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Sie geht auf die Neunzig zu, und niemand ist vor ihr sicher – »Helene Tursten macht süchtig.« ZDF
Mord ist ihr ganz persönliches Hobby: Fünf neue, spannende und unterhaltsame Geschichten rund um die fast 90-jährige Maud, die in Göteborg in einer mittlerweile museumsgleichen Altbauwohnung lebt, immer noch gern Fernreisen unternimmt und einige Leichen im Keller hat. Wir erfahren vom unglücklichen Tod ihrer Schwester, dem Ableben des unfähigen, egoistischen Sohnes einer Nachbarin; zudem berichtet Maud über prägende Ereignisse in ihrem Leben. Es stellt sich heraus, dass sie bereits in jungen Jahren mit allen Wassern gewaschen war. Zuletzt bricht Maud zu einer langen, ereignisreichen Reise nach Südfrika auf.
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Seitenzahl: 231
Mord ist ihr ganz persönliches Hobby: Fünf neue, spannende und unterhaltsame Geschichten rund um die fast 90-jährige Maud, die in Göteborg in einer mittlerweile museumsgleichen Altbauwohnung lebt, immer noch gern Fernreisen unternimmt und einige Leichen im Keller hat. Wir erfahren vom unglücklichen Tod ihrer Schwester, dem Ableben des unfähigen, egoistischen Sohnes einer Nachbarin. Zudem berichtet Maud über prägende Ereignisse in ihrem Leben, es stellt sich heraus, dass sie bereits in jungen Jahren mit allen Wassern gewaschen war. Zuletzt bricht Maud zu einer langen, ereignisreichen Reise nach Südafrika auf.
HELENETURSTEN, geboren 1954 in Göteborg, ist eine der beliebtesten schwedischen Kriminalautorinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin Irene Huss hat nicht nur viele Fans, sondern wurde auch erfolgreich verfilmt. Neben neuen Fällen für die junge Polizistin Embla Nyström veröffentlicht Helene Tursten auch sehr erfolgreich Bände mit Krimigeschichten.
Helene Tursten
Neue Kriminelle Geschichten
Aus dem Schwedischen vonAntje Rieck-Blankenburg
Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Äldre Dam Med Mörka Hemligheter« bei Nona Böckforlaget, Göteborg.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutschsprachige Erstausgabe Dezember 2023
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Helene Tursten
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock/Anneka; © Adobe Stock/z1b
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-28495-4V001
www.btb-verlag.de
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INHALT
Eine ältere Dame wird von ihren Erinnerungen eingeholt
Die Rabauken im Kohlenkeller
Vereisung einer Geschwulst
Die Schwester
Das Peter-Pan-Problem
Die Afrika-Reise einer älteren Dame
Ein lauter Seufzer der Erleichterung entfuhr Maud, als sie in den Flugzeugsessel sank. Sie war selbst überrascht, da sie nur selten ihre Gefühle zeigte. Verstohlen linste sie zu ihrem Nachbarn hinüber. Der junge Mann im Anzug stand neben seinem Sitz und war gerade vollauf damit beschäftigt, einen eleganten schwarzen Handkoffer ins Gepäckfach zu zwängen. Trotz ausdauernder Versuche gelang es ihm nicht, das Fach zu schließen. Gut so, vermutlich hatte er ihren kleinen Gefühlsausbruch nicht gehört, der wirklich aus tiefster Seele gekommen war. Die vergangenen Monate waren unglaublich belastend gewesen, doch jetzt schien das Schlimmste überstanden zu sein. Sie konnte sich endlich entspannen und auf einige herrliche Wochen in Südafrika freuen.
Maud würde die gesamte Rundreise in einer Gruppe mit einem Schwedisch sprechenden Guide unternehmen. Sie würden durchs Land fahren und sich diverse Sehenswürdigkeiten anschauen. Übernachtungen in Fünfsternehotels, Abendessen in sterngekrönten Restaurants und nicht zuletzt fünf Nächte in einer exklusiven Lodge im Kruger-Nationalpark inklusive einer Safari, bei der sie die Big Five aufspüren wollten. Darüber hinaus würden sie Weingüter besuchen sowie einen Abstecher an die Grenze zwischen Sambia und Simbabwe machen, um die Victoriafälle zu bestaunen und eine Kreuzfahrt auf dem Sambesi zu unternehmen. Die letzte Woche würden sie in Kapstadt verbringen. Maud war zwar schon zweimal in Südafrika gewesen, doch damals war sie gereist, wie sie es immer getan hatte: allein und mit Übernachtungen in einfachen, aber sauberen Hotels, von wo aus sie die unterschiedlichen Orte per Bus oder Zug aufgesucht hatte. Die Entfernungen in dem weiträumigen Land waren größer, als man meinen könnte, und sie hatte noch nicht einmal einen Bruchteil all dessen gesehen, was sie sich vorgenommen hatte. Und eine Safari hatte sie sich damals nicht leisten können.
Der Gedanke an eine solche Luxusreise war ihr während ihres Aufenthalts an der kroatischen Küste im vergangenen Sommer gekommen. Warum sollte sie sich diesen Traum nicht erfüllen? Sie war jetzt knapp neunundachtzig Jahre alt und bei bester Gesundheit, aber ohne jegliche Erben. Außerdem ließ es sich nicht leugnen, dass das Alter allmählich seinen Tribut forderte. Um ganz ehrlich zu sein, schaffte sie es nicht mehr, ihren Koffer längere Strecken bei drückender Hitze zu tragen, auch wenn sie immer mit leichtem Gepäck unterwegs war.
Das Flugzeug, das sie gerade bestiegen hatte, würde sie von Göteborg nach Kopenhagen bringen. Dort würde sie sich ihrer Reisegruppe anschließen, die mit South Africa Grand Tours nach Südafrika unterwegs war.
Draußen vor den Fenstern des Fliegers war es noch immer stockdunkel. Im Scheinwerferlicht des Flughafens Landvetter sah sie große feuchte Schneeflocken vom Himmel hinuntersegeln, doch sobald sie den Boden erreichten, schmolzen sie in den Pfützen auf den Landebahnen. In drei Tagen war Heiligabend. Wie wunderbar, der Kälte und dem ganzen Weihnachtstrubel zu entfliehen, dachte Maud. Und auch den hartnäckigen Polizistinnen.
Der Gedanke an die beiden Polizistinnen, die vor drei Tagen an ihrer Tür geklingelt hatten, ließ Mauds Puls in die Höhe schießen. Sie hatte nicht damit gerechnet, die beiden wiederzusehen, sondern angenommen, die Ermittlungen wären eingestellt worden. Das groß gewachsene Weibsbild, von dem sie wusste, dass es sich dabei um die stellvertretende Kommissarin namens Irene Huss handelte, hatte freundlich lächelnd darum gebeten, wegen des »bedauerlichen Vorfalls im August« noch einmal ein paar Worte mit ihr wechseln zu dürfen. Hinter ihr stand die jüngere Polizistin, eine Inspektorin namens Embla Irgendwas, ohne eine Miene zu verziehen. Doch ihr eisblauer Blick hatte Maud förmlich durchbohrt, und zwar mit einer solchen Intensität, dass sie unfreiwillig einen Schritt zurückgewichen war. Dies hatten die Polizistinnen umgehend als Einladung aufgefasst, und ehe sie sichs versah, standen die beiden auch schon in ihrem Flur.
Maud hatte sich automatisch ihrer effektivsten Verteidigungsstrategie bedient: die verwirrte alte Dame zu spielen. Im selben Augenblick war ihr jedoch aufgefallen, dass sie vergessen hatte, eine ihrer Hörgerät-Attrappen einzusetzen, die sie normalerweise benutzte, um sich als schwerhörig auszugeben. Bei dem Gedanken daran erschrak sie, doch dann ging ihr auf, dass es auch sein Gutes hatte. Es würde den Eindruck einer leicht dementen alten Schrulle noch verstärken.
»Warum kommt denn … die Polizei? Ist etwas passiert?«, fragte sie in besorgtem Tonfall.
Woraufhin die Polizistin namens Irene Huss beruhigend antwortete:
»Nein, nein, es ist nichts Neues passiert. Inspektorin Embla Nyström und ich würden nur gern noch einmal mit Ihnen über den Mord an dem Antiquitätenhändler William Frazzén sprechen. Weil er tot hier in Ihrer Wohnung lag, wollten wir uns nur vergewissern, ob Ihnen noch irgendetwas Weiteres eingefallen ist …«
»Was? Wer ist tot?«, fragte Maud mit lauter Stimme.
»Frazzén. Der Antiquitätenhändler, der hier ermordet wurde …«
Maud unterbrach sie und rief mit bedenklich zitternder Stimme:
»Oh mein Gott! Nein! Ich mag gar nicht daran denken! Es ist so entsetzlich!«
Die stellvertretende Kommissarin lächelte beschwichtigend.
»Könnten wir uns vielleicht setzen? Und uns dann mit etwas mehr Ruhe darüber unterhalten?«
Ihre Stimme klang freundlich, doch Maud ließ sich nicht täuschen. Auch wenn die beiden Polizistinnen keinerlei Beweise hatten, hegten sie offenbar Verdacht gegen sie. Maud ertastete in der Tasche ihrer verschlissenen alten grünen Wolljacke ein Taschentuch, mit dem sie zitternd ihre Augen betupfte. Dann führte sie die Frauen leise schluchzend in die Küche und deutete schweigend und mit tattriger Hand auf die drei Holzstühle um den kleinen runden Esstisch herum. Sie bot ihnen nichts zu trinken an. Die beiden sollten sich nicht willkommen fühlen oder gar länger bleiben als irgend nötig.
Als alle drei am Tisch saßen, räusperte sich Irene Huss und betrachtete Maud mit neutralem Blick, die daraufhin umgehend ihr Taschentuch an die Augen führte.
»Inzwischen ist schon fast ein halbes Jahr vergangen, seit Frazzén im ehemaligen Raucherzimmer Ihres Vaters gefunden wurde«, begann sie.
»Herrenzimmer. Es heißt Herrenzimmer«, murmelte Maud ins Taschentuch.
»Entschuldigung. Herrenzimmer. Ich gehe rasch noch einmal alle Ereignisse vom August durch, von denen wir Kenntnis haben, um die Erinnerungen ein wenig aufzufrischen. Das gesamte Gebäude war damals ja eingerüstet und in Planen gehüllt, weil die Fassade renoviert werden sollte. Was es den Dieben natürlich erleichterte. Frazzén hatte einen Komplizen dabei, der aufs Gerüst geklettert und durch ein gekipptes Fenster in das Raucher… äh Herrenzimmer eingestiegen ist, um Frazzén dann durch die Wohnungstür reinzulassen. Was kein Problem war, da die Schlüssel zum Sicherheitsschloss in einem Schlüsselschränkchen im Flur hängen. Die Diebe steuerten umgehend das Herrenzimmer an, wo sie sich gemeinsam daran machten, alle Silbersachen aus einem Schrank zusammenzusuchen. Doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund zerstritten sie sich, woraufhin der Komplize Frazzén von hinten angriff. Frazzén wurde später bäuchlings auf dem Boden liegend aufgefunden. An seinem Hinterkopf klaffte eine große Wunde, die von mehreren Schlägen herzurühren schien. Die Waffe lag neben seinem Körper, ein Schürhaken aus dem Gestell für das Kaminbesteck neben dem Kachelofen. Frazzén war gegen ein Kamingitter gestürzt, dessen eine Spitze sich in sein Auge gebohrt und weiter ins Gehirn eingedrungen war. Laut dem Rechtsmediziner war der Mann auf der Stelle tot. Es sah aus, als hätten er und sein Komplize versucht, die Silbersammlung aus dem Schrank zu stehlen. Wir haben jedenfalls auf dem Fußboden im Raum eine große Tasche mit diversen Silbergegenständen gefunden. Aus den Kopfwunden des Opfers war viel Blut auf den Boden geflossen, und in der Lache konnte ein, wenn auch undeutlicher, Fußabdruck gesichert werden. Auch am Fensterrahmen und auf den Brettern des Baugerüsts draußen vor dem Fenster fanden sich Blutspuren. Der Komplize war also auf diesem Weg in den Raum hinein- und nach dem Mord auf demselben Weg wieder hinausgelangt. Höchstwahrscheinlich ist er in Panik verfallen, denn Sie sagten ja, dass nichts fehlte.«
Irene Huss verstummte und schaute Maud an, die sich während der gesamten Schilderung abwechselnd Augen und Nase mit dem Taschentuch abgetupft hatte. Als Maud keinerlei Anstalten machte, etwas zu erwidern, fuhr die stellvertretende Kommissarin fort:
»Wie es aussieht, hat sich dieser Komplize vollständig in Luft aufgelöst. Er hat keine anderen Spuren hinterlassen, und wir wissen auch nicht, wer es war.«
Maud saß steif auf ihrem Stuhl und schwieg. Doch im Schutz ihres Taschentuchs lief ihr Gehirn auf Hochtouren. Hatte die Polizei eine neue Spur aufgetan? Hatte sie selbst womöglich irgendetwas übersehen? Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ihre DNA hinterlassen? Das Beste war, Ruhe zu bewahren und abzuwarten.
»Können Sie sich inzwischen daran erinnern, wann Sie im Herrenzimmer das Fenster geöffnet haben?«
»Wie bitte?«, fragte Maud und führte eine Hand hinters Ohr.
Geduldig wiederholte Irene Huss ihre Frage. Maud schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas Unverständliches in ihr Taschentuch.
»Sie haben keine Ahnung?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Da genau das den Eintritt der Diebe in die Wohnung erleichtert hat, wäre es gut, wenn Sie versuchen würden, sich zu erinnern.«
»Eintritt? Wer soll Eintritt bezahlen?«, fragte Maud.
Die stellvertretende Kommissarin klang ziemlich genervt, als sie ihre Frage verdeutlichte.
Maud räusperte sich mehrmals, bevor sie antwortete:
»Ach so, als sie durchs Fenster reinkamen … Ich bin nicht in Vaters Zimmer gewesen … er mag es nicht, wenn wir uns dort aufhalten … oder ich meine …«
Maud presste einige Schluchzer hervor und schüttelte den Kopf. Sie hörte eine der Polizistinnen – offenbar die jüngere – vernehmlich seufzen. Gut, je schneller die beiden die Geduld verloren, desto besser.
»Sorry, aber könnten Sie vielleicht Ihre Hörgeräte einsetzen? Oder zumindest eines davon? Wenn ich mich recht erinnere, hatten Sie bei unserem letzten Gespräch eines in jedem Ohr«, bat Irene Huss erzwungen freundlich.
»Hörge… Ich weiß gar nicht, wo die sind. Ich hab sie schon gesucht … Wahrscheinlich hat Charlotte sie genommen … nein, natürlich nicht, das kann sie ja gar nicht …«
»Charlotte? Wer ist das?«
»Meine Schwester. Sie ist elf Jahre älter.«
»Elf Jahre … Dann ist sie ja fast hundert. Aber sie wohnt doch nicht hier, oder? Ist sie in einem Heim untergebracht?«
»Nein. Sie ist tot. Vor neununddreißig Jahren verstorben. Am zwölften November«, antwortete Maud ohne das geringste Zögern.
Die Polizistinnen wechselten rasch einen Blick und seufzten beide. Mit letzter Geduld fuhr Irene Huss fort:
»Aber irgendwann vor dem Einbruch müssen Sie das Fenster doch wohl geöffnet haben, oder?«
Mit tränenreichem Blick schaute Maud den beiden Polizistinnen nacheinander in die Augen.
»Als ich aus Split wieder nach Hause kam, war es ziemlich warm in der Wohnung. Es herrschte gerade diese Hitzewelle. Und da bin ich wohl durch die Wohnung gegangen und habe einige Fenster geöffnet … aber ich weiß es nicht mehr genau«, antwortete sie mit zitternder Stimme.
»Auch im Herrenzimmer?«
»Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht.«
»Frazzéns Leiche lag acht Tage lang in der Sommerhitze. Es war der Geruch, der Sie aufmerken ließ, und dann haben Sie ihn gefunden.«
»Oh mein Gott, ja! Reden Sie bloß nicht weiter!«, rief Maud aus und schluchzte geräuschvoll in ihr Taschentuch.
Dann schnäuzte sie sich so laut, dass es zwischen den alten Küchenschränken widerhallte. Die beiden Polizistinnen betrachteten sie eine Weile schweigend. Dann ergriff Irene Huss erneut das Wort.
»Erinnern Sie sich noch daran, dass Sie fast drei Wochen nach dem Auffinden der Leiche bei Kommissar Persson angerufen haben? Ihnen war plötzlich wieder eingefallen, dass Sie unten auf der Straße zufällig auf Frazzén gestoßen waren und mit ihm über die Silbersammlung Ihres Vaters gesprochen hatten. Und auch darüber, dass Sie sie verkaufen wollten.«
»Hab ich das?«, fragte Maud und riss die Augen auf.
»So haben Sie es zumindest dem Kommissar gesagt«, antwortete Irene Huss trocken.
Maud tat so, als würde sie nachdenken. In Wahrheit war das ganz und gar unnötig, weil sie genau wusste, warum sie Kommissar Persson kontaktiert hatte. Sie hatte befürchtet, womöglich von irgendwem gesehen worden zu sein, als sie mit Frazzén sprach und ihm den Silberbecher zeigte. Sie hatten ausgemacht, dass er später am Abend zu ihr heraufkommen und sich die Sammlung ansehen sollte. Doch das Gespräch konnte keiner mitgehört haben, sie hatten allein draußen vor seinem Antiquitätengeschäft auf der sengend heißen Straße gestanden. Allerdings konnte sie jemand aus der Entfernung oder durch ein Fenster gesehen haben.
»Ja … doch … So war es wohl.«
»Haben Sie ihm auch Ihre Adresse gegeben?«
»Das … weiß ich nicht«, antwortete sie zögerlich.
Erneut herrschte für eine Weile Schweigen, und die Polizistinnen musterten sie eingehend. Schaudernd realisierte Maud, dass die beiden sie tatsächlich verdächtigten. Obwohl sie doch alle Spuren hinter sich verwischt hatte. Dieser Dreckskerl hat genau das bekommen, was er verdient hat, dachte sie mit unvermittelt auflodernder Wut. Einfach so hier reinplatzen und versuchen, mich zu prellen. Das Silber kurzerhand stehlen, um es nicht bezahlen zu müssen! Aber sie hatte nicht beabsichtigt, ihn mit dem Schlag auf den Hinterkopf zu töten. Es war einfach nur Pech, dass er gegen das Kamingitter gestürzt war und die Spitze ins Auge bekommen hatte.
Diese Gedanken schossen ihr rasch durch den Kopf, auch wenn sie es sich mit keiner Miene anmerken ließ.
»Haben Sie in der Nacht, als der Einbruch begangen wurde, wirklich nichts gehört?«, fragte Irene Huss mit lauter Stimme weiter.
»Schreien Sie mich nicht so an. Ich bin ja nicht taub«, sagte Maud gekränkt.
Die großgewachsene Polizistin auf der anderen Seite des Küchentisches schien drauf und dran, sie erneut anschreien, doch nach mehrmaligem tiefem Luftholen gelang es ihr, sich zu beherrschen. Noch bevor sie ihre Frage wiederholen konnte, antwortete Maud mit ihrer zittrigsten Stimme:
»Ich war gerade erst am Nachmittag aus Kroatien zurückgekommen. Der Flug hat neun Stunden gedauert … und ich musste zweimal umsteigen. Ein fürchterlicher Stress! Der Flieger war zwar schon ganz früh in Split gestartet, aber …«
Ein wenig barsch wurde sie von Irene Huss unterbrochen:
»Das wissen wir schon. Mich würde vielmehr interessieren, was passiert ist, nachdem Sie zurück in Ihrer Wohnung waren.«
»Als ich nach Hause kam … Ich bin losgegangen, um etwas fürs Frühstück einzukaufen. Was ich immer tue, wenn ich länger als eine Woche weg bin. Dann ist mein Kühlschrank nämlich leer. Ich war in Kroatien. Etwas außerhalb von Split gibt es ein kleines Hotel, das ich gerne …«
»Das kennen wir auch schon«, unterbrach sie Irene Huss kurz angebunden.
»Tatsächlich? Es ist wirklich ein wunderschönes Hotel, nicht wahr? Kennen Sie auch die Inhaberin? Sie …«
Dann verstummte Maud, als hätte sie den Faden verloren. Die stellvertretende Kommissarin wirkte leicht resigniert, während die junge Inspektorin Maud weiterhin über den Tisch hinweg anstarrte.
»Haben Sie Frazzén auf dem Weg zum Einkaufen getroffen?«, fragte Irene Huss.
»Ja … so muss es wohl gewesen sein. Aber ich weiß es nicht mehr genau …«
Die stellvertretende Kommissarin seufzte schwer, bevor sie fortfuhr:
»Und in der Nacht von Freitag auf Samstag haben Sie nichts Ungewöhnliches gehört?«
»Nein. Ich war so müde… die Reise … die Hitze. Ich bin früh zu Bett gegangen. Und habe eine Schlaftablette genommen, was ich immer tue. Auch wenn ich müde bin, nehme ich eine, sonst wache ich nämlich schon um zwei oder drei Uhr nachts wieder auf. Und dann kann ich nicht wieder einschlafen … Deshalb nehme ich jeden Abend eine Schlaftablette. Es ist eine sehr wirksame Sorte, die mir mein Doktor …«
Maud hatte noch nie in ihrem langen Leben eine Schlaftablette einnehmen müssen. Sie hatte einen ausgezeichneten Schlaf. Was sie den Polizistinnen jedoch nicht unter die Nase reiben wollte.
»Ja, ja, und Ihre Hörgeräte haben Sie rausgenommen. Und dann haben Sie drei Nächte lang in der Wohnung geschlafen, bevor Sie sich ein Wellnesshotel außerhalb von Varberg gebucht haben. Dorthin sind Sie dann also am Montag gefahren und am darauffolgenden Freitag wieder zurückgekehrt. Demnach waren Sie fünf Tage unterwegs.«
»Ja. Ein wirklich schönes Wellnesshotel. Ich kann es nur empfehlen. Es …«
»Aber warum haben Sie sich so kurz nach Ihrem Urlaub in Split entschieden, gleich wieder wegzufahren?«
Maud hatte ihnen den Grund dafür bereits ein halbes Jahr zuvor genannt, nahm jedoch an, dass die Polizistinnen prüfen wollten, ob sie bei ihrer Version bleiben würde. Sie beugte sich über den Tisch vor und setzte eine grimmige Miene auf, als sie antwortete:
»Lärm … ein entsetzlicher Lärm hat mir den Schlaf geraubt. Die Handwerker führten gerade irgendwelche Arbeiten an der Hausfassade durch. Und da wollte ich nicht die ganze Woche zu Hause bleiben. Es war wirklich ein abscheulicher Lärm, der mich um meinen Schlaf gebracht hat. Ein ganz schrecklicher …«
»Und vor Ihrer Abfahrt haben Sie nicht noch einmal die gesamte Wohnung in Augenschein genommen?«
»Nein. Das war auch nicht nötig. Ich habe mich ja nirgendwo anders aufgehalten als in den beiden Räumen, die ich normalerweise benutze, und in dieser Küche«, antwortete sie und beschrieb mit unsicherer Hand eine Geste durch den Raum.
Irene Huss schaute sich rasch in der Küche um, wobei die originalen, noch aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammenden Holzmöbel offenbar ihre besondere Aufmerksamkeit erregten.
»Wie groß ist die Wohnung?«, fragte sie abrupt.
»Das ist keine Wohnung«, entgegnete Maud abschätzig.
»Nicht?«
»Nein. Es ist eine Etage!«
»Okay. Und wie groß ist die Etage?«, seufzte Irene Huss.
»Um die dreihundert Quadratmeter«, antwortete Maud in demselben herablassenden Ton.
Die beiden Polizistinnen schauten sich an und standen dann gleichzeitig auf.
»Wir würden uns gerne noch einmal das Herrenzimmer ansehen«, bat Irene Huss.
»Dort gibt es nichts zu sehen. Alles ist weg.«
»Ja, das wissen wir. Aber wir möchten uns das ansehen, was noch drin ist. Die Möbel und den Teppich.«
»Weg«, wiederholte Maud entschieden.
Innerlich amüsierte sie sich köstlich über die verdutzten Blicke, die die Polizistinnen nun rasch wechselten. Auch wenn sie sich nach außen hin nichts davon anmerken ließ.
Gemeinsam wanderten sie durch die stillen Räume, in denen alle Möbelstücke mit weißen Laken abgedeckt waren. An den Wänden hingen noch immer einige Bilder, auch wenn hellere Vierecke auf den Tapeten davon zeugten, dass Maud im Lauf der Jahre mehrere davon verkauft hatte. Am anderen Ende der Etage lag das Herrenzimmer. Maud drehte den Schlüssel im Türschloss und öffnete. Mit einer Geste bat sie die Polizistinnen hinein. Sie traten über die Schwelle, blieben dann jedoch beide abrupt stehen.
»Es ist ja leer«, stellte Irene Huss fest.
»Hab ich doch gesagt«, konnte sich Maud nicht verkneifen zu erwidern.
Der Raum war völlig kahl. Ohne jegliche Möbel oder Bilder, nicht einmal mehr der große Teppich lag noch auf dem Fußboden. Einzig die schweren Samtgardinen vor den Fenstern waren noch verblieben. Auf Höhe des Kachelofens zeichneten sich auf dem Parkett dunklere Schatten ab, Spuren der Blutlache unter Frazzéns Kopf. Das meiste Blut hatte jedoch der dicke Teppich aufgesogen.
»Wo sind denn all die Sachen?«
Es war das erste Mal, dass die junge Inspektorin etwas sagte. Maud würdigte sie nicht einmal eines Blickes.
»Verkauft. Wurde alles versteigert. Bei Göteborgs Auktionsverk.«
Es stimmte tatsächlich. Bis auf das Bild von Anders Zorn, das sie so liebte. Das hatte sie in ihr Schlafzimmer gehängt. Sie wusste, dass es ein ansehnliches Sümmchen wert war, doch die Silbersammlung und alle anderen Utensilien aus dem Herrenzimmer hatten ihr bereits so viel Geld eingebracht, dass sie allein damit mehrere Jahre auskommen würde.
Die beiden Polizistinnen standen eine ganze Weile da und starrten auf die kahlen Wände und den nackten Fußboden. Dann fuhr Irene Huss plötzlich auf dem Absatz herum und fixierte Maud mit einem Blick.
»Waren Sie es, die Frazzén totgeschlagen hat? Nachdem Sie sich im Preis nicht einig geworden sind? Hat er Sie womöglich bedroht?«, fragte sie in sachlichem Tonfall.
Maud hatte diese Frage fast erwartet. Es gelang ihr, eine bestürzte Miene aufzusetzen, die sie noch verstärkte, indem sie die Hände rang.
»Aber ich bitte Sie … Ich habe ihn hier zu Hause nie getroffen! Ich weiß wirklich nicht, wann er hier reingekommen ist und was dann geschah. Ich kann ja nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun! Ich finde es sogar schrecklich, wenn man Tiere tötet. Nicht, dass ich so eine … Vego … Vegotar … oder so wäre, ganz und gar nicht. Aber wenn man schon Fleisch essen will, finde ich, dann sollte man …«
Sie hielt inne und warf den beiden Polizistinnen einen verwirrten Blick zu.
Auf einmal wirkte die großgewachsene Polizistin ziemlich erschöpft. Mit matter Stimme sagte sie:
»Danke. Ich glaube, wir sind hier jetzt fertig.«
Schweigend kehrten sie in den Flur zurück. Die stellvertretende Kommissarin bedankte sich mit einem angestrengten Lächeln dafür, dass sie Maud nochmals hatten befragen dürfen, und wünschte ihr fröhliche Weihnachten. Die junge Embla fixierte sie ein weiteres Mal mit ihren schönen Augen, was Maud jedoch völlig kalt ließ.
***
Dieser Besuch lag nun drei Tage zurück, doch Maud fühlte sich noch immer etwas mitgenommen. Hoffentlich würde die Polizei sie zukünftig in Ruhe lassen, aber letztlich konnte man nie ganz sicher sein. Es war ein beruhigendes Gefühl, in den kommenden Wochen nicht erreichbar zu sein.
Der Flug von Göteborg nach Kopenhagen dauerte nur eine Stunde. Die Flugbegleiter servierten eine als Weihnachtsfrühstück angekündigte Mahlzeit. Ungenießbar, wie Maud fand. Sie bat um zwei Scheiben Brot und rührte die verschiedenen Schälchen nicht an.
Am Flughafen Kastrup mussten sie nur eine halbe Stunde warten, bis sie ins Flugzeug nach Dubai steigen konnten.
Der Mittagsimbiss an Bord der Emirates-Maschine war etwas ganz anderes als das dürftige Frühstück zuvor. Zum Essen genehmigte sie sich eine kleine Flasche Rotwein. Bei dem Gedanken an den Besuch der Polizistinnen vor drei Tagen verspürte sie das dringende Bedürfnis danach.
Nachdem sie die kleine Weinflasche geleert und ihren Nachtisch gegessen hatte, eine cremige aromatische Pannacotta mit Blaubeeren und Himbeeren, wurden Kaffee und Schokoladenkuchen serviert. Beides schmeckte hervorragend. Vielleicht tat auch der Digestif seinen Teil dazu. Eine Südafrikareise mit Rotwein zum Mittagessen und einem Cognac zum Kaffee zu beginnen, war jedenfalls ein gutes Gefühl. Ein richtig gutes Gefühl.
Satt und zufrieden klappte sie ihre Sitzlehne zurück. Die kurze Strecke zwischen Göteborg und Kopenhagen hatte sie in der Economyclass zurückgelegt, doch für den Rest der langen Reise nach Kapstadt hatte sie ein Upgrade in die Businessclass gewählt. Was ein halbes Vermögen kostete, aber das war es ihr wert. Während des Flugs ausgestreckt schlafen zu können, war wunderbar. So etwas hatte sie sich noch nie zuvor gegönnt.
Das Stimmengewirr um sie herum hatte eine entspannende Wirkung. Ihre Gedanken drifteten ab, und sie spürte, wie sie langsam eindöste.
Im Halbschlaf bekam sie auf einmal mit, worüber das Paar auf den Sitzen hinter ihr diskutierte. Die beiden stritten sich leise darüber, wer von ihnen vergessen hatte, die Joggingschuhe einzupacken.
»Warum hast du mich nicht einfach gefragt? Sie stehen doch im Heizungskeller!«, zischte die Frau aufgebracht.
»Darauf bin ich gar nicht gekommen«, entgegnete der Mann kurz angebunden.
Es war das Wort »Heizungskeller«, das sie aufhorchen ließ. Die restliche Diskussion blendete sie aus, doch das Wort, das sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen hatte, hallte in ihrem Gehirn wider.
Der Heizungskeller. Der Keller. Der Kohlenkeller.
Die Rabauken im Kohlenkeller.
Ein herzzerreißender Schrei hallte zwischen den Hauswänden, die den Hinterhof einfassten, wider. Maud hob den Blick von den Rechenaufgaben in ihrem Mathematikbuch und starrte für den Bruchteil einer Sekunde auf das kleine Bild an der Wand über ihrem Schreibtisch. Es stellte einen goldgelockten Engel dar, der auf einem dunklen Waldweg beschützend hinter einem kleinen Mädchen schwebte.
»Charlotte«, flüsterte sie dem Engel zu.
Reflexhaft ließ sie den Füllfederhalter fallen und stürzte an das Fenster zum Hof.
Es war genauso, wie sie befürchtet hatte. Ihre Schwester stand neben den Mülltonnen rücklings gegen die Wand des Gartenschuppens gepresst und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu. Über ihrem dünnen Kleid trug sie weder Jacke noch Mantel, und sie schrie in einem fort panisch. Vor ihr standen die Brüder Aronsson. Der jüngere, Torsten, ging in Mauds Parallelklasse, der ältere namens Algot in die Klasse über ihnen. Es war Algot, der die Ratte festhielt. Er ließ sie vor Charlottes Gesicht hin und her baumeln und lachte dabei höhnisch. Torsten stand mit dem Rücken zu Maud, sodass sie nicht sehen konnte, ob auch er ihre ältere Schwester verhöhnte. Was aber ziemlich sicher der Fall war, denn Torsten ahmte Algot grundsätzlich in allem nach. Die beiden machten sich liebend gerne einen Spaß daraus, die arme Charlotte zu piesacken. Die Nachbarn im Viertel hatten inzwischen mitbekommen, dass die junge Frau nicht ganz gesund war, und Maud wusste, dass die Leute über ihre sonderbare Schwester tuschelten. Charlotte litt bereits seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr unter einer »Nervenschwäche«, wie ihre Mutter es nannte. Die Probleme waren so gravierend gewesen, dass sie schließlich gezwungen war, die Realschule abzubrechen. Das Einzige, was sie weiterhin bewältigte, waren die Klavierstunden, die sie zu Hause von einem Privatlehrer erhielt. Der Lehrer selbst war ein bekannter Pianist und ließ sich von seinen Schülern dementsprechend gut entlohnen, doch den Eltern war es die Sache wert. Sie taten alles dafür, dass ihre älteste Tochter einer Beschäftigung nachgehen konnte, die ihr Linderung verschaffte, wenn auch nur für kurze Zeit. Wenn Charlotte keinen Unterricht hatte, saß sie meist den ganzen Tag am Klavier und übte. Sie besaß großes Talent, und ihr war eine glänzende Zukunft als Konzertpianistin prophezeit worden. Doch dann war die Sache mit ihren Nerven dazwischengekommen … Sie schaffte es einfach nicht, vor Publikum aufzutreten. Nicht einmal ihre drei Familienmitglieder durften im selben Raum sitzen und ihr beim Spielen zuschauen. Wenn sie zuhören wollten, mussten sie sich bei halb geöffneter Tür in die Bibliothek vor dem Musikzimmer setzen. Allerdings außer Sichtweite.
Immer wenn Charlotte nicht am Klavier saß, wurde sie rastlos. Dann begann sie zu »wandern«, wie ihre Mutter es ausdrückte, was bedeutete, dass sie planlos in der großen Wohnung umherirrte. Tagsüber war es in Ordnung, wenn sie sich zwischen den Räumen hin und her bewegte, doch ihr nächtliches Schlafwandeln war Maud ziemlich unangenehm. Die Eltern hatten ihr eingeschärft, die Schwester ja nicht zu wecken, da dies lebensgefährlich sei. Ihr war zwar nicht ganz klar, wessen Leben da in Gefahr war, doch sie traute sich nicht, nachzufragen. Deshalb lag sie reglos in ihrem Bett und tat so, als schliefe sie, wenn Charlotte ihr Zimmer betrat. Hinter halb geschlossenen Augenlidern konnte sie dann sehen, wie sie an den Wänden entlangglitt und dabei leise etwas vor sich hin murmelte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Manchmal blieb sie am Bett ihrer jüngeren Schwester stehen und beugte sich über sie. Dann musste Maud gezwungenermaßen die Augen ganz schließen und ruhig weiteratmen.