Nacht - Richard Laymon - E-Book

Nacht E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

Ein buchgewordener Albtraum

Als Alice den Job als Babysitterin annimmt, ahnt sie nicht, dass ihr die schrecklichste Nacht ihres Lebens bevorsteht. Denn kaum ist sie allein im Haus, wird sie von einem geheimnisvollen Anrufer terrorisiert. Als der dann auch noch versucht, in das Haus einzudringen, weiß sie sich nicht anders zu helfen, als ihn mit einem alten Säbel niederzustrecken. Doch damit beginnen die Probleme erst: Denn der Eindringling ist überhaupt nicht der Anrufer – und er wird auch nicht die letzte Leiche in dieser Nacht bleiben…

Nach den Bestsellern „Die Insel“ und „Rache“ zementiert Richard Laymon mit „Nacht“ endgültig seinen Status als Horror-Kultautor.

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Seitenzahl: 618

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DAS BUCH

Es scheint eine ganz normale Nacht im Leben der jungen Alice zu werden: Sie passt auf das Haus zweier reicher Freunde auf, das am Rande eines Waldes liegt. Doch plötzlich taucht ein Fremder am Pool auf, schwimmt, sieht sie im Haus und flieht, als das Telefon klingelt. Am Apparat ist ein anderer Unbekannter, der einfach nicht verstehen will, dass Alice keine Hilfe braucht. Er kommt trotzdem vorbei – und Alice streckt ihn mit einem Säbel nieder, da sie in ihm den unheimlichen Fremden vom Pool vermutet. Ein fataler Irrtum! Und die Nacht hat gerade erst begonnen …

Ein furioser Psycho-Thriller: Nach den Bestsellern Die Insel und Das Spiel zementiert Richard Laymon mit Nacht endgültig seinen Status als Kultautor.

»Ich habe jedes von Laymons Büchern verschlungen – schlaflos, atemlos!«

Jack Ketchum

»Richard Laymon geht an die Grenzen – und darüber hinaus!«

Publisher’s Weekly

DER AUTOR

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Von Richard Laymon sind im Heyne Verlag außerdem die Romane Rache, Die Insel sowie Das Spiel erschienen.

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORWidmungEinleitung1 - Es fängt an2 - Der Fremde3 - Im Wasser4 - Das Telefon5 - Exitus6 - Entdeckungen7 - Aufräumarbeiten8 - Tony kehrt heim9 - Das übersehene Detail10 - Der dritte Schlüssel11 - Apartment zwölf12 - Alles über Tony …13 - Anruf bei einem Toten14 - Fahrt durch die Nacht15 - In den Wald16 - Judy muss sterben17 - Verschwunden18 - Schreie in der Nacht19 - Die Suche20 - Vor der Entscheidung21 - Eine tolle Frau22 - Probleme23 - Überlebende24 - Überredungskünste25 - Der Weg aus dem Wald26 - Trautes Heim, Glück allein27 - Plitsch-Platsch28 - Yvonne29 - Murphy30 - MDS31 - Das Angebot32 - Mein Druckmittel33 - Ans Eingemachte34 - Die Kunst der Verführung35 - Gefesselt36 - Der Eindringling37 - Identitätskrise38 - Ein Ausrutscher39 - Ciao, Bello40 - Letzte Pflichten41 - Zurück nach Hause42 - Die Einladung43 - Zuhause ist es doch am schönsten44 - Elroy, der Standhafte45 - Wo ist Elroy?46 - Ein Wiedersehen47 - Happy Hour48 - Körperwärme49 - Dornröschen50 - Erwachen51 - Teamarbeit52 - Kopfball53 - Flucht54 - Verdrahtung55 - In den Wald56 - Steve legt mich flach57 - Suche im Dunklen58 - Die Aufnahmeprüfung59 - Und gewonnen hat …EpilogCopyright

Dieses Buch widme ich meinem Freund Tom Corey dem Fotografen, Musiker, Hausbau-Guru und Konstrukteur von Alices Garage, sowie Donna, René und Amina, seinen drei Lieblingsfrauen.

Einleitung

Hallo.

Ich bin Alice.

Das hier ist das erste Buch, das ich schreibe. Ich habe keine Ahnung, wie man mit so was anfängt, aber es kann wohl nicht schaden, wenn ich mich erst mal vorstelle:

Angenehm, Alice.

Alice ist natürlich nicht mein richtiger Name. Ich wäre ja bescheuert, wenn ich meinen richtigen Namen in einem Buch nennen würde, in dem ich über meine intimsten Abenteuer, Leidenschaften und Verbrechen berichte.

Alice ist also nur ein Pseudonym.

Ein Pseudonym für eine Unbekannte, alias Alice.

Namen sind übrigens das Einzige in meinem Buch, was nicht der Wahrheit entspricht. Und das gilt für sämtliche Namen, denn alle, über die ich schreibe, sind – oder waren – real existierende Personen, mit denen ich keinen Ärger kriegen will.

Natürlich trifft das auch auf die Orte zu, von denen ich in diesem Buch berichten werde. Ich möchte nicht, dass sich jemand anhand der Ortsangaben zusammenreimt, von wem oder was hier wirklich die Rede ist.

Alles andere außer den Personen- und Ortsnamen ist die reine Wahrheit. Ehrenwort. Wozu sollte ich mir sonst die Mühe machen, meine Geschichte zu Papier zu bringen? Wenn man bei so etwas nicht die Wahrheit sagt, kann man es gleich bleiben lassen.

Natürlich stellt sich jetzt die Frage, warum ich mich überhaupt hinsetze und dieses Buch schreibe.

Für Geld bestimmt nicht. Klar, ich würde schon Geld dafür nehmen, aber wie soll man etwas mit einem Buch verdienen, wenn man niemandem seinen richtigen Namen sagen kann? Auf wen soll das Verlagshaus denn die Schecks ausstellen? Dieses Problem habe ich noch nicht gelöst, aber vielleicht fällt mir ja noch was ein.

Es geht mir auch nicht um den Ruhm. Wäre ja auch bescheuert, wenn man berühmt würde, und niemand wüsste, wer man ist.

Trotzdem will ich die Geschichte aufschreiben.

Sie ist zwar erst vor sechs Monaten passiert, aber ich habe schon jetzt das Gefühl, dass sie immer tiefer in der Vergangenheit versinkt. Wenn ich mich nicht beeile und sie so aufschreibe, wie sie passiert ist, wird sie sich in meiner Erinnerung noch mehr verändern als ohnehin schon.

Ich brauche Aufzeichnungen darüber, wie sich das alles wirklich zugetragen hat. In allen Einzelheiten. Nur so kann ich es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ganz genau nacherleben.

Minutiöse Aufzeichnungen aller Ereignisse sind auch wichtig, falls man mich wirklich einmal vor Gericht stellen sollte. Dann würden sie mir helfen, die Wahrheit zu rekonstruieren und mir dadurch möglicherweise eine Verurteilung ersparen.

Oder auch nicht.

Vielleicht wäre es besser, diese Aufzeichnungen zu verbrennen.

Egal, jetzt fange ich einfach mal an.

1

Es fängt an

Am Anfang dieses Buches habe ich ja schon erwähnt, dass ich Alice heiße (aber nicht wirklich). Letztes Jahr, als sich das alles zugetragen hat, war ich sechsundzwanzig Jahre alt und wohnte in einer hübschen kleinen Wohnung über der Garage im Haus meiner besten Freundin.

Sie heißt Serena.

Serena hat alles, was man sich wünschen kann: Ein großes Haus am Waldrand, einen Ehemann namens Charlie und zwei Kinder: die vierjährige Debbie, die ebenso hübsch ist wie ihre Mutter, und einen einjährigen Jungen mit Namen Jeff.

Manche Leute haben eben richtig Glück.

Damit meine ich Serena, nicht mich.

Eigentlich kommt es ja nur darauf an, dass man die richtigen Gene hat, und das ist bei Serena eindeutig der Fall. Damit will ich sagen, dass sie von Geburt an nicht nur hübsch, sondern auch intelligent ist. Wenn man über diese beiden Eigenschaften verfügt, ist alles andere ein Klacks. Und so hat Serena ganz selbstverständlich einen gut aussehenden, wohlhabenden Ehemann mit einem tollen Haus abbekommen und mit ihm zwei total süße Kinder gekriegt.

Ich hatte mit meinen Genen leider nicht so viel Glück.

Meine Eltern sind Versager. Grundanständige, hart arbeitende Leute, aber Versager. Nicht, dass ich es ihnen zum Vorwurf mache. Sie können nichts dafür, denn ihre Eltern waren auch schon Versager, die ebenfalls nichts dafür konnten. Genauso wenig, wie ich etwas dafür kann, dass ich so bin wie ich bin.

Deshalb will ich mich auch gar nicht beschweren.

Gegen seine Gene ist man nun mal machtlos, man kann nur das Beste aus dem machen, was man in die Wiege gelegt bekommen hat.

Und das habe ich getan.

Weil das hier keine Autobiografie werden soll, will ich Sie nicht mit Einzelheiten aus meiner Jugend langweilen. Was Sie hier zu lesen kriegen, ist eine Geschichte über das, was nach der Ankunft des Fremden hier geschehen ist, und deshalb fange ich auch mit diesem Abend an.

Wie schon gesagt, ich wohnte damals in dieser kleinen Wohnung über Serenas Garage und zahlte auch jeden Monat Miete dafür. Serena tat zwar alles, um mir das auszureden (sie brauchte das Geld wirklich nicht), aber ich wollte es so. Ich hatte zwar gerade keinen Job, aber ich zahlte die Miete lieber aus meinem Ersparten als irgendetwas geschenkt zu bekommen.

Selbst wenn man nicht wie eine Schönheitskönigin aussieht, sollte man doch seine Würde bewahren.

Hoffentlich vermittle ich Ihnen jetzt nicht den Eindruck, dass ich ein trauriger, hässlicher Trampel bin.

Das Schreiben ist vielleicht doch nicht so einfach, wie ich dachte. Besonders dann, wenn man etwas so darstellen will, wie es wirklich ist und seine Leser nicht an der Nase herumführen will.

Tatsache ist, dass ich nicht hässlich bin und es auch nie war. Mein Gesicht reißt die Leute zwar nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin, aber zum Wegschauen bringt es sie nun auch wieder nicht. Manche sagen, ich hätte ein »süßes Gesicht«, und andere meinen, ich wäre »ganz hübsch«. Das Adjektiv »schön« allerdings habe ich in Verbindung mit mir nur sehr selten gehört. Die, die es benutzt haben, waren entweder vor Liebe blind – wie meine Eltern –, oder aber sie wollten mich ins Bett kriegen.

George Gunderson hat mich zum Beispiel »schön« und »echt super« genannt, aber Sie hätten George mal sehen sollen. Ich war vermutlich das einzige Mädchen in seinem traurigen Leben, das nicht laut schreiend vor ihm davongelaufen ist.

Wie dem auch sei, ich bin weder schön noch »echt toll«. Ich habe ein ziemlich gewöhnliches, ganz nett aussehendes Gesicht, aber das war’s dann auch schon. Mein Haar ist von Natur aus braun, aber ich färbe es mir schon seit Langem blond. Meine Augen sind braun. So wie meine Zähne. Hihi. War nur ein Witz. Ich weiß, in einem ernsthaften Buch sollte man so was nicht tun, aber ich habe nun einmal einen ziemlich schrägen Humor. Zumindest sagt man mir das immer wieder.

Dieser Humor und mein Lächeln sind die Eigenschaften, die andere am meisten an mir schätzen. Außerdem sagt man mir nach, ich sei »nett« und »hilfsbereit«. Aber was wissen die schon?

Obwohl mit meinem Gesicht kein Schönheitswettbewerb zu gewinnen ist, ist mein Körper nicht zu verachten. Für eine Frau bin ich ziemlich groß (eins achtundsiebzig), und obwohl ich früher ziemlich pummelig war, habe ich mich in meinem ersten Jahr auf dem College gewaltig zusammengerissen und mir eine tolle Figur antrainiert. Seitdem halte ich mich fit. Im Badeanzug sehe ich verdammt gut aus, und ohne Badeanzug noch viel besser.

Meistens aber halte ich meine Schätze verborgen. Ich mag es nicht, wenn die Männer wissen, was ich zu bieten habe.

Als ich noch mollig war, wollte mich keiner von ihnen ansehen, geschweige denn mit mir gesehen werden, aber seit ich mich in Form gebracht habe, kann ich mich ihrer kaum noch erwehren. So gut wie alle von ihnen waren Volltrottel, die mich nicht richtig kennenlernen und auch keinen Spaß mit mir haben wollten. Alles, was sie interessierte, war mein »Körperbau«.

Manche von diesen Schürzenjägern fanden, ich hätte »ziemlich viel Holz vor der Hütte«.

Ich finde das nicht allzu charmant, aber ich kann mir gut vorstellen, was sie damit meinen.

Im Grunde genommen sind die meisten Männer Nichtsnutze, und ich hatte mit meinen sechsundzwanzig Jahren die Hoffnung, noch einen halbwegs passablen zu finden, so ziemlich aufgegeben.

Aber dann kam die Nacht, in der dieser Fremde hier auftauchte.

Es war eine heiße Julinacht. Serena und Charlie waren mit den Kindern in die Ferien gefahren und wollten erst in einer Woche zurückkommen. Bis dahin hatte ich das ganze Haus für mich allein. Die beiden bestanden geradezu darauf, dass ich während ihrer Abwesenheit im großen Haus wohnte. Sie waren der Meinung, dass dann nicht eingebrochen würde. Vielleicht glaubten sie das tatsächlich, aber ich vermute eher, dass sie mir damit einen Gefallen tun wollten. Sie waren davon überzeugt, dass ich viel lieber in ihrem Haus war als in meiner kleinen Wohnung über der Garage.

Irgendwie hatten sie sogar recht damit. Im großen Haus gab es eine schöne Küche, ein großes Badezimmer mit einer in den Boden eingelassenen Wanne, die ein echter Traum war, und ein Wohnzimmer mit einem riesigen Fernseher. Wenn ich auf Serenas und Charlies Haus aufpasste, kochte ich mir immer wahre Festmähler, lag stundenlang in der Badewanne und sah fern, bis mir die Augen wehtaten.

Im Schlafzimmer gab es ein Doppelbett, dessen Matratze ungefähr dreimal so groß war wie meine, und an den Wänden sowie an den Türen der Einbauschränke hingen große Spiegel. Ein weiterer Spiegel hing über dem Bett an der Decke. Serena erzählte mir, das sei Charlies Idee gewesen. Kann sein, aber Serena gefielen die Spiegel bestimmt auch, denn sonst wären sie nie in ihr Schlafzimmer gekommen. Es war allerdings kein Wunder, dass die beiden ihren Partner – und sich selbst – gerne im Spiegel betrachteten, immerhin sahen sie beide einfach blendend aus.

Als ich das erste Mal allein in Serenas und Charlies Haus war, legte ich mich in ihr Bett und fand, dass ich in all den Spiegeln zwar nicht schlecht, aber irgendwie auch ziemlich allein aussah, während ich mich auf dieser gigantischen Spielwiese von einem Bett räkelte. Unwillkürlich musste ich dabei an Serena und Charlie denken und daran, wie sie sich vielleicht genau an der Stelle, an der ich jetzt lag, schon hundertmal geliebt hatten. Um es kurz zu machen, meine Fantasie ging so dermaßen mit mir durch, dass ich nichts dagegen tun konnte. Die ganze Nacht lang wälzte ich mich auf dieser Matratze herum und glitt von einem heißen Traum in den nächsten. Meine erotischen Fantasien – oder waren es Halluzinationen? – waren so anschaulich, dass sie fast Wirklichkeit hätten sein können.

Als ich am nächsten Morgen schweißgebadet und erschöpft aufwachte, schämte ich mich so sehr, dass ich mir schwor, nie wieder eine Nacht im Bett der beiden zu verbringen. Von da an ging ich jeden Abend zurück in mein Zimmer über der Garage und schlief in meinem eigenen Bett, was auch aus anderen Gründen besser für mich war.

So sehr ich auch Küche, Bad und Fernseher schätzte, irgendwie machte das große Haus mir in der Nacht Angst. Es war viel zu groß, hatte viel zu viele Zimmer und viel zu viele Türen und Fenster, durch die jemand hereinsehen und vielleicht sogar einbrechen konnte.

In meinem kleinen, gemütlichen Reich über der Garage war das anders. Ich hatte nur ein einziges Zimmer mit Kochnische und einer Nasszelle, in der es zwar eine Dusche, aber keine Badewanne gab. Wenn die Tür zur Nasszelle offen war und ich in der Mitte des Raumes stand, hatte ich sämtliche Fenster und Türen im Blick und hätte es außerdem sofort gehört, wenn sich jemand daran zu schaffen gemacht hätte.

Jedes Mal, wenn ich nachts zurück in meine Wohnung kam, überzeugte ich mich davon, dass in meiner Abwesenheit auch wirklich niemand dort eingedrungen war. Eigentlich fühlte ich mich in meine Wohnung immer so sicher wie in Abrahams Schoß.

Das einzige Problem war, dass ich erst einmal in meine Wohnung kommen musste.

In jener heißen Julinacht, in der der Fremde kam, war ich bis nach Mitternacht unten im Haus gewesen. Normalerweise wäre ich schon früher in meine Wohnung gegangen, aber es war der erste Tag von Serenas und Charlies Urlaub, und ich hatte seit ihrer Reise nach San Francisco das Haus nicht mehr für mich allein gehabt. Vor lauter Freude vergaß ich, zu gehen und blieb zu lange dort.

Viel zu lange.

Serena und Charlie haben im Garten ihres Hauses einen wunderschönen Swimmingpool. Weil er direkt am Waldrand liegt und weit und breit kein anderes Haus zu sehen ist, kommt man sich darin vor, als würde man in einem mitten im Wald gelegenen Weiher schwimmen. Trotzdem mied ich den Pool normalerweise wie der Teufel das Weihwasser.

Außer, wenn ich alleine das Haus hütete und niemand da war, der mich sehen konnte.

An dem Tag, an dem diese Geschichte anfing, waren Serena und Charlie erst am frühen Nachmittag losgefahren. In der Einfahrt hatte ich sie alle zum Abschied noch einmal geküsst und ihnen einen schönen Urlaub gewünscht, und dann hatte ich noch eine Weile gewinkt, bis ihr Wagen auf der Straße verschwunden war.

Kaum waren sie fort, rannte ich hinauf in meine Wohnung, zog mich aus und schlüpfte, um meine Freiheit gebührend zu feiern, in meinen nagelneuen Bikini. Dann schnappte ich mir die kleine Tasche, in die ich schon am Vormittag alles gepackt hatte, was ich unten im Haus benötigen würde, und eilte die Treppe wieder hinunter.

Als Erstes mixte ich mir in der Küche eine Bloody Mary, die ich mit hinaus an den Pool nahm.

Dort verbrachte ich dann den ganzen Nachmittag dick mit Sonnenöl eingeschmiert auf einem Liegestuhl und genehmigte mir alle möglichen Drinks, während ich einen Krimi las, vor mich hin sinnierte oder ein Nickerchen hielt. Ab und zu, wenn es mir zu heiß wurde, sprang ich in den Pool und schwamm ein paar Bahnen.

Es war ein herrlicher Nachmittag.

Ich trank zu viel, döste zu viel und bekam zu viel Sonne ab. Aber ich genoss es sehr.

Später briet ich mir ein Steak auf dem Grill, der draußen auf der Terrasse stand, und aß es am Pool. Danach hatte ich genug von der frischen Luft und ging ins Haus, wo ich ausgiebig duschte und mir das Sonnenöl von der Haut wusch. Ich stellte fest, dass ich ganz schön Farbe gekriegt hatte.

Eigentlich mochte ich es, braun zu sein, aber in den Spiegeln im Schlafzimmer sah es doch ein wenig albern aus, weil eben nicht alle Stellen an meinem Körper gebräunt waren. Mir kam es so vor, als trüge ich einen Bikini aus der bleichen Haut einer anderen Frau, die noch nie in ihrem Leben an der Sonne gewesen war.

Nachdem ich mich mit Serenas teurer Feuchtigkeitsmilch eingecremt hatte, zog ich mir Charlies blauen Seidenkimono an und ging ins Wohnzimmer, um fernzusehen. Auf dem riesigen Flachbildschirm sah alles sehr viel besser aus als auf meinem kleinen Fernseher.

Weil ihr Haus zu weit draußen für einen Kabelanschluss lag, hatten sich die beiden eine Satellitenschüssel angeschafft, an der auch die kleine Glotze in meinem Zimmer hing. Ich wusste also, wie man das System bedienen musste.

Man konnte damit so um die hunderttausend verschiedene Programme empfangen.

Ich fand einen Film, der um acht Uhr anfing, und während ich ihn mir ansah, wurde es draußen dunkel, und ich musste vom Sofa aufstehen und die Vorhänge zuziehen. Ich mag es nicht, wenn nachts die Vorhänge offen stehen. Den Gedanken, dass einen von draußen vielleicht jemand anglotzt, während man selbst ihn nicht sehen kann, finde ich ziemlich beunruhigend. Um ehrlich zu sein, jagt mir die Vorstellung einen kalten Schauder über den Rücken.

In dieser Nacht war ich noch nervöser als sonst. Vielleicht kam es daher, dass ich schon länger nicht mehr allein im Haus gewesen war, vielleicht war es aber auch so etwas wie eine Vorahnung.

Ich schaltete ein paar Lampen an, damit es im Wohnzimmer richtig hell wurde.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, nach dem Film ein langes Bad bei Kerzenlicht zu nehmen, aber als es so weit war, überlegte ich es mir anders und blieb im hellen Wohnzimmer, wo ich den Ton des Fernsehers schön laut drehte. Irgendwie hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, durch das dunkle Haus zu gehen oder allein im flackernden Schein der Kerzen in der heißen Badewanne zu liegen.

Ich bekam einen Heißhunger auf Popcorn, aber bei der Aussicht es mir in der am Ende eines langen, dunklen Ganges gelegenen Küche zuzubereiten, nahm er wieder merklich ab. In der Küche gab es ein großes Fenster und eine gläserne Tür, die beide hinaus auf den dunklen Pool blickten, hinter dem finster und unheimlich der Wald lag. Warum nur hatte ich nicht daran gedacht, noch bei Tageslicht in der Küche die Vorhänge zuzuziehen?

Jetzt, wo alle Vorhänge bis auf die im Wohnzimmer offen standen, kam es mir fast so vor, als ob das Haus überhaupt keine Rückwand hätte.

Ich wusste, wovor mir grauste.

Ich bin nämlich schon öfter nachts durch das Haus gegangen, ohne dass die Vorhänge zugezogen gewesen wären. Manchmal machte es mir nichts aus, doch meist bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut, wenn ich an den offenen Fenstern vorbeieilte und wagte es nicht, auch nur einen einzigen Blick nach draußen zu werfen vor lauter Angst, dass dort jemand stehen und mich beobachten könnte.

An diesem Abend war ich besonders ängstlich.

Das Popcorn war es nicht wert, dass ich mich auf dem Weg in die Küche zu Tode erschreckte, und so sah ich mir den nächsten Film eben ohne etwas zu knabbern an.

Er war kurz nach Mitternacht zu Ende.

Das war für meine Verhältnisse ziemlich spät. Normalerweise hatte ich spätestens um elf das Haus verlassen und war hinüber in meine Wohnung über der Garage geeilt.

Trotz der vorgerückten Stunde fühlte ich mich überhaupt nicht müde, was vielleicht an den Nickerchen lag, die ich am Nachmittag im Liegestuhl gemacht hatte.

Warum sollte ich also nicht einfach im Wohnzimmer bleiben und mir noch einen Film anschauen?

Ja, warum nicht? Weil ich dann um halb zwei oder zwei nochmals aus dem Haus musste.

Und das war viel zu spät.

Mein Bikini war immer noch im Schlafzimmer, und ich beschloss, ihn bis zum nächsten Tag dort zu lassen und in Charlies Kimono hinüber zur Garage zu gehen. Ich trug ihn gerne, denn die leichte, glatte Seide fühlte sich auf meiner von der Sonne ein wenig gereizten Haut wunderbar kühl an. Außerdem war es ein angenehmer, wenn auch ein wenig seltsamer Gedanke, dass ihn Charlie vermutlich noch am Morgen angehabt hatte.

Zum Glück lag meine Tasche neben mir auf dem Sofa, sodass ich sie nicht erst irgendwo im Haus suchen musste. Und weil ich alle Türen und Fenster kurz nach Sonnenuntergang geschlossen und sämtliche Lichter ausgemacht hatte, die nicht über Nacht brennen sollten, brauchte ich jetzt auch keinen Rundgang mehr durch das Haus machen.

Serena und Charlie ließen immer eine Lampe im Flur und eine an der Vorderseite des Hauses an, während die Rückseite mit Pool, Terrasse und Garten immer dunkel blieb. Ich weiß nicht, was ihr Grund dafür war, aber ich persönlich hätte es wegen des nahen Waldes genauso gemacht.

Wer konnte schon sagen, was das Licht alles anlocken würde? Irgendwelche wilden Tiere vielleicht, die dann ans Haus kämen und dort herumschnüffelten. Wilde Tiere … oder sonst wen.

2

Der Fremde

Langsam war es bereits nach Mitternacht, und ich war immer noch im Haus von Serena und Charlie!

Wäre ich doch nur schon wieder in meiner sicheren kleinen Wohnung über der Garage gewesen!

Dort musste ich aber erst mal hinkommen.

Der Weg zurück war der Nachteil an diesem Haus. Das war der Preis, den ich zahlen musste. Im Grund genommen kein furchtbar hoher Preis, den ich für den Luxus, bei Serena und Charlie wohnen zu dürfen, immer gerne in Kauf genommen hatte.

Es war schließlich meine eigene Schuld, wenn ich bis Mitternacht drüben im Haus blieb. Ich hätte ja vor Sonnenuntergang in meine Wohnung zurückkehren oder gleich dort bleiben können, dann hätte ich mich mit diesem Problem nicht herumschlagen müssen.

Und nun musste ich zusehen, wie ich klarkam.

Eigentlich dauert es ja nur zwei oder drei Minuten, das Haus zu verlassen, zur Garage hinüberzurennen, die Treppe hochzusteigen, die Tür aufzuschließen und in meine Wohnung zu gehen, und manchmal, wenn ich richtig Angst hatte, schaffte ich es sogar in weniger als einer Minute.

Davor graute es mir zwar, aber wenigstens ging es schnell. Wenn ich mich drückte und die ganze Nacht im Haus blieb, musste ich die Angst stundenlang aushalten und nicht nur ein paar Minuten.

Es war ja eigentlich logisch:

Wenn ich die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Hauses genießen wollte, musste ich nun mal am Schluss des Abends das gruselige Hinüberrennen in mein eigenes Zimmer auf mich neben.

Auf jeden Fall war es Zeit zu gehen. Höchste Zeit.

Ich schaltete also den Fernseher und dann alle Lichter im Wohnzimmer aus. Der hintere Teil des Hauses war jetzt dunkel, abgesehen von etwas bläulichem Mondlicht, das durch die Fenster hereinsickerte. Ich trat an die Glastür und sah hinaus.

Mit der dunklen Wohnung im Rücken und dem Mondschein im Garten fühlte ich mich unsichtbar.

Ich beobachtete eine Weile den Garten. Ich wollte ganz sicher sein, dass niemand da draußen war, bevor ich die Tür aufschloss und in die Nacht hinausging.

Klar, ganz sicher kann man sich nie sein.

Der Vollmond glitzerte wie ein schimmernder Silberstreif auf der Wasseroberfläche des Pools, und der Beton rings um das Becken erinnerte mit seinem matten Grau an schmutzig gewordenen Schnee. Der Rasen hinter dem Pool war genauso dunkel wie das Wasser, nur dass das Mondlicht hier keine silberne Bahn zog, sondern ein wenig trübe auf den taufeuchten Halmen schimmerte.

Hinter dem Rasen begann der Wald. Die Bäume warfen lange schwarze Schatten auf die Wiese. Ihre Wipfel sahen aus, als hätte sie jemand mit Silberlack eingesprüht, aber darunter war der Wald so schwarz, dass man ihn überhaupt nicht sah.

Geschweige denn jemanden, der in seinem Schatten lauerte. Oder lauerte er vielleicht sehr viel näher …?

Im Pool zum Beispiel …

Der Wasserspiegel lag gut dreißig Zentimeter unter dem Rand des Beckens, und am hinteren Ende war der Pool so dunkel, dass man den Kopf eines Menschen, der dort im Wasser stand, nicht sehen würde.

Ein Dutzend – zwei Dutzend! – Köpfe konnten sich theoretisch in diesem Streifen kohlschwarzer Finsternis verbergen … und mich beobachten … und unter dem vorderen Rand des Pools, wo mir die Betonkante die Sicht verstellte, konnten sich sogar noch mehr Leute verstecken.

Aber ein möglicher Angreifer musste nicht unbedingt im Pool lauern. Wenn er trocken bleiben wollte, brauchte er sich nur neben dem Fenster mit dem Rücken an die Hauswand pressen, und ich würde ihn dort erst sehen, wenn ich die Tür öffnete und nach draußen ging. Oder er könnte sich hinter der Hausecke verstecken und sich zwischen Haus und Garage auf mich stürzen.

Wie ich schon sagte: Man kann sich nie sicher sein.

Ich blieb ziemlich lange vor der Glastür stehen und starrte nach draußen. Obwohl ich niemanden sah, konnte ich mich nicht recht überwinden hinauszugehen. Stattdessen überlegte ich mir immer neue Verstecke für jemanden, der da draußen warten und es auf mich abgesehen haben konnte.

Weil ich die Klimaanlage eingeschaltet hatte, beschlug die Glasscheibe von meinem Atem, und ich musste den dünnen Film, immer wieder mit dem Ärmel des Kimonos wegwischen, um klare Sicht zu haben.

Vermutlich denken Sie jetzt, dass ich eine halbe Ewigkeit vor der Tür stand. Und dass ich ein hoffnungsloser Feigling bin.

Es fühlte sich zwar tatsächlich wie eine halbe Ewigkeit an, aber in Wirklichkeit können es nur zehn oder fünfzehn Minuten gewesen sein.

Und obwohl ich wirklich nicht besonders mutig bin, war ich doch schon oft in der Dunkelheit vom Haus hinüber zur Garage gelaufen. Auch spät in der Nacht. Serena und Charlie waren ziemlich häufig verreist, und in den drei Jahren, die ich nun über ihrer Garage wohnte, habe ich schon oft ihr Haus gehütet.

Manchmal sah ich so gut wie überhaupt nicht nach draußen, bevor ich die Tür öffnete. Das war zwar ziemlich selten, aber es kam vor. Meistens überlegte ich fünf oder zehn Minuten, aber ein paarmal hatte ich mich so gefürchtet, dass ich eine ganze Stunde lang nicht gewagt hatte, das Haus zu verlassen.

Aber früher oder später bin ich dann doch irgendwann mal hinübergelaufen.

Also würde ich nicht sagen, dass ich ein hoffnungsloser Feigling bin.

Ich bin ein hoffnungsvoller Feigling.

Ein Feigling, der irgendwann doch beschließt, dass nun der richtige Moment gekommen ist. Der hofft, dass niemand draußen wartet, um sich auf ihn zu stürzen, denn, wie gesagt, wissen kann man so etwas nicht. Irgendwann einmal atmet der Feigling tief durch, dreht den Schlüssel um, schiebt die Tür auf und rennt los.

Und auch in jener Nacht war der richtige Moment schließlich gekommen.

Ich zitterte am ganzen Körper, und der Kimono klaffte, weil ich mit seinem Ärmel immer wieder den Dampf von der Scheibe gewischt hatte, vorne einen Spalt auf. Ich zog ihn zusammen und knotete den Gürtel fester, bevor ich noch einmal Luft holte und die Tür aufschloss.

Ich schob sie nach rechts und hatte auf einmal viel klarere Sicht.

Und genau in dem Augenblick, in dem ich ins Freie treten wollte, löste sich aus dem Dunkel des Waldes eine Gestalt.

Beinahe wäre ich hinüber zur Garage gesprintet. Aber ich blieb stehen.

Wäre ich losgerannt, hätte die Gestalt mich gesehen.

Und dann? Wäre sie mir hinterhergelaufen? Und hätte sie mich erwischt?

Ich hielt die Luft an. Mit der rechten Hand tastete ich ganz langsam nach der Tür und zog sie so leise wie möglich wieder zu. Sie gab ein leises Schleifgeräusch von sich, das die Gestalt aber nicht zu bemerken schien.

Sie schien nicht einmal in meine Richtung zu schauen, sondern sah sich in alle Richtungen um und sogar über ihre Schulter nach hinten.

Aus den Bewegungen der Gestalt schloss ich, dass es sich um einen Mann handelte. Der Vollmond schien auf sein Haar und seine Schultern, sein Gesicht blieb im Schatten. Eigentlich konnte ich nur seinen Umriss erkennen. Er trug Shorts und hatte einen nackten Oberkörper.

Natürlich hätte der Fremde auch eine Frau sein können – eine schlanke Frau mit wenig Busen, die sich bewegte wie ein Mann, aber das glaubte ich nicht.

Es war bestimmt ein Mann.

Ein Mann, der sich aus dem Wald heraus an das Haus heranpirschte.

Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, drückte ich die Tür ins Schloss, drehte den Schlüssel herum und trat einen Schritt zurück.

Ich wusste genau, was ich jetzt tun musste.

Zum Telefon rennen und die Polizei rufen.

Aber dann wurde mir klar, dass ich nicht ans Telefon konnte. Um es zu holen, hätte ich die Glastür verlassen müssen, und dabei hätte ich den Fremden aus den Augen verloren.

Und das konnte ich nicht riskieren.

Ich blieb also stehen, wo ich war, und beobachtete ihn.

Er schien mich noch immer nicht gesehen zu haben. Vielleicht tat er auch bloß so, aber das bezweifelte ich. Verstohlen, doch ohne die geringste Eile bewegte er sich auf das Haus zu.

Vielleicht hat er die Telefonleitung gekappt und weiß, dass ich keine Hilfe holen kann.

Mach dich nicht lächerlich, rief ich mich zur Ordnung. So etwas gibt es doch nur im Kino. Im richtigen Leben kappt niemand eine Telefonleitung

Oder vielleicht doch?

Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass ich im Haus war. Schließlich hatte ich schon eine Viertelstunde vor seinem Auftauchen alle Lampen ausgeknipst, er musste also glauben dass das Haus leer war.

Oder dass alle seine Bewohner schliefen!

Und was war, wenn er schon am Waldrand gestanden hatte, bevor ich das Licht ausgemacht hatte?

Was, wenn er mich schon den ganzen Tag lang beobachtet hat?

Bei diesem Gedanken wurde mir vor Angst fast übel.

Was will er?

Vielleicht gar nichts. Vielleicht war das nur jemand, der gerne nachts spazieren ging. Jemand, der sich im Wald verirrt und gerade erst den Weg ins Freie gefunden hatte.

Oder ein harmloser Irrer.

Oder …

Ein Einbrecher. Ein Vergewaltiger. Ein Mörder.

Am ganzen Körper zitternd sah ich zu, wie er über den Rasen kam und direkt gegenüber von mir an den Pool trat.

Soweit ich sehen konnte, hatte er weder Waffen noch Werkzeuge bei sich.

Aber seine Shorts hatten Taschen.

Kurz vor dem Beckenrand blieb er stehen. Er schien direkt in meine Richtung zu starren. Er kann dich nicht sehen, versuchte ich mir einzureden. Das Zimmer war dunkel, und wahrscheinlich spiegelte sich sogar der Mond in der Scheibe.

Langsam bewegte der Fremde den Kopf nach rechts und links. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse, als wollte er sichergehen, dass ihn niemand beobachtete. Und dann schnallte er den Gürtel auf und ließ seine abgeschnittene Jeans nach unten fallen!

Obwohl der Mond hinter ihm stand und ihn nicht von vorne anschien, sah ich sofort, dass er keine Unterhose anhatte. Er war splitternackt!

Sein Gesicht war noch immer noch nicht klar zu erkennen, aber seine Brustwarzen hoben sich, ebenso wie sein Nabel, als dunkle Punkte von seiner hellen Haut ab. Darunter waren, undeutlich zwar, aber unverkennbar, seine Schamhaare und sein Penis zu sehen.

Der Fremde stand eine Weile still, und obwohl ich wusste, dass er mich hinter der Scheibe der Glastür nicht sehen konnte, kam es mir so vor, als wolle er, dass ich ihn mir ausgiebig ansah.

Nach ein paar Sekunden drehte er sich um, und ich konnte ihn von der Seite sehen.

Meine Angst schnürte mir fast die Kehle zu.

Was der wohl mit seinem Ding vorhat?

Gar nichts hat er vor, versuchte ich mich zu beruhigen. Er weiß nicht einmal, dass ich hier bin.

Hoffentlich! Hoffentlich weiß er das nicht. Denn wenn er es weiß, dann wird er nicht eher gehen, bis er sein Ding in mich reingesteckt hat.

Der Fremde setzte sich an den Beckenrand, wartete einen Augenblick und ließ sich dann ins dunkle Wasser gleiten.

3

Im Wasser

Leider war der Pool nicht beleuchtet, sodass ich den Mann nur undeutlich sehen konnte. Er schwamm ein paar Züge, und dann sah ich ihn auf einmal überhaupt nicht mehr. Er war verschwunden. Ich starrte auf den Fleck, an dem er ins Wasser geglitten war und konnte ihn einfach nicht mehr finden. Es war, als wäre er unsichtbar geworden.

Aber er war nicht unsichtbar. Er befand sich bloß in der Dunkelheit.

Der Pool sah vollkommen leer aus. Aber ich wusste ja, dass er da drin war.

Ein paar Sekunden lang stellte ich mir vor, wie der Fremde unter Wasser ans andere Ende des Beckens schwamm, dort auftauchte, aus dem Wasser sprang und auf meine Tür losging.

Die Tür würde ihn zwar aufhalten, aber bestimmt nicht lange.

Schließlich war sie nur aus Glas.

Im Geist bereitete ich mich auf einen plötzlichen Angriff vor.

Bloß nicht schreien. Dreh dich um und renn weg.

Renn in die Küche.

Und nimm eines von den großen Fleischmessern.

Dann sah ich ihn. In der Mitte des Pools tauchte sein Kopf auf und zog auf der Wasseroberfläche eine silbrig glänzende Spur hinter sich her, als der Mann mit langsamen Zügen auf das seichte Ende des Pools zu schwamm. Er schien sein Bad richtiggehend zu genießen.

Und er kam nicht zu mir.

Noch nicht.

Aber der Pool hatte in einer Ecke am flachen Ende geflieste Stufen, und wenn er die erreichte, konnte er in null Komma nichts aus dem Wasser stürmen.

Ich trat ein wenig näher an die Glastür.

Er schwamm nicht auf die Stufen zu, sondern hielt sich in der Mitte. Als er stehen konnte, richtete er sich auf. Sein Oberkörper, der von der Hüfte ab aus dem Wasser ragte, glänzte im Mondlicht. Die andere Hälfte seines Körpers verschwand unter der dunklen Wasseroberfläche, was ihm das Aussehen eines Torsos gab, dem man mit einem riesigen Schwert die Beine und den Rest des Unterleibs abgehackt hatte.

Der Säbel!

Auf einmal fiel mir Charlies Säbel ein, der im Esszimmer über dem Kamin hing. Darunter befand sich ein eingerahmter Sinnspruch, der irgendetwas damit zu tun hatte, dass sein Ur-Ur-Großvater im Bürgerkrieg gekämpft hatte.

Der Säbel war eine Originalwaffe aus dem Bürgerkrieg, aber es war nicht der von Charlies Vorfahr, sondern ein Weihnachtsgeschenk von Serena.

Wir alle hatten schon mal damit herumgespielt.

Er war einen Meter zwanzig lang und scharf geschliffen.

Draußen im Pool drehte der Fremde sich um und ließ den Körper wieder ins Wasser gleiten, bis nur noch sein Kopf zu sehen war. Und dann setzte er sich in Bewegung und schwamm auf das tiefe Ende des Pools zu.

Ich trat einen Schritt zurück, drehte mich um und ging los, um den Säbel zu holen.

Ich hatte vergessen, dass das Licht im Flur an war. Es war zwar nicht hell genug, um das Esszimmer vollständig zu beleuchten, aber einen schwachen Schimmer konnte es vielleicht doch hineinwerfen.

Und dann fiel mir ein, dass die Vorhänge im Esszimmer völlig offen waren und die eine Wand praktisch vollständig aus Glas, sodass der Mann vom Pool aus einen Blick wie in ein Aquarium hatte. Ich stieß einen kaum hörbaren Fluch aus.

Um ehrlich zu sein, einen ziemlich derben Fluch. Ich hätte mir in den Hinten beißen können, weil ich bei Einbruch der Dunkelheit nicht die Vorhänge im ganzen Haus zugezogen hatte. Schlimm genug, dass ich mir kein Popcorn hatte machen können, aber dass ich jetzt nicht an den Säbel herankam, war noch viel schlimmer.

Na schön, herankommen konnte ich ja, wenn ich wollte.

Aber so dumm war ich nicht.

Wenn der Mann nämlich bisher noch nicht gewusst hatte, dass jemand im Haus war und mich dann durchs Esszimmer schleichen und den Säbel holen sah, wusste er es mit Sicherheit.

Und er würde wissen, dass ich alleine war. Und vielleicht erkennen, was für eine Figur ich hatte und dass ich nur einen engen, seidig glänzenden Kimono am Leib trug.

Wie das auf einen Mann wirkte, der ohnehin schon nackt und erregt war, konnte ich mir unschwer ausmalen.

Vielleicht hatte er bisher nur in einem fremden Pool ein kleines Mitternachtsbad nehmen wollen. Aber wenn er mich so sah, kamen ihm vielleicht andere Gedanken …

Unmöglich.

Das konnte ich nicht riskieren.

Ich hole den Säbel erst, wenn er hier einzubrechen versucht.

Und so weit war es Gott sei Dank noch nicht. Vielleicht kletterte er nach seinem Bad aus dem Pool und verschwand wieder im Wald. Solche Leute gibt es.

Und wenn er doch vorhat, hier einzubrechen?

Ich ging zurück ins Wohnzimmer und achtete darauf, dass die Tür nur kurz offen war und möglichst wenig Licht vom Flur hineindringen konnte.

Wegen der Helligkeit im Flur kam mir das Wohnzimmer jetzt sehr viel dunkler vor als vorhin.

Von der Tür aus konnte ich den Teil des Pools, in dem der Fremde war, nicht sehen, und das beunruhigte mich. Also eilte ich zur Glastür.

Dabei stieß ich mit dem nackten Fuß an den gläsernen Couchtisch. Das Geräusch kam mir so laut vor, als hätte ich mit einem Hammer auf den Tisch gehauen. Außerdem tat es furchtbar weh. Meine Zehen verkrampften sich, und Tränen stiegen mir in die Augen. Fast hätte ich vor Schmerz laut losgeschrien, aber ich biss die Zähne zusammen und stolperte nach rechts, wo ich rückwärts aufs Sofa fiel. Das Sofa kam ins Rutschen und stieß gegen die Wand. Ich riss das Bein hoch und tastete mit den Händen meinen Fuß ab.

Im ersten Augenblick hatte es so wehgetan, dass ich dachte, mindestens zwei Zehen wären gebrochen, aber beim Abtasten schienen alle noch heil zu sein, und langsam ließ der Schmerz auch nach.

Ich fragte mich, wo der Fremde jetzt wohl war.

Aber ich wollte gar nicht mehr hinaussehen. Ich wollte auf dem Sofa bleiben. Obwohl ich nur halb auf dem Polster lag und mich mit meinem unverletzten Fuß am Boden abstützen musste, um nicht ganz herunterzurutschen, fühlte ich mich dort wohl.

Vielleicht sollte ich mich richtig hinlegen und warten, bis der Mann den Pool verlassen hatte, dachte ich.

Schließlich musste ich ja nicht an der Glastür stehen und ihm beim Schwimmen zusehen.

Früher oder später würde er schon verschwinden.

Oder hier einbrechen!

Wenn er das versucht, hole ich den Säbel. Wenn nicht, dann …

Und wenn ich nicht höre, wenn er einbricht?

Das Haus war so groß, dass man es nicht unbedingt mitkriegen musste, wenn sich jemand am anderen Ende an einem Fenster oder einer Tür zu schaffen machte.

Und dann war da noch die Klimaanlage.

Den Kompressor, der an der Außenwand des Hauses angebracht war, konnte man zwar nicht hören, dafür aber das Geräusch der Luft, die aus den Schlitzen an der Decke des Wohnzimmers kam. Es war eigentlich nicht mehr als ein ganz leises Säuseln, das man normalerweise kaum wahrnahm, aber jetzt kam es mir so laut vor wie das Heulen eines ausgewachsenen Sturms.

Dann schalte doch die Klimaanlage einfach aus!

Ich stand auf. Meine Zehen taten immer noch weh, aber nicht mehr so schlimm. Der Schalter für die Klimaanlage war im Flur. Vorhin hätte ich bloß hinlangen und ihn umlegen müssen. Zu dumm, dass ich nicht daran gedacht hatte, aber da hatte mich das Geräusch der Klimaanlage noch nicht gestört.

Dann tu es eben jetzt!

Ich humpelte zur Tür, legte die rechte Hand auf den Knauf und wünschte, ich hätte sie vorhin nicht zugemacht.

Und wenn ich sie jetzt aufmache und er steht direkt davor?

Ich stellte mir vor, wie er nackt, tropfnass und mit erigiertem Penis vor mir stand und mir dummdreist ins Gesicht grinste. Vielleicht hatte er ja sogar Charlies Säbel im Vorbeigehen von der Wand genommen und hielt ihn jetzt mit beiden Händen wie ein Samurai hoch über dem Kopf, um mich von oben bis unten genau in der Mitte zu spalten.

Meine Fantasie quält mich gerne mit solchen Bildern.

In Wirklichkeit war er vermutlich nicht einmal im Haus.

Trotzdem kam es mir vor, als wäre mein rechter Arm plötzlich gelähmt. Ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden, die Tür zu öffnen.

Und dann stellte ich mir vor, wie sich der Knauf in meiner Hand zu drehen begann, weil der Mann gerade versuchte, die Tür von der anderen Seite zu öffnen.

Natürlich war das wieder nur meine Fantasie.

Trotzdem bekam ich furchtbare Angst.

Ich ließ den Knauf los und trat von der Tür zurück. Irgendwie erwartete ich fast, dass sie aufgestoßen wurde. Aber sie blieb zu. Ich drehte mich um und sah hinüber zu der gläsernen Schiebetür, durch die ich einen Teil des Pools sehen konnte. Aber immer noch nicht den Fremden.

Wo ist er?

Diesmal ging ich ganz vorsichtig durch den Raum, und als ich mich der Schiebetür näherte, streckte ich eine Hand aus. Bald berührten meine Finger das kühle Glas.

Ich trat noch näher und blickte hinaus.

Der Mann war nirgends zu sehen.

Als meine Brust die Scheibe berührte, blieb ich stehen. Näher konnte ich nicht mehr an die Tür heran.

Ich starrte nach draußen.

Wohin war er verschwunden?

Im Pool schien er nicht mehr sein, und auf der Terrasse oder dem Rasen war er auch nicht.

Vielleicht war er ja weggegangen.

Oder er ist schon im Haus.

Das kalte Glas, das ich durch den dünnen Stoff des Kimonos spürte, tat mir an den Brustwarzen weh. Ich trat einen kleinen Schritt zurück.

Die Scheibe war von meinem Atem wieder beschlagen, und ich wischte sie mit dem Ärmel ab.

Und dann sah ich ihn.

Er war noch immer im Pool.

Vielleicht war er ja eine Weile untergetaucht, oder hatte sich die ganze Zeit direkt unter dem Beckenrand aufgehalten, wo ich nicht hinblicken konnte.

Wie dem auch sei, er war wieder da.

Er trieb mit weit vom Körper gespreizten Armen und Beinen in der Mitte des Pools auf dem Rücken und bewegte sich nicht. In dem ruhigen Wasser trieb er ganz langsam auf den flachen Teil des Pools zu, als habe die kaum merkliche Strömung etwas mit ihm vor, ließe sich aber Zeit dabei.

Im Mondlicht glänzte seine nackte Haut wie poliertes Silber.

Er sah aus, als schliefe er.

Aber vermutlich war er wach und genoss es, auf dem kühlen Wasser zu treiben und gleichzeitig zu spüren, wie der warme Nachtwind ganz sanft über seinen Körper strich.

Er sah aus, als wartete er auf eine Geliebte, die zu ihm in den Pool kam, angelockt von seinem nackt daliegenden Körper und dem Pfahl aus Fleisch, der sich in seiner Mitte erhob und im Mondlicht schimmernd gen Himmel reckte.

Ob ich es wohl war, auf die er wartete?

Er will mich. Er weiß, dass ich ihm zuschaue, und glaubt, dass er mich auf diese Weise aus dem Haus locken kann.

Da hast du dich gewaltig geschnitten, Freundchen. Ich komme nicht raus zu dir, und wenn du mit deinem Ding da noch eine Ewigkeit in der Luft herumwedelst.

Dass der Typ nicht schlecht aussah, wie er da so im Mondlicht auf dem Pool trieb, musste noch lange nicht heißen, dass er kein Vergewaltiger, Mörder oder Geisteskranker war.

Irgendetwas musste schließlich mit ihm nicht in Ordnung sein, denn ein normaler Mensch schleicht sich nicht um Mitternacht aus dem Wald, zieht sich nackt aus und springt in einen fremden Swimmingpool.

Vielleicht ist er ja ein Freund von Charlie und Serena und hat sich von ihnen die Erlaubnis geben lassen.

Diese Idee war mir bisher noch nicht gekommen.

Aber sie schien mir auch nicht allzu plausibel zu sein. Eher sehr unwahrscheinlich. Erstens würden die beiden niemals jemanden in ihrer Abwesenheit ihren Pool benutzen lassen, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen, und zweitens kannte ich alle ihre Freunde. Der Mann im Pool gehörte nicht dazu.

Dachte ich zumindest.

Es war nämlich nicht leicht, sein Gesicht zu erkennen. Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass mir ein so gut gebauter Mann unter Charlies und Serenas Freunden mit Sicherheit nicht entgangen wäre.

Die beiden waren sehr gesellig und luden ständig Leute zu Poolparties ein, aber ich war die Einzige, die den Pool benutzen durfte, wenn sie nicht da waren. Das hatten sie mir schon öfter gesagt, und deshalb war ich mir so gut wie sicher, dass dieser Mann nicht hierher gehörte.

Schließlich wohnte ich seit drei Jahren über Serenas Garage und hatte von meinen Fenstern aus einen guten Blick auf den Pool. Bisher hatte dort noch nie jemand in ihrer Abwesenheit gebadet.

Natürlich verbrachte ich nicht den ganzen Tag damit, den Pool zu beobachten. Es war also auch möglich, dass sich dort hin und wieder etwas abgespielt hatte, von dem ich nichts wusste.

Aber bestimmt nicht oft.

Ich hatte Eichhörnchen, Waschbären, Rehe und andere Tiere beobachtet, die aus dem Wald an den Pool gekommen waren und dort Wasser getrunken hatten. Ich hatte Charlie zugesehen, wie er im Morgengrauen seine Runden geschwommen und bestimmt nicht daran gedacht hatte, dass ich ihm dabei zusah. Ich hatte sogar ein paarmal mitgekriegt, dass Serena und Charlie in Sommernächten nackt im Pool gebadet hatten. Dabei hatten sie natürlich nie das Licht angemacht und sich nur im Flüsterton unterhalten, aber nach dem Schwimmen hatten sie sich jedes Mal geliebt. Sie taten es auf dem Rasen neben dem Pool. Offenbar glaubten sie entweder, ich hätte geschlafen oder ich wäre blind. Und dabei sah ich ihnen die ganze Zeit über von meinem Fenster aus zu.

Ich sah öfter aus dem Fenster, als sie annahmen, aber ich hatte dabei noch nie einen Fremden im Pool gesehen.

Bis in jener Nacht.

Minutenlang hatte er sich jetzt nicht bewegt und sich vom Wasser tragen lassen, sodass ich mich fragte, ob er vielleicht doch eingeschlafen war. Wenn das allerdings der Fall war, musste er einen ziemlich geilen Traum haben.

Und dann klingelte auf einmal das Telefon.

Es war weit nach Mitternacht, und es schrillte grell und laut durch das stille Wohnzimmer.

Ich fuhr zusammen und stieß vor Schreck einen leisen Schrei aus.

Draußen im Pool schnellte der Kopf des Fremden zur Seite. Obwohl ich seine Augen nicht sehen konnte, wusste ich genau, dass er mich direkt anstarrte.

4

Das Telefon

Ohne Licht im Zimmer konnte er mich natürlich nicht sehen.

Wenn einer in einer finsteren Wohnung steht und ein zweiter draußen im Mondlicht, hat der im Hellen keine Chance, den im Dunklen zu sehen.

Aber ich spürte trotzdem seinen Blick!

Das Telefon klingelte wieder, und abermals zuckte ich zusammen.

Ein Telefon sollte so spätnachts nicht läuten. So etwas jagt einem einen Riesenschrecken ein, selbst wenn man nicht alleine im Haus ist und ein nackter Fremder im Pool herumplanscht.

Freunde rufen nach neun nicht mehr an, außer, es handelt sich um einen Notfall.

Der Mann draußen im Pool drehte sich wieder auf den Bauch und schwamm mit erhobenem Kopf in meine Richtung.

Das Telefon läutete noch einmal, und ich trat von der Glastür zurück.

Warum musste die verdammte Klingel nur so laut sein?

Ich wusste genau, dass er es hören konnte. Gedämpft zwar und undeutlich, aber trotzdem. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass man im Pool auch bei geschlossenen Türen und Fenstern jedes der Telefone im Haus hören konnte. Serena hatte mindestens fünf – vielleicht sogar sieben oder acht. Es war ein großes Haus und fast in allen Zimmern stand ein Telefon. Jedes klingelte, fiepte oder summte unterschiedlich.

Es gab nur einen Anrufbeantworter, und der stand im Wohnzimmer.

Direkt neben mir.

Nach dem vierten Klingeln knackte es. Der Anrufbeantworter sprang an.

Ich entfernte mich weiter vorsichtig von der Tür.

Draußen erreichte der Fremde das Ende des Pools. Er stützte sich mit den Händen auf den Beckenrand und starrte direkt zu mir her.

Ich kann Entfernungen schlecht schätzen, aber ich denke, dass er vielleicht drei oder vier Meter von der Glastür entfernt war. Und keine zwei Meter hinter der Tür stand ich.

Der Anrufbeantworter knackte wieder.

»Hallo, Judy«, sagte eine Männerstimme. »Hier spricht Tony. Hey, du hast dir ja einen Anrufbeantworter angeschafft. Aber nicht extra wegen mir, oder doch? Sag mal, wer ist denn der Typ, der das Ding für dich besprochen hat?« Pause. »Egal. Geht mich ja nichts an. Aber wenn du zu Hause bist, dann nimm doch ab. Bitte! Okay, ich weiß, dass du nicht mit mir reden willst, aber … Ich will dich nicht verlieren! Ich liebe dich! Bist du da? Bitte! Geh doch ran und sprich mit mir!«

Er verstummte.

Der Mann draußen kletterte aus dem Pool.

»Ich ruf dich nicht noch mal an, Judy, das sage ich dir. Um deine Liebe betteln werde ich nicht.«

Der Mann näherte sich langsam der Glastür.

»Okay, dann soll es wohl so sein. Ich hab’s versucht. Jetzt bist du am Zug. Wenn du wirklich willst, dass es aus ist zwischen uns, dann akzeptiere ich das und nerve dich nicht mehr. Dann war es das eben. Leb wohl. Für immer. Ich will das nicht, ganz bestimmt nicht, aber zum Teufel … Bist du da, Judy? Verdammt, das fühlt sich so komisch an, auf diese blöde Maschine zu sprechen. Wenn du da bist, nimm doch bitte ab …«

Der Fremde erreichte die Tür und spähte durch die Glasscheibe.

Konnte er mich sehen?

Mein Herz klopfte so laut, dass ich fast Angst hatte, er könnte es hören.

Regungslos stand ich da und starrte ihn an. Er hatte die Arme über den Kopf gehoben und die Handflächen an die Scheibe der Tür gelegt. Seine Stirn presste er ans Glas, aber die Nase, die Brust und der Bauch berührten die Scheibe nicht. Wohl aber die Spitze seines noch immer erigierten Penis, die wie ein kleines platt gedrücktes Gesicht mit nur einem Auge aussah.

»Okay«, sagte Tony zum Anrufbeantworter. »Wenn du es so haben willst. Ich rufe dich nicht mehr an. Ach, übrigens, ich bin umgezogen. Nach allem, was passiert ist, habe ich es in der alten Wohnung nicht mehr ausgehalten.« Es klang, als kämpfte er mit den Tränen. »Ich gebe dir meine Nummer und du kannst mich anrufen, wenn du willst. Wenn nicht, versteh ich’s auch.«

Während Tony seine Telefonnummer durchgab, trat der Mann draußen einen Schritt von der Tür zurück, griff nach dem Knauf und zerrte daran.

Ich riss den Telefonhörer mit einer Hand hoch und schrie: »Tony!«

Mit der anderen Hand schlug ich nach dem Lichtschalter.

Die Lampe bei der Couch ging an.

Die plötzliche Helligkeit tat meinen Augen weh, ließ mich blinzeln und löschte das Bild des Fremden draußen im Mondschein aus.

Falls er überhaupt noch da war.

Er musste wohl weggesprungen sein, als es plötzlich hell wurde, aber als sich meine Augen langsam an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich, wie er zurückkam und wieder ganz nah an die Scheibe trat.

Tony sagte etwas, aber ich konnte mich nicht richtig darauf konzentrieren. Offenbar hielt er mich für Judy.

Der Fremde draußen glotzte mich an und drückte sich dabei so nahe an die Scheibe, dass sein Körper wie ein grotesker, flach gedrückter Fisch aussah – oder wie eine Kreatur aus einem Horrorfilm, ein Alien, der versucht durch eine Glasscheibe zu diffundieren.

»HALLO!«, schrie ich ins Telefon. »RUFEN SIE DIE POLIZEI! BEI MIR WIRD GERADE EINGEBROCHEN!«

»Eingebrochen?«, fragte Tony. »Wieso?«

Der Fremde hielt seinen Körper weiter gegen die Scheibe gepresst und verdrehte ihn in den seltsamsten Windungen, während er mit seiner Zunge an dem Glas leckte. Irgendwie tat er so, als sei ich die Fensterscheibe, und von meinem Standpunkt aus betrachtet stimmte es sogar, denn mein Spiegelbild lag genau über ihm.

Er konnte das allerdings nicht sehen und brauchte es auch gar nicht, weil er mich ja in natura betrachten konnte.

»BEI MIR IST EIN EINBRECHER! 3838 WOODSIDE LANE. ER VERSUCHT, DURCH DIE TÜR ZUM GARTEN HEREINKOM-MEN! «

»Wer spricht denn da? Judy? Bist du das?«

»ES IST EIN MANN, WEISS, UNGEFÄHR ZWANZIG, EINS ACHTZIG GROSS, ACHTZIG KILO SCHWER, KURZE BLONDE HAARE!«

»Ist das wirklich wahr? Ein Einbrecher?«

»JA! ER IST NACKT UND VERSUCHT ZU MIR REINZUKOMMEN! SIE MÜSSEN SOFORT DIE POLIZEI VERSTÄNDI-GEN! «

»Ach du Scheiße«, murmelte Tony.

»BEEILEN SIE SICH! BITTE!«

»Soll ich auflegen und die Polizei anrufen?«

Ich senkte den Hörer und schrie den Mann an der Glastür an: »DIE POLIZEI IST GLEICH DA, DU PERVERSES SCHWEIN!«

Ich wusste genau, dass er mich hören konnte, aber es schien ihn nicht zu kümmern, denn er war in seiner eigenen Welt. Einer Welt aus nackter Haut – und Glas – und mir.

Ich sah auf mein Spiegelbild, hinter dem er sich in ekstatischen Zuckungen wand und an der Scheibe leckte. Es sah aus, als würde ein Gespenst von einem verrückten, sabbernden Clown missbraucht. Immer wieder presste er sich an mich, streichelte mich, küsste mich, rieb sich an mir, und dann wurde er auf einmal starr und begann so heftig zu zucken, dass die Glastür in ihrem Rahmen zu rattern begann. Einen Augenblick lang dachte ich, er hätte einen epileptischen Anfall, aber dann kapierte ich, was es wirklich war.

Angewidert drehte ich den Kopf weg und holte tief Luft. Ich drückte auf den Lichtschalter, das Zimmer versank wieder in Dunkelheit, und die Tür hörte auf zu vibrieren.

Dann blickte ich wieder zur Tür.

Der Fremde machte ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um, sprang in den Pool und schwamm los.

Während ich ihm dabei zusah, hörte ich aus dem Telefonhörer leise und wie aus weiter Ferne Tonys Stimme.

Der Fremde hatte das andere Ende des Pools erreicht, stieg heraus und schnappte seine Shorts. Aber er zog sie nicht an, sondern behielt sie in der Hand und rannte nackt quer über den Rasen auf den Waldrand zu.

Ich hob den Telefonhörer ans Ohr.

Tony klang aufgeregt. »Hallo! Hallo! Was ist los?«

»Da bin ich wieder«, sagte ich.

»Was ist passiert? Was ist denn los?«

»Ich glaube, ich bin noch mal davongekommen. Er ist gerade weggelaufen.«

»Rufen Sie lieber die Polizei.«

»Er glaubt, dass ich das gerade getan habe. Das hat ihn verscheucht.«

»Trotzdem würde ich auf Nummer sicher gehen und die Polizei rufen.«

»Weiß nicht. Er ist ja weg.«

»Und woher wissen Sie, dass er nicht wiederkommt?«

»Vielen Dank, Tony.«

»Es tut mir leid für Sie. Geht es Ihnen gut?«

»Hab mich bloß ein bisschen erschrocken. Ich bin ganz alleine im Haus, und er kam aus dem Wald geschlichen.«

»Nackt, haben Sie gesagt?«

»Erst war er nur halb nackt, aber dann hat er seine Shorts ausgezogen und ist im Pool herumgeschwommen.«

»Komisch. Irgendeine Ahnung, wer das war?«

»Nein. Irgend so ein Typ, der aus dem Wald kam.«

»Ist dieser Wald vielleicht Miller’s Woods?«

»Ja.«

»Das ist kein guter Ort. Da hängen nämlich lauter Verrückte rum.«

»Bisher ist noch nie einer aus dem Wald gekommen und in unseren Pool gesprungen. Soweit ich weiß, jedenfalls.«

»Sie haben echt Glück gehabt, dass er Ihnen sonst nichts getan hat.«

»Mmh mmh …« Ich dachte an die verschmutzte Glastür, sagte aber nichts.

»Sie sollten wirklich die Polizei rufen«, beharrte Tony.

»Ich weiß. Sie haben wahrscheinlich recht.«

»Im Miller’s Woods werden ständig Leichen gefunden.«

Das war mir nichts Neues. »Stimmt, hin und wieder finden sie eine«, sagte ich. »Aber das heißt noch lange nicht, dass sich in dem Wald ein geisteskranker Mörder versteckt. Die meisten wurden ganz woanders umgebracht und bloß im Unterholz abgeladen.«

»Trotzdem würde ich nicht gerne direkt neben Miller’s Woods wohnen.«

»Mich stört das nicht. Normalerweise ist es sehr nett und friedlich hier.«

»Leben Sie denn alleine dort?«

»Heute Nacht bin ich allein.«

»Das ist nicht gut. Ich weiß schon, dass Sie das jetzt nicht hören wollen, aber Sie können wirklich nicht sicher sein, dass er nicht doch noch mal zurückkommt.«

»Sagen Sie das doch nicht dauernd.«

»Ich sage das, weil ich mir Sorgen um Sie mache. Sie klingen sehr sympathisch.«

»Danke.«

»Ich möchte nicht, dass Sie … na, Sie wissen schon.«

»Werd ich schon nicht.«

»Haben Sie denn auch einen Namen?«, fragte er.

»Nein, meine Eltern haben vergessen, mir einen zu geben.«

Er lachte leise, was wiederum mich zum Lächeln brachte.

»Alice«, stellte ich mich vor. (Besser gesagt: Ich verriet ihm meinen richtigen Namen, der in diesem Buch geheim bleibt. Außer natürlich, Sie als Leser sind intelligent genug, um meine verborgene Nachricht zu entschlüsseln.)

»Hallo, Alice.«

»Hallo, Tony.« (Tony ist übrigens auch nicht sein richtiger Name. Ich sage das nur für den Fall, dass Sie bei der Einleitung gepennt haben. Tony, Serena, Charlie, Judy – das sind alles frei erfundene Namen. Auch Miller’s Woods und so weiter. Das nur zur Erinnerung.)

»Sieht ganz so aus, als hätte ich mich verwählt«, sagte Tony.

»Scheint so.«

»Ich wollte eigentlich mit einer ganz anderen Frau sprechen …«

»Habe ich mitbekommen. Sie heißt Judy und hat wohl mit Ihnen Schluss gemacht, stimmt’s?«

»So ungefähr.«

»Vermutlich haben Sie sie einmal zu oft nach Mitternacht angerufen.«

»Meinen Sie?«

»Solche Anrufe sollten Sie in Zukunft bleiben lassen. Da kriegt jeder einen Riesenschreck. Und noch einen guten Rat gebe ich Ihnen: Wenn Sie Ihre Judy zurückhaben wollen, dann dürfen Sie am Telefon keinen so verzweifelten Eindruck machen. So was mögen Frauen nicht.«

»Sie haben wahrscheinlich recht.«

»Klar hab ich recht.«

»Gut, dass ich mich verwählt habe«, sagte er.

»Mir hat es jedenfalls sehr geholfen. Immerhin hat es meinen widerlichen Besucher in die Flucht geschlagen.«

»Und was machen Sie jetzt?«

»Nichts. Schlafen gehen.«

»Sie sollten da nicht bleiben. Nicht, wenn Sie ganz alleine sind.«

»Es ist schon in Ordnung.«

»Haben Sie denn keine Nachbarn, bei denen Sie die Nacht verbringen könnten?«

»Nein, habe ich nicht. Hier ist niemand weit und breit.«

»Und wie wär’s denn, wenn Sie …«

»Glauben Sie mir, es ist alles in Ordnung! Er kommt heute Nacht bestimmt nicht noch einmal. Schließlich glaubt er, dass die Polizei schon unterwegs ist.«

»Hoffentlich haben Sie recht«, sagte Tony.

»Das hoffe ich auch.«

»Ich möchte nicht übermorgen etwas über Sie in der Zeitung lesen.«

»Das möchte ich auch nicht.«

Er lachte leise auf. Dann sagte er: »Ich meine es aber wirklich ernst. Haben Sie vielleicht eine Freundin, die Sie anrufen könnten? Jemand, der vorbeikäme? Vielleicht Verwandte? «

»Niemanden.«

»Und wie wäre es, wenn Sie in ein Motel gingen?«

»Um diese Uhrzeit?«

»Die meisten Motels unten am Highway sind die ganze Nacht offen. Vielleicht muss man irgendwo klingeln oder so, aber …«

»Das meinen Sie doch nicht ernst! Hier bin ich doch zehnmal sicherer, als wenn ich mitten in der Nacht noch in irgendein Motel fahre. Haben Sie eigentlich noch nie von Norman Bates gehört?«

»Sie müssen ja nicht unter die Dusche gehen!«

»Nein danke. Ich bleibe lieber hier.«

Tony schwieg einen Moment lang, und ich fragte mich, worüber er wohl nachdachte. Schließlich begann er: »Und wenn ich einfach rüberkomme? Nur damit Sie nicht alleine sind, wenn dieser Kerl wiederkommt.«

Sein Vorschlag war nicht gerade die Überraschung des Jahrhunderts, und irgendwie fühlte ich mich dabei nicht wohl.

»Danke für das Angebot, Tony, aber ich halte nicht viel davon.«

»Stimmt, wir kennen uns nicht gut, aber …«

»Wir kennen uns überhaupt nicht«, sagte ich. »Sie haben sich verwählt, haben hier was auf den Anrufbeantworter gesprochen, und dann haben wir ein paar Minuten lang miteinander telefoniert. Ist das Grund genug für Sie, einfach herzukommen?«

»Ich mache mir Sorgen um Sie.«

»Kann schon sein, aber woher soll ich wissen, dass das auch stimmt? Vielleicht ist das alles ein abgekartetes Spiel. Da badet jemand in unserem Pool, und ausgerechnet da rufen Sie an …«

»Ich habe mich verwählt!«

»Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht.«

»Au weia«, sagte Tony.

Dann schwieg er eine Weile.

»Was auch immer«, sagte er schließlich. »Es ist schon spät. Ich gehe jetzt schlafen. Viel Glück mit dem Einbrecher, Alice. War nett, mit Ihnen zu reden. Machen Sie’s gut.«

Und dann legte er auf.

5

Exitus

Mein Gott, was für ein Telefonat!

Ich legte auch auf und ging durch die Dunkelheit langsam zurück zur Glastür.

Wo der Fremde sie abgeleckt und sein nasses Gesicht daran gerieben hatte, war die Glasscheibe ganz verschmiert. Stellenweise sah sie aus wie die Windschutzscheibe eines Autos, dessen Scheibenwischer nicht mehr in Ordnung waren.

Ich suchte mir eine klare Stelle und blickte hinaus. Dabei kam ich mir vor, als würde ich über die Schulter des nicht mehr vorhandenen Fremden blicken.