffen. Hauptsächlich, um vor Ort an den Ermittlungen teilzunehmen, aber auch, um das Polizeipersonal in der Stadt näher kennenzulernen. Im Augenblick waren seine beiden Inspektoren gerade unterwegs, um mit Amelies Lehrerin und Klassenkameraden zu sprechen. Die Ermittler gingen noch davon aus, dass sich Kristoffer Sjöberg schon auf dem Revier befinden würde, wenn sie zurückkämen, um Nähe­res über die Geschehnisse vom Vortag von ihm zu erfahren. Doch das würde nicht der Fall sein. Stattdessen müssten sie nun warten, bis es Sjöberg und seiner Anwältin behagte, gemeinsam mit Kristoffer aufzutauchen.

Wilén war irritiert, versuchte es jedoch zu verbergen.

»Bei Ihnen ist die Wache ja am Wochenende nicht besetzt, oder? Dann können meine Inspektoren Paula Nilsson und Lars Engman die Räumlichkeiten nutzen. Gibt es noch einen zusätzlichen Raum, falls sie noch bis Anfang nächster Woche bleiben müssen?«

Er streckte seinen Rücken noch ein wenig mehr. Alice meinte fast hören zu können, wie die Nähte seiner Uniform platzten.

»Das sollte kein Problem sein«, antwortete Berglund.

Wenn der Kommissar und Olof Sjöberg gleich alt sind, ist ­Sjöberg also vierundsechzig. Aber Berglund sieht entschieden älter und ausgepowerter aus, dachte Alice. Und dieser Wilén, der bestimmt noch nicht mal vierzig ist, spielt sich wie ein alter ­General auf. Allerdings ist er auch der ranghöchste Polizist hier im Raum, was er der neuen Polizeiorganisation zu verdanken hat.

Nach der Umstrukturierung der schwedischen Polizei im ­Januar 2015 waren die einundzwanzig ehemaligen Polizeibezirke zu sieben Regionen zusammengefasst worden. Strömstad gehörte zur Region West und innerhalb dieser Region zum Dis­t­rikt Fyrbodal. Auch Trollhättan, Vänersborg und Uddevalla ­gehörten dazu. RL stand für die Regionale Leitstelle. Die RL West hatte ihren Sitz in Göteborg, wo auch entschieden wurde, von welchem Ort innerhalb der Region aus eine Polizeiermittlung geleitet und welche Einheiten eingesetzt werden sollten.

Ein Effekt der Reform bestand darin, dass nun in allen Dienststellen ein ziemliches Durcheinander herrschte. Zahlreiche Einheiten, die über Jahre hinweg gut funktioniert hatten, waren aufgebrochen und ihre Mitglieder in andere Abteilungen versetzt worden. Die Kritik der Polizeigewerkschaft an der Reform war massiv, und das Fußvolk war unzufrieden. Viele ältere Polizisten gingen früher als geplant in Pension.

Der stellvertretende Polizeidistriktleiter für Trollhättan gehörte hingegen zu diesen jüngeren Staatsdienern, die es im Zuge der Umstrukturierungen auf der Karriereleiter nach oben katapultiert hatte. Und dass er seine Aufgaben äußerst ernst nahm, war für seine drei Kollegen im Raum offensichtlich. Nach allem, was Sven-Ove Berglund gehört hatte, war er ein kompetenter Polizist. Seine ehemalige Vorgesetzte in Trollhättan Ann-Katrin Svantesson war inzwischen Chefin für Fyrbodal. Von ihr hatte Berglund ebenfalls nur Gutes gehört. Vielleicht würde sich die neue Organisation im Lauf der Zeit ja bewähren, aber er selbst war das Chaos verdammt leid. Er hatte beschlossen, Ende Juni in Pension zu gehen. Doch im Augenblick kam es ihm bis dahin vor wie eine halbe Ewigkeit.

Plötzlich gab die hausintere Gegensprechanlage einen Piepton von sich, und Kicki am Empfang teilte ihnen mit, dass Olof ­Sjöbergs Anwältin gerade angerufen und angekündigt hatte, zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr gemeinsam mit ihren beiden Mandanten aufzutauchen.

Roger Wilén presste seine Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander, und der Blick aus seinen eisblauen Augen schien wie von einer dünnen Frostschicht überzogen zu sein, während sich die Kälte deutlich in seiner Stimme widerspiegelte.

»Tanzen hier etwa alle nur nach der Pfeife dieses Mannes?«

In diesem Augenblick lächelte Sven-Ove Berglund zum ersten Mal an diesem Morgen breit.

»So könnte man es vielleicht ausdrücken.«

Wilén wandte sich an die beiden Polizeimeister, die noch immer im Türrahmen standen.

»Sie können jetzt gehen«, forderte er sie in knappem Ton auf.

Das brauchte er ihnen nicht zweimal zu sagen, denn Patrik und Alice glitten rasch durch die Tür hinaus.

Nachdem sie diese hinter sich geschlossen hatten, drehte ­Wilén ein paar Runden im Zimmer, bevor er vorm Schreibtisch des Kommissars stehen blieb.

»Warum sitzt dieser Sjöberg eigentlich auf einem derart hohen Ross? Nur, weil er die Macht dazu hat? Oder eher, weil sein Sohn in irgendeiner Hinsicht etwas zu verbergen hat?«

Sven-Ove Berglund schwieg eine Weile, bevor er tief Luft holte und zu seinem jüngeren Kollegen hochschaute.

»Setzen Sie sich«, forderte er ihn auf und deutete mit der Hand auf den durchgesessenen Besucherstuhl.

Wilén zog die Bügelfalten seiner Hose zurecht, bevor er sich vorsichtig auf den wackeligen Stuhl setzte und den Kommissar auffordernd anschaute, der sich etwas Zeit nahm, bevor er anfing zu reden.

»Ich bin auf beiden Hochzeiten von Olof Gast gewesen. Er hat sich vor ungefähr zwanzig Jahren von seiner ersten Frau scheiden lassen, nachdem er Ann getroffen hatte. Sie war um einiges jünger und ebenfalls geschieden. Olofs Tochter war schon fast erwachsen, aber Ann hatte keine Kinder. Nach ein paar Jahren bekamen sie dann Kristoffer. Er kam als Frühgeburt zur Welt und musste für eine Weile in den Brutkasten. Sein Zustand war kritisch, aber der Junge schaffte es schließlich. Allerdings musste er noch als Baby am Herzen operiert werden; daran erinnere ich mich noch. Und er hat zusätzlich noch andere … Schäden erlitten, die man ihm allerdings nicht ansieht. Er spricht nicht gerade viel und hält sich eher im Hintergrund. Aber der Junge ist ein Phänomen, was Autos angeht. Insbesondere schwedische Oldtimer und alte Ami-Schlitten. Das ist übrigens auch Olofs großes Hobby, und die beiden werkeln oft gemeinsam. Na ja, für Olof ist es wie gesagt nur ein Hobby, aber für Kristoffer ist es ein Job und sein … Lebensmittelpunkt. Er ist unglaublich geschickt!«

»Also schützt der Vater den Jungen wegen seiner geistigen Behinderung vor uns, oder was?«, fragte Wilén scharf.

»Geistige Behinderung … Kristoffer ist nicht geistig behindert. Im Gegenteil. Er ist nur etwas anders«, entgegnete der Kommissar sanftmütig.

Er betrachtete den adrett gekleideten stellvertretenden Polizeidistriktleiter, der kerzengerade auf seinem Besucherstuhl saß. Der Typ senkt ja nicht mal für eine Sekunde die Garde, dachte er. Er selbst würde ihm natürlich nicht unter die Nase reiben, dass er Pate des Jungen war.

»Für das, was Sie Olofs schützende Art nennen, gibt es einen Grund. Vor zehn Jahren starb Ann. Sie erlitt unter der Dusche einen Schlaganfall und brach tot zusammen. Völlig unerwartet. Und seitdem halten Olof und Kristoffer zusammen. Sie haben ein sehr enges Verhältnis«, erklärte er.

Wilén betrachtete seinen Kollegen nachdenklich, bevor er fragte:

»Wie alt ist Kristoffer?«

»Siebzehn. Olof hat mir gestern auf der Weihnachtsfeier erzählt, dass der Junge gerade seinen Führerschein macht und ­dabei offenbar keinerlei Probleme hat. Er rechnet damit, den Lappen im April ausgehändigt zu bekommen, wenn er achtzehn wird.«

»Aber bis dahin fährt er in einem A-Traktor herum.«

Wilén schwieg nach seiner Feststellung und schien intensiv nachzudenken. Schließlich stand er auf.

»Ich komme gegen drei Uhr wieder. Die Befragung will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Wir sehen uns!«

Mit diesen Worten verließ er den Raum und verschwand energischen Schrittes die Treppe hinunter. Der Kommissar blieb noch eine ganze Weile sitzen und starrte auf den Textildruck an der Wand, der schon seit der Zeit seines Vorgängers an ein und demselben Platz hing. Die starren Kürbisblüten darauf hatten im Lauf der Jahre einen ausgeblichenen Grauton angenommen. Der Druck trug in keiner Weise dazu bei, die Stimmung im Raum aufzuheitern, doch weil er schon immer dort gehangen hatte, ließ man ihn hängen. Er wurde sowieso von niemandem mehr beachtet.

Dann richtete sich Berglund auf seinem Stuhl auf, nahm sein Handy aus der Brusttasche und wählte eine Nummer an. Daraufhin meldete sich eine mechanische Stimme, die ihn bat, nach dem Signal eine kurze Nachricht zu hinterlassen. Als das Piepen abgeklungen war, sagte Berglund:

»Hej, Olof. Hier ist Sven-Ove. Ruf mich so bald wie möglich auf meinem privaten Handy an.«

Zehn Minuten vor vier parkte Olof Sjöberg seinen Mercedes-Benz S-Klasse auf dem Marktplatz vorm Polizeigebäude. Dort steht fast eine Millionen Kronen, dachte Wilén und musste wider­willig zugeben, dass ihn der Wagen beeindruckte. Was natürlich Absicht war. Der knallrote Jaguar XE von Carlotta Stark stand bereits da, denn sie war fünf Minuten früher eingetroffen. Demnach hatten sich die beiden hier verabredet. Wilén war leicht irritiert, sagte jedoch nichts. Selbst er wusste, wer diese Frau war, und wollte sich nicht gleich bei der ersten Begegnung mit ihr anlegen. Carlotta Stark hatte eine gewisse Wirkung auf ihre Umgebung und war sich dessen auch in höchstem Maße bewusst.

Wenn sie einen Raum betrat, rückte sie unverzüglich in den Mittelpunkt, während alle anderen in den Hintergrund traten. Nicht, dass sie besonders groß gewesen wäre, aber sie besaß großzügige Kurven, die sie mit weiblichem Selbstbewusstsein präsentierte. Anstatt sich unter zeltähnlichen Tuniken und weiten Blazern zu verstecken, trug sie immer eng anliegende Kleider oder Kostüme. Die Blusen und Tops darunter waren oftmals aus Seidenstoffen und immer tief ausgeschnitten. Es gehörte zu ihrer Strategie, den Spalt zwischen ihren üppigen Brüsten zu zeigen, was manchmal allerdings etwas unpassend anmutete. In ihrem Ausschnitt glitzerte oft eine teure Halskette, die ebenfalls alle Blicke auf sich zog. Sie trug immer hochhackige Schuhe oder Stiefel, in denen sie sich erstaunlich elegant bewegte. Und ­obwohl sie schon fünfzig war, kam es vor, dass selbst dem strengsten Richter die Hand zitterte, wenn er den Hammer ergriff. Hin und wieder hatten sogar schon die Hände weiblicher Gesetzeshüter gezittert. Rechtsanwältin Stark registrierte dies natürlich, ließ sich aber nichts anmerken. Stattdessen belohnte sie alle mit einem strahlenden Lächeln und einem Blick aus ihren leuchtend blauen Augen, bevor sie spielerisch ihre dunklen Locken knetete. Doch sobald sie zu sprechen begann, war Schluss mit der Koketterie. Sie argu­mentierte messerscharf und verlor nur selten oder nie einen Prozess.

»Und in welchem Raum werden wir sitzen?«, fragte sie Kommissar Berglund.

»Wir können hier in diesem Raum bleiben. Der ist am größten, und ich habe noch zusätzliche Stühle bereitgestellt«, antwortete er und stand auf.

Mit einem dezenten Lächeln in Wiléns Richtung stellte er sich in eine Ecke und signalisierte mittels seiner Körpersprache deutlich, dass er nur als Zuhörer fungieren würde. Der stellvertretende Polizeidistriktleiter blieb am Fenster stehen, wo er schon stand, als er vor einer Dreiviertelstunde hergekommen war. Er lehnte sich gegen die Fensterbank und versuchte sich entspannt zu geben. In Wahrheit machte ihn die Anwesenheit Carlotta Starks jedoch nervös, was ihn wiederum ärgerte. Zugleich faszinierte ihn diese Frau, denn sie war innerhalb des Rechtswesens eine Legende. Und jetzt würde sie bei der Befragung von Kristoffer Sjöberg als Beisitzerin fungieren.

Vater und Sohn betraten den Raum genau in dem Moment, als eine der Kriminalinspektoren aus Trollhättan ankam. Paula Nilsson arbeitete schon seit fast fünfzehn Jahren mit Roger ­Wilén zusammen. Als sie sich zum ersten Mal begegneten, waren beide frisch examinierte Inspektoren gewesen. Ein paar Jahre später wurde er dann zum Kommissar befördert und schließlich zum stellvertretenden Polizeidistriktleiter. Sie selbst war noch immer Inspektorin und geschiedene Mutter dreier Kinder. Ungleich verteilt sind des Lebens Güter, dachte Paula, doch ihr fehlte die Kraft, um noch länger verbittert darüber zu sein.

Olof Sjöberg ging auf die Rechtsanwältin zu und umarmte sie freundschaftlich. Im Raum war das Geräusch zweier schmatzender Wangenküsschen zu vernehmen. Roger Wilén bemerkte, wie sie für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte, um sich dann mit einem Lächeln aus seiner Umarmung zu lösen und dem Teenager zuzuwenden, der an der Tür stand.

»Hej, Kristoffer! Dich hab ich ja schon seit dem Hummerfest nicht mehr gesehen!«, sagte sie gut gelaunt.

Allerdings machte sie keine Ansätze, auf den Jungen im Türrahmen zuzugehen. Er schaute sie nicht an, sondern nickte nur flüchtig.

Kristoffer trug ein rot kariertes Flanellhemd, unter dem ein dunkelblaues T-Shirt hervorlugte. Dazu Jeans und an den Füßen grobe Stiefel, während er in der einen Hand eine blaue Kappe hielt. Seine Kleidung wirkte neu und sauber. Er selbst war hoch aufgeschossen und schmal mit langen Armen und Beinen. Auch seine Hände waren bemerkenswert groß. Sein Gesicht war von starker Akne entstellt, doch wenn er erst etwas älter wäre, würde er bestimmt zu einem gut aussehenden Mann heranreifen. Siebzehn, bald achtzehn, hatte Berglund gesagt, doch er wirkte jünger. Sein dunkelblondes Haar trug er in einer typischen Rockabilly-Frisur, wie Wilén es nennen würde, mit einer langen Tolle, die er über den Oberkopf zurückgekämmt und mit Haargel ­fixiert hatte. Sein Blick flackerte hin und wieder durch den Raum, doch die meiste Zeit schaute er zu Boden.

Olof ging auf seinen Sohn zu und legte beschützend einen Arm um seine Schultern.

»Komm, jetzt reden wir ein wenig mit diesen Polizisten hier, und dann fahren wir wieder nach Hause und machen mit dem Pontiac weiter.«

Angesichts der letzten Worte nickte der Junge vage, den Blick noch immer auf den Boden gerichtet.

Nachdem sich alle Anwesenden vorgestellt hatten, bat Roger Wilén sie, sich zu setzen. Dann begann er vorsichtig seine Fragen zum Geschehen am Vortag zu stellen.

Es lief von Anfang an zäh. Kristoffer antwortete einsilbig auf alle Fragen, indem er nickte, den Kopf schüttelte oder auch gar keine Regung zeigte. Hin und wieder flackerte sein Blick auf, doch er suchte nie zu irgendwem Augenkontakt. Die meiste Zeit saß er unbeweglich auf seinem Stuhl und schaute zu Boden.

Die Polizisten erhielten schließlich die Bestätigung, dass Tuva, seine Cousine zweiten Grades, ihn an der Bushaltestelle unterhalb der Schule angehalten und gebeten hatte, Amelie mitzunehmen, nachdem diese den Bus verpasst hatte. Daraufhin hatte er sie an der Bushaltestelle in der Nähe ihres Elternhauses abgesetzt und war dann direkt nach Breidablick weitergefahren. Auf die Frage, was er getan hatte, nachdem er zu Hause angekommen war, antwortete er nur »Pontiac«. Als Roger Wilén ihn bat, seine Antwort etwas auszuführen, zuckte er nur mit den Achseln und wiederholte »Pontiac«.

Daraufhin räusperte sich Olof und erklärte:

»Es geht um einen Pontiac Firebird von achtundsechzig, den wir heute ausliefern sollen. Der neue Besitzer kommt gegen Abend vorbei, sodass wir es gestern Abend etwas eilig hatten. Wir haben bis achtzehn Uhr gemeinsam in der Werkstatt gearbeitet. Oder, Kristoffer?«

Der Junge nickte, sagte aber noch immer nichts.

»Waren Sie zu Hause, als Kristoffer kam?«, fragte Wilén.

Olof lehnte sich unbefangen zurück, woraufhin die Rückenlehne des durchgesessenen Stuhls unheilvoll knackte.

»Nein, ich kam kurz nach ihm. Er hat noch keinen Führerschein, sodass ich mich allein auf den Weg gemacht habe, um einen Wagen Probe zu fahren. Ein aufwendiges Renovierungsobjekt. Aber ich hab mich beeilt, nach Hause zu kommen, um Kristoffer noch für eine Weile mit dem Pontiac helfen zu können. Abends war ich dann auf der Weihnachtsfeier der Lions, aber er war nicht allein. Kurz bevor ich losfuhr, kamen seine Kumpels Anton und Gabriel.«

»Wann genau sind Sie am Nachmittag nach Hause gekommen?«

»Tja … so gegen Viertel vor vier.«

Wenn Olof Sjöberg kurz vor sechzehn Uhr heimgekommen war, konnte Kristoffer kaum etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun haben. Amelie hatte kurz etwas gegessen und war auf der Toilette gewesen, was nicht länger als fünf bis zehn Minuten gedauert haben dürfte. Kristoffer hätte Amelie also nicht an der Bushaltestelle abpassen können, um das Mädchen wegzulocken. Hypothetisch hätte er ihr ja weismachen können, dass er sie wieder zur Schule zurückfahren würde, um sie stattdessen zu entführen und sich an ihr zu vergehen. Danach hätte er sich ihrer dann entledigt, um schließlich gegen Viertel vor vier wieder zu Hause zu sein. Doch all das hätte er unmöglich in weniger als einer halben Stunde schaffen können. Oder etwa doch? Von der Bushaltestelle, an der der Junge Amelie abgesetzt hatte, waren es gute zweieinhalb Kilometer bis nach Breidablick. Wilén dachte angestrengt nach, bekam die Gleichung aber nicht richtig zusammen. Die Zeit war definitiv zu knapp. Ein A-Traktor fährt viel zu langsam, maximal dreißig Stundenkilometer. Vorausgesetzt, er ist nicht getunt. Vielleicht sollte man das überprüfen lassen, dachte er.

»Dann wären wir also fertig für heute!«

Als Carlotta Stark von ihrem Stuhl aufstand und mit einer graziösen Handbewegung den Stoff ihres schwarzen Rocks glättete, zuckten alle Anwesenden im Raum zusammen. Ihre blutroten Fingernägel waren farblich genau auf den üppigen Rubin abgestimmt, der im Ausschnitt ihrer cremefarbenen Seidenbluse funkelte. Während der Befragung hatte sie kein Wort gesagt, doch jetzt wurde sie auf einen Schlag zur Hauptfigur im Raum. Mit einem königinnenhaften Winken gab sie Olof und Kristoffer ein Zeichen, ebenfalls aufzustehen, was die beiden auch gehorsam taten.

»Wie gesagt. Wenn Sie noch einmal mit Kristoffer sprechen möchten, würde ich Sie bitten, Olof oder mich zu kontaktieren«, sagte sie, bevor sie mit Vater und Sohn im Kielwasser durch die Tür nach draußen verschwand.

Keiner der Polizisten im Raum war in der Lage, noch irgendetwas Vernünftiges von sich zu geben, bevor ihr Vernehmungsobjekt auch schon verschwunden war. Es dauerte eine Weile, doch dann spürte Wilén, wie es in seinem Hirn vor Wut kochte.

»Beordere diesen verfluchten A-Traktor in die Technik und lass überprüfen, ob er getunt ist«, forderte er Paula Nilsson mit grimmiger Miene auf.

Diese nickte bestätigend und betrachtete ihn dann nachdenklich.

»Hast du auch gemerkt, dass Sjöberg nach Sprit stank?«, fragte sie.

»Äh … ist mir nicht aufgefallen«, gab Wilén zu.

Paula und er kannten sich so gut, dass er es ohne Gesichtsverlust aussprechen konnte.

»Ich hab es gleich bei der Begrüßung gerochen. Und ich glaub, dieser entsetzlichen Lady Stark ist es auch aufgefallen, als sie sich umarmten.«

Diese entsetzliche Lady Stark. Ja, schon möglich. Aber was für Titten!, dachte Wilén und errötete leicht.

Es war schon fast neunzehn Uhr. Roger Wilén fand, dass es an der Zeit wäre, irgendwo ein Restaurant aufzusuchen und etwas zu essen, bevor er sich wieder in seinen Wagen setzen würde, um die hundertzwanzig Kilometer nach Hause zurückzufahren. Er stand von seinem Stuhl auf und gähnte. Endlich würde er diese miefigen Räumlichkeiten verlassen können. Morgen würde er die Ermittlungsarbeit von Trollhättan aus weiterverfolgen, und die Kollegen vor Ort müssten übernehmen. Bis jetzt hatte die Suche noch keinerlei Hinweise erbracht, aber sie würden die ganze Nacht hindurch weiterarbeiten. Inzwischen war daraus ein Kampf gegen die Zeit geworden mit dem Ziel, Amelie wohlbehalten wiederzufinden. Oder auch tot.

Als er seinen Körper gerade von oben bis unten streckte, klingelte plötzlich das Telefon auf dem Schreibtisch. Merkwürdig, denn er war ganz allein auf dem Revier. Alle anderen einschließlich der jungen Empfangsdame waren schon nach Hause gegangen. Wer hatte das Telefonat durchgestellt? Es klingelte weiter auffordernd, sodass er schließlich beschloss ranzugehen. Was er sofort bereute.

»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht? Wollen Sie dem Jungen etwa den Rest geben? Sie mit Ihren verfluchten Psychoallüren!«

Der Anrufer brauchte sich nicht mit Namen zu melden, denn Wilén hörte sofort, dass es Olof Sjöberg war. Und er klang nicht gerade nüchtern, als er das Wort »Pschyschoallüren« herausbrüllte. Offenbar hatte er sich noch mehr Alkohol einverleibt, nachdem er vom Termin auf dem Polizeirevier heimgekommen war.

»Jetzt beruhigen Sie sich doch. Was meinen Sie eigentl…«