Die Tote im Keller - Helene Tursten - E-Book

Die Tote im Keller E-Book

Helene Tursten

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Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 7

Ein totes Mädchen und skrupellose Menschenhändler – Irene Huss ermittelt!

In einer eisigen Göteborger Winternacht stoßen Polizisten in einem alten Erdkeller auf die Leiche eines Mädchens. Offensichtlich wurde es über längere Zeit gefangen gehalten, missbraucht und brutal ermordet. Wer war die Tote, die niemand zu vermissen scheint?

Die Ermittlungen führen Irene Huss ins Göteborger Rotlichtmilieu. Mit Hilfe ihrer Kollegin vom Dezernat für Menschenhandel kommt sie dem Kopf eines internationalen Mädchenhändlerrings auf die Spur, der sich gerade in der Stadt aufhält. Sie folgt der Fährte bis nach Teneriffa. Nach und nach deckt Irene Huss die Hintergründe dieses schmutzigen Geschäfts auf und bringt sich auf der Suche nach den Hintermännern schließlich selbst in höchste Gefahr. Aber wer hat das Mädchen tatsächlich auf dem Gewissen? Schleuser, Zuhälter, Freier?

Noch ahnt niemand, dass der Mörder näher ist als gedacht …

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Seitenzahl: 415

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »En man med litet ansikte« bei Piratvörlaget, Stockholm.
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Helene Tursten Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagfoto: plainpicture / Johner SL · Herstellung: SK ISBN 978-3-641-06649-9V003
www.btb-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

In einer eisigen Göteborger Winternacht wird in einem alten Erdkeller die Leiche eines Mädchens gefunden. Wer war die Tote, die niemand zu vermissen scheint? Kriminalinspektorin Irene Huss nimmt die Ermittlungen auf, die sie ins Göteborger Rotlichtmilieu führen. Mit Hilfe ihrer Kollegin vom Dezernat für Menschenhandel kommt sie dem Kopf eines internationalen Mädchenhändlerrings auf die Spur, der sich gerade in der Stadt aufhält. Sie folgt der Fährte bis nach Teneriffa. Nach und nach deckt Irene Huss die Hintergründe dieses schmutzigen Geschäfts auf, bis sie selbst zwischen die Fronten der skrupellosen Drahtzieher gerät und sich dabei in höchste Gefahr bringt. Noch ahnt niemand, dass der Mörder näher ist als gedacht …

 

HELENE TURSTEN wurde 1954 in Göteborg geboren und war lange Jahre als Zahnärztin tätig, bevor sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Sie lebt in Sunne / Värmland und ist verheiratet mit einem ehemaligen Polizisten. Helene Tursten ist eine der meistgelesenen Krimiautorinnen Schwedens. Ihre Serie um Kriminalinspektorin Irene hat mittlerweile auch in Deutschland eine riesige Fangemeinde und wurde erfolgreich verfilmt.

Für Hilmer mit all meiner Liebe und Dank dafür, dass du es dieses Mal auch wieder ausgehalten hast.

Im Licht des Neumonds standen die Sterne wie Diamantsplitter im blauschwarzen Januarhimmel und spiegelten sich im Raureif, der Göteborg überzog. Das Außenthermometer des Streifenwagens zeigte 15 Grad minus an. Im Laufe der Nacht würde die Temperatur wahrscheinlich noch weiter fallen. Die strenge Kälte umklammerte bereits seit zwei Wochen das ganze Land mit eisernem Griff. Bisher war in Westschweden allerdings noch kein Schnee gefallen.

Der Inspektor der Ordnungspolizei Stefan Eriksson saß gähnend in der behaglichen Wärme des Streifenwagens und ließ den Motor laufen, ohne einen Gedanken an die Umwelt zu verschwenden. Bei diesem Wetter kam es vor allem darauf an, die Kälte auf Abstand zu halten. Gedankenverloren schaute er zu der erleuchteten Theke der Imbissbude hinüber. Sein Kollege Petrén stand ganz vorne in der Schlange und bezahlte gerade. Ein Becher Kaffee und ein Cheeseburger mit allem war genau das, was er jetzt, eine Stunde vor Ende der Abendschicht, brauchte. Erikssons Magen knurrte laut und bestätigte, dass es wirklich höchste Zeit war. Sie hatten beide nichts mehr gegessen, seit um 16 Uhr ihre Schicht begonnen hatte. Nicht weil sonderlich viel zu tun gewesen wäre, sondern weil ausgerechnet, als sie zum Essen ins Revier fahren wollten, in einer Pizzeria in Gamlestan eine Schlägerei ausgebrochen war.

Ohne übermäßige Eile waren sie also wieder umgedreht und nach Norden zur angegebenen Adresse gefahren. Die Ankunft der Streife hatte eine beruhigende Wirkung auf die drei Schläger ausgeübt, und nach einer Weile hatten Eriksson und Petrén die Lage unter Kontrolle gehabt. Keiner der Beteiligten hatte eine Anzeige erstatten wollen. Plötzlich waren sie sich geradezu rührend einig gewesen, dass es sich nur um eine hitzige Diskussion gehandelt habe. Die Tatsache, dass einer von ihnen ein gebrochenes Nasenbein hatte und so stark blutete, dass ihn der Krankenwagen zur Notaufnahme des Östlichen Krankenhauses fahren musste, war einfach nur ein bedauerliches Missgeschick. Gleiches hatte auch für die starken, roten Schwellungen in den Gesichtern der anderen gegolten, die sich in Kürze blau verfärben würden. Da kein weiteres Eingreifen von Seiten der Polizei erwünscht gewesen war, hatten Eriksson und Petrén die Pizzeria verlassen, nachdem zuvor der Mann mit dem gebrochenen Nasenbein zur Wiederherstellung seiner Gesichtssymmetrie vom Krankenwagen abgeholt worden war. Ein Bericht über den Vorfall musste reichen.

Danach waren sie sich einig gewesen, dass ihnen der Appetit auf Pizza vergangen war, und so waren sie zur Imbissbude am Delsjövägen gefahren. Dort gab es immer Parkplätze, und das Essen genoss einen guten Ruf. Behauptete zumindest Petrén. Er war Junggeselle und ernährte sich kaum von etwas anderem.

Eriksson wurde aus seinen Gedanken gerissen, als das Funkgerät krächzte:

»Allgemeine Durchsage. Ein BMW 630, silbermatallic, ist vor ein paar Minuten auf der Stampgatan gestohlen worden. Der Eigentümer hat zwei jüngere Männer in das Auto einsteigen und die Skånegatan in Richtung Liseberg davonfahren sehen. Personenbeschreibung: Beide trugen dunkle, gestrickte Mützen und dunkle Kleidung. Der Zeuge beschrieb sie als mittelgroße, eher schmächtige Hiphop-Kids. Das Kennzeichen des Fahrzeugs ist…«

Skånegatan Richtung Liseberg, also direkt am Präsidium vorbei. Ganz schön dreist!, dachte Eriksson und sah Petrén dabei zu, wie er mit der Cheeseburgertüte in der einen Hand und den Kaffeebechern mit Deckeln in der anderen auf das Auto zueilte. Es wirkte recht gewagt, wie er die heißen Becher in seiner behandschuhten Hand balancierte. Hilfsbereit beugte sich Eriksson über den Beifahrersitz und öffnete seinem Kollegen die Tür. Petrén ging in die Knie, um sich zu setzen, als er plötzlich, einen Fuß bereits im Auto, den anderen noch auf der Straße, innehielt. Eriksson spürte, wie es im warmen Wageninneren rasch kälter wurde. Verärgert sagte er:

»Jetzt hock deinen Arsch hin, bevor…«

Mitten im Satz brach er jedoch ab. Mit Fernlicht und heulendem Motor raste auf dem Delsjövägen ein Auto auf sie zu. Der Streifenwagen war Richtung Zentrum geparkt, und der andere Wagen war, so schnell es mit Gürtelreifen auf Alufelgen nur ging, in der Gegenrichtung unterwegs. Eriksson registrierte, dass der Wagen hell war, wahrscheinlich silberfarben, als er ein paar Meter weiter an der Straßenlaterne vorbeischoss. Es war eindeutig ein größerer BMW. Der Wagen geriet etwas ins Schlingern, als der Fahrer das Gaspedal durchtrat und mit quietschenden Reifen am Polizeiwagen vorbeikam.

»Scheiße, Petrén! Das ist der BMW!«, schrie Eriksson.

»Was für ein BMW?«, fragte Petrén und ließ sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken.

»Nach dem gefahndet wurde, als du draußen warst! Gib durch, dass wir die Schweine haben!«

»Geht nicht.«

»Was?«

»Beide Hände voll.«

Petrén hielt die Tüte und die Becher hoch.

»Verdammt … Schmeiß das Zeug raus!«, rief Eriksson.

Wortlos betätigte Petrén mit dem rechten Ellenbogen den Fensterheber. Das leise Surren, mit der sich die Seitenscheibe senkte, ging im Quietschen der Reifen unter, die auf dem Asphalt durchdrehten. Ohne Zögern entsorgte Petrén die Tüte mit den Burgern und die Becher mit dem Kaffee durch das Seitenfenster. Während die Scheibe nach oben glitt, griff er zum Mikro und funkte die Zentrale an.

»Streife Elf Null Eins vom Imbiss am Delsjövägen. Der gesuchte BMW ist gerade an uns vorbeigefahren. Er fährt in Richtung Kålltorp. Mit hoher Geschwindigkeit. Nehmen Verfolgung auf. Over.«

»Sehr gut, Elf Null Eins. Ich fordere Verstärkung an. Dreizehn Null Vier kommt gerade vom Östlichen Krankenhaus und kann aus der anderen Richtung den Weg abschneiden. Weitere Fahrzeuge unterwegs.«

Eriksson fuhr so schnell es ging. Die Rücklichter des BMW bewegten sich auf das hellerleuchtete, schachtelartige Gebäude des Schwedischen Fernsehens zu. Energisch drückte er aufs Gaspedal. Plötzlich flammten die Rücklichter vor ihm auf wie zwei rote Leuchtraketen. Der BMW schlitterte über die Fahrbahn und schien beinahe von der Straße abzukommen.

Die beiden Polizisten sahen, wie etwas in die Luft geschleudert wurde und dann neben dem Auto aufprallte. Was immer es gewesen sein mochte, jetzt lag es unbeweglich auf der Fahrbahn, direkt neben dem Bürgersteig. Als der Fahrer vor ihnen sein Fahrzeug wieder unter Kontrolle hatte, gab er sofort wieder Vollgas.

Der Streifenwagen wurde langsamer und hielt an.

»Verdammt! Sie haben jemanden angefahren! Fordere Hilfe an!«, schrie Eriksson aufgebracht.

Petrén griff erneut zum Mikro:

»Hier ist Elf Null Eins. Die Flüchtigen haben vor der Fernsehanstalt einen Fußgänger angefahren! Schickt einen Krankenwagen und Verstärkung. Wir bleiben am Unfallort. Over.«

»Verstanden. Wir schicken einen Krankenwagen und eine weitere Streife. Die anderen Einheiten folgen dem BMW.«

Letzteres hörte Stefan Eriksson schon nicht mehr, weil er aus dem Wagen gesprungen war. Mit wenigen großen Schritten war er bei der reglosen Gestalt.

Er sah sehr viel Blut. Und die große, dunkle Blutlache wuchs mit einer entsetzlichen Geschwindigkeit. So ein Blutverlust war tödlich. Eriksson wusste irgendwie, dass der Mann vor ihm bereits tot war. Trotzdem näherte er sich vorsichtig dem Kopf des Opfers, um nach der Halsschlagader zu tasten. Als er sah, in welchem Zustand sich der Kopf befand, ließ er es bleiben. Damit ein Mensch überleben konnte, musste er noch ein Gehirn haben. Dies war hier nicht mehr der Fall.

Eriksson hatte während seiner Dienstjahre viele Verkehrstote gesehen, aber dieser bot einen ungewöhnlich unerfreulichen Anblick. Es würde nicht leicht sein, den Toten zu identifizieren. Aus der Ferne hörte er die Sirenen des Krankenwagens. Er drehte sich um. Sein Kollege baute gerade die Absperrungen mit der reflektierenden Aufschrift »Polizei« auf. Das Blaulicht ihres Streifenwagens tauchte den Unfallort in ein gespenstisches Licht. Einige Pkws hatten in einiger Entfernung angehalten, aber es gelang Petrén, die Insassen dazu zu bewegen, sitzen zu bleiben.

Das Opfer lag mit unnatürlich verdrehten Beinen auf dem Rücken. Der linke Unterschenkel war offensichtlich vollkommen abgetrennt. Der linke Arm war im rechten Winkel ausgestreckt, die Hand fehlte. Eriksson schaute sich um und entdeckte einen Klumpen auf dem Bürgersteig, bei dem es sich vermutlich um die abgerissene Hand handelte. Die Kleidung ließ darauf schließen, dass das Opfer männlich war. Er trug einen schwarzen oder dunkelblauen Overall. Die rechte Hand lag kraftlos auf der Brust. Das verlieh der übel zugerichteten Leiche einen geradezu friedlichen Ausdruck. Als hätte der Mann eingesehen, dass er sterben würde, und instinktiv die Hand aufs Herz gelegt, um seinen letzten Schlag zu spüren.

Dicht hinter dem Krankenwagen traf der zweite Streifenwagen ein. In dem blinkenden Licht der Blaulichter sah Eriksson plötzlich, dass es in der Herzregion, neben der Hand des Toten, schwach glomm. Er versuchte der Blutlache auszuweichen, als er näher herantrat, um besser sehen zu können.

Erst weigerte sich sein Kopf zu akzeptieren, was er da sah. Er erkannte es mühelos wieder, da er es schon unzählige Male gesehen hatte. Als sich Petrén mit den eben eingetroffenen Kollegen zu ihm gesellte, deutete Eriksson mit zitterndem Finger auf die Brust des Opfers.

Einige Minuten nach dem Unfall vor der Fernsehanstalt rief jemand, der an der Straßenbahnhaltestelle in Lilla Torp gestanden hatte, bei der Polizei an. Ein Auto sei in die Töpelsgatan eingebogen und mit sehr hoher Geschwindigkeit in Richtung Naherholungsgebiet Delsjö gefahren. Die Windschutzscheibe sei stark beschädigt gewesen und ein junger Mann habe sich aus dem Seitenfenster gelehnt, um dem Fahrer den Weg zu weisen.

Mehrere Streifen wurden sofort darauf angesetzt. Der Weg, der zum Badeplatz am Delsjö führte, hatte unzählige Abzweigungen. Außerdem lag dort noch eine Schrebergartensiedlung mit vielen schmalen Wegen und Parkplätzen. Die Autodiebe konnten auch einen der Reitwege genommen haben. Es war durchaus möglich, ein Auto in der Dunkelheit unter ein paar Bäumen zu verstecken. Die Laubbäume waren im Januar zwar kahl, aber die Nadelbäume bildeten zu beiden Seiten des Weges eine dichte Wand.

Bereits nach zehn Minuten hatte eine Streife den verlassenen BMW gefunden. Sie brauchten nur dem Schein eines Feuers zwischen den Bäumen zu folgen. Die Flüchtigen hatten das Auto angezündet. Den Polizisten gelang es, das Feuer mit Hilfe des Feuerlöschers in ihrem Streifenwagen zu ersticken. Das Innere des Wagens hatte noch nicht richtig Feuer gefangen, aber die Spurensuche gestaltete sich jetzt natürlich viel schwieriger. Die Windschutzscheibe hielt noch in der Fassung, war aber so stark beschädigt worden, dass man nicht mehr hindurchsehen konnte. Der Wagen stand vor einem stabilen Schlagbaum.

Weitere Streifenwagen wurden rasch herbeizitiert, und die Polizisten begannen das Terrain zu durchkämmen. Der Schein der Taschenlampen flackerte zwischen den Baumstämmen. Die Gegend war hügelig und wegen des dichten Unterholzes unübersichtlich. Auf der einen Seite der Abzweigung ging es steil nach unten zu einem Bach, auf der anderen führte ein steiler Hang hinauf zum Alfred-Gärdes-Weg, der auf den Badeplatz zulief.

Auf halber Höhe am Hang stand ein kleineres, verrammeltes Gebäude aus Backstein. Wahrscheinlich hatte es der Aufbewahrung von Werkzeug gedient. Türen und Fenster waren durch Hartfaserplatten ersetzt worden. Das gesamte Gebäude wirkte baufällig. Es stand wahrscheinlich nur noch, weil es sich nicht entscheiden konnte, in welche Richtung es umstürzen sollte. Mehrere Polizisten umzingelten das Haus. Sie versuchten sich so leise wie möglich zu bewegen. Der Atem, der vor ihren Mündern kondensierte, verriet, wie rasch sie Luft holten. Die Atmosphäre war gespannt, da niemand wusste, ob die Autodiebe bewaffnet waren. Eine Polizistin schlich sich an eine teilweise aufgebrochene Hartfaserplatte heran, die schräg vor der Türöffnung hing. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und zog ihre Pistole. Ein Kollege folgte ihr mit einem Brecheisen.

»Das Haus ist umstellt! Widerstand ist zwecklos! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, rief einer ihrer Kollegen von der anderen Seite des Hauses.

Aus dem baufälligen Haus war kein Laut zu hören. Die Kälte knackte in den Baumstämmen, und das gefrorene Laub raschelte, sobald einer der Beamten sich bewegte. Im Übrigen herrschte vollkommene Stille in der Dunkelheit. Die Beamtin an der Tür nickte ihrem Kollegen zu, und dieser rammte sein Brecheisen seitlich in die halbzerbrochene Hartfaserplatte und drückte mit aller Kraft dagegen. Mit einem Knarren gab sie nach und fiel zur Seite. Der Mann mit dem Brecheisen suchte wieder an der Hauswand Deckung und knipste seine Taschenlampe an. Ohne den Kopf vorzustrecken, leuchtete er in die kompakte Dunkelheit des Hauses.

Keine Bewegung. Nichts.

Nach einer Weile wagten sich die beiden Beamten vorsichtig durch die Türöffnung. Einige nervöse Sekunden später waren erstaunte Rufe, Gekicher und hysterisches Lachen zu hören.

»Alles in Ordnung. Es ist irgendein Tier«, rief der Polizist.

»Es kommt jetzt raus«, war die Stimme der Frau zu vernehmen.

Ein winziges Etwas kam durch die Türöffnung gewackelt und blinzelte verwirrt im grellen Schein der Taschenlampen. Es hob die Schnauze hoch in den kalten Sternenhimmel und schnupperte misstrauisch. Die Polizisten lachten und zielten mit ihre blendenden Taschenlampen in eine andere Richtung, um da Tier zu schonen. Für einen Dachs war es im Freien jetzt wirklich zu kalt, daher machte er auch einfach wieder kehrt un trottete zurück ins Haus, wo er fast mit den beiden Beamte zusammengestoßen wäre. Sie traten zur Seite und gestattete dem schlaftrunkenen Tier, sich wieder zurückzuziehen. Anschließend traten sie ins Freie und versicherten einhellig, in dem Hau befinde sich keine Menschenseele.

Inzwischen traf der Wagen mit den Suchhunden ein und parkte oben auf dem Weg.

»Jetzt kommen die Wauwaus«, kommentierte die Polizistin.

»Das ist gut. Ziellos durch die Dunkelheit zu jagen ist schließlich vollkommen unsinnig. Die können hier überall sein«, erwiderte ihr Kollege.

Aufgeregtes Bellen war zu hören, als die hinteren Türen des Lieferwagens geöffnet wurden – die Hunde wussten, dass e jetzt bald an die Arbeit ging.

Dass es den Flüchtigen gelungen war, das Auto in Brand z stecken, erwies sich als großer Nachteil. Die Hunde schnupperten eifrig im Fahrzeug und um dieses herum, schienen aber keine brauchbare Spur zu finden. Es roch zu stark nach Rauch und dieser Gestank hatte alle andere Gerüche in dem Auto getilgt. Die beiden Hundeführer begannen stattdessen, sich i Kreisen um den BMW herumzubewegen. Plötzlich winselte einer der Schäferhunde und zerrte seinen Halter den Hang zum Alfred-Gärdes-Weg hoch. Die Angespanntheit der Poliziste nahm zu, alles bewegte sich zum Haus des Dachses und weite hoch zur Straße. Der zweite Hund hatte fast gleichzeitig angefangen, in dieselbe Richtung zu ziehen. Beide Hunde bliebe schließlich vor einem alten Erdkeller stehen, der hinter ein paar niedrigen, dichten Tannen gut versteckt lag. Der Keller verfügt über eine neue, massive Holztür. Das Vorhängeschloss war mi roher Gewalt aufgebrochen worden und lag vor der Tür. Die Hunde bauten sich davor auf und bellten.

»Die haben sich da drin versteckt«, flüsterte die Polizistin.

Kriminalinspektorin Irene Huss bog gestresst in den Parkplatz vor dem Göteborger Präsidium ein. Fast im Dauerlauf durchquerte sie das Foyer und winkte der älteren Kollegin zu, die hinter der Glasscheibe des Empfangs saß. Der Wartebereich war bereits voll von Leuten, die freiwillig oder eher widerwillig erschienen waren, um irgendeinen Vertreter der Polizei im Präsidium zu treffen. Irene eilte auf die Milchglastüre zu und steckte ihre Karte in das Lesegerät. Das Schloss gab ein Klicken von sich, und sie öffnete die Tür zum Gang. Bevor sie in den Fahrstuhl stieg, warf sie noch einen Blick auf die Uhr an der Wand und stellte erleichtert fest, dass ihr bis zur Morgenbesprechung noch fünf Minuten blieben. Daher war sie erstaunt, dass ihr Chef bereits ungeduldig vor dem Konferenzraum des Dezernats für Gewaltverbrechen wartete.

»Die Besprechung ist im Gange. Das heißt, wir haben bereits angefangen«, sagte Kommissar Sven Andersson unwirsch.

Irene Huss war sich wohl bewusst, dass sie oft als Letzte im Dezernat eintraf, aber das war nun mal das Los eines Morgenmuffels. Allerdings achtete sie immer darauf, nicht zu spät zu kommen. Sie kam oft in letzter Minute, aber nie zu spät. Ihr blieb meistens genug Zeit, um ihre Jacke aufzuhängen, Tommy Persson zu begrüßen, mit dem sie das Büro teilte, und einen Becher Kaffee zu holen, bevor sie sich gemächlichen Schrittes zur Morgenbesprechung begab.

»Mein Auto wollte nicht anspringen … für diese Kälte ist es einfach zu alt«, entschuldigte sie sich.

Das war die Wahrheit.

»Kaffee?«, fragte sie vorsichtig und lächelte ihren Chef an.

»Später«, erwiderte er unwirsch und verschwand im Konferenzzimmer.

Irene seufzte. Voller böser Vorahnungen betrat sie den Konferenzraum und stellte fest, dass die anderen bereits alle anwesend waren. Sofort fiel ihr die Spannung auf, die in der Luft lag und die fast körperlich zu spüren war. Sie wusste, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste. Sie nickte in die Runde, ließ sich auf den erstbesten freien Stuhl sinken und bemühte sich, eine aufmerksame Miene aufzusetzen.

»Es war eine hektische Nacht, was wohl keinem von euch entgangen sein dürfte«, fing der Kommissar an.

Irene wusste nicht, wovon die Rede war, aber sie sah ein, dass dies kein günstiger Augenblick war, ihre Ahnungslosigkeit preiszugeben. Sie lehnte sich zurück und versuchte auszusehen, als wüsste sie über alle nächtlichen Vorfälle Bescheid.

»Die Zeitungen haben wie immer viel verdreht, aber in groben Zügen stimmt alles, was die Lokalnachrichten gemeldet haben. Nur von dem Mädchen wussten sie noch nichts, aber die Abendzeitungen werden darüber berichten«, fuhr er fort.

Er schaute grimmig über die Kante seiner billigen Lesebrille und musterte sein Auditorium. Irene atmete auf, als Tommy Persson wie ein artiger Schuljunge die Hand hob und fragte:

»Was ist eigentlich vorgefallen? Ich habe heute Morgen die Nachrichten verpasst. Ich musste das Eis von den Scheiben kratzen und mir von einem Nachbarn mit dem Starterkabel beim Anlassen helfen lassen. Ich habe nicht mal in die Zeitung geschaut, ehe ich von zu Hause weg bin.«

Der Kommissar schob missmutig die Unterlippe vor und sah Tommy durchdringend an, was wenig half, denn davon wurde Kriminalinspektor Persson auch nicht klüger. Andersson blieb nichts anderes übrig, als dies einzusehen, also seufzte er laut und ergriff dann wieder das Wort.

»Gestern Abend um 21.17 Uhr wurde in der Stampgatan ein Autodiebstahl gemeldet. Der Halter belud gerade seinen Wagen, einen BMW 630i. Aufgrund der Kälte ließ er den Motor laufen, damit der Wagen nicht auskühlte. Das Auto stand etwa zwanzig Meter vom Hauseingang entfernt, in dem er einige Sachen abgestellt hatte. Offenbar ziehen die Leute gerade um. Er hatte einen zusammenklappbaren Kinderwagen im Kofferraum verstaut und war gerade wieder ins Haus getreten, da hörte er, wie die Türen des Wagens geöffnet und wieder geschlossen wurden. Als er sich umdrehte, sah er den Wagen bereits wegfahren. «

»Dann hat er also nicht sehen können, wer das Auto geklaut hat?«, warf Birgitta Moberg-Rauhala ein.

»Doch. Als er den Kinderwagen in den Kofferraum gelegt und den Kofferraumdeckel geschlossen hatte, kamen zwei junge Männer auf dem Bürgersteig auf ihn zu. Laut Personenbeschreibung trugen sie dunkle, weite Kleidung und gestrickte Mützen. Sie sollen wie Hiphopper ausgesehen haben.«

»Typen, denen ihre Riesenhosen über den Arsch hängen«, meinte Jonny Blom grinsend, was Irene ein wenig verwunderte. Sie hatte einige Tage vor Weihnachten Jonny und seinen ältesten Sohn auf dem Frölunda Torg getroffen. Der Fünfzehnjährige hatte eine zu weite Jeans und eine Kapuzenjacke getragen, und unter seiner gestrickten Mütze hatten sich Dreadlocks abgezeichnet.

Andersson tat so, als hätte er Jonny Bloms Beitrag nicht gehört, und fuhr unbeeindruckt fort:

»Das Alter der Jungs schätzte er auf zwischen 17 und 25 Jahre. Sie rasten in der Straßenbahnspur davon, fuhren über die Västra-Folkunga-Brücke und weiter die Skånegatan entlang. Die Verrückten sind also nur ein paar Minuten nach dem Diebstahl hier vorbeigekommen. Dann sind sie nach Liseberg gefahren und dort in Richtung Örgryte-Kreuz abgebogen. Sie fuhren in Richtung Sankt Sigfridsplan und weiter den Delsjövägen entlang. Gleichzeitig wurde der Wagen über Funk zur Fahndung ausgeschrieben. Ein Streifenwagen, der an der Imbissbude am Delsjövägen stand, sah den gesuchten BMW in hohem Tempo vorbeifahren. Die Beamten meldeten sich bei der Einsatzzentrale und nahmen die Verfolgung auf. Es gelang ihnen, das verdächtige Fahrzeug im Auge zu behalten, und sie wurden Zeuge, wie es vor dem TV-Huset in einen Fußgänger raste.«

Andersson hielt inne, um sich zu räuspern.

»Der Streifenwagen blieb natürlich an der Unfallstelle stehen und rief einen Krankenwagen und Verstärkung. Aber es hatte ordentlich gekracht. Der Arzt meint, das Opfer sei sofort tot gewesen. Der Schädel war zerschmettert. Und…«

Er unterbrach sich, schluckte ein paarmal und fuhr dann fort:

»Das Opfer trug eine Trainingsjacke mit einem Polizeiabzeichen. Das Gesicht war fast vollkommen zerstört, aber … aber es ist also sehr wahrscheinlich, dass es sich um einen Polizisten handelt.«

Die Stille im Raum wirkte mit einem Mal wie elektrisch aufgeladen. Alle saßen starr auf ihren Stühlen. Irene merkte, wie im Raum die Stimmung kippte. Ein Kollege. Einer von ihnen.

»Wer war es?«, fragte Hannu Rauhala.

Seit einigen Jahren war er mit Birgitta Moberg-Rauhala verheiratet. Sie hatten einen zweijährigen Sohn. Kommissar Andersson war nie richtig darüber hinweggekommen, dass sie geheiratet hatten, hatte aber inzwischen resigniert.

»Tja … drei Kollegen wohnen in der Nähe. Eine konnten wir gleich ausschließen und zwar Kicki Börjesson von der Einsatztruppe. Stellan Edwardsson hatte gestern Abend Dienst, den konnten wir also auch streichen. Bleibt nur noch einer. Er ist vor ein paar Jahren in Rente gegangen, vorzeitig. Wir konnten ihn telefonisch nicht erreichen. Er wohnt allein. Ein paar von euch kennen ihn sicher… Torleif Sandberg.«

»Kruska-Toto«, sagte Jonny.

Andersson warf Jonny Blom einen finsteren Blick zu und runzelte verärgert die Stirn, widersprach ihm aber nicht, da alle Torleif nur Kruska-Toto genannt hatten, als er noch die Einsatzzentrale geleitet hatte. Der Grund dafür war, dass Torleif immer Dickmilch mit Dr. Kruskas Haferkleie gegessen hatte, während die anderen sich an Kaffee und Kuchen erfreut hatten. Unermüdlich hatte Torleif seine Kollegen über die gesundheitlichen Risiken von Gebäck aufgeklärt und ihnen seine Dickmilch mit der Kruskamischung als vorbildlich angepriesen. Aber niemand war je auch nur in Versuchung geraten, die braungraue Pampe, für die sich Kruska-Toto so erwärmte, zu probieren. Auch an seinen Linsensuppen, seinen Gerstenkornbrätlingen und seinem Wurzelgemüse und ähnlichem im Kühlschrank hatte sich nie jemand vergriffen. Nie hatte jemand von dem dubiosen Inhalt seiner kleinen Aluminiumdosen naschen wollen.

»Krusk … also Torleif und ich haben gleichzeitig bei der Polizei angefangen«, sagte der Kommissar mit belegter Stimme.

Er räusperte sich angestrengt und fuhr dann fort:

»Wir wissen auch noch nicht definitiv, dass es Torleif war, der angefahren wurde. Wir versuchen gerade seine Angehörigen ausfindig zu machen … mal sehen, was dabei rauskommt.«

Irene konnte sich sehr gut an Torleif Sandberg erinnern. Er war unscheinbar, hatte dünnes, dunkelblondes Haar und war eher schmächtig. Es war nicht sein Aussehen, das sich ihr eingeprägt hatte, sondern seine Eigenheiten. Er war bescheiden und unauffällig gewesen, aber ein richtiger Gesundheitsfanatiker. Oft hatte er über sein Lieblingsthema geredet: die gesunde Lebensführung. Dazu gehörten vegetarische Kost, Bewegung, Meditation und natürlich jeglicher Verzicht auf Rauschmittel. Er trank nicht einmal alkoholfreies Bier. Das Interesse an seinen begeisterten Ausführungen war im Kaffeezimmer gelinde gesagt sehr begrenzt gewesen. Meist hatten seine Kollegen sich über ihn lustig gemacht. Sein Spitzname Kruska-Toto hatte ihm nicht gefallen. Wahrscheinlich war er den Namen gerade deswegen nie losgeworden.

Und jetzt war er vielleicht tot. Totgefahren von ein paar Autodieben, während er im Trainingsanzug des Polizeisportvereins seine tägliche Joggingrunde absolvierte.

Irene wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Kommissar rief:

»Aber nicht genug damit, dass sie ihn umgefahren haben, die Schweine sind auch noch abgehauen! Trotz zerschmetterter Windschutzscheibe. Ein Zeuge hat gesehen, wie der Beifahrer den Fahrer aus dem Seitenfenster hängend die Töpelsgatan entlanglotste. Der Wagen verschwand den Hügel hinauf. Mehrere Streifen machten sich dort auf die Suche. Um 20.46 Uhr entdeckte eine Streife ein Feuer auf einem Seitenweg. Als sie in diesen einbogen, erkannten sie, dass die Scheißkerle den BMW angesteckt hatten. Den Polizisten gelang es, das Feuer mit einem Feuerlöscher zu löschen. Gleichzeitig trafen weitere Kollegen ein und begannen, das Terrain zu durchsuchen. Aufgrund der Dunkelheit und der schwierigen Bodenverhältnisse war auch die Hundestreife im Einsatz. Kurz darauf schlugen die Hunde an einem alten Erdkeller an. Die Tür war aufgebrochen. Im Keller wurde eine Leiche gefunden. Ein Mädchen.«

Irene betrachtete ihre Kollegen. Allen war das Erstaunen anzusehen, das auch sie empfand.

»Ein Mädchen? Könnte eine der beiden Personen in dem Auto ein Mädchen gewesen sein? Wenn sie doch so weite Kleidung getragen hatten, war vielleicht schwer zu erkennen, ob eines ein Mädchen war?«

Fredrik Stridh äußerte diese Vermutung. Er war zwar schon dreißig, galt aber zu seinem großen Ärger immer noch als der Jüngste der Abteilung. Er war jedoch ein kluger Kopf, und Irene arbeitete gerne mit ihm zusammen.

Andersson schüttelte den Kopf.

»Laut Arzt war sie bereits zwei bis drei Stunden tot, als sie aufgefunden wurde. Außerdem schätzte er ihr Alter auf etwa zwölf Jahre.«

»Ist ein Mädchen diesen Alters als vermisst gemeldet worden? «, wollte Birgitta wissen.

»Nein. Sie trug nichts außer einem T-Shirt. Die restlichen Kleider hatte man neben ihr in den Keller geworfen. Wir wissen nur, dass sie hellhäutig und blond ist.«

»Sexualverbrechen?«, fragte Hannu.

»Der Gerichtsmediziner nimmt es an. Wegen Personalmangels kann sie aber frühestens heute Nachmittag genauer untersucht werden.«

Es war seit mehreren Jahren bekannt, dass die Gerichtsmedizin in Göteborg unter Personalmangel litt. Hätte man Kommissar Andersson nach dem Grund gefragt, so wäre er die Antwort nicht lange schuldig geblieben: Niemand, der halbwegs klar im Kopf war, würde unter einer Chefin wie der Professorin Yvonne Stridner arbeiten wollen! Dass sie als eine der besten Gerichtsmedizinerinnen in Europa galt, war ihm dabei vollkommen gleichgültig. Für ihn war sie eine der entsetzlichsten Frauenpersonen dieses Planeten.

»Was ist aus diesen Kerlen geworden, die Kruska-Toto niedergemäht haben?«, fragte Jonny.

»Die Schweine haben sich in Luft aufgelöst! Von ihnen fehlt jede Spur. Aber die Hundetruppe setzt heute die Suche fort. Sie wird die Kleingartenanlage durchkämmen«, antwortete Andersson.

»Hoffentlich haben die Brüder sich inzwischen die Eier abgefroren«, schob Jonny hinterher.

»In den frühen Morgenstunden waren es minus sechzehn Grad. Da können sie sich so alles Mögliche abgefroren haben.«

Das war ein gewisser, wenn auch schwacher Trost für die Anwesenden.

»Haben der Mord und der Autodiebstahl etwas miteinander zu tun?«, dachte Andersson laut.

Seine Inspektoren brauchten keine lange Bedenkzeit. Alle schüttelten sofort den Kopf. Tommy Persson sprach aus, was alle dachten:

»Es war ein reiner Zufall, dass wir das Mädchen so schnell entdeckt haben. Die Hunde haben nach Spuren der Autodiebe gesucht und eine Leiche gefunden. Wenn die Kläffer sie nicht gefunden hätten, dann hätte sie vermutlich sehr lange unentdeckt dort gelegen.«

»Genau. Und die Burschen im Auto wären gar nicht in der Lage gewesen, sie in dem Erdkeller zu verstecken. Dazu hatten sie gar nicht genug Zeit«, meinte Birgitta.

Tommy Persson nickte zustimmend und setzte dann seine Überlegungen fort:

»Genau. Und das Mädchen kann auch nicht im Kofferraum des BMWs gelegen haben, da sich dort ein zusammengeklappter Kinderwagen befand. Möglicherweise lag die Leiche auf der Rückbank. Aber warum hätten die Typen sie da nicht liegengelassen? Schließlich hatten sie allen Grund, sich schnellstmöglich von dem Fahrzeug zu entfernen. Sonst wären sie auch nie so weit gekommen, und dann hätten wir sie erwischt.«

»Wenn die Leiche des Mädchens im Auto gelegen hätte, hätte sein Besitzer es dann als gestohlen gemeldet?«

»Wer weiß. Da das Fahrzeug gestohlen wurde, musste er schließlich Anzeige erstatten. Er könnte einfach behaupten, nicht das Geringste mit der Leiche zu tun zu haben. Er könnte es auf die Typen schieben, die die Karre geklaut haben.«

»Sie hatten nicht die Zeit dazu«, wiederholte Birgitta noch einmal.

Die meisten im Konferenzraum waren geneigt, ihr zuzustimmen.

Innerhalb von dreißig Minuten hatten die Kerle ein Auto geklaut, waren mindestens fünf Kilometer weit gefahren, allerdings mit sehr hoher Geschwindigkeit, hatten einen Mann angefahren, waren Richtung Delsjö entkommen, hatten das Auto angezündet und sich ausreichend weit entfernt, so dass die Suchhundtruppe sie nicht aufspüren konnte. Nein, sie hätten wohl kaum Zeit gehabt, auch noch eine Leiche zu verstecken, überlegte Irene.

»Irgendeinen Verdacht, wer diese Jungs gewesen sein könnten? Die Fahndungsliste?«, fragte sie.

»Ich dachte, dass du dich darum kümmern könntest«, meinte der Kommissar unwirsch.

Er ließ den Blick über die verfügbaren Inspektoren schweifen. Wie immer, wenn er nachdachte, trommelte er mit den Fingern auf dem Tisch. Als er einen Entschluss gefasst hatte, schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte:

»Irene, Tommy und Hannu kümmern sich um die Sache mit der Fahrerflucht. Versucht die Identität des Opfers herauszubekommen. Überlegt euch mögliche Kandidaten für den Autodiebstahl. Verständigt mich, sobald ihr was in der Hand habt. Birgitta, Jonny und Fredrik, ihr seid für den Mord an dem Mädchen zuständig. Hier gilt dasselbe, lasst von euch hören, wenn ihr wisst, wer sie ist.«

Er faltete die Hände und drückte die Handflächen dann nach außen, bis die Gelenke knackten.

»Ich kümmere mich um die Zeugenbefragungen in der Nachbarschaft und um die Aussagen, die im Laufe des Tages reinkommen. Ich glaube zwar nicht, dass das viel bringt, aber irgendjemand in einem der Häuser in der Töpelsgatan könnte schließlich was gesehen haben. Es wird sicher nicht einfach auseinanderzuhalten, welche Beobachtungen mit der Fahrerfluchtsache, welche mit der Mordermittlung und welche nichts damit zu tun haben.«

Andersson seufzte, und Irene hörte seine Luftröhre pfeifen, als er ausatmete. Die Kälte bekam seinem Asthma nicht.

In fünf Wochen würde er bei der Cold-Cases-Gruppe anfangen. Diese Abteilung war relativ neu und hatte die Aufgabe, noch einmal alte Ermittlungen aufzurollen, ehe die Verbrechen verjährten. Kommissar Andersson hatte zwar keine Ahnung von Computern und moderner DNA-Technik, aber er war ein sehr begabter Mordermittler. Irene glaubte wirklich, dass er sich bei der Cold-Cases-Gruppe nützlich machen konnte. Dort würde es ihm in seinen letzten Dienstjahren sicher gefallen. Aber Irene vermisste ihn bereits jetzt. Nicht zuletzt, wenn sie daran dachte, wer seine Nachfolge antreten würde. Viel sprach dafür, dass es die stellvertretende Kommissarin Efva Thylqvist vom Rauschgiftdezernat werden würde. Irene kannte sie nicht, aber alles, was sie über Efva Thylqvist gehört hatte, ließ sie hoffen, dass diese Gerüchte übertrieben waren.

 

Weder die Einrichtungen für jugendliche Straftäter noch die Gefängnisse in Västra Götaland hatten irgendwelche Ausbrüche gemeldet. Von denen, die über Weihnachten und Neujahr abgehauen waren, saßen die meisten wieder hinter Schloss und Riegel. Jetzt war es zu kalt, um den Weg in die Freiheit zu suchen, wenn man keinen Unterschlupf hatte. Wer sich mit Fluchtplänen trug, wartete bis zum Frühling. Die Sehnsucht nach der Freiheit nahm mit der Außentemperatur zu.

»Es kommen sieben junge Männer in Frage. Nach allen wird bereits gefahndet«, stellte Irene fest.

»Einer von ihnen besonders interessant?«, fragte Tommy.

Irene sah rasch die Liste auf ihrem Monitor durch.

»Schwere Körperverletzung … Körperverletzung mit Todesfolge … Diebstahl … schwere Sachbeschädigung … umfassende Drogendelikte … Hier ist wirklich alles dabei. Könnte jeder von ihnen sein.«

»Oder keiner.«

»Keiner?«

»Vielleicht hat keiner von denen das Auto geklaut und den Mann angefahren. Es könnte sich auch um zwei nicht vorbestrafte Kleinkriminelle handeln, die nicht in unseren Akten auftauchen. «

Irene nickte und seufzte laut.

»Das wäre mühsam«, meinte sie.

»Yes. Also können wir genauso gut mit den Namen anfangen, die uns vorliegen.«

Sie teilten die Namen unter sich auf. Als Erstes wollten sie mit Hilfe der Angaben aus den Datenbanken möglichst viel über die Flüchtigen herausfinden. Falls sich dabei etwas von Interesse ergab, wollten sie die Verfolgung aufnehmen. Das würden sie dann jedoch gemeinsam tun, weil es nicht ratsam war, einem von diesen Burschen allein zu begegnen. Meist waren solche Leute bewaffnet und taten sich gerne mit Gleichgesinnten zusammen.

Hannu war derweil damit beschäftigt, sich über die Identität des Verkehrstoten Gewissheit zu verschaffen. Er berichtete, dass es immer noch nicht gelungen war, Torleif Sandberg zu erreichen. Polizisten hätten bei ihm geklingelt, aber niemand habe geöffnet. Er war auch nicht in der Nacht oder am Vormittag vermisst gemeldet worden. Auch kein anderer Mann im Übrigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer der Autodiebe der pensionierte Polizeieinsatzleiter Torleif Sandberg war, wurde immer größer.

 

Nach dem Mittagessen trugen Irene und Tommy zusammen, was sie herausbekommen hatten.

»Mijailo Janovic scheidet von vornherein aus, da er 193 cm groß ist. Kräftiger Körperbau. Auf ihn passt die Personenbeschreibung also nicht. Dafür passt sie besser auf seinen Kumpel Janos Mijic. Beide verschwanden am Neujahrstag aus Fagered. Mijailo ist neunzehn und verbüßt eine Strafe wegen schwerer Körperverletzung und Mordversuch. Er hat einem Burschen aus einer konkurrierenden Gang den Bauch aufgeschlitzt. Das Opfer hätte es fast nicht überlebt. Wahrscheinlich ging es dabei um Rauschgift, was aber keiner der Beteiligten zugeben wollte. Deswegen hat Mijailo auch nur eine relativ geringe Strafe bekommen. Zwei Jahre und drei Monate. Janos ist sein gehorsamer Schatten. Wo Mijailo ist, da ist auch Janos. Sie sind gleich alt und behaupten, Cousins zu sein. Das stimmt nicht, schon allein deswegen nicht, weil Mijailo Serbe ist und Janos Kroate. Die beiden scheren sich nicht drum. Janos ist schmächtig und 178 cm groß. Auf ihn könnte die Beschreibung vom Hiphopper passen. Wenn nicht ebenerwähnter Umstand wäre. Wo Mijailo ist, da ist auch Janos. Und Mijailo war beim Autodiebstahl nicht dabei«, sagte Tommy.

»Die beiden sind es also nicht«, stellte Irene fest.

»Nein. Aber der Name Tobias Karlsson könnte interessant sein. Er ist erst letzten Freitag aus Fagered abgehauen. Also vor fünf Tagen. Auf ihn passt die Beschreibung. Neunzehn und bereits eine ordentliche Vorstrafenliste. Rauschgiftvergehen, schwere Körperverletzung und … genau … Autodiebstahl!«

»Aufgeweckter Bursche. Definitiv interessant.«

»Absolut. Seine Mutter wohnt in Tynnered. Ist der Meinung, die Polizei würde ihren Sohn schikanieren, weil er ausgeprägte politische Ansichten hat. Wir wohnen in einem freien Land, und man darf denken, was man will!, hat sie geschrien, als er zum ersten Mal vor Gericht stand. Die Anklage lautete auf Volksverhetzung und schwere Körperverletzung. Das Opfer war ein jüngerer Einwanderer. Er wird sich sein Lebtag davon nicht mehr erholen. Zuvor war Karlsson gelegentlich wegen Autodiebstählen auffällig geworden, aber zu jung gewesen, um angeklagt zu werden.«

»Neonazi«, stellte Irene fest.

»Klar.«

»Glatze? Tätowiert?«

»Alles«, erwiderte Tommy zufrieden.

»Dann kann er es nicht sein.«

»Bitte?«

»Ein Neonazi zieht sich nicht an wie ein Hiphopper.«

Tommy sah enttäuscht aus, musste ihr aber Recht geben. Alles andere hatte gepasst, aber er hatte die Kleidung der Autodiebe außer Acht gelassen.

»Dann bleibt nur noch ein Name auf meiner Liste übrig. Niklas Ström. Neunzehn. Ist vor genau einer Woche aus Gräskärr abgehauen. Laut der Kontaktperson, mit der ich gesprochen habe, hatte er Probleme mit ein paar anderen Häftlingen in der Anstalt. Er ist schwul, und Leute, die mit Tobias Karlsson sympathisieren, sind in dieser Hinsicht nicht sonderlich tolerant. Niklas hat die Schikanen seiner Mithäftlinge nicht mehr ausgehalten. «

»Warum hat er den anderen dann von seiner Neigung erzählt? «

»Hat er nicht. Es ließ sich aber nicht verheimlichen. Er war wegen schwerer Vergewaltigung verurteilt worden. Das Opfer war ein gleichaltriger junger Mann. Er wurde zu dreizehn Monaten verurteilt.«

»Warum werden die Täter immer härter bestraft, wenn das Opfer männlich ist?«, unterbrach ihn Irene.

»Ist das so?«

»Ja.«

Tommy zuckte nur mit den Achseln. Irene begann von ihrer Liste abzulesen:

»Ich habe hier auch einen aus Gräskärr und dann noch zwei aus Fagered. Der junge Mann aus Gräskärr heißt Björn Kjellgren, wird aber Billy genannt. Achtzehn. Sitzt wegen mehrerer Einbrüche in Häuser und Autos. Ein professioneller kleiner Dieb. Billy ist 174 cm groß und schmächtig. Rotblondes Haar, das er als Dreadlocks trägt. Heutzutage keine ungewöhnliche Frisur, aber doch nicht unwesentlich im Hinblick auf den Hiphopper-Steckbrief. Offenbar ein Einzelgänger. Er verschwand am Tag nach Niklas Ström. Angeblich durch dessen Flucht angestiftet. Das Personal hatte jedoch nicht den Eindruck, dass die beiden Freunde waren.«

»Aber Billy ist nachweislich der einzige Hiphopper unserer Liste«, unterstrich Tommy.

Irene lächelte spöttisch.

»So einfach ist das nicht. Meine anderen beiden Burschen aus Fagered sehen auch aus wie Hiphopper. Einer ist gebürtiger Schwede, und der andere ist als Sohn einer schwedischen Mutter in Schweden zur Welt gekommen. Sie wurde auf Jamaika schwanger. Vater unbekannt.«

»Sind sie gleichzeitig verschwunden?«

»Ja. Letzten Freitag. Also vor fünf Tagen. Sie sind Freunde und kennen sich schon seit dem Windelalter. Beide sitzen wegen schwerer Rauschgiftvergehen. War vielleicht nicht so klug, sie in derselben Anstalt einzubuchten. Der Halbjamaikaner heißt Fredrik Svensson, ist zweiundzwanzig und hat Rastas, recht lang, bis über den Rücken. Das hätte der Wagenhalter sehen müssen.«

»Glaube ich auch.«

»Der Freund von Fredrik heißt Daniel Lindgren und ist zwanzig. Dealt ebenfalls seit Jahren. Wurde wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt. Er soll der Schläger in der Gang von Fredrik Svensson gewesen sein, glauben die Ermittler.«

»Es geht also um eine Gang? Um organisierten Drogenhandel? «

»Ja. Im Großen und Ganzen passt die Beschreibung auf beide. Aber was Fredrik Svensson angeht, trägt er, wie gesagt, diese langen Rasta-Zöpfe. Außerdem hat er eine ziemlich dunkle Hautfarbe. Daniel Lindgren ist 179 cm groß. Er ist kräftig und durchtrainiert. Er pflegt sein Schläger-Image. Es ist fraglich, ob ihn jemand als schmächtig beschreiben würde.«

»Ich finde, du solltest dich noch einmal mit dem Typen unterhalten, dem der BMW gehört. Vielleicht erinnert er sich ja jetzt an mehr. Ich mache mit unseren Ausbrechern weiter.«

 

Auf dem Weg zum Aufzug stieß Irene mit Hannu Rauhala zusammen.

»Die Gerichtsmedizin hat angerufen. Sie haben einen Schlüsselbund in der Jackentasche des Opfers gefunden. Ich will sehen, ob einer der Schlüssel zu Sandbergs Tür passt«, sagte Hannu.

»Gute Idee. Das spart eine Menge Zeit«, erwiderte Irene.

 

Der BMW-Besitzer hieß Alexander Hölzer. Er hielt sich gerade in seiner Wohnung in der Stampgatan einige hundert Meter vom Präsidium entfernt auf. Irene beschloss, zu Fuß zu gehen. Das ging schneller, als lange nach einer Parklücke zu suchen.

Vor dem Haus stand ein Möbelwagen, in den zwei Möbelpacker gerade ein weißes Ledersofa einluden. Irene warf einen Blick hinein und stellte fest, dass diese Möbel alle nicht bei IKEA gekauft worden waren. Etwas anderes hatte sie im Hinblick auf das gestohlene Fahrzeug auch gar nicht erwartet: Einen BMW 630i konnten sich nicht viele Familien mit kleinen Kindern leisten.

Sie fand das passende Namensschild an einer Wohnung im dritten Stock und klingelte, was nicht nötig gewesen wäre, da die Tür nur angelehnt war. Es war aber immer gut, Manieren zu zeigen und nicht einfach reinzustiefeln. Gleich einen guten Eindruck zu machen und den Zeugen für sich einzunehmen war wichtig. Diese fundamentalen Regeln der Verhörstechnik waren jedoch, wie sich zeigte, in Bezug auf Alexander Hölzer überflüssig. Irene wartete sehr lange geduldig vor der Wohnungstür. Als sie mit ihrer Geduld fast am Ende war und die Tür einfach aufdrücken wollte, wurde sie von innen aufgerissen. Vor ihr stand ein übergewichtiger Mann Anfang fünfzig. Er trug einen gestrickten Golfpullover mit einem teuren Markenzeichen auf der Brust, schwarze Hose und auffallend elegante Schuhe.

»Ja bitte?«, sagte er kurz angebunden.

»Ich bin Kriminalinspektorin Irene Huss. Sind Sie Alexander Hölzer?«

»Ja. Was wollen Sie?«

Irene wunderte sich ein wenig über seine abweisende Art, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern fuhr mit freundlicher Stimme fort:

»Es geht um den gestrigen Autodiebstahl. Ich würde gerne noch einige weitere Fragen …«

Ehe sie noch den Satz beenden konnte, sah Irene, wie Hölzers Gesicht dunkelrot anlief. Wütend fauchte er sie an:

»Bevor wir unseren Kinderwagen nicht zurückbekommen, habe ich nichts mehr zu sagen! Ich habe bereits zum wiederholten Male angerufen und lediglich mitgeteilt bekommen, die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen! Was für Untersuchungen? Die Diebe sind doch wohl nicht in dem Kinderwagen herumgefahren? Das sind die Machtspielchen der Polizei! Es ist wirklich nicht zu fassen! Mir haben sie mein neues Auto geklaut, und jetzt muss ich mich behandeln lassen wie …«

»Möchten Sie mich für diese Unterhaltung vielleicht lieber ins Präsidium begleiten?«

Hölzers rote Gesichtsfarbe wurde noch dunkler. Es verschlug ihm fast die Sprache, schließlich brachte er aber doch heraus:

»Was bilden Sie sich eigentlich …«

Irene verzog keine Miene, sondern fuhr unbeeindruckt fort:

»Es geht nicht nur um den Diebstahl Ihres Fahrzeugs. Wir ermitteln in einem Mordfall.«

»Einem Mordf …«

Hölzer fielen fast die Augen aus dem Gesicht. Er sollte wirklich mal seinen Blutdruck überprüfen lassen, dachte Irene. Eine Weile stand er einfach nur da und starrte sie entsetzt an, ohne Anstalten zu machen, sie hereinzubitten. Bis auf seine schweren Atemzüge war im Treppenhaus nichts zu hören. Allmählich normalisierte sich seine Gesichtsfarbe wieder, als hätte der Druck abgenommen. Langsam trat er einen Schritt zurück und ließ sie in die Wohnung. Schweigend ging er vor ihr her durch die leere Diele und weiter in das ebenfalls leere Wohnzimmer. An einer Wand stapelten sich ein paar Umzugskisten, und auf dem Fensterbrett stand eine welke Christrose.

»Das sind die letzten Kisten. Die Möbelpacker kommen jeden Augenblick und holen sie. Morgen kommt die Putzfirma«, sagte Alexander Hölzer müde.

Er verstummte, räusperte sich ein paarmal und fuhr dann fort:

»Sie erwähnten eine Mordermittlung?«

Irene erzählte ihm, was sich an dem Ort zugetragen hatte, an dem sein Auto gefunden worden war.

»Das ist ja unglaublich!«

Hölzer schüttelte den Kopf und hielt einen Augenblick inne. Er strich sich mit der Hand über sein graumeliertes Haar und bedeckte routiniert seine beginnende Glatze mit ein paar langen Haarsträhnen.

»Ich habe momentan viel um die Ohren. Man hat mir mitgeteilt, der Kinderwagen sei nicht beschädigt. Wir brauchen ihn. Eleonor ist fünf Monate alt und zu schwer, um immer getragen zu werden. Ich wollte den Kinderwagen abholen, durfte das aber nicht. Er hat zehntausend Kronen gekostet, und ich habe keine Lust, einen neuen zu kaufen. Außerdem war das ein ziemlicher Stress mit dem Umzug, dem Diebstahl und … mit allem«, meinte er.

Irene nickte, um ihm zu bedeuten, dass sie seine angestrengte Situation verstehe.

Als Hölzer erwähnt hatte, der Kinderwagen habe zehntausend Kronen gekostet, hatte sie ein Bild vor Augen. Der gebrauchte Zwillingswagen mit blauem Kordbezug für fünfhundert Kronen, in dem sie ihre Mädchen durch die Gegend gekarrt hatte. Sie erinnerte sich immer noch an ihre Freude, als Krister und sie sich einen neuen Buggy in einem rot-weiß gestreiften Nylonstoff hatten leisten können. Das war jetzt fast zwanzig Jahre her. Der Luxuskinderwagen hatte, dem Preis nach zu urteilen, wahrscheinlich einen lederbezogenen Griff, beheizte Rückspiegel und seitliche Airbags als Sonderausstattung.

Hölzer ging zu dem großen Wohnzimmerfenster und schaute auf den Innenhof. Geistesabwesend zupfte er ein welkes Blatt von der Christrose und zerbröselte es zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit dem Rücken zu Irene fragte er:

»Glauben Sie wirklich, dass mein Wagen was mit dem Mord an dem Mädchen zu tun hat?«

»Die Spurensicherung nimmt ihn sehr genau unter die Lupe, um alle Eventualitäten auszuschließen«, antwortete Irene diplomatisch.

Hölzer nickte stumm seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu.

»Ich würde Sie gerne fragen, ob Ihnen noch etwas zu den jungen Männern eingefallen ist, die das Auto gestohlen haben«, sagte Irene.

Hölzer drehte sich langsam um und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Seine konzentrierte Miene verriet, dass er sich bemühte, sich an weitere Details zu erinnern. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Nein. Es waren zwei Burschen in weiten Hosen und weiten Jacken mit gestrickten Mützen. Dunkle Kleider. Jung.«

»Sind Ihnen die Haare oder die Frisuren aufgefallen?«

»Nein. Haare waren nicht zu sehen.«

Irene strich Fredrik Svensson von ihrer Liste. Sicherheitshalber fragte sie noch:

»Haben Sie ihre Gesichter gesehen?«

»Ich habe sie doch nur einen Augenblick lang aus dem Augenwinkel wahrgenommen.«

»Und an ihnen war nichts Besonderes?«

»Nicht dass ich mich erinnern könnte.«

»Keine Narben? Hautfarbe? Augen?«

»Ich war zu weit weg, um ihre Augen sehen zu können. In der Dunkelheit war nur schwer zu erkennen, welche Hautfarbe sie hatten. Und ihre Haare habe ich wie gesagt nicht gesehen. Aber es waren ganz sicher zwei weißhäutige Burschen. Keine Neger. Aber einige von den Kanaken sind ja recht hell.«

Kanaken. Irene dachte an den Freund ihrer Tochter. Felipe war Halbbrasilianer. Ihr Gegenüber hätte ihn vermutlich als Neger und Kanake bezeichnet.

Die Fahndung hat bisher nichts ergeben. Den ganzen Nachmittag hat ein Hubschrauber mit Wärmekamera das Gebiet abgesucht, aber nichts gefunden. In der Schrebergartensiedlung scheint nirgendwo eingebrochen worden zu sein. Wir haben keine Spuren von den Flüchtigen gefunden. Aber wir setzen unsere Suche jetzt mit der Hundestaffel fort. Wir glauben, dass sich die Burschen ein weiteres Fahrzeug beschafft haben. In der näheren Umgebung sind jedoch in den letzten 24 Stunden keine Autodiebstähle angezeigt worden.«

Der Chef der Fahndungseinheit Kommissar Erik Lind wippte auf den Sohlen seiner schweren Stiefel. Er hatte seinen warmen Winteroverall abgelegt, den er tagsüber während der Suche in Delsjö getragen hatte. In Uniform stand er vor dem Personal des Dezernats für Gewaltverbrechen. Seine Arme hielt er auf dem Rücken verschränkt, eine Gewohnheit, die er aus jener Zeit vor einem Vierteljahrhundert beibehalten hatte, als er in der Östra Nordstan Streifenpolizist gewesen war. Mit seinem kurzgeschnittenen Haar und seinen hellblauen Augen könnte er dem Hollywood-Klischee eines Nazioffiziers entsprechen. Was mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun hatte, denn er war ein sehr sympathischer Mann und genoss unter seinen Kollegen größtes Vertrauen. Wenn es ihm und seinen Leuten nicht gelang, die Flüchtigen zu fassen, dann gelang es niemandem.

»Könnten sie ein Fluchtfahrzeug in der Nähe abgestellt haben? «, fragte Tommy Persson.

Erik Lind dachte einen Augenblick über diese Möglichkeit nach, ehe er antwortete:

»Ganz ausgeschlossen ist das nicht. Aber der Diebstahl des BMW scheint im Affekt begangen worden zu sein.«

»Oder sie haben sich auf der Stampgatan tatsächlich nach einem Auto umgesehen, mit dem sie zu dem anderen Auto gelangen konnten. Aber ich weiß nicht … das wirkt ziemlich weit hergeholt«, räumte Tommy ein.

»Wenn sie sich wirklich zu diesem hypothetischen zweiten Auto hätten begeben wollen, hätten sie genauso gut die Straßenbahn nehmen können«, meinte Birgitta Moberg-Rauhala.

Das war vollkommen korrekt. Und es stimmte, dass Tommys Vermutung weit hergeholt war. Denn demnach hätten die Autodiebe das Auto auf der Stampgatan gestohlen, vor der Fernsehanstalt am Delsjövägen einen Fußgänger totgefahren und dabei die Windschutzscheibe so beschädigt, dass der Wagen nutzlos geworden war. Zufällig hätten die Diebe ausgerechnet in der Nähe des Unfallortes ein weiteres Fahrzeug bereitstehen gehabt, das sie rasch zu Fuß erreichten. Danach hätten sie unbeobachtet ihre Flucht fortgesetzt. Diese Hypothese wirkte wenig glaubhaft. Andererseits war es eine plausible Erklärung dafür, warum sie ausgerechnet den Delsjövägen als Fluchtweg gewählt hatten. Im Augenblick ließ sich nichts ausschließen, das sah Irene ein.

»Die Spurensicherung hat Probleme mit den vorgefundenen Bedingungen an der Abzweigung und vor dem Erdkeller. Auf dem Weg fanden sich unzählige Reifenspuren, die sich aber nur mühsam zuordnen lassen. Die Erde ist gefroren, und dort liegt kein Schnee. Am Fundort sind eine Menge Polizisten und Hunde herumgelaufen. Kurz gesagt, die Spurensicherung ist alles andere als begeistert«, meinte Kommissar Lind trocken.

»Keine Spur vom Mörder?«, fragte Kommissar Andersson.

»Nicht, dass ich wüsste.«

Hannu Rauhala kam leise herein. Er setzte sich auf den freien Platz neben Irene, schob die Hand in die Jackentasche und fischte einen Schlüsselbund aus seiner Daunenjacke.

»Er passt«, flüsterte er so leise, dass nur sie es hören konnte.

Irene spürte, wie ihr Herz einen Satz machte. Ihre Vorahnungen hatten sich bewahrheitet; das Opfer der unfallflüchtigen Fahrer war Torleif Sandberg. Ein Kollege, den viele im Raum im Laufe seiner Dienstjahre kennengelernt hatten. Das würde eine intensive Jagd auf die beiden Autodiebe geben. Wer einen Polizisten getötet hat, entwischt nicht. Das würden sie schon noch merken.

»Ich melde mich, sobald es einen positiven Bescheid gibt«, beendete Erik Lind seine Ausführungen und ging in Richtung Tür.

Frau Professor Yvonne Stridner trat mit demselben hohen Tempo ein, mit dem Erik Lind gerade den Konferenzraum verlassen wollte. Der Zusammenstoß war ebenso heftig wie unvermeidlich. Keiner der beiden gehörte zu den Leuten, die sich für längere Entschuldigungen Zeit nehmen. Daher wirkte die Stimmung an der Tür leicht gereizt, ehe es Lind gelang, an der Professorin vorbei hinauszugehen. Prof. Stridner trat mit hochrotem Gesicht auf Kommissar Andersson zu. Keiner der Anwesenden wagte es, eine Miene zu verziehen. Das wäre in Anwesenheit der Professorin der Rechtsmedizin einfach undenkbar gewesen.

»Ungehobelt! Einfach die Leute über den Haufen zu rennen …«

Stridner unterbrach ihr Schimpfen, holte tief Luft und fuhr dann fort: