Der Novembermörder - Helene Tursten - E-Book
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Der Novembermörder E-Book

Helene Tursten

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Beschreibung

Die Bestseller-Serie aus Schweden! – Band 1

An einem regnerischen Novembertag stürzt Richard von Knecht, der reichste Mann Göteborgs, von seinem Balkon in den Tod. Selbstmord oder Mord?

Als drei Tage später auch noch sein Büro in die Luft fliegt und am Hinterkopf des Toten eine Schlagwunde entdeckt wird, ist klar: Es geht um Mord. Damit ist Inspektorin Irene Huss gefordert. Die Mittvierzigerin, Trägerin des schwarzen Jiu-Jitsu-Gürtels und Mutter zweier halbwüchsiger Töchter sieht sich zunächst vor einer Mauer des Schweigens. Sylvia, die Frau des Opfers, weint ihrem Mann kaum eine Träne nach. Ebenso der Sohn Henrik und seine schöne Frau Charlotte. Familie und Freunde, alle aus den besten Kreisen, verbitten sich die kritischen Blicke der Polizei in ihre wohlgeordnete Welt.

Aber ein zweiter Mord stellt alles auf den Kopf, und endlich hat Irene Huss eine heiße Spur...

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Buch

Der reichste Mann Göteborgs, Richard von Knecht, stürzt an einem regnerischen Novembertag von seinem Balkon in den Tod, fast direkt vor die Füße seines Sohnes Henrik von Knecht und seiner Frau Sylvia. Das Team unter Kommissar Andersson soll den Fall klären, der sich umso mysteriöser gestaltet, als drei Tage später das Haus in die Luft fliegt, in dem von Knecht sein Büro hatte.

Andersson verteilt die Aufgaben unter seinen Mitarbeitern nach deren Fähigkeiten, so darf Irene Huss, eine Inspektorin in den Vierzigern, Trägerin des schwarzen Jiu-Jitsu-Gürtels und erfahrene Polizistin, sich Zugang zu der snobistischen Familie verschaffen und versuchen, von der Witwe Informationen zu bekommen. Sylvia war früher Primaballerina, ihr Herz schlägt noch heute fürs Ballett und ihre Trauer und Sorge nimmt deutlich ab, als sie erfährt, dass ihr Mann ermordet wurde und es sich nicht um Selbstmord handelt – schließlich zahlt sonst die Versicherung nicht. Ihr Sohn Henrik, Antiquitätenhändler mit Leib und Seele, ist verheiratet mit Charlotte, einem Fotomodell, das alle Männer in Atem hält, jetzt aber erzählt, dass sie ein Kind bekommt. Was ihre Schwiegermutter sonderbarerweise in Ohnmacht fallen lässt. Die Nachforschungen werden von der Familie nicht gerade unterstützt, man verbittet sich die Neugier der Polizei, und auch Richards Freunde gehören nur zu den besten Kreisen. Lange Zeit tappen die Polizisten im Dunkeln, bis ein zweiter Mord passiert und die Ermittlungen in Schwung kommen…

Autorin

Helene Tursten wurde 1954 in Göteborg geboren. »Der Novembermörder« ist ihr erster Roman, der in Schweden einschlug wie eine Bombe.

Helene Tursten

Der Novembermörder

Roman

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Den krossade Tanghästen« bei Anamma Böker, Göteborg

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2000

Copyright © by Helene Tursten

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: semper smile

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

RK · Herstellung: Augustin Wiesbeck

ISBN 978-3-641-06652-9V004

www.btb-verlag.de

FÜR HILMER UND CECILIA

Prolog

Niemand sah, wie er durch die kompakte Novemberdunkelheit fiel. Mit einem schweren, dumpfen Ton schlug er auf den regennassen Pflastersteinen auf. Obwohl eigentlich noch Feierabendverkehr herrschte, befanden sich außergewöhnlich wenige Menschen auf dem Bürgersteig. Die Fußgänger stemmten sich gegen den Wind, während ihre Regenschirme sich umstülpten, und schoben ihr Kinn tief in hochgeschlagene Kragen, um ein wenig Schutz vor dem eisigen Regen zu finden. Jeder, der konnte, fuhr lieber mit dem Auto oder drängte sich in die feucht dampfende Wärme eines Busses oder einer Straßenbahn.

Eine ältere Frau, die einen widerspenstigen durchnässten Dackel an der Leine hinter sich her zog, war am nähesten dran. Das Aufjaulen des Hundes und seiner Herrin verkündete den Menschen in der Nähe, dass etwas Ernstes passiert war. Die vorbeieilenden Fußgänger verlangsamten ihre Schritte. Die Neugier siegte und zog sie zu dem Unglücksort.

Ein weißer Mercedes stand nachlässig am Kantstein geparkt. Ein Mann in einem hellen Ulster war gerade um den Wagen herumgelaufen und hatte die Tür auf der Beifahrerseite geöffnet, als die Dame mit dem Dackel anfing zu schreien. Der Mann drehte sich schnell um, spähte durch den Regen und entdeckte das Bündel, nur dreißig Meter von ihm entfernt. Seine Hand umklammerte weiter den Griff der offenen Wagentür, während er langsam den Kopf nach hinten beugte und zur obersten Wohnung des stattlichen Hauses hinaufsah. Ein leiser Jammerton entfuhr seiner Kehle, aber er blieb weiterhin wie gelähmt stehen. Die Frau auf dem Beifahrersitz sprang behände aus dem Wagen, ohne sich einen Mantel überzuziehen, und lief auf die unbewegliche Gestalt auf dem Boden zu. Die Frau war klein und dünn, was durch das elegante Chanelkostüm noch betont wurde. Die Kunst, auf hohen Hacken zu laufen, beherrschte sie formvollendet. Hektisch bahnte sie sich mit ihren Ellbogen einen Weg durch das Menschengedränge und gelangte so ins Zentrum des Geschehens.

Kapitel 2

Henrik von Knecht sprach während der fünfminütigen Autofahrt kein einziges Wort. Er saß da, den Kopf vornübergebeugt, die Stirn in die Hände und die Ellbogen auf die Knie gestützt.

Inspektorin Huss forderte ihn nicht auf, sich anzuschnallen, sie ließ ihn versunken in seine Trauer und sein Schweigen sitzen. Als sie in die Molinsgatan einbogen, sah Irene Huss, dass nicht nur Kommissar Andersson und die Leute von der Spurensicherung vor von Knechts Haus warteten. Zwei Personen, die sie nur zu gut kannte, drückten sich vor der Eingangstür des Herrenausstatters herum. Sie fuhr an ihnen vorbei und bog nach links in die Engelbrektsgatan ein. Irene Huss berührte vorsichtig Henrik von Knechts Arm, worauf er zusammenzuckte, als hätte sie ihn geweckt.

»Was ist los?«, fragte er verwirrt.

»Ich will einen Bogen machen und in der Aschebergsgatan parken. In der Ecke vorm Herrenmodengeschäft stehen zwei Typen von der Zeitung. Können wir über den Hinterhof ins Haus kommen und von dort aus den anderen die Tür öffnen? Dann entkommen Sie den Hyänen«, erklärte Irene Huss.

Ein angespannter Zug fuhr über sein Gesicht, und plötzlich schien er hellwach zu sein.

»Parken Sie rechts bei den Erik-Dahlbergs-Treppen. Stellen Sie sich auf einen der beiden äußersten Plätze«, dirigierte er.

Sie hatten Glück, einer der Plätze war frei. Irene Huss sah den blutbefleckten Ulster an. Sie bat Henrik von Knecht, noch sitzen zu bleiben, während sie zum Kofferraum ging. Dort fand sie einen alten, öligen, blauen Helly-Hansen-Pullover und die schwarze Kappe ihrer Tochter, mit »N.Y.« bestickt. Sie gab ihm die Sachen und sagte:

»Ziehen Sie den Mantel aus und das hier an.«

Ohne eine Miene zu verziehen, zog er sich schnell im Auto um.

Sie gingen mit raschen Schritten über den Zebrastreifen. Das war der kritische Moment. Sie musste sich zwingen, nicht zur Ecke fünfzig Meter weit entfernt zu gucken. Mit erzwungener Ruhe gingen sie noch ungefähr zehn Meter weiter. Henrik von Knecht hielt vor einer massiven Holztür an, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche seiner maßgeschneiderten Hose und schloss die Tür auf. Einer der Fotografen steckte seinen Kopf um die Ecke, schien aber nicht auf die Kontraste von Henrik von Knechts Kleidung zu reagieren.

Sie schlüpften durch die Tür und gelangten in einen Fahrradraum. Es war ein kombinierter Fahrrad- und Müllraum, eigentlich ein etwa zwanzig Meter langer Durchgang, der an beiden Enden von abgeschlossenen Türen begrenzt wurde. Neben der Tür zur Straße standen fünf grüne Mülltonnen.

Schnell durchquerten sie den Raum, öffneten die hintere Tür und traten auf einen kleinen, quadratischen Hinterhof. Er wurde von einem großen Baum mitten auf dem Hof beherrscht, beleuchtet von einer altmodischen Straßenlaterne. Die Wände entlang liefen Blumenrabatte. In jeder Hauswand befand sich eine kleine Tür mit Fenster und jede Tür war mit einer soliden Lampe beleuchtet. Henrik von Knecht steuerte ohne zu zögern die linke Tür an, schloss sie auf und hielt sie für Irene Huss auf. Er streckte seine Hand zu dem selbst leuchtenden Knopf, um die Treppenbeleuchtung einzuschalten.

»Kein Licht! Sonst sehen die Zeitungsfritzen, dass was im Gange ist«, zischte Irene Huss.

Sie holte ihre kleine, lichtstarke Taschenlampe aus der Tasche ihrer Popelinejacke. Dem nach unten gerichteten Lichtstrahl folgend gingen sie fünf schmale Treppenstufen hinauf. Durch die schmale Türöffnung traten sie in ein großes Treppenhaus. Im Lichtkegel glänzte der bunte Marmor des Bodens. Rechts von sich sahen sie das Licht eines Fahrstuhlfensters. Irene Huss löschte die Taschenlampe und ging zur Eingangstreppe, die zur Haustür hinunterführte. Als sie auf der Höhe der Fahrstuhltür stand, konnte sie den oberen Teil der schön geschliffenen Glasscheiben der Haustür sehen. Sie trat noch ein paar Schritte vor und konnte die Köpfe des Kommissars und der Techniker erkennen. Vorsichtig schlich sie an eine Seite der breiten Treppe, hielt sich an dem geschnitzten Treppengeländer fest und glitt lautlos die zehn Treppenstufen zur Tür hinunter. Sie tappte über die weiche Fußmatte, riss die Tür hinter ihren Kollegen auf und zischte laut:

»Schnell! Beeilt euch, ehe die Zeitungsfritzen kommen!«

»Uns beeilen! Wie soll man das denn anstellen, wenn man sich vor Schreck in die Hose geschissen hat!«, wollte Svante Malm von der Spurensicherung wissen.

Kommissar Andersson behauptete später, er wäre nie in seinem Leben einem Herzinfarkt näher gewesen.

Sie schlüpften durch die Tür hinein, bevor die Zeitungsheinis an der Ecke überhaupt begriffen hatten, was da vor sich ging. Irene Huss drückte auf den Knopf für die Flurbeleuchtung. Der Kommissar zwinkerte wütend mit den Augen und fragte schroff:

»Was zum Teufel machst du denn jetzt schon wieder?«

Aber Irene Huss antwortete ihm nicht, sie betrachtete voller Bewunderung die Wände des Treppenaufgangs. Die Wandgemälde waren wunderschön, spielende Kinder zwischen Buschwindröschen und der Frühling, der in einem Wagen angeflogen kam, welcher von großen exotischen Schmetterlingen gezogen wurde. Alles in frühlingshaften hellen Pastelltönen gehalten. Auf der gegenüberliegenden Wand gab es ein Mittsommernachtsfest in deutlich kräftigeren, bunteren Farben zu sehen. Erwachsene und Kinder tanzten in der Sommerdämmerung, und der Spielmann strich auf seiner Geige, was das Instrument nur hergab. Sein Gesicht war schweißnass, und die Augen funkelten vor Spielfreude.

»Das Gemälde hat Carl Larsson gemalt, Anfang der Neunzigerjahre im letzten Jahrhundert.«

Alle Polizisten wandten ihr Gesicht zum Treppenabsatz, von wo die trockene Stimme kam. Henrik von Knecht sah in seiner Verkleidung zweifellos sonderbar aus. Er schaute auf die vier Polizisten herunter und nickte Irene zu, als er weitersprach:

»Die Inspektorin Huss war so freundlich und hat mich an den Presseleuten vorbeigelotst. Wollen wir jetzt nach oben?«

Er zeigte mit einer Hand zur Fahrstuhltür. Die Polizisten trotteten die Stufen hoch und drängten sich in den kleinen Aufzug. »Max. 5 Personen«, informierte ein Messingschild. Irene hoffte heimlich, dass es sich dabei um ausgewachsene Personen handeln durfte. Sie nutzte die Gelegenheit, Henrik von Knecht den anderen drei vorzustellen: Kommissar Andersson und den Leuten von der Spurensicherung, Svante Malm und Per Svensson. Letzterer trug die schwere Beleuchtungsausrüstung und diverse Kameras.

Ohne Zwischenstopp fuhr der Fahrstuhl in den vierten Stock. Sie stiegen aus und gingen zu der großen, geschnitzten Doppeltür. Ein zierliches schmiedeeisernes Gitter in Form ineinander verschlungener französischer Lilien bedeckte das in die Tür eingelassene Fenster. Die Schnitzereien auf der unteren Türhälfte stellten springende und spielende Hirsche dar. Svante Malm spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff beim Anblick der imposanten Tür.

Irene Huss schien es, als hätte Henrik von Knecht sich während ihres Versteckspiels mit der Presse ein wenig erholt. Aber als er nun aus dem Aufzug stieg, erstarrte sein Gesichtsausdruck von neuem. Auch Kommissar Andersson bemerkte das.

»Sie müssen nicht mit in die Wohnung kommen«, sagte er freundlich.

»Doch, das will ich aber!«

Die Antwort kam wie ein Peitschenknall. Der Kommissar war überrascht davon und murmelte:

»Ja, ja, können Sie ja. Aber Sie müssen sich dann dicht hinter uns halten. Sie dürfen nichts anfassen, sich auf keinen Stuhl setzen und kein Licht anmachen. Wir sind natürlich dankbar, wenn Sie uns durch die Wohnung führen würden. Wie groß ist sie eigentlich?«

»Dreihundertfünfzig Quadratmeter. Es ist eine Maisonette-wohnung. Die anderen drei Wohnungen im Haus sind immer nur auf einem Stockwerk. Papa hat das Haus hier Ende der Siebziger gekauft und es sehr sorgfältig renovieren lassen. Es steht natürlich unter Denkmalschutz«, berichtete er.

»Es gibt also nur drei andere Wohnungen im ganzen Haus?«

»Ja.«

Während sie miteinander sprachen, hatte der Kommissar sich ein Paar dünne Gummihandschuhe übergezogen. Mit einer Geste bat er Henrik von Knecht um den Türschlüssel. Er bekam ihn und schloss auf.

Mit einem leichten Druck auf das äußerste Ende der Türklinke drückte er diese nach unten und öffnete die Wohnungstür.

»Fasst keinen Lichschalter hier im Flur an. Benutzt lieber eure Taschenlampen«, ermahnte Svante Malm sie.

Leicht seufzend fuhr er fort:

»Der Laser ist kaputt, deshalb muss ich die gute alte Pulvermethode benutzen.«

Währenddessen suchte er mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe nach dem Lichtschalter. Als er ihn direkt neben der Tür gefunden hatte, bat er Irene Huss, die Taschenlampe direkt auf den Schalter zu richten. Er blies über die ganze Plastikscheibe um den Knopf herum Metallpulver. Vorsichtig pinselte er das überflüssige Pulver weg, drückte eine dünne Plastikfolie auf die Fläche und zog diese dann wieder ab. Ein Ausdruck der Überraschung zeichnete sich auf seinem länglichen Gesicht ab.

»Total blank. Kein Krümelchen zu sehen. Jemand muss den Schalter abgewischt haben«, sagte er erstaunt.

»Deshalb riecht es hier wohl auch nach Ajax«, sagte Irene Huss.

Sie schnüffelten alle. Es gab noch mehr zu riechen. Zigarre. Das erklärte auch, warum sie ein Gefühl von Weihnachtsstimmung empfunden hatte, als sie in den Flur getreten war. Eine Erinnerung an die Weihnachtsfeiern ihrer Kindheit. Mutters Ajax und Vaters Weihnachtszigarre. Sie wandte sich an Henrik von Knecht.

»Rauchte Ihr Vater Zigarren?«

»Ja, ab und zu. Bei festlichen Gelegenheiten…«

Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern. Er schluckte schwer, denn auch er hatte den Zigarrenduft wahrgenommen. Mit verkniffenen Lippen fragte er Irene flüsternd:

»Warum nehmen Sie Fingerabdrücke?«

Irene dachte daran, was die Gerichtsmedizinerin gesagt hatte, beschloss jedoch, nur einen Teil der Wahrheit zu sagen.

»Reine Routine. Das machen wir immer so, wenn wir bei einem überraschenden Todesfall an den Unglücksort gerufen werden«, erklärte sie.

Er kommentierte ihre Aussage nicht weiter, sondern biss so fest die Zähne aufeinander, dass die Kiefermuskeln wie steinharte Polster am Ende der Kieferlinie hervortraten.

Svante Malm knipste die Lampe im Flur an. Die Wände ragten sicher vier Meter in die Höhe. Die Eingangshalle war beeindruckend groß und geräumig. Der Boden war aus hellgrauem Marmor. Rechts von der Tür reihten sich fünf Garderobenfächer mit geschnitzten Türen aus dunklem Holz aneinander. Die mittlere war mit einem ovalen Spiegel versehen, der fast die ganze Tür bedeckte. Zusätzlich thronte einer der größten und am reichsten verzierten Spiegel, die Irene Huss je gesehen hatte, an der gegenüberliegenden Wand. Unter ihm stand eine ebenso kunstvoll geschnitzte und vergoldete Konsole.

Kommisar Andersson wandte sich Henrik von Knecht zu.

»Können Sie uns kurz einen Überblick über die Wohnung geben?«

»Ja, natürlich. Die Tür neben dem Spiegel führt zu einer Toilette. Die nächste Tür geht zur Küche.«

»Und die Tür gegenüber der Küche, neben den Garderoben?«

»Die führt in die Gästesuite hier unten. Dort drinnen gibt es ein separates Badezimmer mit WC. Geradeaus haben wir die Tür zu dem großen Wohnzimmer. Ganz dahinten, linker Hand, ist die Treppe zum oberen Stockwerk. Dort oben liegen die Bibliothek, ein kleineres Arbeitszimmer, die Sauna, das Schlafzimmer, das Fernsehzimmer und der Billardraum. Und ein Bad mit WC und Jacuzzi.«

Svante Malm war vor einer glänzend polierten Kommode mit vergoldeten Beschlägen, runden Formen und einem Furnier aus hellen und dunklen Hölzern stehen geblieben. Mit Ehrfurcht in der Stimme fragte er:

»Darf ich fragen: Ist das eine Haupt-Kommode?«

Henrik von Knecht schnaubte unbewusst.

»Nein, die steht in der Bibliothek. Diese hier hat mein Vater in London gekauft. Der Versicherungswert beträgt fünfhundertfünfzigtausend. Auch ein hübsches Stück«, erklärte er.

Keinem der Polizisten fiel dazu eine Bemerkung ein. Der Kommissar wandte sich Irene zu.

»Am besten bleibst du mit Herrn von Knecht hier, während wir uns umsehen«, sagte er.

»Ich komme gern mit. Es ist ja möglich, dass etwas nicht so aussieht, wie es normalerweise aussieht«, widersprach Henrik von Knecht schnell.

Er schob sein Kinn vor und bekam einen eigensinnigen Zug um den Mund. Andersson sah ihn nachdenklich an und nickte dann zustimmend. Er wandte sich den Leuten von der Spurensicherung zu.

»Als Erstes überprüfen wir den Balkon«, bestimmte er.

Alle gemeinsam marschierten sie zu der breiten Türöffnung zum Wohnzimmer. Vorsichtig traten sie auf den weichen Teppich in der Mitte der Eingangshalle. Irene musste stehen bleiben, um das golden schimmernde Muster zu bewundern, das einen schönen Baum mit Vögeln und stilisierten Tieren darstellte, umgeben von einem weinrankenähnlichen Gewächs auf dunkelblauem Grund. Sie merkte, wie Henrik von Knecht sie ansah.

»Das ist ein semiantiker Motashemi-Keshan«, erklärte er sachkundig.

Vor ihren Augen erschien kurz die Vision ihrer letzten Investition an der Teppichfront, ein rostroter Teppich mit kleinen, naiv gezeichneten Strichmännchen in den Ecken. Der Verkäufer bei IKEA hatte ihr versichert, dass das ein echter, handgeknüpfter Gabbeh war, zu dem günstigen Preis von zweitausend Kronen. Sie liebte diesen Teppich und war der Meinung, er würde ihr ganzes Wohnzimmer erhellen, wie er dort unter dem Couchtisch lag. Plötzlich überfiel sie wütend das Gefühl, ihren Teppich verteidigen zu müssen. Sie fauchte schärfer, als sie geplant hatte.

»Sind Sie so ein Museumsheini, oder was?«

»Nein, ich handle mit Antiquitäten«, antwortete er nur kurz.

Sie standen in der Türöffnung zu dem Wohnzimmer, wie Henrik es genannt hatte. Im Schein der Taschenlampe vollführte Svante Malm wieder die Fingerabdrucksprozedur an dem großen Kontaktschalter, und wieder mit dem gleichen negativen Resultat. Irene Huss konnte erkennen, dass sie sich in einem sehr großen Saal befanden. Das Straßenlicht sickerte durch die dünnen vorgezogenen Gardinen. An der gesamten äußeren Wand schienen Fenster vom Boden bis zur Decke zu verlaufen. Wieso hatte sie das Gefühl, sich in einer Kirche zu befinden? Nachdem keine Fingerabdrücke zu finden waren, drückte Svante Malm auf den Lichtschalter. Glänzende, schwere Messingkronleuchter erhellten einen großen Saal. Alle waren überrascht und beeindruckt, der Kommissar sammelte sich als Erster und sagte:

»Auf geht’s. Haben alle Plastikschutz über den Schuhen?«

Die Treppe begann direkt beim Lichtschalter und führte an der Wand, an der sie standen, nach oben. Mit Andersson an der Spitze stiegen die Techniker schnell die breiten Marmorstufen hinauf.

Henrik drückte auf den äußersten Knopf auf der Schalterleiste, und mit einem leisen Surren schob sich die dünne, champagnerfarbene Seidengardine zur Seite.

Sie merkte, dass sie sich geirrt hatte. Die hohen Fenster waren keine Fenster, es waren gläserne Balkontüren. Und sie reichten nicht vom Boden bis zur Decke. Denn die Deckenhöhe der Außenwand betrug sicher acht Meter. Über ihren Köpfen gab es die Decke von vier Metern Höhe, doch die hörte abrupt ein paar Meter weiter auf. Irene trat weiter vor und schaute sich um. Das, was hier die Decke bildete, war natürlich im nächsten Stock der Boden. Und wo der Boden des oberen Stockwerks aufhörte, lief ein schönes Schmiedeeisengeländer entlang. Das erstreckte sich über zwei Seiten des Saals. Hoch über ihrem Kopf wölbte sich die stuckverzierte Decke. Kein Wunder, dass sie das Gefühl bekommen hatte, sich in einer Kirche zu befinden! Vom Dach hingen drei riesige Kronleucher. Der ganze Raum war länglich, sah aber auf Grund der Marmorsäulen, die in einer Reihe standen und den Boden des oberen Stockwerks abstützten, schmaler aus, als er in Wirklichkeit war. Die Kollegen traten gemessenen Schrittes ans Geländer und gingen dann zur Balkonecke in der großen offenen Bibliothek. Irene Huss kehrte wieder zu Henrik zurück, und gemeinsam gingen die beiden schweigend die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk war der Zigarrenduft sehr viel deutlicher zu riechen. Sie gingen am Geländer entlang, in die geräumige Bibliothek. Links von sich sah Irene eine Halle und einen Flur mit mehreren Türen. Sie begriff, dass hier die übrigen Zimmer und die Sauna liegen mussten. Die Sauna… Sie verlangsamte ihren Schritt und blieb stehen. Jetzt konnte sie identifzieren, welcher Geruch vom Zigarrenduft überdeckt wurde.

Sie holte tief Luft und drehte sich Henrik zu.

»Wissen Sie, wonach es riecht?«

Er schnupperte kurz und nickte.

»Nach Eukalyptus. Mein Vater war in der Sauna. Das erklärt auch, warum er den Bademantel anhatte«, antwortete er mit einem leichten Zittern in der Stimme.

Schnell zogen die Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei, der zerschmetterte Richard von Knecht, bekleidet mit einem dicken Bademantel aus weinrotem Samtfrottee, seine nackten Beine in verdrehter Position, weiß in der Scheinwerferbeleuchtung der Spurensicherung, und die braunen Lederpantoffeln, ein paar Meter von der Leiche entfernt. Sie erschauerte und konzentrierte sich auf ihre Kollegen an der Balkontür. Die drei Männer standen wortlos vor der verschlossenen Tür. Langsam drehte sich Kommissar Andersson um und schaute Henrik von Knecht ernst an:

»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass es einige Anzeichen dafür gibt, dass Ihr Vater getötet wurde. Die Balkontür ist von innen verschlossen, der Schlüssel steckt und der Türgriff ist heruntergedreht. Und auf der Außenseite gibt es keinen Griff.«

Das war zu viel für Henrik von Knecht. Er sank direkt vor der Balkontür auf die Knie, die Hände vors Gesicht geschlagen, und begann zu weinen, leise und trocken. Irene rief einen Streifenwagen, der ihn und seinen weißen Mercedes nach Hause bringen sollte.

Während sie auf die Ankunft des Streifenwagens warteten, fragte Irene Huss, ob er versuchen wollte, ihr einige Fragen zu beantworten. Er nickte bejahend. Sie begann ganz neutral:

»Wo wohnen Sie?«

»Örgryte. Långåsliden.«

»Ist jemand bei Ihnen, oder sollen wir jemanden benachrichtigen?«

»Meine Frau ist zu Hause.«

»Ach so.«

Irene hörte selbst, wie dumm das klang, aber sie war einfach überrascht davon, dass Henrik von Knecht eine Frau hatte. Schnell versuchte sie ihre Verblüffung zu überspielen:

»Weiß Ihre Frau, was heute Abend passiert ist?«

Er schüttelte den Kopf, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen.

»Wenn ich es recht verstanden habe, dann befanden Ihre Mutter und Sie sich auf der Straße, als Ihr Vater hinunterfiel. Sie stiegen gerade aus dem Auto, stimmt das?«, fuhr sie fort.

Er blieb eine ganze Weile unbeweglich sitzen. Irene überlegte, ob er die Frage überhaupt verstanden hatte. Sie wollte sie bereits neu formulieren, als er seine Hände herunternahm und sie direkt ansah. Wieder begegnete ihr diese steife Maske. Auch wenn seine Augen glänzten, es lag eine Eiskruste unter den Tränen. Er strich sich mit einer müden Geste über das Gesicht.

»Entschuldigung… Was haben Sie gefragt?«

Irene stellte ihre Frage noch einmal. Er holte tief Luft, bevor er antwortete:

»Wir haben auf der anderen Seite geparkt, an der Ecke der Aschebergsgatan. Ich habe gar nicht gesehen, dass was passiert ist, bin nur ums Auto gegangen, um meiner Mutter zu öffnen. Da hörte ich einen Schrei. Ich sah, dass… dass da etwas auf dem Boden lag und dass Menschen dorthin rannten. Meine Mutter lief auch hin. Sie fing an zu schreien. Ich rief von meinem Handy aus die Polizei an. Ja, den Rest kennen Sie ja.«

»Wo waren Sie und Ihre Mutter gewesen?«

»Wir hatten abgemacht, uns in Landsvetter zu treffen. Sie kam mit einem Flugzeug aus Stockholm, das eine Viertelstunde nach meinem landete. Aus London. Es war reiner Zufall, dass unsere Flüge so zusammenfielen. Das haben wir Samstag bemerkt, auf dem Fest. Mama und Papa feierten ihren dreißigjährigen Hochzeitstag…«

Er schluckte und verstummte. Irene Huss sah ein, dass er an seinen Grenzen angelangt war.

»Wir werden morgen sicher noch ausführlicher miteinander reden müssen. Möchten Sie, dass wir zu Ihnen kommen, oder wollen Sie im Präsidium vorbeischauen?«

»Ich komme ins Präsidium.«

»Geht es um elf? Und bringen Sie bitte Ihre Frau mit.«

»Wir werden versuchen, um elf zu kommen.«

»Es ist jetzt sicher an der Zeit runterzugehen. Wie Sie wissen, können die Streifenpolizisten ja nicht ins Haus«, sagte sie freundlich.

Sie brachte ihn mit dem Fahrstuhl hinunter. Er murmelte ein Dankeschön und verschwand zwischen den beiden Polizisten draußen im Dunkel.

Irene Huss musste einfach stehen bleiben und den so sorgfältig verlegten Marmorboden bewundern. Das Motiv stellte einen schwarzen Schwan dar, der von weißen und rosa Lilien umgeben wurde. Das war der schönste Boden, den sie je gesehen hatte. Carl Larsson an den Wänden des Treppenhauses, als zusätzlicher Bonus, verschlechterte den Eindruck auch nicht gerade.

Während ihrer vielen Jahre bei der Polizei war sie bereits in hunderten von Hauseingängen gewesen. Die meisten waren heruntergekommen, der Gestank nach Pisse und billigem Essen schlug den Besuchern wie das selbst produzierte Tränengas des Vororts entgegen. Die Wände waren abgeblättert, und Gekritzel auf ihnen kündete vollmundig von »Schwanz«, »Ausländer raus«, »Kilroy was here« und anderen aufmunternden Parolen. Schmutzige Treppen und eingetretene Wohnungstüren gehörten zum normalen Bild. Die Polizei hat selten etwas in Hauseingängen mit Marmorbelag auf dem Boden und Carl-Larsson-Malereien an den Wänden zu suchen.

Die Balkontür stand offen, und die Beamten waren damit beschäftigt, Spuren zu sichern. Eine sehr konkrete war ein Fleischerbeil. Nicht in der Größe eines Schlachtwerkzeugs, sondern eher eine kleinere Küchenvariante.

»Das lag auf dem Balkonboden, ganz an der Wand. Es hat unter dem Dach gelegen, da werden wir bestimmt einiges Interessantes dran finden«, sagte Andersson.

Der Kommissar war aufgewühlter, als er zugeben wollte. Seine Wangen zeigten eine intensive Röte. Leise fragte Irene:

»Bist du in Ordnung? Ich meine… was den Blutdruck betrifft?«

»Was kümmert dich das?«

Der Kommissar schaute wütend auf. Keiner wird gern an seine beginnenden Alterszipperlein erinnert. Und hoher Blutdruck war eins der seinen. Die Beamten schauten verwundert von ihrer Arbeit auf. Mit aller Kraftanstrengung beherrschte Andersson sich und zwang seine Stimme in leisere Regionen.

»Die Sauna war an. Mir ist ziemlich heiß geworden, als ich reingeguckt habe«, erklärte er, konnte aber nicht einmal sich selbst damit überzeugen.

Irene beschloss, die peinliche Frage nach dem Blutdruck des Chefs auf sich beruhen zu lassen.

»War der Ofen noch an?«, wunderte sie sich.

»Nein, der war ausgestellt. Und hier hast du die Erklärung für den Zigarrengeruch.«

Andersson deutete auf eine Zigarre, die in einem blauen Kristallaschenbecher lag, platziert auf einem Rauchtisch mit runder Kupferscheibe. Neben dem Aschenbecher stand ein breites Whiskyglas mit einem kleinen bernsteinfarbenen Rest auf dem Grund. Der Rauchtisch diente als Sideboard zwischen den beiden über Eck stehenden Sofas. Diese sahen einladend und bequem aus in ihrem weinroten, weichen Leder. Das Sofa, das dem Balkon am nächsten stand, zeigte mit dem Rücken zum Schmiedeeisengeländer und mit der kurzen Seite zur Balkontür. Vor dem großen Sprossenfenster thronte ein Ohrensessel im gleichfarbenen Leder wie die Sofas. Eine Halogenleselampe daneben sah fast aus wie eine Fleisch fressende Pflanze aus Messing. Das andere Sofa war zur Balkontür hin ausgerichtet, mit dem Rücken zur Treppe und zum Schlafzimmerflur. Die Platzierung des Aschenbechers und des Whiskyglases deutete darauf hin, dass Richard von Knecht auf letztgenanntem Sofa gesessen hatte. Der Kommissar betrachtete nachdenklich das Arrangement.

»Warum saß er auf dem Sofa und nicht auf dem Sessel?«, überlegte er.

»Sieh doch mal die Lautsprecher. Der eine steht in der Ecke und der andere auf der anderen Seite der Balkontür. Wahrscheinlich ist der Klang am besten, wenn man auf dem Sofa sitzt«, erwiderte Irene Huss.

Sie ging zum CD-Spieler, der hinter einer rauchfarbenen Glastür in einem der Bücherregale versteckt war. Mit einem Stift drückte sie vorsichtig auf einen Knopf, und die Scheibe glitt heraus. Ohne sie anzufassen, las sie laut den Titel:

»›The Best of Glenn Miller‹. Richard von Knecht sitzt hier also frisch aus der Sauna kommend, raucht eine gute Zigarre, trinkt einen Schluck und hört Glenn Miller. Und dann soll er also plötzlich aufspringen, sich mit dem Fleischerbeil in die Hand hauen und vom Balkon springen! Das klingt nicht besonders glaubwürdig. Die Stridner hat Recht, das war kein Selbstmord.«

»Und vergiss nicht, dass die Balkontür von innen verschlossen war und der Schlüssel steckte.«

»Ich möchte nur wissen, was eigentlich passiert ist.«

»Das herauszufinden, werden wir bezahlt«, erklärte der Kommissar trocken.

Er wandte sich wieder zur Balkontür und fragte mit lauter Stimme:

»Svante, ist eigentlich viel Blut auf dem Balkon?«

Svante Malm steckte sein sommersprossiges Pferdegesicht durch die Tür.

»Nein, bis jetzt haben wir noch gar keins entdeckt. Jedenfalls keins, das sichtbar wäre.«

»Offenbar ist er also nicht mit der Axt auf dem Balkon umgebracht, sondern wirklich übers Geländer geschubst worden. Nur sonderbar, dass er nicht geschrien hat, nicht wahr? Hat jemand der Zeugen gehört, dass er geschrien hat, als er zu Boden stürzte?«, fragte Andersson.

Irene dachte an die kleine Dame mit dem Hund.

»Scheint nicht so. Ich habe mit der Zeugin gesprochen, die am nächsten dran war. Sie war sehr aufgebracht, weil von Knecht fast auf ihrem Hund gelandet ist. Aber sie hat nichts von einem Schrei erwähnt. Aber sie stand natürlich unter Schock. Ich werde sie morgen vernehmen.«

»Okay. Dann sehen wir uns hier mal weiter um.«

Die Bibliothek wurde von den hohen, an der Wand befestigten Bücherregalen dominiert. Sie erstreckten sich vom Boden bis zum Dach und waren mit Glastüren versehen. Die Sitzgruppe stand mitten in dem großen Raum. Eine kleinere Lesegruppe in einer Ecke bestand aus einem Glastisch und zwei Ohrensesseln, im gleichen Design und Lederbezug wie die Sitzgruppe. Um das große Fenster herum bis zur Balkontür gab es keine Bücherregale. An den Wänden hing stattdessen moderne Kunst. Unter einem bunten Ölgemälde, das einen grünen Monsterkopf mit gelben Augen darstellte, stand die so genannte Haupt-Kommode. Man konnte sie kaum als Kommode bezeichnen, eher als einen Sekretär auf hohen, verschnörkelten Beinen. Unter der Klappe saßen drei Schubladen nebeneinander, und darüber wölbte sich ein raffinierter Rollladen. Die Haupt-Kommode war eine Enttäuschung. Die Kommode in der Eingangshalle war viel imposanter. Aber das war es wohl nicht, was ihren Wert ausmachte, wie Irene aus Svante Malms Reaktion zu erkennen meinte. Auf der anderen Seite des Fensters hingen zwei Bilder, die sogar von den ungeübten Augen des Kommissars als Werke von Picasso identifiziert werden konnten. Es waren nämlich deutlich die Signaturen zu erkennen.

»Kubistischer Stil. Das erkenne ich nach dem Steckbrief für die Bilder, die aus dem Moderna museet gestohlen wurden. Nichts sitzt dort, wo es sein sollte. Wie sollte man zwei Augen sehen können, wenn die Nase im Profil gezeichnet ist?« fragte Andersson.

Er beäugte die beiden Bilder kritisch. Sie waren deutlich kleiner als das Monsterbild, aber sicher beträchtlich teurer.

»Wir drehen mal eine Runde. Und wir versprechen, nichts anzufassen und nur die Taschenlampen zu benutzen.«

Letzteres sagte er zu Svante, dessen Kopf wieder in der Balkonöffnung erschienen war.

Sie begaben sich in den Flur des Obergeschosses, von dem die übrigen Zimmer abgingen. Das erste Zimmer erwies sich als Arbeitszimmer, nur wenig kleiner als das kleinere Wohnzimmer. Im Lichtkegel waren Bücherregale mit Büchern und Ordnern zu erkennen, eine kleine Sitzgruppe, ein großer Schreibtisch und ein separater Computertisch.

Alles sah sehr sauber und ordentlich aus. Anderssons Taschenlampe blieb auf einem eingerahmten Plakat über dem Schreibtisch hängen. Es stellte eine Balletttänzerin in wadenlangem Tüllrock dar. Sie hatte eine Pose eingenommen, in der ein Bein schräg nach vorn gestreckt war und Arme und der Oberkörper sich über das Bein streckten. Große Buchstaben erklärten: »Der Nussknacker. Musik von Tschaikowsky mit einer Originalchoreografie von L. Ivanov«. Verwundert fragte Andersson:

»Mochte von Knecht Ballett?«

Neugierig trat Irene neben ihn und las im Licht der Lampen:

»›Nehmen Sie teil an der 75-Jahres-Feier des Nussknackers, 1892–1967 im Stora teatern in Göteborg.‹ Ja ha, ganz offensichtlich ballettinteressiert«, stellte sie fest.

»Wir verschaffen uns heute Abend nur einen ersten Überblick. Die Jungs haben dann die ganze Nacht Zeit, Spuren zu sichern. Sollten sie etwas Wertvolles finden, werde ich es morgen früh von ihnen erfahren… hm, das ist eigentlich ein ganz blöder Ausdruck in diesen Kreisen hier!«

Er schnaubte leise und Irene wurde es ganz warm ums Herz. Auch er war also von den Dingen um ihn herum beeindruckt. Sie verließen das Arbeitszimmer und betraten den nächsten Raum. Der erwies sich als die schon viel besprochene Sauna, gekachelt vom Boden bis zur Decke. Am hinteren Ende des Raumes befand sich eine ganze Plexiglaswand mit einer Tür, auch diese aus Plexiglas. Dahinter waren Bänke in verschiedener Höhe und ein großes Saunaaggregat an der einen kurzen Wand zu erkennen. Außerdem gab es noch eine Dusche mit Wänden und einer Schiebetür aus Glas. Zwei Deckstühle aus Teakholz mit dicken Kissen und ein kleiner Tisch machten das Inventar aus. Es roch intensiv nach Eukalyptus. Irene leuchete in die Dusche und konnte sehen, dass Wände und Boden noch feucht waren.

»Nichts weiter von Interesse. Weiter«, sagte Andersson.

Hinter der nächsten Tür befand sich eine separate Toilette mit einem großen Marmorwaschbecken. Die letzte Tür auf der rechten Seite des Flurs führte zu einem Billardzimmer. Ein großer Billardtisch dominierte den Raum.

Sie überquerten den Flur und kamen in das größte Schlafzimmer, das beide je betreten hatten. Ein extrabreites Doppelbett mit einer gelben Seidentagesdecke und vielen Kissen beherrschten das Zimmer. Es war umgeben von polierten Holzschränken und Kommoden, und an den Wänden hingen die Bilder dicht an dicht. Hier konnte man übrigens genau sehen, was die Kunst darstellte. Nackte Körper, die meisten davon weiblich. Es gab auch den einen oder anderen posierenden Mann. Einige der Bilder nahe beim Bett waren direkt pornografisch, vielleicht auch erotisch, da die kopulierenden Paare zum Teil bekleidet waren.

Die Kleidungsstücke, die sie noch trugen, waren altmodisch, wie Schnürleiber, Krinolinen und Schuten. Interessiert betrachtete Irene Huss außergewöhnliche Beischlafstellungen auf einer ganzen Anzahl kleiner japanischer Drucke. Eine Tür in der Wand gegenüber den Kleiderschränken verbarg ein großes Badezimmer mit Toilette. Die Badewanne war ein Eckmodell, offensichtlich das erwähnte Jacuzzi.

Der Kommissar versuchte ein Gähnen zu unterdrücken und sagte: »Es ist jetzt halb elf. Das reicht nur noch für einen kurzen Schnelldurchlauf. Übrigens, ist dir was aufgefallen? Wo sind eigentlich all die neugierigen Nachbarn, die sonst immer angerannt kommen und fragen, was denn passiert ist? Es gibt noch drei Wohnungen in diesem Haus.«

»Ich werde schnell mal die Operation Anklopfen durchführen.«

Irene verließ das von Knecht’sche Schlafgemach und brachte ihre Aufgabe schneller hinter sich, als sie dachte. Auch Sven Andersson war überrascht, als er im unteren Flur schon wieder auf sie stieß.

»Keiner der Nachbarn ist zu Hause. In allen drei Wohnungen ist es still und dunkel. Und ich habe geklingelt und geklopft«, versicherte sie.

Andersson sah nachdenklich aus.

»Das erklärt das Fehlen neugieriger Nachbarn. Und es hat dem Mörder die Sache leichter gemacht. Die Zentrale hat per Telefon ebenfalls keinen der Nachbarn erwischen können. Übrigens habe ich mir noch das letzte Zimmer oben angesehen. Ein Fernsehzimmer. Nichts von Interesse. Nur eine Menge Bilder und ein riesiger Fernseher.«

Er nickte zur Küchentür hin.

»Lass uns in die Küche gehen«, sagte er.

Die Küche erwies sich als ultramodern, schätzungsweise um die fünfzig Quadratmeter groß. In der Mitte erhob sich eine große Kücheninsel mit einer gewaltigen kupfernen Abzugshaube darüber. Die Hänge- und Unterbauschränke hatten geschnitzte Fronttüren aus rot getöntem Kirschbaumholz. Auf dem Boden glänzte ein seidenmattes, dunkelrot lasiertes Parkett. Vor dem Herd und um die Kücheninsel herum lagen rotbraune Ziegelklinker. Die Wände waren hell, fast weiß. Unter der Decke liefen Balken entlang, in der gleichen Farbe wie der Boden lasiert. Alles war sauber und ordentlich. Die Klappe der Geschirrspülmaschine stand einen Spalt offen. Vorsichtig schob der Kommissar sie mit dem Ende seiner Taschenlampe auf und leuchtete hinein.

»Gewaschen. Und kein schmutziges Geschirr auf der Spüle«, stellte er fest.

»Sven, guck mal über der Arbeitsplatte«, sagte Irene. »Unter der Abzugshaube hängen Küchengeräte.«

Fünf Zentimeter unter der Unterkante verlief eine festgelötete Stange. Sie war mit kleinen Haken versehen, und an denen hingen diverse Küchengeräte. Ein Fleischerbeil konnten sie nicht entdecken. Andersson sah nachdenklich aus, als er fragte:

»Wozu benutzt man eigentlich ein Fleischerbeil?«

Irene wunderte sich, dass er das nicht wusste, ließ sich aber nichts anmerken.

»Es hat eine scharfe Schneide, mit der man Sehnen und Knorpel abhackt. Mit der breiten, platten Breitseite schlägt man aufs Fleisch, damit es dünner und mürber wird. Ich glaube, heute wird es nicht mehr so viel benutzt wie früher. Heute ist das Fleisch ja schon geschnitten und geklopft, wenn man es kauft.«

»Wir müssen den Griff des Fleischerbeils mit den Griffen der Geräte vergleichen, die hier hängen. Es scheint alles die gleiche Serie zu sein. Und hier ist ein leerer Haken«, sagte der Kommissar.

»Ich habe das Gefühl, das sind nur Dekorationsstücke. Die Geräte scheinen mir nie benutzt worden zu sein. Ich habe noch nie einen so jungfräulichen Schneebesen gesehen! Und guck mal, die Griffe sind Ton in Ton mit den Fronttüren«, schnaubte Irene.

Sie zeigte auf eine Tür an der hinteren Wand.

»Ich möchte wissen, wohin die wohl führt?«

»Sieht aus wie eine ganz gewöhnliche Tür zur Hintertreppe. Die Jungs sollen das morgen überprüfen«, beschloss Andersson. Er unterdrückte ein erneutes Gähnen, bevor er weitersprach: »Ich glaube, wir waren ziemlich gründlich für einen ersten Durchgang durch die Wohnung. Oder haben wir etwas vergessen?«