Kill for Fun - Richard Laymon - E-Book

Kill for Fun E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

12 gnadenlose Geschichten des Kultautors. Wie böse Deine Fantasie auch sein mag – die von Richard Laymon ist schlimmer! Inhalt: Triage Der Greifer Herman Eine gute Zigarre kann man rauchen Ich bin kein Krimineller Oscars Vorsprechen Die gute Tat Wunschknochen Das Aufräumkommando Graces Rettung Die Turmspringerin Der Pelzmantel Dean Koontz: 'Laymon treibt es immer auf die Spitze … Keiner schreibt wie er, und seine Bücher bereiten immer wieder großes Lesevergnügen.' Stephen King: 'Wer sich Laymon entgehen lässt, verpasst einen Hochgenuss.'

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EPUB
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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Aus dem Englischen von Doris Hummel

Impressum

© dieser Ausgabe 2014 by Festa Verlag, Leipzig

Literarische Agentur: Lennart Sane Agency AB

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Ann Laymon.

Lektorat: Alexander Rösch

Titelbild: iStockphoto.com

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-266-5

www.Festa-Verlag.de

TRIAGE

1

Fast Feierabend. Die letzte Stunde zog sich immer endlos in die Länge, besonders freitags.

Sharon sah auf die Uhr, die über der Bürotür hing.

Noch zehn Minuten. Zehn lange, lange Minuten. Dann endlich Freiheit. Wochenende.

Wäre Mr. Hammond nicht da gewesen, was öfter vorkam, hätten sich die anderen schon längst verzogen. Aber man ging natürlich nicht früher nach Hause, wenn der Chef es mitbekam.

Sharon wäre ohnehin nicht früher gegangen. Sie wurde für einen vollen Arbeitstag bezahlt, also arbeitete sie auch den vollen Tag. Im Gegensatz zu Susie, Kim und Leslie, die sich in Abwesenheit von Mr. Hammond längst verdrückt hätten.

Sharon mochte es am liebsten, wenn sie das Büro für sich allein hatte.

Susie, Kim und Leslie fand sie zwar nicht total unmöglich, hielt sie jedoch für ziemlich typische Angestellte: kompetent, aber nicht sonderlich ehrgeizig; in der Regel freundlich, wenn sie nicht gerade spitze Bemerkungen machten; ständig am Jammern über alle möglichen Kleinigkeiten und hauptsächlich mit ihren Haaren und Nägeln beschäftigt.

Mr. Hammond, der sich mit einer Mandantin in sein Büro zurückgezogen hatte, konnte nicht sehen, dass Susie lavendelfarbenen Lack auf ihre Nägel auftrug, während die letzten Minuten vor Feierabend verstrichen. Oder dass Leslie ihren Lippenstift in einem Klappspiegel kontrollierte. Oder dass Kim am Telefon plauderte, vermutlich mit einem ihrer diversen Freunde.

Sie machen diesen Job schon viel länger als ich, dachte Sharon.

Bevor ich’s überhaupt mitbekomme, fange ich wahrscheinlich selbst an, mir fünf Zentimeter lange Nägel wachsen zu lassen und …

Niemals.

Gott, ich würde mich lieber umbringen, als mein ganzes Leben mit einem Job wie diesem zu verschwenden.

Nein, auf keinen Fall.

Wie auch immer, diese Gefahr bestand nicht.

Sie blickte erneut auf die Uhr. Acht Minuten vor fünf.

Während sie über das langsame Verstreichen der Zeit schmunzelte, kehrte das unangenehme Gefühl im Magen zurück. Sodbrennen. Die Folge des heutigen Mittagessens in Simon’s Deli. Tolle Reuben-Sandwiches mit einer üppigen Portion Pastrami und Sauerkraut und einem riesigen Haufen geschmolzenem Schweizer Käse zwischen zwei Scheiben getoastetem Roggenbrot. Der totale Hit.

Ein Besuch im Simon’s bedeutete zwar immer eine lange Fahrt durch die mittägliche Rushhour und Sodbrennen am Nachmittag, aber es fiel Sharon trotzdem furchtbar schwer, der Versuchung zu widerstehen. Sie fuhr mindestens zweimal die Woche hin. Und bekam die Quittung dafür.

Sie blickte erneut auf die Uhr. Sechs Minuten vor fünf.

Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug …

Sie zog eine Seitenschublade ihres Schreibtischs auf und entnahm ihr eine Rolle Kautabletten. Nachdem sie einen Teil der Verpackung abgeschält hatte, drückte sie die erste Tablette mit dem Daumennagel heraus. Sie warf sich die rosa Pille in den Mund und begann zu kauen.

Ihr Telefon klingelte. In der Spätnachmittagsstille des Büros ließ das unerwartete Geräusch sie zusammenzucken. Sie schluckte die Tablette hinunter, lehnte sich über ihren Schreibtisch und angelte nach dem Mobilteil des Telefons. »Anwaltskanzlei J. P. Hammond and Sons, Sharon am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich krieg dich.«

Die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung klang brutal und gemein. Unter der Bluse breitete sich eine Gänsehaut auf ihrem Rücken aus. Ihre Brüste kribbelten in den Körbchen ihres BHs und ihre Nippel wurden steif.

»Wie bitte?«

»Ich krieg dich, Sharon.«

»Wer ist da?«

»Ich krieg dich JETZT.«

Totenstille. Er hatte aufgelegt.

Sharon knallte das Telefon auf die Ladestation und zog ihre Hand zurück.

Kim, die den Hörer noch immer ans Ohr presste, drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl herum und schaute Sharon stirnrunzelnd an. »Was hast du für ’n Problem?«

»Dieser Anruf …«

»Ich hab hier selber gerade ’n Gespräch, Schätzchen. Kannst du vielleicht ’n bisschen leiser sein?«

»Tut mir leid.«

Die Eingangstür des Büros schwang auf und ein Mann betrat den Raum.

Er?

Der Kerl musste aus dem Flur angerufen haben, wahrscheinlich mit seinem Handy.

Er hielt allerdings kein Handy in der Hand.

Beide Hände waren mit einem Gewehr beschäftigt. Einer Waffe mit kurzem schwarzem Lauf und Pistolengriff.

Susie, deren Schreibtisch direkt neben der Tür stand, begrüßte Besucher für gewöhnlich mit einem »Was kann ich für Sie tun?«, üblicherweise gefolgt von: »Bitte nehmen Sie Platz.« Diesmal sagte sie jedoch kein Wort und ließ ihren Nagellack fallen. Das Fläschchen prallte auf die Schreibtischplatte und rollte davon.

»Ich bin hier, um Sharon zu besuchen«, erklärte der Mann.

Dieselbe Stimme, die sie gerade am Telefon gehört hatte.

Susie nickte, drehte sich um und zeigte in den hinteren Teil des Büros. Direkt auf Sharon. »Das ist sie.«

»Danke.« Der Mann schoss Susie seitlich in den Kopf. Als die Waffe zuckte, dröhnte der Knall in Sharons Ohren. Susies Kopf sah aus, als habe ihn jemand mit einem Baseballschläger zertrümmert, allerdings war ein Teil davon explodiert und versprühte eine rote Fontäne.

Susie rutschte von ihrem Stuhl, während der Mann eine neue Kugel in die Kammer seines Gewehrs gleiten ließ und den Lauf in Leslies Richtung schwenkte.

Sharon warf sich hinter ihren Schreibtisch. Ihre Knie knallten auf den harten Holzboden.

Eine weitere Explosion erschütterte das Büro. Dann hörte sie nichts mehr, außer dem Klingeln in ihren Ohren.

Sie reagierte anders als erwartet. Keineswegs starr vor Schreck. Sie fragte sich auch nicht, wer dieser Mann sein mochte oder warum er ins Büro hineingeplatzt war, um Menschen zu erschießen. Sie akzeptierte es als Tatsache. Als grauenvolle Tatsache. Als ob ohne Vorwarnung ein Lastwagen frontal auf sie zuraste.

Sie zuckte zusammen, als erneut ein Knall durch das Büro schallte.

Dann folgten zwei weitere schnelle Schüsse.

Scheiße!

Während sie hinter dem Tischbein kauerte, wurde ihr bewusst, dass sie auf ihre Handtasche starrte. Sie griff danach und spähte hinein: Geldbeutel, Lippenstift, Tampons, Marlboros, Haarbürste, Taschentücher, Notizblock, Aspirin, noch mehr Kautabletten gegen Sodbrennen, Kugelschreiber und ein Streichholzbriefchen von Simon’s Deli.

KRAWUMM!

Sie nahm heraus, was sie brauchte.

Mit seltsam ruhigen Händen klappte sie das Streichholzbriefchen von Simon’s Deli auf und riss ein Streichholz ab. Es brannte beim ersten Versuch. Sie hielt das Feuer an den Notizblock und die Flammen wellten die Seiten.

Sie ließ den brennenden Block in den Mülleimer fallen.

Er war halb voll mit zusammengeknülltem Papier.

Als Rauch aus dem Mülleimer aufstieg, packte Sharon ihn mit beiden Händen. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wo der Mann inzwischen sein mochte, sprang sie auf.

Er stand ein paar Meter entfernt, gleich links neben ihrem Schreibtisch, und hielt den Kopf gesenkt. Seine Hände waren damit beschäftigt, leuchtend rote Patronen in sein Gewehr zu laden. Er blickte auf.

Sharon schleuderte ihm den brennenden Mülleimer ins Gesicht und stürmte nach rechts.

Der Mann taumelte rückwärts und riss beide Arme in die Höhe.

Während Sharon noch um ihren Schreibtisch herumrannte, versuchte er, sich vor den brennenden Papierknäueln zu schützen, die ihm entgegenflogen.

Sharon stürzte in Richtung Bürotür.

Sie sah die Leichen auf dem Boden. Susie. Kim. Leslie. Per Kopfschuss getötet. Leblos in Blutpfützen liegend.

Ganz rechts blieb Mr. Hammonds Tür weiterhin geschlossen.

Hat er sich mit seiner Mandantin da drin verschanzt?

Sharon wollte über Susie hinwegspringen, aber ihr Schuh landete in einem Blutfleck, so rutschig wie Glatteis. Ihr Bein wurde nach oben gewirbelt. Sie stieß einen Schrei aus und wedelte mit den Armen, kippte nach hinten und schlug hart auf. Ihre rechte Pobacke knallte seitlich gegen Susies Kopf. Die linke hing weiterhin in der Luft. Sharon kippte zur Seite.

Landete im Blut.

Sie blieb auf dem Bauch liegen und hob den Kopf. Der Killer verfolgte sie nicht. Noch nicht. Er stand vor ihrem Schreibtisch, von kleinen Feuern umgeben, und bemühte sich, das brennende Hemd vom Körper zu bekommen.

Sharon krabbelte über den blutnassen Fußboden, rappelte sich auf, wirbelte herum und taumelte zur Tür, riss sie auf. Im Umsehen bemerkte sie, wie der Killer sein Hemd wegschleuderte.

Das war’s. Jetzt kommt er.

Bevor sie weglief, bekam sie als Letztes mit, wie sich der Killer bückte, um sein Gewehr aufzuheben.

2

Sharon stand im leeren Flur. Sie zog den Kopf ein und rannte mit langen, schnellen Schritten und schwingenden Armen auf das NOTAUSGANG-Schild am Ende des Gangs zu.

Die Fahrstühle befanden sich in der anderen Richtung, aber sie wusste es besser, als ihr Glück damit zu versuchen. Zu weit weg. Außerdem standen die Chancen, dass eine der Kabinen rechtzeitig auf diesem Stockwerk anhielt, ziemlich schlecht.

Sie musste so schnell wie möglich aus dem Flur abhauen.

Das schaffe ich nie.

Durch ihren verschwommenen Blick schien das NOTAUSGANG-Schild immer größer zu werden. Ihre Beine bewegten sich darauf zu, eins nach dem anderen. Ihre Oberschenkel steckten in Hosenbeinen, die noch vor wenigen Sekunden strahlend weiß gewesen waren. Weiß und trocken. Nun waren sie tiefrot, durchnässt und klebrig.

Vor ihrem geistigen Auge sah Sharon den hemdlosen Killer, wie er hinter ihr aus dem Büro der Anwaltskanzlei Hammond and Sons torkelte, sein Gewehr in ihre Richtung schwenkte und den Abzug durchdrückte. Der Knall hörte sich in ihrem Kopf an wie echt. Ihr Rücken platzte auf, Bluse, Hautstücke und Blut flogen in Fetzen und Spritzern durch die Luft, zumindest in ihrer Fantasie. Sharon malte sich aus, wie sie von der Wucht der Kugel nach vorne geschleudert und von den Füßen gerissen wurde. Hart auf den Boden knallte.

Warum tut er das? Ich kenne ihn ja noch nicht mal!

Sharon rannte, so schnell sie konnte, bog in vollem Lauf ab, schob die tief sitzende Metallstange mit der Hüfte nach unten, um die Verriegelung zu öffnen, und stieß die Tür zum Treppenhaus mit der Schulter auf. Auf der anderen Seite hielt sie sich reaktionsschnell am Geländer fest und rettete sich so vor einem Sturz.

Sie spähte über ihre Schulter. Die Tür hatte sich bereits wieder geschlossen und verstellte ihr den Blick in den Flur.

Ob er wohl kommt?, fragte sie sich.

Da kannst du sicher sein.

Sie hetzte die Treppe hinunter, nahm in schnellem Tempo eine Stufe nach der anderen und hielt ihre Hand dabei immer dicht am Geländer, für den Fall, dass sie ins Stolpern geriet. Die Holzstufen knackten und knarrten unter jedem ihrer Schritte.

Sharon wünschte sich, dass sie nicht so viel Lärm machten, aber es spielte vermutlich ohnehin keine Rolle.

Er weiß, wohin ich gelaufen bin.

Während sie über die Treppe floh, erlebte sie eine Art Déjà-vu. Sie hatte in einem Film oder einer Fernsehserie mal eine Frau in derselben Situation erlebt. Oder vielmehr in Dutzenden. Und sie hatte ähnliche Szenen in Romanen gelesen.

Die cleveren Mädchen versuchten oft, den Bösen auszutricksen, indem sie die Treppe nach oben statt nach unten liefen.

Dafür ist es ein bisschen zu spät.

Ich hätte das sowieso nicht gemacht, dachte sie.

Halt dich nicht mit irgendwelchen cleveren Tricks auf, wenn dein Leben auf dem Spiel steht.

Sharon wurde plötzlich bewusst, dass sie auf den Stufen über ihr niemanden hörte. Übertönten ihre eigenen Schritte die des Verfolgers?

Sie wagte es nicht, anzuhalten, um ihre Theorie auf die Probe zu stellen.

Er könnte den Fahrstuhl genommen haben und unten auf mich warten.

Vielleicht sollte sie doch einen Trick versuchen – den Trick, das Treppenhaus vor dem Erdgeschoss zu verlassen.

Sie hatte ihre Flucht im vierten Stock begonnen, den dritten und zweiten bereits hinter sich gelassen und hastete nun dem Durchgang zum ersten Stock entgegen.

Sie blieb stehen.

Kein Geräusch, niemand, der donnernd die Stufen herunterstapfte.

Er kommt nicht. Nicht hier entlang.

Es sei denn, er war sehr leise.

Leise zu sein brachte ihm jedoch nichts. Er musste Sharon einholen und erschießen. Je schneller, desto besser.

Er ist nicht im Treppenhaus, vermutete sie. Dann hat er wahrscheinlich wirklich vor, mich im Erdgeschoss abzufangen.

Sie drehte sich um und stieg keuchend zu der Tür hinauf, auf der eine 2 prangte, um sie zu öffnen.

Der Korridor der zweiten Etage sah genauso aus wie in der vierten.

Außer, dass da oben nun wohl blutige Fußspuren auf dem Boden prangten und rot verschmierte Flecken am Notausgang …

Blut.

Sharon ließ die Tür los. Während sie langsam zufiel, starrte sie nach unten. Sie hatte mit ihrer rechten Hand einen Blutfleck an der Metallstange hinterlassen. Außerdem musste sie mit dem Knie dagegengestoßen sein, denn da gab es noch einen rot verschmierten Fleck.

Ein paar Tropfen verteilten sich um ihre Füße auf dem Boden.

Ich lege eine Spur für ihn!

Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie sich darauf verlassen hatte, ein Versteck zu finden. Ein leeres Büro, einen Wandschrank, eine Toilette … abzutauchen und darauf zu warten, dass der Killer die Suche nach ihr aufgab. Darauf zu warten, dass Polizei oder Feuerwehr eintraf.

Er wird einfach dem Blut folgen.

Aber wenn er das Blut nicht mehr sieht …

Zitternd knöpfte sie ihre Bluse auf, streifte sie ab und ließ sie fallen. Sie kickte ihre Schuhe von den Füßen. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, Gürtel, Knopf oder Reißverschluss ihrer Hose zu öffnen, sondern riss sie einfach an ihren Beinen hinunter, stieg heraus und streifte die Socken ab.

Nur noch mit BH und Slip bekleidet, ging sie in die Hocke und fand ein blutfreies Stück Stoff an ihrem Hosenbein, direkt unterhalb des rechten Knies. Sie wischte sich die Hände daran ab. Es färbte sich ebenfalls rot.

Sie stand auf und wich von dem blutigen Kleiderhaufen zurück, drehte sich um und huschte leise, aber zügig über die Stufen in den dritten Stock zurück. Vor dem Durchgang blieb sie stehen und kontrollierte ihre Hände. Sie zitterten furchtbar, waren verschwitzt und noch immer ein wenig blutverschmiert. Durch ihren Schweiß musste sich das restliche Blut, das noch an den Händen geklebt hatte, nach dem Abwischen am Hosenbein wieder verflüssigt haben. Sie schob die Arme hinter den Rücken und wischte beide Hände an der Rückseite ihres Slips ab. Der glatte Nylonstoff fühlte sich jetzt feucht und klebrig an.

Sie untersuchte erneut ihre Hände. Viel besser.

Vorsichtig zog sie die Tür auf, lehnte sich zur Seite und lugte durch den Spalt.

Ein weiterer langer, leerer Korridor.

Sie ließ die Tür weit aufschwingen, ging hindurch und klammerte sich an der Eisenstange fest, während die Tür langsam ins Schloss fiel. Den Blick weiter auf das Treppenhaus gerichtet, ging sie ein paar Schritte rückwärts. Nachdem sie keinerlei verräterische Blutspuren bemerkte, wandte sie sich um und lief den Flur hinunter.

Abgesehen von ihrem Atem und ihrem pochenden Herzen konnte sie nicht das geringste Geräusch hören.

Wird mich jemand hören, wenn ich schreie?

Vielleicht er.

Sie eilte zur ersten Tür. Auf dem Plastikschild stand DR. DENNIS K. EDGEWOOD, ZAHNARZT.

Ein Zahnarzt hatte wahrscheinlich nur wenige Angestellte: eine Empfangsdame, eine Zahnarzthelferin …

Sharon streckte die Hand aus, griff nach dem Türknauf und versuchte, ihn zu drehen.

Er bewegte sich nicht.

Abgeschlossen?

Sie probierte es noch einmal, ließ den Knauf dann jedoch los und klopfte vorsichtig an. Das massive Holz dämpfte das Geräusch ihrer Knöchel. Sie klopfte fester.

Komm schon! Wo bist du?

Niemand antwortete. Niemand öffnete die Tür.

Natürlich nicht, überlegte sich Sharon. Fünf Uhr an einem Freitagnachmittag. Die Hälfte der Büros im Gebäude war inzwischen wahrscheinlich geschlossen.

Sie hastete auf die nächste Tür zu.

Vielleicht habe ich hier ja mehr Glück!

Aber sie hatte noch nicht einmal die Hälfte der Distanz überwunden, als das Bing eines ankommenden Fahrstuhls, leise und musikalisch, die Stille wie ein Kreischen durchschnitt.

3

Nur wenige Meter trennten sie von der nächsten Tür auf der anderen Seite des Gangs. Sharon stürzte darauf zu.

HERREN.

Was, wenn sie verschlossen ist?

Dann bin ich geliefert.

Aber es war die einzige Tür, die sie erreichen konnte, bevor jemand – womöglich der Killer – aus dem Fahrstuhl kam.

Sie warf sich mit der Schulter dagegen. Das Holz gab krachend nach. Sharon stürzte in den Raum. Sie wirbelte herum und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür und zwang der Schließautomatik ihren Willen auf.

Kann er das hören?, fragte sie sich.

Wahrscheinlich nicht. Die Fahrstühle befanden sich in einiger Entfernung und verursachten selbst einiges an Lärm.

Endlich fiel die Toilettentür leise ins Schloss und schmiegte sich in ihren Rahmen.

Sharon wich einen Schritt zurück. Ihr Oberarm hatte einen feuchten Fleck auf dem Holz hinterlassen, kaum zu erkennen. Hoffentlich trocknete er schnell wieder.

Sie drehte sich um.

Genau wie in den Toiletten im vierten Stock hingen auch hier zwei Spender für Papierhandtücher an der Wand neben der Tür. Außerdem gab es zwei Waschbecken, über denen Spiegel angebracht waren, vier Urinale und drei Toilettenkabinen.

Zwei normale Kabinen und eine extragroße für Behinderte.

Keine der Türen war ganz geschlossen, aber sie standen jeweils nur einen Spaltbreit offen. Sharon gab jeder von ihnen einen sanften Schubs, als sie daran vorbeiging. Sie schwangen so weit auf, dass sie hineinschauen konnte.

Leere Kabinen.

In der letzten hatte jemand vergessen, abzuziehen.

Sharon eilte zur ersten Kabine zurück und ging hinein. Sie stellte sich seitlich hin, wobei ihr Rücken fast die Trennwand aus Metall berührte, und zog die Tür zu.

Zog sie zu, schloss aber nicht ab.

Wie die anderen blieb sie einen Spaltbreit offen.

Die Tür schwang langsam wieder auf, als Sharon auf den Toilettensitz kletterte. Sie hockte sich mit dem Gesicht in Richtung vordere Kabinenwand hin, die Füße auseinander, die Knie leicht durchgedrückt, stützte die Hände auf ihren Oberschenkeln ab. Warum fand man eigentlich so gut wie nie öffentliche Toiletten, die neugierige Blicke vollständig verhinderten?

Man wollte doch Privatsphäre, wenn man sie benutzte, oder etwa nicht? Woran lag es also, dass die Kabinenwände nie ganz bis nach oben oder unten reichten?

Sie wollen nicht, dass man zu viel Privatsphäre hat, überlegte sie. Sonst wurden sie von den Leuten ständig für Quickies missbraucht.

Es schien ihr aber verdammt noch mal ziemlich unpraktisch zu sein, wenn man versuchte, sich vor einem Killer zu verstecken.

Anstatt darüber zu schmunzeln, verzog Sharon das Gesicht.

Sie konnte ihre eigenartige Position nur noch mit Mühe halten. Sie war schon vor ihrer kleinen Klettereinlage völlig erschöpft gewesen. Nun schmerzten und zitterten die Muskeln in den Beinen und am Hintern. Ihr Rücken tat weh. Der Schweiß schien aus jeder Pore zu triefen, in Hunderten von Tropfen, die über die Haut rannen. Selbst ihre Fußsohlen fühlten sich verschwitzt an, und der Toilettensitz wurde zunehmend rutschiger.

Sie fragte sich, wie lange sie es wohl aushielt.

Solange es dauert.

Hier wird er mich nie finden.

Nie?

Was, wenn ich doch eine Spur hinterlassen habe? Ich habe nicht das ganze Blut abwischen können. Und wahrscheinlich sind auch ein paar Schweißtropfen irgendwo zu finden.

Nein, hier würde ihr nichts passieren.

Vielleicht.

Sharon bezweifelte allerdings, dass der Kerl sein ganzes Leben damit verschwenden wollte, das Gebäude nach ihr abzusuchen. Wahrscheinlich hatte er sich längst verzogen. Niemand bei klarem Verstand trieb sich länger als nötig an einem Tatort herum, nachdem er drei Leute mit einem Gewehr erschossen hatte.

Und überhaupt, er hatte sich Verbrennungen zugezogen.

Nur schwache Verbrennungen zwar, aber sie dürften auf jeden Fall wehtun.

Ich frage mich, ob das Haus abbrennt.

Eher unwahrscheinlich.

Sie hatte keinen Feueralarm gehört. Und soweit sie wusste, hatte sich auch die Sprinkleranlage nicht eingeschaltet. Das Feuer war ja auch nicht besonders groß gewesen. Höchstens ein Dutzend Papierkugeln und das Hemd dieses Mistkerls auf dem Parkettboden.

Sie ging davon aus, dass er die Flammen noch ausgetreten hatte. Das erklärte auch, warum er sich nicht zwei Sekunden, nachdem sie aus dem Büro gestürmt war, an ihre Fersen geheftet hatte.

Aber die Rauchmelder und Sprinkler hätten ausgelöst werden müssen. Das passierte schon bei leichtem Qualm.

Was wusste sie schon? Vermutlich funktionierten die verfluchten Teile nicht mal.

Was, wenn nichts passiert ist? Wenn kein Alarm ausgelöst wurde? Keine Sprinkler. Was, wenn niemand die Schüsse gemeldet hat?

Vielleicht hatte sie niemand mitbekommen.

Wer wusste schon, ob man den Lärm auch noch einige Büros weiter hörte? Wer wusste schon, wie viele Mitarbeiter zum Zeitpunkt des Angriffs bereits nach Hause gegangen waren?

Aber J. P. Hammond musste die Schüsse gehört haben. Genau wie seine Mandantin, Mrs. Hayes. Sie hatten sich direkt im Nebenzimmer aufgehalten.

Möglicherweise ebenfalls von dem Kerl erschossen. Dann konnten sie auch nicht die Polizei rufen.

Wenn kein Alarm ausgelöst wurde …

Wenn niemand die Polizei gerufen hat …

Wenn der Killer den Nerv hat, am Tatort zu bleiben …

Dann kann er sich bei der Suche nach mir alle Zeit der Welt lassen.

Sharon fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, aber sie schien den Schweiß dadurch nur großflächiger zu verteilen.

Was für eine Scheiße!

Na ja, besser, als tot zu sein.

Die Schmerzen und das Zittern wurden immer schlimmer. Nach einer Weile dachte sie: Warum tu ich mir das an? Hier ist keiner. Ich muss mich hier nicht ducken, bis ich total fertig bin.

Sie richtete sich auf und drehte sich nach links. Mit beiden Füßen auf einer Hälfte des Toilettensitzes streckte sie die Arme aus und klammerte sich an der oberen Kante der Kabinenabtrennung fest. Sie streckte sich und seufzte.

Aufrecht zu stehen kam ihr bei Weitem nicht so anstrengend vor wie die unnatürliche Kauerhaltung vorher.

Obwohl ihr noch immer der Schweiß über den Körper rann, schienen ihre Schmerzen langsam nachzulassen und das Zittern abzuklingen.

Ich hätte von Anfang an so stehen sollen, stellte sie fest.

Aber ich bin natürlich erledigt, wenn jemand reinkommt.

Aus ihrer neuen Position bot sich über die Trennwand der Kabine hinweg eine gute Aussicht … eine gute Aussicht auf die Tür des Raums.

Duck dich einfach blitzschnell, wenn sie aufgeht.

Aber wer sagte ihr, dass dann der Killer hereinkam?

Wen würde sie stattdessen gerne sehen?

Einen Polizisten.

Ja, eine schöne Vorstellung. Aber nicht irgendeinen Polizisten, sondern einen von diesen SWAT-Jungs, der aussah, als sei er bereit zum Gefecht.

Nette Idee.

Was, wenn sie sich keinen Polizisten wünschen durfte? Wer war dann ihre zweite Wahl?

Matt Scudder?

Geht nicht, der ist Polizist.

Geht wohl, der ist jetzt Detektiv und lediglich Ex-Cop.

Durfte man sich denn eine fiktive Figur wünschen?

Also, wenn Romane zählten, dann wollte sie lieber Bond. James Bond, aber keinen von diesen Filmtypen. Nicht mal Connery. So gut der ihr auch gefiel, er war halt nicht Bond. Es gab nur einen wahren Bond: den aus den Büchern.

Ja!

Das wäre schon was!

Die Toilettentür schwang auf.

4

Sharon zuckte zusammen und duckte sich, zog ihre Hände rasch von der Kante der Kabinenwand weg und stützte sich mit den Knöcheln direkt unterhalb der Kante ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Das leise Schlurfen von Schritten näherte sich.

Ich bin in der ersten Kabine. Wenn er scheißen muss …

In einiger Entfernung verstummten die Schritte. Ein Mann räusperte sich. Ein Reißverschluss ratschte. Ein starker, steter Strahl prasselte auf die Emaille des Urinals. Er begann, leise eine Melodie zu summen.

Die Melodie klang vertraut.

I am a lineman for the counteeee …

Jeder, der beim Pinkeln Glen Campbell summt, muss einer von den guten Jungs sein, oder?

Sharon richtete sich auf, balancierte auf den Zehenspitzen, drehte ihren Kopf und betrachtete den Mann am Urinal.

Definitiv nicht der Killer.

Zumindest von hinten sah er wie ein ganz gewöhnlicher Kerl aus: gut 1,80 Meter groß, nur leicht übergewichtig, etwa 40 oder 45 Jahre alt und kurz geschnittene hellbraune Haare, oben ein wenig schütter. Er trug Business-Kleidung – Kurzarmhemd, graue Anzughose und schwarze Lederschuhe. Sein Hemd hing hinten ein Stück aus der Hose. Musste ein langer Tag gewesen sein.

Allem Anschein nach ein langer Tag, bei dem die letzte Pinkelpause schon eine Weile zurücklag.

Sharon wartete nicht, bis er fertig war. Sie ging in die Knie, und die Kabine schien um sie herum zu wachsen. Sie sah an sich hinunter.

Der gute Mann kriegt auf jeden Fall was zu sehen.

Obwohl beide Körbchen des BHs von dem Blut, das durch die Bluse gesickert sein musste, ganz fleckig wirkten, machte das nasse Material, das an ihren Brüsten klebte, einen fast transparenten Eindruck. Sie konnte eine Sommersprosse am linken Busen erkennen.

Meine Güte.

Sie trug gerne aufreizende Dessous, aber sie hatte auch nicht mit so einer Situation gerechnet.

Hoffen wir, dass der Typ ein Gentleman ist.

Sie hörte, wie er seinen Reißverschluss hochzog.

Sharon verlagerte ihr Gleichgewicht und stellte ihren rechten Fuß auf die andere Seite des Toilettensitzes. Als sie einen Arm ausstreckte und die Kabinentür vollständig zuzog, hörte sie, wie das Wasser der Spülung im Urinal rauschte. Es verstummte schnell wieder.

Schritte.

»Entschuldigen Sie, Sir.«

Die Schritte stoppten.

Sharon hielt die Tür mit der Hand geschlossen und sprang auf den Boden.

»Ich bin hier drüben, in der Kabine«, erklärte sie.

»A-ha.«

»Könnten Sie mir helfen?«

»Kein Toilettenpapier?«

Die Frage überraschte sie so, dass sie tatsächlich nachsah. »Nein, es ist noch genügend da.«

»Und was gibt’s dann für ein Problem?« Er klang freundlich, aber ein wenig misstrauisch.

»Ich komme raus.«

»Okay.«

Sie zog die Tür zu sich heran. Obwohl Sharon versuchte, ihr auszuweichen, bekam der Mann zu sehen, wie sie ihre linke Brust streifte.

Errötend murmelte sie: »Verdammtes Ding.«

Der Mann richtete seinen Blick auf ihr Gesicht. »Wer immer diese Kabinen baut, hat offensichtlich eine sadistische Ader.«

Sie lächelte.

Das Gesicht des Manns, den sie beim genaueren Hinsehen eher auf 50 schätzte, wirkte rau und leicht vertrocknet. Mit einem Stirnrunzeln begann er, sein Hemd aufzuknöpfen.

Ein leiser Angstschauer huschte über Sharons Körper. »Was machen Sie da?«

»Ich ziehe mein Hemd aus.«

»Hey, nein …«

»Keine Angst!« Unter dem Hemd trug er ein T-Shirt, auf dem Homer Simpson ein ›D’ohhh!‹ entfuhr. Als er es abgestreift hatte, reichte er es ihr. »Sie können’s besser gebrauchen als ich.«

»Oh.« Sie griff danach, zögerte dann jedoch. »Nein, aber trotzdem danke. Ich sau es nur ein.«

Er musterte sie von oben bis unten. Sharon errötete noch stärker. »Jetzt ziehen Sie es schon an.«

»Ich bin ein bisschen blutig.« Hatte er das etwa nicht bemerkt? »Ich möchte es nicht ruinieren.«

»Ach, das macht nichts.«

»Na gut …« Sie nahm das Hemd doch noch entgegen. »Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen.«

»Kein Problem.«

»Ich bin Sharon«, stellte sie sich vor und steckte ihre Arme durch die kurzen Ärmel. »Ich arbeite oben. Im vierten Stock. Bei J. P. Hammond and Sons.«

»Ich bin Hal Clark.«

Sie hielt das Hemd mit der linken Hand zu und streckte ihm die rechte entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Clark.«

Sie schüttelten sich die Hand. Seine fühlte sich groß und kräftig und warm an.

»Hal«, korrigierte er. »Einfach Hal.«

Sharon hielt seine Hand fest und erwiderte: »Hal, vor einer Weile ist jemand zu uns ins Büro gekommen und hat alle erschossen.«

Sein Griff wurde etwas fester. Obwohl sein Gesichtsausdruck sich nicht im Geringsten veränderte, bildete Sharon sich ein, dass abrupt die Farbe aus seinem Gesicht verschwand.

»Er hatte ein Gewehr«, fügte sie hinzu. Sie gab Hals Hand frei und begann, das Hemd zuzuknöpfen. »Er hat mich angerufen. Er sagte nur: ›Ich krieg dich, Sharon.‹ Ich weiß noch nicht mal, wer er ist, aber er hat mich angerufen und das gesagt. Er kannte meinen Namen. Und ich hatte kaum aufgelegt, da ist er zur Tür reingeplatzt und hat angefangen, alle abzuknallen. Susie, Kim, Leslie. Soweit ich sehen konnte, hat er allen einen Kopfschuss verpasst. Ich glaube, auf manche hat er auch mehr als einmal gefeuert. Um sie endgültig zu erledigen. Ich entkam nur, weil er nachladen musste.«

»Und wann ist das passiert?«, fragte Hal.

»Um kurz vor fünf.«

»Muss komplett an mir vorbeigegangen sein, fürchte ich.«

»Es ist passiert.«

»Das bezweifle ich ja gar nicht. Was ich meine, ist, dass ich runter auf die Straße musste, um die Parkuhr zu füttern.«

»Und Sie sind gerade erst mit dem Fahrstuhl wieder raufgekommen?«

Er nickte. »Vor etwa zehn Minuten.«

»Ich hatte Angst, dass der Typ den Lift benutzt. Darum hab ich mich hier versteckt.«

Hal schaute auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es Viertel nach.« Er sah Sharon stirnrunzelnd an. »Und Sie sind ganz sicher, dass Ihre Kolleginnen tot sind?«

»Es kann gar nicht anders sein – ein Kopfschuss mit so einer großen Waffe. Ich weiß allerdings nicht, was mit Mr. Hammond ist. Er hat mit einer Mandantin in seinem Büro gesessen. Keine Ahnung, ob er die beiden auch erwischt hat. Ich bin nicht dageblieben, um es rauszufinden. Als ich es in den Korridor geschafft hatte, bin ich einfach nur um mein Leben gerannt. Ich bin davon ausgegangen, dass der Typ sich direkt an meine Fersen heftet.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Als Erstes«, schlug Hal vor, »sollten wir Sie jetzt in meinem Büro in Sicherheit bringen. Ich seh mal nach, ob die Luft rein ist.« Er zog die Tür auf, trat in den Korridor hinaus und schaute sich nach beiden Seiten um. »Okay.«

Mit den Fingerspitzen hielt Sharon die Tür auf, die langsam zufiel. Sie zog sie zu sich heran und verließ die Toilette. Abgesehen von Hal schien sich niemand im Flur aufzuhalten.

»Hier entlang«, flüsterte er.

Ein paar Schritte hinter Hal huschte Sharon auf das andere Ende des Korridors zu, vorbei an der Damentoilette, einigen unbeschilderten Türen, mehreren Büros und den Aufzügen.

Hal schielte zu den Kabinen und schenkte Sharon einen fragenden Blick.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Er könnte unten auf mich lauern.«

Hinter den Fahrstühlen blieb Hal vor einer Tür auf der rechten Seite stehen. Er schloss auf, trat ein und hielt sie für Sharon auf.

Ein Schild verkündete: BERATUNGSDIENST CLARK.

Beratungsdienst? In welchem Bereich denn?

Sie betrat das Büro.

Hal schloss die Tür und eilte durch ein Vorzimmer. Sharon fühlte sich an das Wartezimmer ihres Zahnarztes erinnert, mit dem Unterschied, dass hier niemand wartete.

»Kommen Sie rein«, rief Hal.

Sie folgte ihm durch das Wartezimmer und einen weiteren Durchgang in ein angenehmes, gemütlich eingerichtetes Büro. Hal winkte in Richtung eines Sessels, der vor dem Schreibtisch stand.

Sie setzte sich.

Er schob sich an ihr vorbei. »Ich möchte, dass Sie hier warten. Ich schließe die Tür beim Rausgehen ab. Öffnen Sie nicht, für niemanden.«

»Was haben Sie denn vor?«

»Ich gehe rauf in den vierten Stock und schau mich um.« Er öffnete eine Schublade und fasste hinein. Seine Hand kam mit einer großen, dunklen Pistole wieder zum Vorschein. Obwohl Sharon keine Expertin auf diesem Gebiet war, hatte sie eine Menge Krimis im Fernsehen gesehen. Sie glaubte, dass es sich um eine Halbautomatik, Modell 1911, Kaliber 45 handelte. Die Waffe, die Mike Hammer häufig benutzte.

Hal hielt die Pistole in der einen Hand und griff mit der anderen erneut in die Schublade. Sie kehrte mit zwei komplett geladenen Magazinen zurück. Er ließ sie in eine seiner vorderen Hosentaschen rutschen.

»Sind Sie Polizist oder so?«, wollte Sharon wissen.

Er schüttelte den Kopf.

»Privatdetektiv?«

»Ich erledige alle möglichen eher ungewöhnlichen Jobs. Je ungewöhnlicher der Job, desto besser gefällt er mir.« Er bedachte sie mit einem jungenhaften Lächeln.

»Hören Sie auf!«

Er kippte die Pistole und ließ eine Kugel in die Kammer rutschen.

»Finden Sie nicht, dass wir lieber die Polizei rufen sollten?«

»Ich rufe nie die Polizei.«

»Oh, großartig.«

»Wir hatten letzten Monat hier im Haus ein bisschen Ärger. Hätte nicht länger als zwei Minuten gedauert, das zu regeln, aber irgend so ein Schlappschwanz von Anwalt hat die Bullen gerufen. Sie haben das ganze Gebäude räumen lassen und wir konnten vier Stunden lang nicht zurück. Hat mich einen ganzen Tag gekostet.« Er schenkte ihr erneut ein Lächeln. Dann lief er um den Schreibtisch herum. »Sie bleiben schön hier sitzen. Ich kümmere mich um die Sache.«

»Auf keinen Fall.«

Hal blieb in der Tür stehen und musterte sie über seine Schulter hinweg mit einem Stirnrunzeln.

Sharon stand auf. »Ich bleibe nicht allein in diesem Raum.«

»Sie sind hier absolut sicher.«

»Oh, na klar. Es sei denn, der Mistkerl bläst Ihnen den Schädel weg. Dann schnappt er sich Ihre Brieftasche und Ihre Schlüssel, und selbst wenn Sie es ihm mit einer Visitenkarte nicht zu leicht machen, steht Ihr Name auf der Bürotür … und wahrscheinlich auch im Telefonverzeichnis beim Pförtner. Und ehe ich mich versehe, kommt er reingestürmt und sucht nach mir.«

»Ich schätze, das liegt im Bereich des Möglichen. Im entfernten Bereich. Aber wenn Sie wirklich mitkommen wollen …« Er zuckte mit den Schultern. »Wie käme ich dazu, Sie davon abzuhalten?«

»Danke.«

5

Hal zog die Bürotür zu. Er blickte Sharon in die Augen und sagte: »Sie wollen doch nicht wirklich zurück da rauf, oder?«

»Lieber das, als allein hier unten zu bleiben.«

»Ich bringe Sie mit dem Fahrstuhl ins Foyer und sorge dafür, dass Sie sicher aus dem Gebäude kommen.«

»Und dann gehen Sie allein da hoch?«

»Jap.«

»Wenn Sie da hingehen, dann geh ich auch.«

»Warum?«

»Sie tun das nur meinetwegen.«

»Ich tu das, weil ich’s tun will.«

»Sie wüssten doch überhaupt nichts von der Sache, wenn ich Ihnen nichts erzählt hätte.«

»Ich schätze, das stimmt. Aber das ist kein Grund für Sie, Ihr Leben zu riskieren.«

Sie nahm an, dass er recht hatte. Trotzdem wollte sie ihn begleiten.

Vielleicht will ich ja nur bei ihm sein.

Sie kannte Hal zwar erst seit ein paar Minuten, aber sie mochte ihn. Er machte einen freundlichen, anständigen und mutigen Eindruck. Alt genug, um ihr Vater zu sein, nahm sie an, aber sie fragte sich, ob das so eine große Rolle spielte.

Ich geh nur mit dem Kerl nach oben, ich will ihn ja nicht heiraten.

»Wie dem auch sei«, meinte sie, »der Killer ist wahrscheinlich längst weg.«

»Höchstwahrscheinlich«, stimmte Hal zu. »Aber in so einer Situation kann man nie wissen. Bleiben Sie einfach hinter mir und halten Sie die Augen offen.«

Sharon folgte ihm.

Er ging mit schnellen Schritten und hielt die Pistole ganz dicht neben seinem rechten Oberschenkel in Schussposition.

Im Korridor war alles still, bis auf das Klacken von Hals Schuhen und das Tappen von Sharons nackten Füßen. Trotzdem hatte sie Angst, dass sich jemand in ihrem Rücken an sie heranschlich. Alle paar Schritte wandte sie sich halb um und schaute zurück.

Der Flur hinter ihnen blieb leer.

»Sieht aus, als sei außer uns niemand hier«, meinte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

»Wahrscheinlich sind inzwischen wirklich schon fast alle weg. Freitagnachmittag. Hinzu kommt, dass das Gebäude nur zu 50 Prozent ausgelastet ist.«

»Was?«

»Etwa die Hälfte der Büros steht leer. Wussten Sie das nicht?«

»Ich wusste, dass das Haus ziemlich still wirkt.«

Sie kamen an der Herrentoilette vorbei.

»Tja, nun wissen Sie, woran das liegt.«

»Warum gibt es denn so wenige Mieter?«

»Alt. Keine vernünftigen Parkmöglichkeiten. Legionärskrankheit.«

»Was?«

»Legionärskrankheit. Hat zwölf, 15 Leute das Leben gekostet.«

»Hier?«

»Sie haben es sich in diesem Gebäude eingefangen. Ich weiß nicht besonders viel darüber. Das muss vor langer Zeit passiert sein, aber soweit ich weiß, hat sich der Erreger über die Klimaanlage verbreitet.«

»Mein Gott.«

»Ich schätze, das ist der Hauptgrund dafür, dass die Miete so günstig ist.«

»Ist es denn sicher?«

Hal drehte seinen Kopf und schenkte ihr ein seltsames Lächeln.

»Sie wissen schon, was ich meine«, sagte sie.

»Ich bin seit acht Jahren in meinem Büro. Niemand ist seitdem an der Legionärskrankheit gestorben.«

»Ich hab noch nie was darüber gehört.«

»Sie behalten es gerne für sich. Nicht, weil immer noch eine echte Gefahr besteht, aber es schreckt die Interessenten trotzdem ab.« Sie erreichten das Ende des Korridors. »Warten Sie kurz.«

Sharon blieb ein paar Meter hinter ihm stehen. Hal öffnete die Tür zum Treppenhaus.

Er hielt sie mit der Schulter weit auf, stand still da und lauschte. Dann blickte er suchend nach oben und unten. Schließlich nickte er ihr zu und sie folgte ihm.

Die Luft im Treppenhaus fühlte sich wärmer an als die Luft im Korridor.

Hal zog vorsichtig die Tür ins Schloss und legte einen Zeigefinger an die Lippen.

Sharon nickte.

Langsam und ganz leise stiegen sie die Stufen hinauf. Während Sharons Angst wuchs, wurde ihr bewusst, dass sie sich in den letzten paar Minuten ganz gut gefühlt hatte. Nun atmete sie jedoch wieder angestrengter. Ihr Herz klopfte wie wild. Ihre Muskeln zitterten und Schweiß rann über ihren Körper. Ein Gefühl von Schwere und Übelkeit brodelte in ihrem Magen und eine eisige Kälte schnürte ihr die Eingeweide zusammen.

Ich muss den Verstand verloren haben.

Nein, sprach sie sich Mut zu. Es ist alles in Ordnung. Niemand bleibt so lange am Tatort, nachdem er ein Büro voller Leute niedergemäht hat. Die Polizei war bestimmt schon auf dem Weg.

Selbst, wenn nicht – und selbst, falls der Killer noch nicht die Flucht angetreten hatte: Hal hatte seine 45er, sodass das Überraschungsmoment auf ihrer Seite lag.

Zumindest hoffte Sharon das.

Ich muss den Verstand verloren haben.

Während sie auf den Treppenabsatz zwischen dem dritten und vierten Stockwerk trat, stellte sie sich vor, wie sie ein »Ich muss weg« flüsterte. Vor ihrem geistigen Auge drehte sie sich um, lief die Stufen mit schnellen Schritten hinunter, rannte immer weiter, weiter Richtung Erdgeschoss und fühlte sich schuldig. Tut mir leid, Hal, ich bin und bleib eben doch ein Feigling. Sie eilte den sich windenden Pfad hinunter und als sie eine weitere Kurve nahm – vermutlich der letzte Treppenabsatz vor dem Ausgang –, bemerkte sie, dass er zu ihr hinaufgrinste. Ohne Hemd und völlig verkohlt, präsentierte er ihr ein breites Lächeln mit strahlend weißen Zähnen, zielte mit dem Gewehr auf ihr Gesicht und sagte: »Hab dir doch gesagt, dass ich dich kriege, Sharon.«

Hal blickte zu ihr hinunter und runzelte die Augenbrauen.

Ihr wurde bewusst, dass sie auf dem Absatz stehen geblieben war. Sie zwang sich zu einem Lächeln und stieg weiter hinauf.

Hal war nur noch wenige Schritte vom Ende der Treppe entfernt und wartete, dass sie ihn einholte. Als sie auf der Stufe unter ihm stoppte, flüsterte er: »Wollen Sie wieder nach unten gehen?«

»Ich bleibe bei Ihnen.«

»Das müssen Sie nicht.«

»Ich weiß.«

»Wollen Sie hier warten? Ich schaue mich kurz um und komme gleich wieder.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mehr Mumm als Verstand«, bemerkte er.

»Das sagt der Richtige.«

Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Er streckte die linke Hand aus und drückte sanft ihre Schulter. Dann drehte er sich um und nahm die letzten Stufen.

Ein paar Sekunden lang verharrte er, um an der Tür zu lauschen. Dann blickte er Sharon in die Augen und schüttelte den Kopf.

Was soll das nun wieder bedeuten?

Er öffnete die Tür ein paar Zentimeter weit, lugte in den Gang und stieß sie dann weiter auf. Da Hal ihr die Sicht versperrte, konnte Sharon zunächst nicht viel erkennen. Erst, als er die Tür vollständig öffnete.

Niemand im Korridor.

Keine Polizei. Keine Feuerwehr. Niemand.

Alles sah genauso aus wie immer: fensterlos, lediglich von den in die Decke eingelassenen Lampen erhellt, sämtliche Türen geschlossen.

Sharon vermeinte jedoch, einen leichten Rauchgeruch in der Luft wahrzunehmen.

»Es hat niemand die Polizei alarmiert«, flüsterte sie.

»Offenbar nicht. Welches Büro ist es?«

»Das erste auf der rechten Seite.«

Hal nickte. »Okay, Sie bleiben hier. Der Typ ist wahrscheinlich längst weg, aber ich will mich erst in Ruhe umsehen. Halten Sie sich bereit, loszurennen, falls was schiefgeht.«

»Okay.«

6

Sharon wartete mit dem Rücken zum Notausgang. Sie konnte die Kälte des Metallgriffs durch den Saum des Hemds spüren, das Hal ihr geliehen hatte.

Sie musste sich nur kurz nach hinten lehnen, um den Griff nach unten zu drücken, wenn sie die Tür für eine Flucht öffnen wollte.

Es wird schon nichts passieren!, versicherte sie sich selbst, während Hal den Eingang zu J. P. Hammond and Sons ansteuerte.

Trotzdem fühlte sie sich furchtbar angespannt und zittrig.

Warum muss er das tun? Warum ruft er nicht einfach die Polizei, damit sie sich um die Sache kümmert?

Typisch Macho.

Sie hielt den Atem an und beobachtete, wie Hal vor der Bürotür stehen blieb. Er brachte die Pistole auf Gesichtshöhe, als wolle er jederzeit darauf vorbereitet sein, zu zielen und abzudrücken. Dann streckte er die linke Hand nach dem Türknauf aus und drehte daran.

Er versetzte dem Holz einen Tritt und stellte sich seitlich neben den Rahmen.

Alles blieb ruhig.

Er duckte sich, drehte sich zur Seite und lugte ins Büro. Für einen langen Moment bewegte er sich nicht. Schaute sich nur um und lauschte. Dann trat er ein und verschwand aus ihrem Blickfeld.

Sharon rechnete damit, dass jeden Augenblick Gewehrschüsse die Ruhe stören würden.

Aber die Stille hielt an.

Sharon huschte von ihrem Platz am Notausgang auf die Bürotür zu. Ihre nackten Füße quietschten auf dem Parkett. Unterwegs fielen ihr überall auf dem Boden Blutflecken und rote Spritzer auf. Außerdem sah sie bereits verblasste Schuhabdrücke. Sie schlich daran vorbei.

Sind die alle von mir?, wunderte sie sich.

Zumindest schienen sie alle von denselben Schuhen zu stammen.

Bedeutet das, dass er das Büro überhaupt noch nicht verlassen hat?

Es konnte auch bedeuten, dass er nicht in Blut getreten war …

Was sie als Nächstes zu Gesicht bekam, verstand sie zuerst nicht. Die Büromöbel standen nicht dort, wo sie hingehörten. Sie schienen alle auf eine Seite des Raums geschoben worden zu sein. Dafür gab es in der Mitte eine große freie Fläche.

Direkt vor ihr, im Zentrum, waren sie alle aufgetürmt.

Ein Haufen blutiger Leichen.

Blutiger, nackter Leichen.

Genau danach sah es aus, aber Sharon konnte kaum fassen, dass sich ihr wirklich ein solcher Anblick bot.

»Hal?«, fragte sie mit so leiser Stimme, dass sie sich selbst kaum hörte. Sie nahm einen zweiten Anlauf. »Hal?« Schon besser.

»Ja.« Seine Stimme schien irgendwo aus dem Büro zu kommen, aber sie konnte ihn nicht sehen. »Sie sollten lieber nicht reinkommen«, warnte er.

»Haben Sie ihn gefunden?«

»Nein. Sieht aus, als sei er abgehauen.« Hal schob sich von links in ihr Blickfeld. Die Pistole baumelte an seiner Seite. Sein Arm wirkte zu erschöpft, um sie noch länger hochzuhalten. Er drehte den Kopf in ihre Richtung. »Sie sollten doch warten, erinnern Sie sich?«

»Ja.«

»Sie hätten das hier nicht sehen sollen.«

»Ist schon okay.«

Aber es war nicht okay. Sogar meilenweit davon entfernt.

Was hat er diesen Menschen nur angetan?

Während Sharon tiefer ins Büro vordrang, starrte sie die Leichen an. Von dem Anblick wurde ihr übel, aber sie fand ihn zugleich faszinierend. So viele nackte Beine, Hintern, Hände, Brüste … blutige Haut, unversehrte, blasse Haut, Haare, klaffende Wunden. Ein Gesicht hier. Eine Vagina dort. Und ein schlaffer Penis.

Er hat Mr. Hammond erwischt.

Sie hatte schon vermutet, dass der riesige Haufen nicht nur aus Susie, Leslie und Kim bestand. Mr. Hammond lag ganz offensichtlich auch dort. Und wahrscheinlich auch seine Mandantin, diese Mrs. Hayes.

Ein kleiner Fehler, dachte Sharon, und ich läge jetzt auch mit den anderen auf dem Haufen da draußen.

Wieso hatte ich so viel Glück?

Sie schaute Hal an. Er fing ihren Blick ein und schüttelte den Kopf. »Jetzt wissen wir, warum er Ihnen nicht gefolgt ist«, meinte er.

»Zu sehr damit beschäftigt, mit den Leichen zu spielen. Warum tut jemand so etwas?«

»Weil er ein krankes Arschloch ist.«

»Aber er kam her, um mich zu kriegen.«

»So klang es zumindest.«

»Er hätte mich kriegen können, wenn er sich bemüht hätte.«

»Ich schätze, Sie standen wohl doch nicht ganz oben auf seiner Prioritätenliste.«

Sie stöhnte.

Dann stöhnte jemand anders. Jemand in dem Leichenhaufen.

»Mein Gott!«, platzte Sharon heraus.

Sie rannte hinüber und Hal stopfte seine Pistole hinten in den Hosenbund. Er ging in die Hocke, griff nach einem blutigen Handgelenk, zog daran und sagte: »Es wird alles gut.«

Es schien offensichtlich, dass für die Frau, an deren Handgelenk er zerrte, nicht alles gut werden würde. Ihr fehlte das halbe Gesicht. Wahrscheinlich handelte es sich um Leslie. Ihre großen, blutigen Brüste schaukelten, als es Hal gelang, einen Teil ihres Körpers aus dem Haufen herauszuziehen.

Die Überlebende wimmerte leise.

»Ich hab Sie fast«, verkündete Hal.

Er schob eine weitere Leiche beiseite. Eine kurzhaarige blonde Frau, deren Gesicht nach unten zeigte. Die Mandantin, Mrs. Hayes?

Mit einer Hand packte Hal ihren Oberarm, mit der anderen umklammerte er ihre Hüfte. Er stemmte sich gegen ihren Körper und wälzte sie herum. Als sie auf ihn zukippte, hob der blutüberströmte, nackte Mann unter ihr sein Gewehr und schoss Hal mitten ins Gesicht.

7

Der Anblick brachte Sharon aus dem Gleichgewicht, nahm ihr den Atem, brachte ihren Verstand durcheinander. Sie hatte das Gefühl, sich in mehrere Sharons aufzuteilen. Eine von ihnen dachte: Das ist gerade nicht wirklich passiert; eine andere wollte vor Entsetzen laut losschreien; die Dritte merkte an: Ich wusste, dass das passieren wird; und noch eine andere dachte: Ich muss hier weg!

All diese Sharons sahen zu, wie sich der blutgetränkte, nackte Mann zwischen den Toten aufsetzte und lächelte. Seine Zähne und Augen leuchteten weiß in seinem blutroten Gesicht.

»Spring rein«, sagte er. »Das Wasser ist herrlich.«

Sie wirbelte herum und rannte davon.

Vielleicht verfehlt er mich ja. Klar, sicher.

Hinter sich hörte sie das Klack-klack des Gewehrs, als der Killer eine frische Kugel in die Kammer gleiten ließ.

Das war’s!

Sie hechtete in Richtung Boden.

BUMM!

Sharon knallte aufs Parkett und ihre Rippen prallten auf die Türschwelle. Die nackten Oberschenkel verursachten ein Quietschen auf dem harten Holzboden, als sie weiterrutschte.

Da sie annahm, dass der Schuss sie verfehlt hatte – obwohl sie sich nicht ganz sicher sein konnte –, krabbelte sie in Richtung Korridor.

Meine Instinkte funktionieren.

Sie rechnete jeden Augenblick mit einem weiteren Schuss und wartete nicht einmal, bis ihre Beine die Türschwelle überwunden hatten, sondern warf sich blitzschnell zur Seite. Der Holzrahmen schürfte ihre rechte Pobacke auf. Sie schob ihre Beine in den Flur hinaus, robbte wie eine Irre weiter und schaute zurück. Als sie sah, dass der Raum hinter ihr lag, rappelte sie sich auf und spurtete los.

Sie rannte, so schnell sie konnte, und ließ die Arme schwingen, während ihre Füße auf den Boden klatschten.

Aber sie rannte in die falsche Richtung.

Ihr ging auf, dass sie wie vorher nach links hätte laufen müssen, aber sie hatte das Ganze nicht geplant, sondern nur reagiert, nur versucht, verdammt noch mal da rauszukommen, also war sie vom Treppenhaus weggelaufen.

In Gegenrichtung des nächstgelegenen Fluchtwegs, auf den Abgang zu, der dreimal so weit entfernt lag.

Die Fahrstühle fielen ihr ein.

Sie schaute zurück.

Er hatte das Büro noch nicht verlassen.

Versuch es!

Sie machte kehrt und hielt auf die andere Seite des Korridors zu. Beide Fahrstuhltüren waren verschlossen. Die Plastikknöpfe an der Metalltafel zwischen ihnen leuchteten nicht.

Sharon streckte einen Zeigefinger aus, warf sich nach vorne und drückte auf den unteren Knopf. Die Beleuchtung ging an. Anschließend drückte sie auf den oberen.

Hoch, runter, wen interessiert’s? Raus hier, nur das zählt.

Sie taumelte rückwärts, drehte sich um und spähte in den Korridor.

Vielleicht verfolgt er mich ja diesmal auch wieder nicht. Vielleicht will er noch bleiben und spielen …

Er sprang mit einem Satz aus dem Büro, landete auf beiden Füßen und schlitterte seitwärts auf sie zu.

Mit Schwung.

Tom Cruise. Lockere Geschäfte.

Außer einer weißen Unterhose trug der Mann nichts als Blut am Leib. Er hielt sein Gewehr wie eine Gitarre.

In Sharons Kopf drehte sich alles, und sie wandte den Blick von ihm ab. Beide Fahrstuhlknöpfe leuchteten.

Beide Aufzugtüren waren nach wie vor geschlossen.

Der Killer, noch immer mit einem Lächeln im Gesicht, tanzte auf sie zu. Er schien es nicht im Geringsten eilig zu haben.

Er weiß, dass er mich bekommt.

Sie schielte zum Notausgang. Zu weit weg. Wahrscheinlich von Anfang an, aber vielleicht hätte sie es auch geschafft. Nun hatte sie keine Chance mehr. Nur der Aufzug konnte sie noch retten.