Der Gast - Richard Laymon - E-Book

Der Gast E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

Ich bin näher, als du denkst

Eine Nacht in Los Angeles: Eher aus Zufall befreit der ängstliche Neal eine junge Frau aus der Gewalt eines Serienkillers. Zum Dank dafür schenkt sie ihm ein Armband, das magische Kräfte besitzt. Mit seiner Hilfe kann man in die Körper anderer Menschen eindringen – fühlen, was der andere fühlt, spüren, was der andere denkt. Doch was zunächst ein prickelndes Erlebnis zu sein scheint, verwandelt sich für Neal schnell in einen Alptraum.

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Seitenzahl: 856

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Zum Buch

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Da Neal ein eher ängstlicher Mensch ist, nimmt er auf nächtlichen Autofahrten durch L. A. immer eine Pistole mit – selbst wenn er nur zur Videothek fährt, um ein paar Filme zurückzubringen. Da hört er die Schreie einer Frau in Todesangst. Neal nimmt allen Mut zusammen und eilt zu ihrer Rettung. Tatsächlich gelingt es ihm, die entführte Elise Waters aus der Gewalt eines irren Serienkillers zu befreien und den Täter niederzuschießen.

Zum Dank schenkt ihm Elise ein goldenes Armband mit magischen Kräften: Wer es küsst, verlässt seinen Körper und kann in beliebige andere Personen eindringen. Man fühlt, sieht und hört alles – und kann sogar die Gedanken desjenigen lesen, in dessen Körper man zu Gast ist, ohne dass es der Betreffende bemerkt.

Was für Neal zunächst eine reizvolle Sache zu sein scheint, verwandelt sich schnell in einen Albtraum: Auch Schmerzen spürt man wie seine eigenen, und wie es scheint, ist der psychopathische Killer nicht so tot, wie Neal geglaubt hat.

Mit einem ausführlichen Verzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Werke von Richard Laymon am Ende des Buches.

Zum Autor

Zum Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com

Lieferbare Titel

Lieferbare Titel

Rache – Die Insel – Das Spiel – Nacht – Das Treffen – Der Keller – Die Show – Die Jagd – Der Regen – Der Ripper – Der Pfahl – Das Inferno – Das Grab – Finster – Der Käfig – Der Wald

Titel

RICHARD LAYMON

DERGAST

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Marcel Häußler

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Impressum

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Die OriginalausgabeBODY RIDESerschien bei Leisure Books, New York.

Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2012Copyright © 1996 by Richard LaymonCopyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Published in arrangement with Lennart Sane Agency ABRedaktion: Sven-Eric WehmeyerUmschlaggestaltung und -motiv:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsISBN: 978-3-641-07433-3V002www.heyne-hardcore.de

1

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Neal Darden saß allein im Auto und fuhr über Nebenstraßen, weil er den Robertson Boulevard meiden wollte. Er machte sich keine Sorgen wegen des Verkehrs; er befürchtete, grundlos erschossen zu werden.

Schließlich war es Nacht in Los Angeles.

Jeder konnte jederzeit erschossen werden, aber nachts war es besonders schlimm. Und viel befahrene Straßen wie der Robertson Boulevard erschienen Neal gefährlicher als Schleichwege, die sich durch ruhige Wohngegenden schlängelten.

Seine Theorie war einfach: Je weniger Autos in Sicht waren, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, einem Haufen schießwütiger Gangster zu begegnen.

Die beste Methode, am Leben zu bleiben, bestand darin, überhaupt nicht aus dem Haus zu gehen. Vor allem nachts nicht. Und schon gar nicht spät nachts. Doch so wollte er nicht leben. Er war erst achtundzwanzig Jahre alt, zu jung, um zu einem Einsiedler zu werden. Um der Sicherheit willen würde er ein paar Zugeständnisse machen – aber er würde sich nicht geschlagen geben und den Rest seines Lebens zu Hause bleiben.

Man ist vorsichtig und geht doch aus. Auch wenn man nur Filme zurück in die Videothek bringen will.

Die beiden Filme waren um Mitternacht fällig. Marta war länger als üblich geblieben und hatte sich in seinem Schlafzimmer für die Arbeit umgezogen, damit sie so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen konnten. Als sie gegangen war und Neal die Bänder zurückgespult hatte, war es fast halb zwölf Uhr gewesen.

Noch reichlich Zeit, um die Videos pünktlich zurückzubringen.

Aber ein schlechter Zeitpunkt, um mit dem Auto auf den Straßen von Los Angeles unterwegs zu sein.

Neal hätte die Filme auch am nächsten Tag abgeben können. Das hätte einen Verspätungszuschlag gekostet. Fünf oder sechs Dollar, schätzte er. Eine geringe Summe, wenn man das Risiko betrachtete, sie zu dieser Nachtzeit zurückzubringen. Doch bis zum Morgen zu warten, hätte noch einen anderen Preis gekostet, einen Preis, den man in den Währungen Freiheit und Selbstachtung bezahlte.

Was muss man für eine Memme sein, um Angst zu haben, sechs oder sieben Kilometer zu fahren?, fragte er sich.

Marta, die am Flughafen Nachtschicht hatte, musste fast fünfzig Kilometer fahren, und das fünfmal in der Woche. Was würde sie denken, falls sie herausfände, dass Neal Angst hatte, die Videos zurückzubringen?

Sie würde es nie erfahren, sagte er sich.

Andererseits, wer weiß. Möglich war alles.

Eine rein hypothetische Frage, dachte er. Ich bringe sie heute Nacht zurück, auch wenn ich dabei draufgehen sollte.

Während er durch die leeren Straßen fuhr, schüttelte Neal den Kopf und lächelte. Er war mit sich selbst zufrieden. Er kam sich ziemlich mutig vor.

Statistisch gesehen war eine nächtliche Fahrt zu Video City nicht besonders gefährlich. Trotzdem würde ein vorsichtiger Mensch es bleiben lassen. Er ging ein unnötiges Risiko ein.

Wenn seine Mutter davon erführe, würde sie ausrasten.

Neal grinste in sich hinein.

Was für ein Abgang, dachte er. Ermordet, während er Wer Gewalt sät und Ich spuck auf dein Grab zurück in die Videothek brachte. Welch eine Ironie.

Er lachte leise.

Bis er den National Boulevard überquert hatte, war er nicht besonders nervös. Doch dann kam die Autobahnunterführung, und die verfehlte niemals ihre Wirkung. Sie war zu lang, zu einsam. Wenn er hindurchfuhr, fühlte er sich jedes Mal von der Welt abgeschnitten, verletzlich.

Er war schon oft bei Tageslicht hindurchgegangen.

Hatte dort unten verstörende Graffiti gesehen.

TOD DEN BULLENKILLT DIE WEISSEN

Er würde nur äußerst ungern den Typen begegnen, die diese netten Sprüche an die Wand gesprayt hatten. Er war kein Polizist. Aber er war weiß. Jeder, der Spaß daran hatte, so eine Scheiße zu schreiben, könnte durchaus auch versuchen, ihn zu ermorden.

Und so etwas wurde nachts gesprüht.

Er überlegte, ob er umdrehen sollte. Er könnte einfach wenden und über den National zum Venice Boulevard fahren. Die Unterführung umgehen. Die noch unheimlichere Gegend auf der anderen Seite meiden.

Doch als er sich der Unterführung näherte, sah er im Scheinwerferlicht, dass sie leer war. Ein breiter, öder Tunnel.

Nichts, wovor man sich fürchten musste.

Beim Hineinfahren trat er aufs Gas. Das Motorgeräusch schwoll an und hallte zwischen den Betonwänden wider. Auf beiden Seiten hatten Sprayer ihre Namen, Zeichen und Drohungen hinterlassen – ein Wirrwarr aus geheimen Chiffren, Symbolen und eigentümlichen Schreibweisen. Er sah sie nicht zum ersten Mal, deshalb gab er sich keine Mühe, sie zu entziffern, sondern versuchte, sie zu ignorieren.

Ich hätte wirklich besser auf den Hauptstraßen bleiben sollen, dachte er. Das war dumm.

Er ließ die Unterführung hinter sich.

Auf beiden Seiten zogen sich Böschungen zum Highway hinauf. Im unteren Bereich waren sie dicht mit Büschen und Bäumen bewachsen. Dann kam der alte Bahnübergang. Seit Jahren unbenutzt. Überwuchert. Mit allem möglichen Müll übersät. Abgetrennt durch einen zerrissenen Maschendrahtzaun, der seine Funktion offensichtlich nicht mehr erfüllte.

Neal wollte nicht einmal daran denken, was für Leute dort herumlungerten.

Erst vor Kurzem war ein Polizist irgendwo in diesem seltsamen Streifen Wildnis ermordet worden. Mitten in der Nacht.

TOD DEN BULLEN

Er sah sich zu beiden Seiten um und konnte niemanden entdecken. Aber im Licht der Laternen schimmerte reichlich dichtes Blattwerk, in dem sich Legionen von irren Gangstern verbergen könnten.

Sein Wagen rumpelte über die Schienen.

Er musste eine weitere Entscheidung treffen.

Sollte er links in die Nebenstraße abbiegen oder geradeaus zum Venice Boulevard fahren? Wenn er hier nicht abbog, würde er auf der falschen Seite des Venice landen, gegenüber der Videothek. Außerdem würde er am Venice durch die Spur des Burger Boy fahren müssen, wo letzten Monat ein Jugendlicher ermordet worden war.

Er schüttelte den Kopf und seufzte.

Wahrscheinlich waren beide Wege gleich schlimm.

Über die Nebenstraße wäre es kürzer.

Sie war wegen der Bäume eng und dunkel und folgte einen halben Kilometer lang den einsamen Gleisen. Wo sich Gott weiß wer herumtreiben konnte. Wo der Polizist erschossen worden war.

Neal bog ab und gab Gas.

Zu seiner Linken die Wildnis. Zu seiner Rechten eine Reihe schäbiger Wohnhäuser.

Wenn man eine Panne hat, wird’s richtig lustig.

Sein Auto schien keine Schwierigkeiten zu machen.

Nächstes Mal, sagte er sich, fährst du einfach über den Robertson Boulevard und vergisst den ganzen Quatsch mit den Seitenstraßen.

Genau. Beim nächsten Mal würde er die verfluchten Videos einfach nicht mitten in der Nacht zurückbringen. Es war, als suchte er geradezu Ärger.

In Wirklichkeit machst du aus einer Maus einen Elefanten. Bete lieber, dass niemals jemand herausfindet, was für ein Waschlappen du bist.

Durch das offene Fenster drang mit der milden Nachtluft und dem Lärm der Autobahn der ferne, aber deutliche Schrei einer Frau. »Hiiilfe!«

Neals Magen verkrampfte sich.

Er sah nach links.

Einen Augenblick lang war seine Sicht durch einen Lieferwagen blockiert, der am Bordstein parkte.

Als er daran vorbei war, sah er den verwilderten Streifen unterhalb der Böschung. Er fuhr langsamer und starrte aus dem Fenster. In der Ferne rasten Autos und Laster über den Santa Monica Freeway. Er entdeckte niemanden, weder neben der Autobahn noch in dem Gestrüpp der Böschung und ebenfalls nicht in der Dunkelheit zwischen den Bäumen und großen Büschen, die den Fuß der Böschung entlang der Gleise verdeckten. Auch auf den Schienen selbst war niemand.

Er sah dort drüben kein Licht.

Der Schrei könnte von überall gekommen sein, sagte er sich. Er war einigermaßen daran gewöhnt, entfernte Schreie zu hören. Gelegentlich war er deswegen aus seiner Wohnung gegangen, hatte sich umgesehen und eine Weile gelauscht. Er nahm an, dass es sich in den meisten Fällen um herumblödelnde Kinder handelte.

»Nein!«

Neal bekam eine Gänsehaut.

Er fuhr nach links von der Straße, trat auf die Bremse, schaltete den Motor aus und riss den Schlüssel aus der Zündung. Dann klemmte er sich das Schlüsselmäppchen zwischen die Zähne und klappte das Fach der Mittelkonsole auf. Er wühlte darin herum, griff unter den Notizblock, das Portemonnaie mit Kleingeld und einen Stapel Servietten und schnappte sich seine Sig Sauer Kaliber .380.

Er dachte an das Reservemagazin. Irgendwo da drin. Er hatte keine Zeit, danach zu suchen.

Mit dem Schlüssel im Mund und der Pistole in der rechten Hand stieß er die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Er lief zu einem Loch im Maschendrahtzaun, stieg geduckt hindurch und rannte zur Autobahnböschung, direkt dorthin, wo die Dunkelheit am tiefsten war.

Beim Laufen zog er das Lederetui aus dem Mund. Er schob es in eine der Vordertaschen seiner Shorts. Es schlug bei jedem Schritt gegen seinen Oberschenkel.

Die weiten grauen Shorts wirkten blass in der Nacht. Seine Beine sahen heller aus. Die weißen Socken leuchteten. Nur seine Schuhe und das Hemd waren dunkel.

Ich hätte etwas Schwarzes anziehen sollen.

Klar, dachte er. Genau. Damit ich für meine mitternächtliche Rettungsmission richtig gekleidet bin.

Er konnte nicht glauben, dass er das tat.

Ich muss verrückt sein.

Er war in seinem Leben noch niemandem zu Hilfe geeilt. Die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Er hätte nie damit gerechnet, dass es dazu kommen würde.

Die Pistole in der Konsole war zur Selbstverteidigung gedacht gewesen, als letzter Ausweg im Falle eines Angriffs. Er hatte sie gekauft, nachdem er 1992 im Fernsehen Livebilder aus einem Hubschrauber gesehen hatte, die zeigten, wie Leute an der Ecke Florence und Normandie aus ihren Autos gezerrt und beinahe totgeschlagen wurden.

Man kann nie wissen, ob man sich nicht plötzlich mitten in irgendwelchen Unruhen wiederfindet oder von einem Schlägertypen überfallen wird, der sich das Auto unter den Nagel reißen will und einen dabei vielleicht umbringt.

Deshalb hat man eine Pistole dabei.

Absolut verboten, aber das Risiko wert.

Lieber zwölf Geschworene als sechs Sargträger.

Er fragte sich, ob er genauso handeln würde, wenn er keine Pistole hätte.

Auf keinen Fall.

Das ist verrückt, dachte er.

Aber er rannte weiter, warf die Beine nach vorn, pumpte mit den Armen, sprang über die dunklen Gleise, Dornengestrüpp, Fahrspuren, einen alten Reifen, ein Sofakissen, einen Haufen zerborstener Dosen, die nach Öl rochen. Er wich größeren Büschen, einer Stoßstange, mehreren Bäumen, einer Kloschüssel, die stank, als hätte sie vor nicht allzu langer Zeit jemand benutzt, und einer alten Tür, die wie ein Eingang zum Erdreich auf dem Boden lag, aus.

Dann blieb sein Fuß irgendwo hängen.

Eine Wurzel, ein Stück Stacheldraht oder vielleicht das Kabel eines halb vergrabenen Elektrogeräts.

Er wusste nicht, was es war, aber es hakte sich um seinen linken Fuß und hielt ihn fest. Er stürzte kopfüber.

Beim Fallen hätte er beinahe »Scheiße!« geschrien.

Er behielt einen klaren Kopf und schrie es nur im Geiste.

Der Aufprall war schmerzhaft. Er fiel auf eine unsichtbare Mischung aus Blättern, Erde und Müll. Unter ihm knackte, knirschte und schmatzte es, etwas kratzte ihn, Gegenstände bohrten sich in seine Haut. Ihm blieb die Luft weg. Etwas schlug gegen seine Eier. Er hatte schmerzende Stellen an den Knien, den Armen und der Brust. Vermutlich blutete er hier und dort.

Er wollte schnell aufstehen.

Wer weiß, was für schreckliche Dinge dort unter ihm lagen. Sofort fielen ihm ein paar ein: rostige Nägel, Glasscherben, ein benutztes Kondom, eine Windel oder eine Damenbinde, Hunde- oder Menschenkot, Spinnen, Schnecken oder Schlangen. Eine halb zerquetschte Ratte könnte sich unter seinem Bauch umdrehen und ihn beißen.

Trotzdem war er eine Weile nicht in der Lage, sich zu bewegen.

Dann drückte er sich vom Boden hoch und stand auf. Er konnte jedoch nicht aufrecht stehen – es tat zu sehr weh. Er musste sich vorbeugen, und das Atmen schmerzte.

Das kommt davon, wenn man den Helden spielen will, dachte er.

Er fühlte sich, als hätte man ihm mit einem Knüppel auf Brust und Unterleib geschlagen.

Warme Tropfen rannen von seinem rechten Ellbogen und beiden Knien.

»Nicht«, hörte er. »Bitte.«

Kein Aufschrei, eher ein schluchzendes Flehen.

Es kam von irgendwo zwischen den Bäumen links über ihm.

Er biss die Zähne zusammen und humpelte los, ohne die Stelle aus den Augen zu lassen. Er versuchte, leise zu sein.

»Was gibst du mir?«, hörte er einen Mann sagen.

»Alles. Bitte.«

Ein leises Kichern. »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Ich will nicht sterben.«

»Schön zu hören. Weißt du was? Ich will auch nicht, dass du stirbst. Zumindest nicht in den nächsten Stunden.« Erneutes Kichern.

Ein scharfes, zischendes Einatmen.

»Das hat nicht wehgetan, oder?«

»Nein.« Bei dem traurigen und hilflosen Klang ihrer Stimme zog sich Neals Kehle zusammen.

»Ah, zähes Luder«, sagte der Mann.

Dann erklang ein Keuchen.

»Oder doch nicht so zäh.«

»Bitte.« Sie weinte.

»Ahhh.«

»Au!«

»Tut’s weh?«

»Bitte.«

»Erzähl mir was.«

»Was?«, schluchzte sie.

»Sag, dass du eine dreckige, stinkende Schlampe bist.«

»Ich bin eine dreckige, stinkende Schlampe.«

»Du musst durch Schmerz geläutert werden.«

»Ich muss … durch Schmerz geläutert werden.«

»Ich bin deine Errettung.«

»Du bist meine Errettung.«

»Bitte, bring mich zum Schreien.«

»Bitte … bring mich zum Schreien.«

»Du klingst nicht, als würdest du es ernst meinen.«

»Ich meine es ernst.«

»Wirklich?«

»Ja!«

»Lügnerin.«

Sie kreischte.

Neal hinkte an einem Baum vorbei und sah sie ein Stück links von ihm vor sich – vielleicht acht Meter entfernt.

Undeutliche Gestalten, die sich gegenüber standen. Eine schwärzer als die Dunkelheit, die andere bleich. Beide mit Lichtflecken gesprenkelt, die durch das Blätterdach fielen.

Die Helle, eindeutig eine Frau, sah den Dunklen an. Sie schien nackt zu sein. Mit dem Rücken stand sie an einem Baum. Vielleicht war sie daran festgebunden. Neal konnte sehen, wie sie sich wand. Er hörte sie schluchzen.

Der dunkle Arm des Mannes streckte sich nach ihr aus. Er hielt etwas Glänzendes in der Hand. Irgendein kleines Werkzeug.

Eine Zange?

»Nein«, keuchte die Frau. »Bitte!«

»O ja, o ja«, sagte der Mann.

Das Werkzeug näherte sich ihrer linken Brust.

»Fallen lassen!«, brüllte Neal.

Beide Köpfe drehten sich ruckartig zu ihm.

Das Gesicht des Mannes war weiß und von schwarzem Haar umrahmt.

»Lass die beschissene Zange fallen, Rasputin!«, rief Neal. »Ich schieß dir den Kopf weg!«

Der Mann riss die Arme hoch. »Nicht schießen«, schrie er. »Ich gebe auf! Nicht schießen!«

Über seinem Kopf sah Neal im Mondlicht in seiner rechten Hand die Zange glitzern und in der linken ein Messer. Die schmale, spitze Klinge war fast so lang wie der Unterarm des Mannes.

»Fallen lassen!«, sagte Neal und richtete die Sig auf die dunkle Gestalt.

Zitternd.

Mit rasendem Herzen.

Der Mund so trocken wie eine Handvoll Sand.

Der Mann wandte sich zu ihm, die Arme erhoben, Zange und Messer noch in den Händen. Er wirkte ausgezehrt. Sein schwarzes Haar und der Bart verbargen den Großteil des Gesichts, bis auf die bleichen Wangenknochen. Das langärmlige schwarze Hemd schien an seinen Armen und dem Brustkorb zu kleben und drückte sich an den eingesunkenen Bauch. So wie seine schwarze Hose glänzte, war sie wahrscheinlich aus Leder. Genau wie seine schwarzen Handschuhe.

»Lass das Messer und die Zange fallen«, sagte Neal.

»Halt dich da raus. Hau ab. Das geht dich nichts an.«

»Wollen wir wetten?«

»Das ist eine Sache zwischen ihr und mir.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Sie ist meine Frau.«

»Er lügt!«, platzte die Frau heraus. »Er hat mich geschnappt! Mich entführt!«

»Hörst du, wie sie lügt?«

»Du hältst die Klappe«, sagte Neal.

»Willst du mitmachen?«

»Nein.«

»Nur wir beide. Wenn wir mit ihr fertig sind, wird niemand merken, ob es einer war oder zwei.«

Neal schüttelte den Kopf.

»Natürlich willst du.« In der Schwärze seines Bartes leuchteten Zähne auf. »Du bist ein Mann.«

»Bitte«, keuchte die Frau. »Helfen Sie mir.«

»Du lässt jetzt besser die Sachen fallen«, sagte Neal.

»Ich erlaube dir, sie zu ficken.«

»Nein.«

»Dann fick ich dich, Alter«, sagte der Mann und warf das Messer nach Neal.

Neal duckte sich und schoss dreimal, die Explosionen dröhnten in seinen Ohren, und die Pistole zuckte in seiner Hand. Der schwarz gekleidete Mann wurde getroffen und taumelte einen Schritt zurück, während das Messer an Neals Gesicht vorbeiwirbelte. Er machte noch ein paar Schritte, dann fiel er auf den Hintern. Mit herabhängenden Armen saß er da, hielt die Zange nach wie vor in der Hand, und seine ausgestreckten Beine strampelten, als wollte er seine Schuhe abstreifen.

Neal zielte auf den zotteligen schwarzen Kopf und feuerte ein weiteres Mal.

Der Kopf des Mannes ruckte wie bei einem Tritt unter das Kinn, und er fiel nach hinten.

2

2

»Hallo?«

Er drehte den Kopf in Richtung der Stimme und sah undeutlich die bleiche Gestalt einer Frau vor einem Baum.

Ah, dachte er. Klar. Sie.

Der Mann, den Neal niedergeschossen hatte, lag wie ein schwarzer Schatten auf dem Boden. Er hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Eigentlich hatte er sich überhaupt nicht bewegt, seit der Kopfschuss ihn auf den Rücken geworfen hatte.

»Hallo?«, sagte die Frau noch einmal.

Neal blickte wieder zu ihr.

»Geht’s Ihnen gut?«, fragte sie.

Natürlich, dachte er. Warum auch nicht? Er ist derjenige, der tot ist, nicht ich.

»Hey? Geht’s Ihnen gut?«

Geht’s mir gut?, fragte er sich. Nach einem Moment antwortete er: »Ja.« Seine Stimme klang dumpf und wie aus weiter Ferne.

»Können Sie aufstehen?«

Aufstehen?

Er bemerkte, dass er auf dem Boden kniete. Es erschrak und verwirrte ihn. Schnell stand er auf. »Mir geht’s gut«, sagte er. »Es ist nur … ich hab noch nie … wie geht’s Ihnen?«

»Ich will hier weg.«

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Nicht unbedingt. Kommen Sie her, ja? Kommen Sie bitte?«

»Ja. Okay.«

Neal ging zu ihr. Er fühlte sich schwach und zittrig. Sein rechter Arm, der schlaff an der Seite herunterhing, schwang durch das Gewicht der Pistole hin und her.

Die Frau war nackt, wie er vermutet hatte. Ihre Haut wirkte gespenstisch bleich bis auf die dunklen Flecken ihrer Augen, Nasenlöcher, Brustwarzen und des Nabels. Und bis auf das Blut. Er nahm zumindest an, dass es Blut war – diese gewundenen schwarzen Bänder, die sich aus mehreren Wunden über ihre Haut zogen.

»Er hat Sie geschnitten«, sagte Neal.

»Nicht so schlimm. Ich werd’s überleben. Können Sie mich losbinden?«

»Klar.« Er wollte die Pistole in seine Hosentasche stecken, doch dann zögerte er und sah hinüber zu dem Mann.

»Machen Sie sich wegen ihm keine Sorgen.«

»Ist er tot?«, fragte Neal.

»Er hat sich nicht mehr bewegt.«

»Mein Gott.«

»Es ist in Ordnung. Sie haben das Richtige getan. Er war ein Psychopath.«

»Behalten Sie ihn im Auge, okay?«

»Mach ich.«

Neal schob die Waffe in die Tasche. Dann trat er neben die Frau. Ihr linker Arm war an der Schulter abgeknickt. Das Handgelenk war hinter dem Baumstamm mit einem Seil an das andere gebunden.

Neal beschloss, an ihrer linken Seite zu bleiben, sodass die Frau und der Baum ihm den Blick auf den schwarz gekleideten Mann versperrten.

Sie wird mir schon Bescheid sagen, wenn er sich bewegt.

Mit den Fingerspitzen zupfte Neal an dem straffen Knotengeflecht am Handgelenk der Frau. Seine Augen waren ihm dabei keine Hilfe, deshalb sah er die Frau an.

Hinter ihrem Oberarm wölbte sich die linke Brust vor. Neal hatte trotz des dürftigen Lichts einen perfekten Blick darauf. Sie war ziemlich klein und wohlgeformt, und der Nippel war aufgerichtet. So nah, dass er ihn hätte berühren können.

Seine Hände beschäftigten sich weiter mit den Knoten.

»Ich bin Elise«, sagte sie.

»Ich heiße Neal.«

»Gott sei Dank bist du vorbeigekommen.«

»Ich hab dich um Hilfe rufen hören.«

»Er hat gesagt, es würde nichts nützen. Er hat gesagt, es würde niemand hören. Und wenn, dann würde derjenige es ignorieren.«

»Fast hätte ich das gemacht.«

Die Knoten waren eisenhart angezogen, aber er gab nicht auf.

Er sah, wie Elises Brustkorb sich ausdehnte und die Brust sich hob, als sie tief einatmete.

»Ich wollte ein paar Filme zurück zu Video City bringen«, erklärte er.

»Zu dieser Uhrzeit?«

»Sie sind um Mitternacht fällig.«

»Willst du es noch versuchen?«

»Ich glaube nicht. Es spielt keine Rolle mehr.«

»Tut mir leid, dass ich deine Pläne durcheinandergebracht habe.«

»Machst du Witze?«

»Ich zahle gern den Verspätungszuschlag für dich.«

»Vergiss es. Echt.«

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie.

»Ja, sieht so aus.«

»Es ist so. Mein Gott. Und getötet zu werden … wäre wahrscheinlich noch nicht einmal das Schlimmste daran gewesen.«

»Also, du wirst dich wieder erholen. Jedenfalls wenn ich die Knoten aufbekomme.«

»Vielleicht kannst du sein Messer nehmen.«

Er erinnerte sich an das große Messer, das an seinem Ohr vorbeigeflogen war. »Ich weiß nicht, ob ich es finde. Außerdem sollte ich es besser nicht anfassen. Das würde seine Fingerabdrücke verwischen. Wir sollten wahrscheinlich alles so lassen, wie es ist, damit wir keine Beweise zerstören.«

»Mich auch?«, fragte sie.

»Tja … da hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Wäre vielleicht keine schlechte Idee. Wenn sie sehen, wie er dich hier angebunden hat …«

»Ich möchte nicht, dass die Polizisten mich so sehen.« Sie drehte den Kopf, als wollte sie Neal über ihre Schulter anblicken. »Ich möchte nicht, dass mich irgendjemand so sieht.«

Neal errötete. »Entschuldigung«, murmelte er.

»Bei dir ist es etwas anderes«, sagte sie. »Du hast mich gerettet. Sieh mich an, so lange du möchtest.«

»Hm, jedenfalls …«

»Bist du sicher, dass du die Polizei rufen willst?«

»Sie tauchen wahrscheinlich jeden Moment auf.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Elise.

»Irgendjemand hat bestimmt die Schüsse gemeldet.« In dem Moment, als er es aussprach, wurde ihm klar, wie naiv er war. Es verging fast keine Nacht, in der er nicht Geräusche in der Ferne hörte, die wie Pistolenschüsse klangen. Oder wie zuschlagende Türen, Fehlzündungen, Feuerwerkskörper oder sonst etwas. Manchmal waren es definitiv Schüsse gewesen, doch er hatte nicht ein einziges Mal die Polizei gerufen.

In diesem Fall waren die Schüsse in einem dichten Grünstreifen unterhalb des Santa Monica Freeway abgefeuert worden. Niemand, der auf der Autobahn fuhr, würde sie bemerkt haben.

Die nächsten Wohnungen waren in diesen schäbigen Häusern auf der anderen Seite des Feldes und der Bahnschienen, hinter dem Maschendrahtzaun und der Straße. Die Leute, die dort wohnten, hatten sich vermutlich an seltsame Geräusche aus dieser Richtung gewöhnt. Besonders an Fehlzündungen.

»Wenn jemand die Polizei gerufen hat«, sagte Elise, »wo bleibt sie dann?«

»Vielleicht sind sie noch unterwegs. Es dauert eine Weile, bis …«

»Seit den Schüssen sind wahrscheinlich schon fünfzehn oder zwanzig Minuten vergangen.«

»Nein«, sagte Neal. »Nicht mal fünf.«

»Ich hab nicht auf die Uhr gesehen«, meinte Elise. Auf der ihm zugewandten Seite ihres Gesichts schien sich der Mundwinkel nach oben zu ziehen. »Aber es ist viel länger als fünf Minuten her. Du warst weggetreten. Du hast bestimmt eine Viertelstunde dort gekniet.«

»Nein.«

»Es stimmt. Ich hab einfach hier gestanden und gewartet. Hab versucht, mich zusammenzureißen. Aber schließlich dachte ich, wir würden die ganze Nacht hier verbringen, wenn ich nichts sage. Und wahrscheinlich machen wir das wirklich, falls du nicht das Messer oder irgendwas anderes suchen gehst.«

»Nicht das Messer«, sagte er. »Ich sollte es nicht anfassen.«

»Dann such irgendwas anderes. Okay?« Sie klang, als würde sie gleich wieder anfangen zu weinen. »Ich mag das nicht. Ich will hier weg.«

»Ich werde etwas finden«, sagte Neal. Er trat um den Baum herum und sah in die Richtung, in die das Messer geflogen sein musste.

Es sollte bleiben, wo es ist, sagte er sich. Wo auch immer das sein mag. Soll die Polizei es finden.

Er überlegte, ob er schnell zum Auto gehen sollte. Wahrscheinlich gab es dort etwas … Klar. In der Mittelkonsole müsste sein Taschenmesser liegen.

»Ich könnte zum Auto gehen«, sagte er. »Ich habe …«

»Nein, nicht. Lass mich nicht allein. Bitte.«

»Es dauert nur ein paar Minuten.«

»Es könnte etwas passieren. Bitte. Vielleicht … Sieh nach, ob er etwas hat.«

Die Zange, dachte Neal. Wenigstens die Zange.

»Gut.« Er ging langsam auf den Mann zu. Es machte ihn nervös.

Was, wenn er nicht tot ist?

Was, wenn er tot ist?

In beiden Fällen gefiel Neal die Vorstellung, sich ihm zu nähern, überhaupt nicht.

Er schob eine Hand tief in die rechte Tasche seiner Shorts, griff nach der Pistole und zog sie heraus. Er war ziemlich sicher, dass er dreimal geschossen hatte.

Nein, viermal.

Dreimal schnell hintereinander, dann der Kopfschuss.

Er ging fest davon aus, dass sechs Patronen im Magazin gewesen waren und keine in der Kammer. Er müsste noch zwei übrig haben.

Es war eine Spannabzugpistole ohne Sicherung, also …

Er zog eine Grimasse und hielt sich die Waffe dicht vors Gesicht. Zu dunkel. Mit der linken Hand befingerte er den Schlitten und suchte nach dem Hahn.

Er war komplett gespannt.

Nachdem er den Mann niedergeschossen hatte, hatte er offensichtlich im Dunkeln vergessen, den Hebel zum Entspannen des Hahns zu betätigen. Er hatte die Pistole mit gespanntem Hahn und einer Kugel in der Kammer in seine Hosentasche gesteckt.

Großer Gott, dachte er. Ich hätte mir ins Bein schießen können.

Er ließ die Waffe gespannt, legte den Finger leicht auf den Abzug, trat neben den Mann und ging in die Hocke. Die Zange lag neben der rechten Hand des Mannes.

»Ist er tot?«, fragte Elise.

»Ich glaub schon.«

»Willst du nicht auf Nummer sicher gehen?«

»Du meinst, ihm noch eine Kugel verpassen?«

»Nein! Sieh nach, ob du Lebenszeichen findest.«

»Soll ich seinen Puls fühlen?«

»Genau.«

»Dann müsste ich ihn berühren.« Schnell fügte er hinzu: »Ich glaube, das ist nicht nötig. Er rührt sich nicht. Ich höre auch keinen Atem. Ich bin ziemlich sicher, dass er tot ist. Schließlich hab ich ihm in den Kopf geschossen.«

Einen Augenblick lang war Elise still. Dann fragte sie: »Siehst du in seinen Taschen nach?«

»Wozu?«

»Vielleicht hat er ein Taschenmesser oder so.«

»Ich glaube, mit der Zange wird es gut funktionieren.« Während er die linke Hand nach der Zange ausstreckte, hielt er die Pistole auf den Mann gerichtet. Er betrachtete seine behandschuhte Hand. Halb rechnete er damit, dass sie nach ihm griff. Aber sie bewegte sich nicht. Er hob die Zange auf und entfernte sich schnell. Nach ein paar Schritten warf er einen Blick zurück.

»Er folgt dir nicht«, sagte Elise.

»Ich weiß.«

Die Zange in seinen Händen fühlte sich schmutzig an. Als wäre sie besudelt durch all das Leiden, das sie verursacht hatte, und könnte den Schmutz auf ihn übertragen.

Plötzlich stellte er sich vor, wie er Elises Nippel mit den Backen packte, fest zudrückte und sie zum Schreien brachte.

Die Vorstellung widerte ihn an.

Eine verfluchte Zange.

Es ist nur ein Werkzeug, sagte er sich.

Wie meine Pistole.

Er blieb neben Elise stehen, klemmte die Zange unter den Arm und sicherte die Pistole. Dann steckte er sie in seine rechte Hosentasche und nahm die Zange in die Hand.

»Pass auf damit, ja?«, sagte Elise.

»Keine Sorge.«

»Damit kann man jemandem richtig wehtun.«

»Kann ich mir vorstellen.« Er hielt mit der linken Hand ihren Unterarm fest, packte mit der Zange eine Schlaufe des Knotens und zog daran.

Er spürte, wie sich der Knoten lockerte.

»Er löst sich«, sagte er.

»Gott sei Dank.«

»Behalt ihn im Blick.«

»Mach ich.«

Während er weiter an dem Knoten arbeitete, sagte Neal: »Ich meine, ich weiß, dass er tot ist, aber … Das glauben die Leute immer, oder? Im Film. So wie in Halloween zum Beispiel. Man glaubt immer, der Böse wäre tot, und dann schnappt er einen. Ich weiß, es sind nur Filme, aber …«

»Manchmal ist das wirkliche Leben schlimmer als ein Film«, unterbrach Elise ihn.

»Ja. Das kann man wohl sagen.«

»Und manchmal ist es besser.«

»Meinst du?«

»Und es ist immer seltsamer.«

»Seltsamer?«

»Ich glaub schon. Ja.«

»Tja«, sagte Neal, »das hier ist auf jeden Fall äußerst seltsam. Dass ich zufällig genau im richtigen Augenblick vorbeikomme und dich rette.«

»Ein paar Minuten früher hätte auch nicht geschadet.«

»Ja. Ich wünschte wirklich …«

»Das war ein Scherz«, sagte sie. »Ich meine, es wäre wirklich gut gewesen, aber andererseits hätte ich dann vielleicht nicht genau im richtigen Moment geschrien. Ich würde nur ungern die Zeit zurückdrehen und es ausprobieren. Du könntest vorbeifahren, und was würde dann aus mir werden?«

»Stimmt«, sagte Neal.

»Ich will mich nicht darüber beschweren, wie es ausgegangen ist. Es grenzt an ein Wunder.«

»Oder es waren einfach glückliche Zufälle.«

»Ich glaube nicht an den Zufall«, sagte Elise. »Alles geschieht aus einem bestimmten Grund.«

»Also … ich glaube, es war dir nicht bestimmt, heute Nacht zu sterben. Ihm hingegen schon.«

»Und uns war es bestimmt, einander zu begegnen.«

Er errötete. »Könnte sein.« Dann gab der Knoten endgültig nach. »Geschafft«, sagte er.

Elise seufzte. Ihr Handgelenk drückte gegen seine Hand, also ließ er es los. Sie schwang den Arm nach vorn und schüttelte das lose Seil ab. Dann trat sie von dem Baum weg. Mit dem rechten Arm riss sie das Seil hinter dem Stamm hervor.

Sie beugte sich vor und ließ den Kopf hängen.

Neal betrachtete ihren Rücken und die Kurven ihres Hinterns und die schlanken Beine.

Es war uns bestimmt, einander zu begegnen.

»Kannst du mir helfen?«, fragte sie. Sie drehte sich zu ihm und streckte die rechte Hand aus. Das Seil war noch daran festgezurrt.

»Klar.«

Als er danach griff, nahm sie seine Hand. Sie hielt sie fest, während er mit der Zange in der anderen am Knoten zerrte. Er versuchte, sie nicht anzustarren. Doch er konnte nicht anders. Manchmal, wenn er fest am Seil riss, wackelten ihre Brüste. Er konnte es sogar in dem schlechten Licht erkennen. Er konnte auch das hübsche kleine Haarbüschel zwischen ihren Beinen sehen.

Nach einer Weile zwang er sich, wegzuschauen.

Er blickte stattdessen zu dem Mann, den er niedergeschossen hatte.

»Noch da?«, fragte Elise.

»Ja.«

»Hab ich mir schon gedacht.« Sie hob die linke Hand und legte sie Neal auf die Schulter. »Immer noch keine Polizei«, sagte sie.

»Bis jetzt nicht.«

»Ich glaube nicht, dass sie noch kommen. Es sei denn, wir rufen sie selbst. Was wir meiner Meinung nach nicht tun sollten.«

»Wir müssen«, sagte Neal.

»Nein, müssen wir nicht.«

»Doch.«

Sie drückte fest seine Schulter, aber nicht so fest, dass es wehtat. »Hör zu«, sagte sie.

Er zog ruckartig mit der Zange am Seil. Die Backen glitten ab, und die Zange flog zur Seite. »Verdammt!«

»Warte mal kurz. Hör zu. Niemand muss jemals von der ganzen Sache erfahren.«

»Er wollte dich ermorden.«

»Ja. Und jetzt ist er tot. Er muss also nicht mehr festgenommen oder vor Gericht gestellt werden oder so. Ihm ist bereits … Gerechtigkeit widerfahren. Er wird nie wieder jemandem wehtun. Also, was haben wir davon, wenn wir die Polizei verständigen?«

Neal zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sicher, aber … Man kann doch bei so einer Angelegenheit nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen.«

»Warum nicht?«

»Ich hab den Typen getötet.«

»In Notwehr«, erinnerte ihn Elise.

»Wenn wir einfach abhauen, sieht es vielleicht nicht aus wie Notwehr. Dann sieht es aus, als wären wir die Kriminellen.«

»Wie willst du erklären, dass du eine Pistole hattest?«

»Ich sag einfach die Wahrheit.«

»Hast du einen Waffenschein oder so?«

»Nicht, um sie mit mir herumtragen zu dürfen. Das glaubst du doch nicht im Ernst. Nicht in L. A. Niemand bekommt die Erlaubnis dazu. Höchstens, wenn man zufällig der Polizeichef ist. Deshalb ufert die Kriminalität hier auch so aus.«

»Jedenfalls wirst du Schwierigkeiten kriegen, oder?«

»Vielleicht. Sie werden mich nicht belangen, weil ich den Mann getötet habe, da bin ich ziemlich sicher. Obwohl seine Familie mich verklagen könnte.«

»Ja.«

»Das halte ich für ziemlich wahrscheinlich, falls er Familie hat. Auch wenn sie nicht gewinnen würden. Aber ich hätte jede Menge Ärger mit dem Gesetz.«

»Und was ist mit der Pistole?«, fragte Elise.

»Mit einer geladenen Waffe im Auto herumzufahren, ist ziemlich sicher ein Verbrechen.«

Ihre Hand schloss sich fester um seine Schulter. »Du könntest ins Gefängnis kommen?«

»Könnte sein.«

»Mein Gott. Weil du mir das Leben gerettet hast?«

»Also … das Wichtigste ist, dass ich getan habe, was getan werden musste. Falls ich deswegen ins Gefängnis komme … das ist eben Pech. Ich meine, ich hab das Risiko schließlich in Kauf genommen, als ich anfing, mit der Pistole herumzufahren. Aber wahrscheinlich bekomme ich bloß eine Bewährungsstrafe und eine Geldbuße.«

»Wie hoch?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht tausend Dollar.«

»Okay, mach das Seil ab.«

Er hob die Zange auf, packte den Knoten und begann erneut, daran zu ziehen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm werden würde«, sagte sie.

»Was?«

»Der Ärger, den du bekommen könntest.«

»Verdammt. So wie die Dinge heutzutage laufen, kriegt man schon Schwierigkeiten, wenn man jemanden nur komisch ansieht.«

»Das kann man wohl sagen.« Sichelförmig blitzten ihre Zähne in dem verschwommenen Gesicht auf und verschwanden wieder. »Jedenfalls wird nichts von alledem passieren, wenn wir niemandem davon erzählen.«

»Ich bin derjenige, der Ärger bekommt. Du hast nichts falsch gemacht.«

»Glaubst du, das spielt eine Rolle? Wenn die Medien mit uns fertig sind?«

Neal verzog das Gesicht. »Das ist natürlich ein Argument.«

»Du weißt doch, was geschehen wird. Sie machen es bei jedem. Es ist völlig egal, was für ein guter Mensch du bist, sie hören nicht auf, bis alle dich für den größten Abschaum halten. Wenn sie keine Verfehlungen finden, denken sie sich etwas aus.«

»Ja, so etwas kommt vor.«

»Es ist immer so.«

»Ja, meistens.« In diesem Moment gab das Seil ein wenig nach. Er zog fester. Der Knoten löste sich. »So.«

»Ich mache den Rest.« Elise ließ ihn los und wickelte das Seil von ihrem Handgelenk.

Neal sah ihr zu.

»Selbst wenn sie nicht versuchen würden, mich in den Dreck zu ziehen – und sie würden es versuchen –, gefällt mir die Vorstellung nicht, dass ich in der ganzen Welt als die Frau bekannt bin, die von einem verrückten Sadisten entführt und gequält wurde. Die Frau, die nackt an einen Baum gefesselt gefunden wurde. Es würden nicht nur Fremde erfahren. Jeder, der mich kennt, würde es wissen. All meine Verwandten und Freunde …«

»Das klingt nicht besonders angenehm«, gab Neal zu.

»Überall würden Fotos von mir auftauchen. Jede Menge Typen würden sie ansehen und davon träumen, mich auszuziehen und mit Zange und Messer zu traktieren.« Sie warf das Seil auf den Boden und rieb ihr rechtes Handgelenk. »Ich möchte mein Leben behalten«, sagte sie. »Ich möchte nicht der Öffentlichkeit gehören.«

»Du hast mich überzeugt.«

»Du bist dabei?«

»Ja. Ich will auch nicht vor Gericht oder im Fernsehen landen.«

3

3

»Liegen deine Kleider irgendwo hier herum?«, fragte Neal.

Elise, die immer noch ihr Handgelenk rieb, schüttelte den Kopf.

»Hier, du kannst das anziehen.« Neal zog sein Hemd aus und reichte es ihr.

»Danke.« Sie zog es an. Während sie die Knöpfe schloss, drehte sie sich um und ging zu dem Mann. Das lange, weite Hemd bedeckte ihren Hintern.

Neal folgte ihr mit der Zange in der Hand. »Was hast du vor?«

»Zuerst mal leihe ich mir seine Schuhe aus.« Sie hockte sich neben den Mann und begann, sie ihm auszuziehen. »Ich habe keine Lust, mir auf dem Weg hier raus die Füße zu zerschneiden«, sagte sie. »Er hat mich hergetragen.«

Er hat sie nackt getragen?

»Ich kann dich auch tragen, wenn du willst«, bot Neal an.

»Danke, aber das ist nicht nötig.«

Es würde mir nichts ausmachen, dachte er.

Sie stand auf. Erst auf einem, dann auf dem anderen Bein balancierend, schlüpfte sie in die dunklen Turnschuhe des Mannes. »Ekelhaft«, murmelte sie.

»Was?«

»Seine Schuhe zu tragen. Aber zumindest sind sie nicht riesig.« Sie ging in die Hocke und band die Schnürsenkel zu. Dann entfernte sie sich im Entengang von der Leiche und zupfte dichtes, blättriges Unkraut aus der Erde.

»Was machst du da?«, fragte Neal.

»Ich will ihn verstecken.«

»Sollten wir nicht einfach von hier verschwinden?«

Sie drehte sich zur Seite und warf die Pflanzen auf den Körper. Eine landete auf der Brust, die andere auf dem Gesicht. »Wenn die Polizei kommen würde, wäre sie schon hier«, sagte sie. »Meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht. Kommt darauf an, wie beschäftigt sie sind.«

»Ich glaub, wenn jemand Schüsse meldet, kommen sie schnell.«

»Wahrscheinlich«, gab Neal zu. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. Während er die Zange abwischte, sagte er: »Ich würde trotzdem gern von hier abhauen.«

»Es dauert nicht lang.« Sie riss weiteres Unkraut heraus.

Neal bückte sich und legte die Zange neben die behandschuhte Hand des Mannes.

»Je später er gefunden wird, desto besser für uns«, sagte Elise. »Glaubst du nicht auch?«

»Ja. Alles wird verrotten. Dann wird es nicht so leicht, seinen genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen.«

»Und die Leute vergessen vielleicht, dass sie uns gesehen haben«, fügte Elise hinzu.

»Hoffen wir lieber, dass uns überhaupt niemand sieht.«

»Aber falls doch, dann ist es nicht so schlimm, vorausgesetzt, die Leiche wird eine Weile nicht gefunden. Wenn keiner genau weiß, wann das alles passierte …«

»Stimmt. Du hast recht.«

»Ich wünschte, wir hätten eine Schaufel.«

»Das würde die Sache beschleunigen«, sagte Neal. »Je schneller wir von hier verschwinden, desto besser.«

»Kann sein.«

»Du machst dort weiter«, schlug Neal vor, »und ich suche die Hülsen.«

»Was?«

»Die Patronenhülsen. Ich würde sie gern finden. Wir sollten versuchen, nichts zurückzulassen.«

Auf allen vieren suchte er den Boden rechts von der Stelle ab, wo er die Schüsse abgegeben hatte. Zwei Hülsen fand er schnell. Die Chance, alle vier zu entdecken, war gering, aber er sah keinen Grund, aufzugeben. Noch nicht. Nicht solange Elise noch damit beschäftigt war, den Körper des Mannes zu bedecken.

Sie beeilte sich, riss Unkraut und Gras aus dem Boden und entwurzelte sogar ein paar kleine Büsche.

Neal fand die dritte Hülse. Sie musste zwei Meter durch die Luft geflogen sein, ehe sie neben einer leeren Bierdose gelandet war.

»Das sollte reichen«, sagte Elise.

Neal hob den Kopf. Der Mann war unter einer Schicht Blattwerk verborgen.

»Ich vermisse noch eine Hülse«, erklärte er.

Sie kam zu ihm. Auf Händen und Knien half sie ihm bei der Suche. »Was passiert, wenn wir sie nicht finden?«, fragte sie.

»Dann wird die Polizei sie finden.«

»Macht das was?«

»Kann sein. Die Pistole muss ich sowieso loswerden. Aber auf der Patronenhülse könnten meine Fingerabdrücke sein. Oder Teile davon. Vielleicht auch nicht, aber ich würde mich viel besser fühlen, wenn …«

»Ist sie das?« Elise zog etwas aus dem Unkraut. Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger in die Luft.

»Zeig mal.« Neal streckte die Hand aus. Sie ließ den Gegenstand in seine Handfläche fallen. »Das ist sie. Gut gemacht.«

»Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«

Die vier Messinghülsen klingelten in seiner Hosentasche, als er aufstand. Neben ihm erhob sich Elise. Sie beugte sich vor und wischte ihre nackten Knie ab.

»Was ist mit deinen Sachen?«, fragte er. »Wir dürfen nichts von dir zurücklassen.«

»Hier ist nichts. Er hat mich so hierhergebracht.«

»Du hattest gar nichts bei dir?«

»Nein.«

»Auch keinen Schmuck? Ohrringe? So was in der Art?«

»Nein.«

»Okay, gut. Hast du irgendwas hier angefasst?«

»Nur das Seil, glaub ich.«

»Das ist kein Problem. Ich schätze nicht, dass sie davon anständige Fingerabdrücke nehmen können. Was ist mit ihm? Hast du ihn berührt? Seine Hose?«

»Mit den Händen?«

»Ja. Sie ist aus Leder. Genau wie die Handschuhe. Könnten deine Abdrücke darauf sein?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Gab es keinen Kampf?«, fragte Neal.

»Er hat mich von hinten geschnappt«, erklärte sie. »Ganz plötzlich hatte ich seinen Arm um den Hals. Er hat mich von den Füßen gehoben. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren. Das Nächste, was ich mitbekommen habe, war, dass ich mit hinter dem Rücken gefesselten Händen hinten in seinem Lieferwagen lag.«

»Okay. Gut.«

»Gut?«

»Ich meinte nur, es ist gut, dass wir uns wegen der Hose und der Handschuhe keine Sorgen machen müssen. Außerdem, falls du doch irgendwelche Abdrücke hinterlassen hast, wurden sie durch das ganze Zeug, das du auf ihn geworfen hast, wahrscheinlich ziemlich verwischt.« Stirnrunzelnd betrachtete er den rechteckigen buschigen Hügel.

»Was ist?«, fragte Elise.

»Ich überlege nur, ob wir nicht doch die Sachen mitnehmen sollten, nur um auf Nummer sicher zu gehen.«

»Welche Sachen? Seine Hose?«

»Und die Handschuhe.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Du könntest seine Hose anziehen«, sagte Neal.

»Auf keinen Fall. Es ist schon widerlich genug, seine Schuhe zu tragen. Wenn du auch nur in Erwägung ziehst, dass ich … vergiss es. Nicht seine Hose. Lass uns einfach verschwinden.« Sie nahm Neals Hand und zog ihn an ihre Seite.

»Bist du sicher, dass du nichts zurückgelassen hast?«

»Ja.«

»Hattest du keine Handtasche oder …«

»Nein, keine Handtasche. Ein bisschen Blut. Davon hab ich etwas zurückgelassen. Und Schweiß und Tränen.«

»Damit können sie deine Identität nicht feststellen.«

»Was ist mit DNS und solchen Sachen?«

»Man könnte sie dir zuordnen, aber zuerst müssten sie wissen, wer du bist. Solche Tests würden erst durchgeführt, wenn sie dich verhaftet und angeklagt hätten.«

»Du scheinst dich gut auszukennen mit … Polizeiarbeit und so.«

Er zuckte mit den Schultern. »So gut auch wieder nicht. Ich sehe mir viele Filme an, lese viele Bücher. Gucke mir Prozesse im Fernsehen an. Das ist alles.«

Ehe sie unter den Bäumen hervortraten, blieben sie stehen und ließen den Blick über das Feld, die angrenzenden Straßen, die Bürgersteige und Gärten schweifen. Sie sahen niemanden. Ein paar Lichter auf den Veranden. Ein paar beleuchtete Fenster. Aber keine Scheinwerfer.

Elise gab Neals Hand frei und lief los. Es war eher ein zügiger Dauerlauf als ein Sprint. Neal nahm an, dass sie wegen der zu großen Schuhe Angst hatte, schneller zu rennen.

Er lief neben ihr her.

Zuerst hätte er beinahe gesagt, sie solle nicht rennen. Wir machen uns verdächtig. Aber ihm wurde klar, dass das ein dummes Argument war. Sie waren zu dieser Nachtzeit dort nahe dem Niemandsland so fehl am Platze, dass sie wohl kaum zusätzliche Aufmerksamkeit erregten, indem sie rannten.

Es war besser, sich zu beeilen und so schnell wie möglich die Straße zu erreichen. Dort würden sie viel weniger auffallen.

Bloß, dass sie nichts anhat außer meinem Hemd.

Und die Schuhe eines toten Mannes.

Er sah sich in alle Richtungen um. So weit, so gut. Immer noch niemand in Sicht. Immer noch keine Autos.

Das heißt nicht, dass wir nicht beobachtet werden.

Egal, sagte er sich. Bei diesem Licht müsste ihnen jemand direkt gegenüberstehen, um sie wiederzuerkennen.

Ein Häuserblock weiter links wurde die Straße plötzlich von den Scheinwerfern eines Autos erhellt, das sich der Kreuzung näherte. »Pass auf«, keuchte Neal. Einen Augenblick später tauchten die Scheinwerfer auf. Ohne zu blinken, bog der Wagen nach links ab.

Elise warf sich zu Boden. Neal ebenfalls.

Sie lagen beide flach auf dem Bauch, ehe die Scheinwerfer sie erfassten.

Neal hielt den Kopf gesenkt, während das grelle Licht über ihn hinwegstrich. Reglos lauschte er dem Motor des Wagens. Ein gleichmäßiges Rauschen.

Was, wenn es ein Polizeiwagen ist?

Was, wenn er anhält und die Polizisten aussteigen?

Die Gedanken wühlten ihn auf.

Doch das Auto fuhr weiter. Als das Motorgeräusch leiser wurde, hob Neal den Kopf. Nur ein normaler Personenwagen. Vor dem Stoppschild an der Ecke leuchteten die Bremslichter auf und verstärkten das rote Leuchten des Hecks. Ohne zu blinken, bog der Wagen rechts ab und fuhr auf die Unterführung zu.

Ein Stück vor Neal richtete sich Elise auf Händen und Knien auf.

In dieser Position verbarg das Hemd weniger als im Stehen. Viel weniger. Neal erhaschte einen Blick auf die blasse Rundung ihrer Hinterbacken, den dunklen Spalt dazwischen, die Rückseite ihrer Beine. Mit schlechtem Gewissen wandte er sich schnell ab.

Er sah, wie das Auto in der Unterführung verschwand.

Als er sich wieder nach vorn drehte, sprang Elise auf. Der Saum des Hemds rutschte herunter und bedeckte ihren Hintern.

Neal stand auf und lief ihr hinterher.

Er sah, wie sie über die Bahnschienen sprang. Wie sie durch das Loch im Maschendrahtzaun schlüpfte. Wie sie sich an der Seite des Lieferwagens duckte.

Ein paar Sekunden später hockte er ihr gegenüber.

Sie schnappten beide nach Luft. Sein Herz hämmerte wild.

»Was sollen wir … mit dem Wagen machen?«, fragte Elise.

»Was ist da drin? Irgendwas von dir?«

»Blut, Schweiß, was weiß ich.«

»Kleidung?«

»Nein.«

»Schmuck? Deine Handtasche?«

»Nichts.«

»Fingerabdrücke?«

»Meine Hände waren hinter den Rücken gebunden. Ich lag auf einer Matratze.«

»Was ist noch in dem Wagen?«

»Ich weiß nicht. Es war dunkel. Sollen wir ihn wegfahren? Wir könnten ihn ein paar Kilometer weiter abstellen oder so.«

»Wir haben den Schlüssel nicht mitgenommen.«

Elise schwieg einen Moment. Neal hörte, wie sie schnaufend atmete. Dann sagte sie: »Einer von uns könnte zurückgehen und ihn holen.«

»Das wird ein Spaß.«

»Ja. Freiwillige vor.«

Neal stellte sich vor, wie er den ganzen Weg zurückrannte, in die Dunkelheit der Bäume eintauchte, sich zur Leiche schlich, in den buschigen Hügel griff, blind umhertastete, eine Hand in die Tasche der Lederhose des Toten schob. Ganz allein.

Und wenn er doch nicht tot war?

Und wenn er doch tot war – eine Leiche?

Ich bin allein in der Dunkelheit und stecke meine Hand in die Hosentasche einer Leiche.

Und während ich mit dieser angenehmen Aufgabe beschäftig bin, wartet Elise hier schutzlos auf mich. Gott allein weiß, wer da alles vorbeikommt …

Sie könnte in meinem Auto warten.

Auch nicht viel besser.

Neal hatte nicht vor, sie den Schlüssel holen zu lassen, während er hier wartete. Ehe es so weit käme, würde er gehen.

»Wir könnten zusammen gehen«, schlug Elise vor.

»Ich finde, wir sollten den Wagen einfach hier stehen lassen. Selbst wenn wir den Schlüssel hätten … Je weniger wir mit dem Auto zu tun haben, desto besser. Man kann nie wissen. Wenn wir damit irgendwo hinfahren, provozieren wir nur weitere Schwierigkeiten. Jemand könnte uns sehen. Wir könnten von der Polizei angehalten werden. Wir müssten uns Sorgen wegen unserer Fingerabdrücke machen. Und wegen Blut und Haaren. Das können wir uns ersparen. Der Wagen fällt nicht besonders auf. Er könnte vermutlich eine Woche hier stehen, ohne dass jemand auch nur einen Gedanken darauf verschwendet.«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

»Außerdem«, sagte Neal, »könnte sich etwas Belastendes für den Mann dort drin befinden. Das wäre gut für uns, falls sie uns doch erwischen.«

»Okay. Also lassen wir ihn hier?«

»Spricht nichts dagegen. Ich fahre dich in meinem Auto nach Hause. Warte einen Augenblick. Ich hole es.«

Neal ließ Elise hinter dem Lieferwagen zurück und eilte zu seinem Auto. Er riss die Tür auf. Die Innenbeleuchtung ging an. Er sprang hinter das Lenkrad und schwang die Tür zu, schnell, aber leise. Es wurde wieder dunkel im Inneren.

Er griff nach oben, entfernte die Plastikabdeckung der Innenleuchte und drehte die Glühbirne aus der Fassung. Nachdem er die Abdeckung und das Lämpchen auf den Beifahrersitz geworfen hatte, fischte er den Schlüsselbund aus der Tasche. Im Dunkeln suchte er nach dem Zündschlüssel, fand ihn, schob ihn ins Schloss und drehte ihn. Der Motor sprang an.

Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, setzte er zurück bis zur Schnauze des Lieferwagens. Er hielt an und legte den Vorwärtsgang ein. Mit dem Fuß auf der Bremse rief er aus dem Fenster: »Steig hinten ein. Aber lass den Kopf unten.«

Im Seitenspiegel beobachtete er, wie Elise geduckt zum Wagen lief und die Tür öffnete. Sie stieg ein und zog sie vorsichtig wieder zu.

Neal fuhr los.

Er ließ die Scheinwerfer ausgeschaltet.

4

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Nachdem er an der Kreuzung rechts abgebogen war, schaltete er das Licht an. »Alles klar dahinten?«, fragte er.

»Ja.«

»Bleib noch ein bisschen unten. Ich geb schnell die Videos zurück.«

»Wie spät ist es?«

Er warf einen Blick auf die grünen Leuchtziffern der Uhr. »Viertel vor eins. Ich muss wohl einen Verspätungszuschlag zahlen.«

»Ich übernehme das.«

»Schon in Ordnung. Pass bloß auf, dass dich niemand sieht.«

Ein paar Minuten später lenkte er den Wagen auf den Parkplatz von Video City. Er war hell beleuchtet, aber fast leer. Ein paar Autos standen herum, als hätten die Fahrer sie dort zurückgelassen. Im Laden brannte spärliches Licht. Niemand schien drinnen zu sein. Weder auf dem Parkplatz noch vor dem Eingang trieb sich jemand herum.

Meistens stand ein schmutziger Stadtstreicher vor dem Laden und bewachte den Rückgabeschlitz. Er lauerte darauf, einem die Videos aus der Hand zu reißen, sie in den Schlitz zu stecken und eine Gebühr für diese Dienstleistung zu kassieren.

Neal hatte sich schon gefragt, wie er sich dem Mann gegenüber verhalten sollte.

Er wollte eine Begegnung vermeiden. Am besten wäre es, die Videos zu behalten, einfach weiterzufahren und sie morgen abzugeben.

Er war froh, dass der Mann sich nicht auf seinem Posten befand.

»Die Luft ist rein«, sagte er und parkte vor dem Rückgabeschlitz. »Aber bleib lieber unten. Es ist wirklich ziemlich hell hier.«

Er stieg aus dem Wagen, schlenderte zu dem Schlitz und schwang die Videos lässig an seiner Seite. Hinter ihm lag der Venice Boulevard. Dort herrschte reger Verkehr. Neal wusste, dass jeder, der dort vorbeifuhr, ihn sehen konnte.

Die Nacht war ziemlich kühl. Doch nach einem so heißen Tag würde es wahrscheinlich niemand komisch finden, dass er kein Hemd trug. Er hoffte, die Straße wäre zu weit entfernt, um von dort aus seine Verletzungen, den Schmutz und das Blut zu erkennen.

Er warf die Videos nacheinander in den Schlitz, dann drehte er sich um.

Ein paar Autos näherten sich auf dem Venice Boulevard, noch dicht beieinander wegen der Ampel, vor der sie gerade losgefahren waren.

Neal rieb sich mit dem Unterarm über das Gesicht, als wollte er sich den Schweiß abwischen. Er hielt sein Gesicht verbogen, bis er sich wieder zu seinem Wagen drehte. Schnell öffnete er die Tür und stieg ein.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Elise von hinten.

»Keine Probleme.« Er setzte aus der Parkbucht zurück und steuerte auf eine der Ausfahrten zu. »Wohin?«, fragte er.

»Also, du hast gesagt, du würdest mich nach Hause fahren.«

»Dann zu dir.«

»Das wäre perfekt«, sagte sie. »Weißt du, wie du nach Brentwood kommst?«

»Du wohnst in Brentwood?«

»Wenn das zu weit ist …«

»Nein, nein. Ich fahr dich, wohin du willst. Verdammt, ich fahr dich auch nach San Francisco, wenn du möchtest.«

Sie lachte leise. »Brentwood reicht völlig.«

»Der Venice Boulevard stößt auf den Bundy Drive, oder?«

»Auf die Centinela, glaube ich. Ein Stück weiter heißt sie dann Bundy.«

Er bog rechts aus dem Parkplatz auf den Venice Boulevard ab. »Wo hat der Typ dich geschnappt?«

»Zu Hause.«

»In Brentwood?«

»Ja.«

»Und er hat dich den ganzen Weg hierher gebracht?«

»Hier sind wir schließlich gelandet, ja.«

»Seltsam. Vielleicht ist das sein Revier. Das würde Sinn ergeben. Wenn er dich irgendwo hinbringen wollte, wo er sich auskennt.«

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Wohnst du in einem Apartment?«

»In einem Haus.«

»Ein Haus in Brentwood?« Grinsend blickte er über die Schulter zu Elise, die zusammengerollt auf dem Rücksitz lag. »Du musst ja ganz schön Kohle haben.«

»Ziemlich viel.«

»Toll.«

»Hasst du mich jetzt? Nur weil ich reich bin?«

»Nö.«

Doch er verspürte eine gewisse Enttäuschung.

»Hoffentlich nicht«, sagte sie. »Manche Menschen benehmen sich nämlich, als wäre es eine Sünde, Geld zu haben.«

»Ich nicht«, sagte er. »Sehe ich aus wie ein Kommunist?«

Sie lachte.

»Lebst du allein?«, fragte er. »Ich meine, ich frage mich nur, warum dieser Irre … äh … warum er das alles nicht gleich in deinem Haus mit dir gemacht hat.«

»Er wollte, dass ich vor Schmerz schreie. Vielleicht hat er mich deswegen weggebracht. Ein lauter Schrei in meinem Haus, und es würden so viele Leute den Notruf wählen, dass die Polizei glaubt, die Marsmenschen wären gelandet. Es ist eine sehr ruhige Gegend. Und die Nachbarn sind sehr aufmerksam. Alle wissen, dass ich allein lebe. Und sie wissen auch, dass ich einigen Ärger mit meinem Exmann hatte. Ich glaube, sie rechnen alle damit, dass er eines Tages mal mit einem Messer bei mir vorbeikommt.«

»Aber das war er nicht, oder?«

»Nein. Nein, nein. Es war ein Fremder.«

»Hat dein Exmann ihn vielleicht geschickt?«

Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Ich bezweifle es. Ich glaube, der Mann hat mich rein zufällig ausgewählt. Vielleicht hat er mich heute beim Einkaufen oder so gesehen und ist mir nach Hause gefolgt.«

»Möglich. Aber wenn er doch von deinem Ex angeheuert wurde, könnte die Angelegenheit noch nicht zu Ende sein.«

»Was dagegen, wenn ich mich jetzt aufsetze?«, fragte sie.

»Es könnte seltsam aussehen, wenn der Beifahrersitz leer ist und du hinten sitzt.«

»Halt an, dann komm ich nach vorn. Es wird aussehen, als wären wir ein Paar auf dem Heimweg.«

»Ich weiß nicht. Du hast noch nicht mal eine Hose an.«

»Halt irgendwo an, wo es dunkel ist.«

»Hm … gut.« Er wünschte, sie würde hinten bleiben, wo sie niemand sehen konnte. Doch er wollte nicht mit ihr streiten.

Wenn ich Marta jemals davon erzähle, dachte er, ist Elise von Kopf bis Fuß angezogen.

Besser, ich erzähle ihr nichts.

Ich habe die Wohnung heute Nacht nicht verlassen.

Klasse. Fang an, sie zu belügen.

Er bog in eine schmale Straße mit Häusern auf beiden Seiten, fand einen dunklen Platz und fuhr an den Bordstein. Er schaltete die Scheinwerfer aus. »Okay.«

Ehe Elise die Beifahrertür öffnete, nahm Neal die Glühbirne und die Lampenabdeckung vom Sitz und verstaute sie in der Mittelkonsole.

Elise setzte sich und schloss die Tür.

Neal wendete. Auf dem Weg zum Venice Boulevard schaltete er das Licht an.

»So ist es viel besser«, sagte Elise. Sie legte den Sicherheitsgurt an. »Mir hat es da hinten nicht gefallen. Es fühlte sich an, als wäre ich wieder eine Gefangene.«

Neal bog auf den Boulevard, und Licht fiel in den Wagen. Er wandte den Blick nicht von der Straße. »Im Handschuhfach sind Stadtpläne.«

»Ich kenn den Weg.«

»Nein, ich meinte … du würdest vielleicht einen benutzen wollen.«

»Ich kenn mich hier aus.«

Er sah sie an. Sie lächelte, und Neal wurde bewusst, dass er sie zum ersten Mal in halbwegs vernünftigem Licht sah. Sie hatte Dreck und Blut im Gesicht. Schatten verbargen ihre Augen. Aber er konnte sehen, dass sie eine schöne Frau war.

Ihre Schönheit war nicht streng oder einschüchternd. Es lag eine gewisse Wärme darin. Sanft und anziehend.

»Ich dachte, du wolltest vielleicht eine Karte rausnehmen und sie … äh … aufklappen.«

»Ach so.« Sie blickte an sich herab. »Man kann eigentlich nichts sehen.«

Neal warf einen Blick in ihre Richtung. Sie hatte das lange weite Hemd zugezogen und zwischen ihre Beine geklemmt. Es bildete ein Dreieck, das ihre Scham verbarg, aber die Schenkel kaum bedeckte.

»Wenn es dir unangenehm ist …«

»Mir macht es nichts aus.« Neal sah wieder auf die Straße.

»Tja, es gibt wohl nicht viel, das du von mir noch nicht gesehen hast.«

Da war es dunkel, dachte er, sprach es aber nicht aus.

»Schon in Ordnung«, sagte er. »Was hat der Typ eigentlich mit deinen Klamotten gemacht?«

»Nichts. Ich hatte keine an.«

»Als er dich geschnappt hat?«

»Genau. Ich war in meinem Pool.«

»Ah.«

»Eigentlich kam ich gerade aus dem Pool, als er mich gepackt hat. Ich war auf dem Weg zum Sprungbrett. Früher war ich Turmspringerin. Das bin ich wohl nach wie vor. Ich meine, ich springe immer noch oft, aber nur zum Spaß.«

»Hast du an Wettkämpfen teilgenommen?«

»Allerdings. Damals, vor Urzeiten. Jedenfalls muss er sich irgendwo in der Nähe des Pools versteckt haben. Ich hab ihn nicht mal kommen gehört. Ich bin zum Brett gegangen, und ganz plötzlich hat er mich von hinten um den Hals gepackt. Ich glaub, es war so ein Griff, bei dem die Blutzufuhr abgeschnitten wird, sodass man ohnmächtig wird.«

»Und du bist in seinem Lieferwagen wieder aufgewacht?«

»Ja.«

»Du hast ihn vorher noch nie gesehen?«

»Ich glaub nicht. Aber wer weiß, was sich unter dem Gestrüpp aus Haar und Bart verbirgt.«

»Bist du sicher, dass es nicht dein Ex war?«

»Vince? Nein. Auf keinen Fall.«

»Ich überlege nur, ob du ein zufälliges Opfer warst oder ob es einen anderen Grund gab.«

»Ich nehme an, ein zufälliges Opfer. Vermutlich war er einer dieser Irren, von denen man manchmal hört. Leute, die sich daran aufgeilen, andere zu quälen und umzubringen.« Sie sah Neal an und strich mit den Händen ein paarmal über ihre Oberschenkel, als wollte sie ihre Gänsehaut vertreiben. »Er hat mich übrigens nicht vergewaltigt. Falls du dich das gefragt hast. Sonst wäre ich wohl nicht so munter … Warum zum Teufel bin ich überhaupt so munter? Es ist ja nicht so, dass ich völlig ungeschoren davongekommen wäre.«

»Vielleicht bist du einfach nur glücklich, am Leben zu sein.«

»Irgendwas in der Art. Wer weiß? Ich bin glimpflich davongekommen, das ist sicher. Dank dir. Mein Gott, wenn du nicht mit deiner treuen Pistole gekommen wärst …« Sie schüttelte den Kopf und strich sich erneut über die Beine. »Dann wäre ich wahrscheinlich immer noch an den Baum gebunden. Und würde um Gnade flehen.«

»Ich bin nur froh, dass es so ausgegangen ist.«

»Dann sind wir schon zwei, Neal. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin.« Sie lachte leise. »Hast du vorher schon mal jemanden gerettet?«

»Nein. Wohl kaum.«

»Was für eine Belohnung hältst du für angemessen, wenn man jemanden aus … so einer Situation rettet?«

Neal errötete. Doch er war sich sicher, dass Elise es nicht sehen konnte. »Ich will keine Belohnung«, sagte er.

»Ob du sie willst oder nicht, du wirst sie bekommen.«

Er blickte sie an. Sie lächelte.

»Ich nehme kein Geld von dir«, beharrte er.

»Warum nicht? Bist du reich?«

»Ich bin Aushilfslehrer an der Highschool.«

»Und?«

»Und was?«, fragte er.

»Was noch? Du bist Aushilfslehrer und wohnst in Los Angeles. Also versuchst du, ins Filmgeschäft einzusteigen. Aber nicht als Schauspieler. Das passt nicht zu dir. Drehbuchautor?«

Er schüttelte überrascht den Kopf. »Stimmt.«

»Und Krimis sind dein Spezialgebiet?«

»Du musst übernatürliche Fähigkeiten haben.«

»Ich bin nur aufmerksam«, sagte sie.

»Und was machst du?«

»Wenn ich nicht von Psychopathen entführt werde?«

»Genau.«

»Meistens lass ich mich treiben. Hattest du schon Erfolg mit deinen Drehbüchern?«

»Nicht der Rede wert.«

»Und du bist Aushilfslehrer. Bist du sicher, dass du das Geld ablehnen solltest?«

»Ich nehme kein Geld dafür, dass ich dich gerettet habe. Auf keinen Fall. Niemals.«

»Okay«, sagte sie.

»Gut«, sagte er.

»Das ist es auch nicht, was ich dir heute Nacht geben möchte.«

»Gut, denn ich würde es nicht nehmen.«

»Ich werde dir etwas viel Wertvolleres als Geld geben.«

»Und was soll das sein?«

»Das wirst du schon sehen.«

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