Die Spur - Richard Laymon - E-Book

Die Spur E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

Gillian O’Neill ist jung und attraktiv – und sie hat ein ausgefallenes Hobby. Nachts sucht sie nach Häusern, deren Besitzer offensichtlich für längere Zeit verreist sind, und richtet sich dort ein. Das Problem ist nur, dass Gillian dieses Mal das Haus eines Serienkillers erwischt hat – eines Serienkillers, der seine Opfer gerne in die Wildnis verschleppt. In die Finsternis. Wo er ungestört ist. Wo niemand ihre Schreie hört ...

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Seitenzahl: 559

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Zum Buch

Rick geht mit seiner Freundin auf einen Erholungstrip in die Wildnis. Schattige Pfade, romantische Schluchten, glasklare Seen. Besonders schön ist es am Fern Lake, wo das Pärchen es sich gemütlich machen will. Trotzdem würde Rick alles tun, um von dort wegzukommen, denn er trägt finstere Erinnerungen an die Wälder mit sich. Und er soll recht behalten … Die Nacht bricht herein … Ein Killer wartet auf sie … Der Alptraum beginnt …

Zum Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com.

Ein Verzeichnis mit allen im Wilhelm Heyne Verlag erschienen Werken von Richard Laymon finden Sie unter:

www.heyne-hardcore.de/laymon

RICHARD LAYMON

DIE SPUR

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sven-Eric Wehmeyer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

NO SANCTUARY

erschien bei Leisure Books, New York.

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazin mit Themen rund um das Hardcore-Universum. Weitere News unter facebook.com/heyne.hardcore

Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2015

Copyright © 2001 by Richard Laymon

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Published in arrangement with Lennart Sane Agency AB

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Dominic Wilhelm

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-15924-5

www.heyne-hardcore.de

1

Samstag, 24. Mai

Das Geräusch von splitterndem Glas riss Rhonda Bain aus dem Schlaf. Sofort lag sie stocksteif in ihrem Bett und starrte an die dunkle Zimmerdecke.

Sie versuchte sich einzureden, dass es sich nicht um einen Einbrecher handelte; bestimmt war bloß ein gerahmtes Bild oder ein Spiegel von der Wand gefallen.

Glauben konnte sie es nicht.

Jemand hatte ein Fenster eingeschlagen. Sie hatte Scherben auf einen Fußboden fallen hören, also handelte es sich um das Küchenfenster; die anderen Zimmer waren mit Teppich ausgelegt.

Rhonda stellte sich vor, wie sie aus dem Schlafzimmer stürzte, zur Haustür raste – und eine dunkle Gestalt auf sie zutaumelte und nach ihr griff, während sie an der Küche vorbeirannte.

Ich kann nicht einfach hier liegen und auf ihn warten!

Sie warf die Bettdecke von sich, setzte sich auf und wandte den Kopf ruckartig Richtung Schlafzimmerfenster. Die Vorhänge waren geöffnet und flatterten leicht in der nächtlichen Brise. Sie erschauerte und biss die Zähne zusammen, allerdings nicht wegen der lauen Nachtluft, die über ihre nackte Haut strich.

Ich muss hier raus!

Das Fenster bot keine Hilfe. Das verdammte Ding hatte Jalousien. Es würde zu viel Zeit kosten, genügend Lamellen herauszureißen, dann das Insektenschutzgitter zu entfernen und schließlich hindurchzuklettern. Wenn sie die Schlafzimmertür verbarrikadieren und mit einem Stuhl ein Loch in das Fenster schlagen würde …

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken – ein Schuh, der auf Glasscherben knirschte.

Er ist immer noch in der Küche.

Wenn ich versuche, die Lamellen einzuschlagen, weiß er, dass ich hier bin … und was ist, wenn er bei mir ist, bevor ich –

Er weiß nicht, dass ich hier bin!

Rhonda schwang die Beine aus dem Bett. Langsam erhob sie sich. Die Matratzenfedern quietschten ein wenig, doch schließlich stand sie. Sie drehte sich zu dem schmalen Doppelbett um. Mit zitternden Händen glättete sie ihr Kissen und zog erst das Oberbett, dann die Heizdecke und schließlich die Steppdecke hoch. Nach ein wenig Zupfen und Zerren sah das Bett aus, als ob niemand darin geschlafen hätte.

Sie kauerte sich zusammen und setzte sich auf den Teppich. Dann legte sie sich auf den Rücken und drehte sich zur Seite, wobei die herabhängende Steppdecke über ihren Körper und ihr Gesicht strich. Sie blieb in Bewegung. Der Deckenzipfel glitt über ihre linke Brust, dann über ihre Schulter. Sie rollte sich ein Stück weiter, hielt inne und betastete den Saum der Steppdecke. Er hing ungefähr zwölf oder fünfzehn Zentimeter über ihre linke Hüfte und knapp fünf Zentimeter über dem Boden.

Das sollte reichen.

Still und regungslos lag sie in ihrem Versteck unter dem Bett, die Hände gegen die Seiten ihrer Oberschenkel gepresst. Sie zitterte heftig. Sie hörte ihren wild pochenden Herzschlag. Sie hörte sich keuchen. Aber sie hörte keine Schritte.

Er ist wahrscheinlich aus der Küche raus und geht über Teppich. Nur wo?

Rhonda drehte den Kopf und spähte mit einem Auge aus ihrem Versteck. Sie beobachtete die Türschwelle.

Beruhige dich, befahl sie sich.

Oh, na klar.

Willst du, dass er dein verdammtes Herz trommeln hört?

Sie löste die Hände von ihren Beinen, legte sie auf den Teppichboden und konzentrierte sich darauf, ihre Muskeln zu entspannen. Sie füllte ihre Lungen mit einem tiefen, ruhigen Atemzug und stieß die Luft langsam wieder aus.

Ruhig, dachte sie. Du bist gar nicht hier. Du liegst an einem Strand. Du bist am See, auf einem Handtuch ausgestreckt. Du kannst hören, wie die Wellen gegen das Ufer plätschern und Kinder kreischen und lachen. Du kannst die Sonne und den leichten Wind auf deiner Haut spüren. Du trägst deinen weißen Bikini.

Du bist nackt.

Ihr Magen drehte sich.

Du bist nackt und versteckst dich unter einem Bett, und irgendjemand ist im gottverfluchten Haus.

Plötzlich fühlte sie sich gefangen. Obwohl das Bett sie nicht berührte, schien es sie niederzudrücken, zu ersticken. Sie rang um Atem. Sie wollte raus. Alles in ihr schrie danach, sich aus ihrem Versteck herauszuwinden, auf die Füße zu springen und zu versuchen, in Sicherheit zu gelangen.

Beruhige dich. Er weiß nicht, dass du hier bist.

Vielleicht weiß er es doch.

Der fahle Schein einer Taschenlampe tanzte durch die Dunkelheit jenseits der Schlafzimmertür. Rhonda erhaschte einen flüchtigen Blick darauf. Dann war er wieder verschwunden.

Sie hielt den Atem an, starrte durch den Türspalt und wartete. Der Lichtstrahl beschrieb einen schnellen Schnörkel, zuckte empor und verschwand erneut.

Er wird bald hier reinkommen, dachte Rhonda. Er wird mich finden. Gott, warum bin ich nicht abgehauen, als das Fenster zerbrach?

Warum bin ich nicht zusammen mit Mom und Dad zu Tante Betty gefahren?

Sie zwang sich, durchzuatmen.

Der Strahl der Taschenlampe fiel durch den Türspalt, kroch auf Rhonda zu und dann nach oben.

Er überprüft das Bett, dachte sie.

Siehst du, hier ist niemand. Also mach einfach weiter. Raub die Bude aus. Nimm dir, was immer du willst, du Scheißkerl, solange du nicht unters Bett schaust.

Mit dem Knacken eines Schalters ging das Licht an.

Rhondas Fingernägel gruben sich in ihre Schenkel.

Mit einem Auge erblickte sie ein Paar alter Turnschuhe in der Türöffnung. Die zerfransten Aufschläge einer Jeans bedeckten den oberen Teil ihrer Schäfte und bewegten sich leicht, während der Mann näher kam.

Die Schuhe hielten an, wendeten und gingen auf den Schrank zu. Rhonda sah, wie die Schranktür aufschwang, hörte, wie einige leere Kleiderbügel gegeneinanderschlugen. Vom ausgefransten linken Hosensaum der Jeans hing hinten ein verknotetes Bündel Fäden bis fast auf den Boden herab.

Die Schuhe drehten sich erneut. Sie kamen auf sie zu, wechselten dann die Richtung und traten aus ihrem Blickfeld, als der Mann sich dem Fußende des Bettes näherte. Sie hörte leise Schritte den Raum durchqueren.

Ein plötzliches Klappern und ein metallisches Kratzen ließen Rhonda zusammenzucken.

Er muss die Vorhänge zugezogen haben.

Aus welchem Grund? Der Hinterhof ist umzäunt. Niemand kann hereinschauen. Vielleicht weiß er das nicht. Oder er weiß es, will aber kein Risiko eingehen. Nicht bei eingeschaltetem Licht.

Das Bett erbebte und bewegte sich über Rhonda. Der Rand des Lakens zitterte. Sie drehte das Gesicht nach oben. Über ihr war nichts als Dunkelheit, aber sie stellte sich den Mann vor, wie er über ihre Matratze kroch.

Was macht er?

Er liegt genau über mir!

Das Bett ächzte, als hätte er sich ruckartig davon erhoben. Etwas Feines – der Stoffbezug unter den Federn? – strich kurz über Rhondas Nase.

Sie hörte ein Klicken.

Was war das?

Plötzlich wusste Rhonda es. Der kleine Schalter an der Rückseite des Weckers. Sie hatte ihn nach dem Zubettgehen gedrückt, um früh genug für den auf einem Kabelsender gezeigten Jurassic Park Marathon aufzustehen.

Er weiß, dass ich hier bin.

Rhonda schloss fest die Augen. Das kann nicht wahr sein, dachte sie. Bitte.

Wieder wackelte das Bett ein wenig. Rhonda drehte den Kopf und sah Finger, die sich nah ihrer Schulter um den Saum der Steppdecke wickelten. Die Decke hob sich. Das Rascheln über ihr nahm zu. Die Decke blieb gelüftet. Hände senkten sich herab und drückten sich flach auf den Teppich. Dann füllte ein umgedrehter Kopf die Leere zwischen dem Bett und dem Fußboden.

Ein ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alter Mann starrte sie an. Sein hellbraunes Haar war kurz geschnitten. Obwohl sein Gesicht auf dem Kopf stand, sah er gut aus. Unter anderen Umständen hätte sich Rhonda von ihm angezogen gefühlt. Doch alles, was sie verspürte, war Abscheu.

Sie wand sich seitwärts und versuchte, sich Richtung Bettmitte zu bewegen.

»Verschwinden Sie!«, keuchte sie.

Der Mann rollte sich schwungvoll vom Bett, landete sanft auf dem Rücken, drehte sich herum und fixierte sie in ihrem Versteck. Eine Hand schoss vor wie die Pranke eines Raubtiers. Die gekrümmten Finger verfehlten ihren Oberarm um wenige Zentimeter, verkrallten sich im Teppich und fuhren zurück.

Er drückte sich hoch und kroch auf allen vieren zum Ende des Betts.

Wollte er auf die andere Seite?

Rhonda hörte nichts. Sie drehte den Kopf, um die Steppdecke auf der rechten Bettseite beobachten zu können. Dort hing sie tiefer und berührte den Boden.

Als sich kalte Hände um ihre Knöchel legten, schrie sie gellend auf.

Sie zogen. Rhonda rutschte heftig hin und her, wobei der Teppichboden schmerzhaft brennend gegen ihren Rücken scheuerte. Sie riss die Arme zu beiden Seiten hoch und klammerte sich mit aller Kraft an das metallene Bettgestell. Die zerrenden Hände streckten sie. Sie strampelte und schürfte sich am unteren Ende des Gestells ein Schienbein auf. Die Hände zogen weiter. Ihr Körper zuckte, um für einen Augenblick den Bodenkontakt zu verlieren und sich gegen die Unterseite der Matratzenfedern zu drücken, bevor sie den Halt verlor und zurückfiel.

Der Teppich versengte ihr Hintern und Rücken. Sie griff nach dem Bett, zerriss das dünne Leinen, versuchte Sprungfedern zu packen und fuhr mit den Fingerspitzen über eine hölzerne Querleiste. Aber der Mann zerrte zu schnell und kräftig an ihr. Nichts konnte ihr raues Hinabgleiten aufhalten.

Die Steppdecke schlug ihr ins Gesicht.

Als sie unter dem Bett vorkam, krümmte sie sich und versuchte mit Tritten, ihre Füße aus dem Griff des Mannes zu befreien. Er drückte ihre Fesseln klammerartig gegen seine Hüfte und grinste, als würde es ihm Spaß machen, ihre verzweifelten Bemühungen zu beobachten.

Schließlich lag sie völlig erschöpft still und rang nach Atem.

Der Mann lächelte noch immer und hielt ihre Füße nach wie vor fest in seine Seite gedrückt. Sein Kopf bewegte sich, als er sie mit weit aufgerissenen, glasigen Augen inspizierte.

Rhonda presste eine Hand zwischen ihre Beine und legte einen Arm über ihre Brüste.

Der Mann lachte leise.

Er sagte: »Kein Grund zur Bescheidenheit, Rhonda.«

Er kennt meinen Namen!

»Wer sind Sie?«, stieß sie hervor.

»Ich habe dich beobachtet. Du bist sehr schön.«

»Lassen Sie mich in Ruhe.« Ihre Stimme klang weinerlich, verängstigt. Es war ihr egal. »Bitte«, sagte sie.

»Keine Sorge. Ich werde dir nicht wehtun. Mach keinen Ärger und tu genau das, was ich sage, und alles wird gut.«

Rhonda begann zu weinen.

Der Mann lächelte sein Lächeln.

»Okay«, brachte sie endlich unter ihrem Schluchzen hervor. »Ich werde … nur tun Sie … mir nicht weh. Versprechen Sie’s?«

»Ehrenwort.«

Drei Tage später wurde Rhondas Leiche gefunden, weit entfernt von zu Hause.

2

Samstag, 21. Juni

Das keifende Klingeln des Telefons bahnte sich seinen Weg in Ricks Traum und beendete seinen Schlaf. Stöhnend wälzte er sich auf die Seite. Die beleuchteten Ziffern des Weckers auf dem Nachttisch zeigten, dass es fünf Uhr war.

Auf einen Ellenbogen gestützt, griff er über den Wecker hinweg und nahm den Hörer ab. Als er ihn an sein Gesicht führte, stieß das sich abwickelnde Kabel die Weckuhr vom Ständer.

»Das ist obszön«, murmelte er.

»Wie hast du das erraten?« Am anderen Ende der Leitung begann Bert heftig zu atmen.

»Es ist noch mitten in der Nacht«, unterbrach Rick ihn. »Das ist das Obszöne. Menschliche Wesen sind nicht dafür geschaffen, vor der Morgendämmerung aufzustehen.«

»Es gibt menschliche Wesen, die das jeden Tag tun.«

»Nicht, wenn sie Urlaub haben.«

»Da wir gerade davon reden …«

»Müssen wir?«, fragte Rick.

»Sei nicht so negativ eingestellt. Du wirst es lieben. Die frische Bergluft, die prächtigen Aussichten, ganz abgesehen von der Ruhe und dem Frieden …«

»Ich war schon mal zelten. Das entspricht nicht meiner Vorstellung von …«

»Mit mir noch nie.«

»Klar. Bertha Crockett, Königin der Wildnis.«

Der Klang ihres heiseren Lachens rief Rick den exakten Grund dafür in Erinnerung, warum er sich von Bert zu einer Woche Rucksackferien hatte überreden lassen.

»Liegst du noch im Bett?«, fragte er.

»Ich bin seit einer Stunde auf, komplett gepackt und geduscht.«

»Schon angezogen?«

Wieder dieses Lachen. »Das würdest du wohl gern wissen.«

»In der Tat …«

»Komm rüber und schau selbst.«

»Bye.«

»Hey!«

»Hm?«

»Es gibt einen Grund für meinen Anruf.«

»Ich dachte, der läge darin, meinen Schlaf zu stören.«

»Auf dem Weg hierher kommst du an ein paar Doughnut-Läden vorbei. Bring doch welche mit. Wir können sie im Auto essen. Ich mache eine Thermoskanne Kaffee fertig.«

»Okay, in Ordnung.«

»Bis dann.«

»Halbe Stunde. Mach’s gut.« Er legte auf, warf das Laken von sich und setzte sich auf die Bettkante.

Wir werden es wirklich tun, dachte er. Die Erkenntnis ließ ihn innerlich zittern. Er lehnte sich vor, stützte seine Ellbogen auf die Knie und starrte auf den Fußboden.

Heute. Jesus.

Als sie sich entschlossen hatten, den Ausflug zu machen, als sie ihn ausgerüstet hatten und sogar noch letzten Abend beim Packen schien die Reise etwas irgendwie Entferntes und Ungewisses zu sein, so als wäre sie kein tatsächlich stattfindendes Ereignis, sondern bloß eine Idee.

Als würde man ein Testament aufsetzen, dachte er. Man macht es, aber man rechnet nicht wirklich damit, dass es dringend notwendig ist.

Und dann, eines schönen Morgens …

Du kannst immer noch aussteigen.

Einen Scheiß kann ich.

Hätte mich einfach weigern sollen, als das Ganze zum Thema wurde.

Er hatte Alternativen vorgeschlagen: das MGM Grand in Las Vegas, das Hyatt in Maui auf Hawaii, eine Irland-Tour, eine Luxus-Kreuzfahrt nach Acapulco, sogar eine Dampferfahrt den Mississippi hinab. Doch Berts Herz schlug für nichts als eine Wandertour in den Bergen der Sierra Nevada. Irgendwie hatte sie bereits zwei Jahre ohne komfortfreies Leben verstreichen lassen, und sie hatte Zeit in der freien Natur unbedingt nötig. Sie musste diesen Trip antreten, mit oder ohne Rick.

Und mit wem außer Rick sollte sie ihn sonst antreten?

Allein, hatte sie geantwortet. Ich leiste mir selbst hervorragende Gesellschaft, aber deine ist auch ziemlich hervorragend.

Das hatte die Sache entschieden. Der Gedanke, Bert könne allein losziehen, war unerträglich.

Und was vor drei Wochen zutraf, traf immer noch zu. Dessen war sich Rick sicher. Wenn er ausstieg, würde Bert die Reise ohne Begleitung antreten.

Das plötzliche Plärren des Weckers ließ ihn zusammenzucken. Er griff nach unten, hob ihn auf, ließ ihn verstummen und stellte ihn zurück auf den Nachttisch. Mit einem heftigen Knall.

In Ordnung. Du fährst mit. Also mach dich locker und genieß es.

Er zog einen Bademantel an, ging den Flur hinunter zum Zimmer, das er als sein »Unterhaltungszentrum« bezeichnete, und trat hinter die feuchte Theke. Dort mixte er sich eine Bloody Mary mit doppeltem Wodka, wenig Tomatensaft und viel Worcestershiresauce und Tabasco. Er garnierte den Rand des Glases mit einer Zitronenspalte, fügte gemahlenen Pfeffer hinzu und rührte um.

Der Drink schmeckte gut und würzig. Er nahm das Glas mit ins Badezimmer. Nachdem er auf die Toilette gegangen war, duschte er. Er wollte seinen Aufenthalt unter dem wohltuend heißen Strahl so weit wie möglich in die Länge ziehen. Schließlich würde es in der nächsten Woche keine Duschen geben.

Kein weiches Bett.

Keine Sicherheit durch Mauern, Wände und verschlossene Türen.

Keine Bloody Marys.

Wenigstens hast du einen dreiviertel Liter Bourbon und einen Revolver eingepackt, dachte er. Die werden helfen.

Bert wird durchdrehen, wenn sie das herausfindet.

Ihr Pech. Ohne meine Friedensstifter kein Wildnis-Urlaub.

Rick drehte das Wasser ab und stieg aus der Duschwanne. Er trocknete sich zügig ab, nahm einen langen Schluck von seiner Bloody Mary und rollte Deo unter seine Achseln. Die Dusche hatte nicht lange genug gedauert, um den Spiegel beschlagen zu lassen. Er schäumte sein Gesicht mit Rasierseife ein und rasierte sich. Obwohl seine Hände zitterten, schaffte er es, sich nicht zu schneiden.

Zurück im Schlafzimmer, warf er seinen Bademantel beiseite und stellte sich vor den Ganzkörperspiegel an seiner Schranktür, um sich die Haare zu kämmen. Immerhin bist du gut in Form, munterte er sich auf. Beim letzten Mal warst du ein kümmerlicher Teenager.

Beim letzten Mal …

Sein Hodensack zog sich zusammen. Im Spiegel sah er seinen baumelnden Penis schrumpfen.

Er wandte sich von seinem Spiegelbild ab, trat in seine Unterhose und zog sie hoch. Der schützende weiche Stoff ließ einen Teil des verletzlichen Gefühls verschwinden. Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Drink und zog sich dann fertig an.

Bert hatte das Outfit ausgesucht: ein tarngemustertes Hemd mit Schulterklappen und geknöpften Pattentaschen sowie eine schlabbrige olivgrüne Hose, deren Taschen ihm beinahe bis auf die Knie hingen. Er zog den Militärgürtel an der Schnalle zusammen, schlüpfte in Socken und Stiefel und trat erneut vor den Spiegel.

Dir fehlt nur noch ein Krawattenschal und ein rotes Barett, und du siehst aus wie ein Fallschirmjäger, dachte er.

Das passt. Jedenfalls fühlst du dich todsicher wie einer – wie ein Fallschirmspringer, der im Begriff steht, den großen Schritt ohne die nützliche Hilfe eines Fallschirms zu machen.

Rick machte sein Bett und prüfte die Schlafzimmerfenster, um sicherzugehen, dass sie zu und abgeschlossen waren.

Auf dem Weg in die Küche trank er seine Bloody Mary aus. Dort spülte er das Glas aus und stellte es in den Geschirrspüler.

Dann ging er ins Wohnzimmer.

Sein Rucksack stand gegen die Sofafront gelehnt. Auf dem Tisch lagen Sonnenbrille, Stofftaschentuch, Brieftasche und Schlüssel, Schweizer Armeemesser, Streichhölzer und ein Päckchen schlanker Zigarren. Er verstaute die Sachen in seinen Taschen, dann drückte er sich einen zerbeulten alten Cowboyhut auf den Kopf und ging zu seinem Gepäck hinüber.

Irgendwas vergessen?, fragte er sich.

Er hatte Berts Anweisungen letzten Abend beim Packen wiederholt geprüft. Er wusste, dass er nichts von dem, was auf ihrer Liste stand, übersehen hatte.

Was noch?

Alle Vorhänge zugezogen. Sämtliche Lichter ausgeschaltet. Die Zeitschaltuhr für die Wohnzimmerlampe so eingestellt, dass sie jeden Abend um acht Uhr an- und um elf wieder ausgehen würde. Türen und Fenster verschlossen. Tageszeitung abbestellt. Post ins Urlaubsfach zur Abholung beordert.

Das schien alles zu sein.

Rick schulterte den Rucksack und schob seine Arme durch die Riemen. Er war schwer, saß aber bequem.

Er drehte sich ein letztes Mal um.

Was hast du vergessen?

Rick betrat den Innenhof von Berts Apartmenthaus. Als er die Außentreppe hinaufstieg, blieb er stehen und machte einem Mann mit Sakko und Krawatte auf dem Weg nach unten Platz.

Glückspilz, dachte Rick. Er geht zur Arbeit. Ich wünschte, das würde ich auch tun.

Doch dieses Gefühl veränderte sich, als Bert die Tür ihrer Wohnung öffnete. Rick ging hinein, wurde von ihrer festen Umarmung empfangen und spürte die feuchte Wärme ihres Mundes, ihre Brüste und ihr Becken, das sich gegen ihn presste. Er schob die Hände unter ihr Hemd und streichelte ihren nackten, weichen Rücken. Dann ließ er seine Hände bis zu ihrem Hals hinaufgleiten und fuhr dann ihre Schultern entlang. Ihre Schultern erstaunten ihn immer wieder aufs Neue; sie waren schlank, aber breit und verliehen ihrem Körper eine sich verjüngende Form. Während er sie knetete, drückte sich Bert noch fester an ihn und stöhnte.

»Wie wär’s mit einer letzten Nummer für unterwegs?«, flüsterte sie.

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Rick.

»Na ja, wenn du es mit dem Loskommen so eilig hast …«

»Ich glaube, wir können ein paar Minuten erübrigen. Oder ein paar Stunden. Oder ein paar Tage.«

»Wie lange es auch dauert.«

Bert saß auf Hände und Knie gestützt rittlings auf Rick und blickte mit glänzenden Augen in seine hinab. Ihr Mund war geöffnet. Sie atmete immer noch schwer. »Also«, sagte sie.

»Also.«

»Schätze, wir sollten langsam mal die Hufe schwingen.«

»Ja.«

Sie beugte sich hinab und küsste seinen Mund. Er fühlte ihre Nippel über seine Brust streichen, dann stemmte sie sich hoch. »Das sollte bis heute Abend vorhalten«, sagte sie.

»Ist es nicht üblich, nach all dieser Anstrengung ein Schläfchen zu halten?«

»Du kannst im Auto schlafen, wenn du willst, dass ich fahre.«

»Wie wäre es zuerst mit einer Dusche?«

»Ich war heute Morgen schon.«

»Ich auch. Aber das hier war eine schmutzige Angelegenheit, und …«

»Vielen Dank, ich behalte meinen Schmutz an mir. Das erinnert mich an dich«, fügte sie hinzu und lächelte auf ihn hinunter. »Du kannst allerdings ruhig duschen, wenn du dich beeilst.«

»Ohne dich?«

Bert kletterte mit einem Nicken von ihm hinunter.

»Ich passe«, sagte Rick.

Er stieg aus dem Bett und folgte ihr. Kühlende Luft strich um seinen schweißfeuchten Körper. Er betrachtete Bert. In dem trüben Licht sahen ihre kurzen blonden Haare braun aus, und ihre Haut wirkte dunkel. Sie ging mit leichten Schritten. Ricks Blick klebte zunächst an ihren breiten Schultern, glitt dann ihren Rücken bis zu ihrer schlanken Taille hinab und heftete sich schließlich auf die glatten und geschmeidig gegeneinanderreibenden Hügel ihrer Pobacken.

Auf den Wanderpfaden werde ich sie definitiv die Führung übernehmen lassen, dachte er.

Er verkrampfte innerlich und wünschte sich, nicht an die Wanderpfade gedacht zu haben.

Noch sind wir nicht da, sagte er sich.

Er blieb am Eingang zum Wohnzimmer stehen und lehnte sich gegen den kühlen hölzernen Türrahmen.

Bert ging weiter und senkte den Kopf, um den achtlos zusammengeworfenen Kleiderstapel in Augenschein zu nehmen. Als sie sich hinabbückte, bot sie eine Ganzkörperprofilansicht, und Rick starrte auf die Seite ihrer einen Brust. Sie hob ihr Höschen auf. Ihre Brust schaukelte leicht hin und her, als sie von einem Fuß auf den anderen wechselte und es hochzog. Das Höschen war kaum mehr als ein weißer Gummibund. Nachdem sie es angezogen hatte, drehte sie sich zu Rick um.

»Bin ich der einzige Mensch hier, der sich anzieht?«

»Ja.«

»Auf Teufel komm raus Zeit schinden.«

»Spektakuläre Aussicht. Mount Bertha.«

»Das ist schon das zweite Mal.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Noch ein einziges Mal, und du bist geliefert.«

»Bert ist ein Jungenname. Du bist ziemlich offensichtlich kein …«

»Bertha ist ein Name für eine Kuh. Meine Eltern müssen verrückt gewesen sein.« Nach einem flüchtigen Blick auf den Boden ging sie erneut in die Hocke, griff sich eine weiße Socke, beugte sich vor, zog ein Bein hoch und streifte die Socke über.

»Welcher Name hätte dir gefallen?«, fragte Rick.

»Vielleicht Kim. Tracy … Ann. Aber sie haben mich nicht gefragt. Wie steht es bei dir?« Sie zog die Socke bis fast zum Knie hoch und nahm sich ihr Gegenstück.

»Ernie«, antwortete Rick.

»Ernie ist ein Lastwagenfahrer-Name.«

»Wir wären Bert und Ernie und könnten in die Sesamstraße ziehen.«

Bert schüttelte den Kopf, verlor fast das Gleichgewicht und sprang auf einen Fuß, um sich wieder zu stabilisieren. Rick beobachtete ihre wackelnden Brüste. Sie zog die zweite Socke an und richtete sich auf, schaute auf Ricks Penis und dann in sein Gesicht.

»Du hast deine Berufung verfehlt«, sagte sie. »Du hättest professioneller Spanner werden sollen.«

»Das wird weniger gut bezahlt als Augenheilkunde.«

»Bei der man sich um die Glotzaugen anderer Spanner kümmert.«

»Damit auch sie in den Genuss kommen können, die menschliche Gestalt in den Blick zu nehmen.«

»Du bist ein wahrer Menschenfreund.« Sie griff sich ihre kurze hellbraune Hose und schlüpfte hinein. Sie saß locker und war, wie die Hose, die sie für Rick ausgesucht hatte, mit tiefen und knöpfbaren Taschen versehen. Nachdem sie den Gürtel zugeschnallt hatte, setzte sie sich auf den Fußboden und begann, ihre Stiefel anzuziehen.

Mit voller Absicht ließ sie die Bluse bis ganz zum Schluss übrig.

»Was ich an dir mag«, sagte Rick, »ist deine große Fürsorglichkeit.«

»Vielleicht gefällt mir das Betrachtet-Werden genauso gut wie dir das Betrachten.«

»Vollkommen unmöglich.«

»Dann betrachte es als Leistungsanreiz. Ich weiß, dass du nicht gerade begeistert davon bist, deinen Urlaub in der tiefsten Provinz zu verbringen. Alles, was ich tun kann, um es erträglicher für dich zu machen …«

»Bis jetzt ist es einfach klasse.«

Nachdem Bert ihre Stiefel zugeschnürt hatte, griff sie hinter sich nach Ricks Socken und warf sie ihm zu.

»Normalerweise fange ich mit der Unterhose an.«

Sie grinste. »Diesmal nicht.« Sie lehnte sich zurück, stützte sich auf ihre ausgestreckten Arme und sah zu.

Rick konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Als seine Socken saßen, schleuderte sie ihm das Hemd entgegen. Dann seine Unterhose und schließlich die Hose. Während er den Gürtel schloss, zog Bert ihre ausgeblichene blaue Leinenbluse über. Sie ließ es offen und krempelte sich die Ärmel über die Unterarme. Erst dann knöpfte sie es zu.

Die Vorstellung ist vorbei, dachte Rick.

Ein so plötzlicher wie heftiger Anflug von Panik überkam ihn.

Fragend runzelte Bert die Stirn. »Was ist los?«

Er schüttelte den Kopf.

»Los, sag schon.«

»Nur ein paar Schmetterlinge im Bauch.«

»Du siehst aus, als hätte dir jemand in die Eier getreten.«

So fühle ich mich auch, dachte er, sagte aber: »Mir geht’s gut.«

Bert stand auf und legte ihm die Arme um den Hals. »Was für Schmetterlinge?«

»Stockenten.«

»Die gehören aber nicht zu den Falter-Arten.«

»Ich bin in Ordnung.«

»Ist es wegen des Campens?«

Rick nickte.

»Ich dachte, dich würde bloß der Mangel an Komfort stören. Aber es ist mehr als das, stimmt’s?«

»Beim letzten Mal hatte ich einigen Ärger.«

Bert streichelte das Haar auf seinem Hinterkopf.

»Ich war vierzehn und unterwegs mit meinem Vater, außerhalb von Mineral Springs. Tief im Nirgendwo. Keine Menschenseele weit und breit. Als ich über ein paar Felsen kletterte, bin ich gestolpert und in eine Spalte getreten. Es war extrem dämlich. Ich hätte darauf achten müssen, wo ich hintrat. Egal, ich zog mir jedenfalls Brüche am linken Schien- und Wadenbein zu. Dad ließ mich allein zurück, um Hilfe zu holen. Es dauerte drei Tage, bevor ich ins Krankenhaus geflogen wurde. Wahrscheinlich war es keine wirklich große Sache, aber ich war vierzehn, die einsame und trostlose Gegend hat wie eine von Dalí gemalte Albtraum-Landschaft gewirkt, und ich kam mir so … schutzlos vor. Überall waren Kojoten. Ich sah, wie sie über die Felsen in der Nähe unseres Lagers schlichen, und vermutete, dass ich höchstwahrscheinlich auf ihrer Speisekarte stand. Verdammt, ich hatte die ganze Zeit über eine Scheißangst. Ende der Geschichte.«

Bert hielt ihn fest umklammert.

»Es gibt Schlimmeres«, fügte Rick hinzu. »Aber es war schlimm genug, um meinen Enthusiasmus für das primitive Leben in der Wildnis erheblich zu dämpfen.«

»Du musst entsetzliche Angst gehabt haben«, meinte Bert.

»Es ist lange her.«

»Ich hätte dich nicht in diese Sache hineindrängen sollen. Ich meine, ich wusste, dass du nicht gerade erpicht auf die Tour warst, aber ich hätte niemals vermutet …«

Er tätschelte ihren Hintern. »Wir sollten langsam durchstarten.«

»Vielleicht sollten wir unseren Plan ändern.«

»Das Ganze abblasen?«, fragte Rick.

»Klar. Ich kann damit leben.«

Schlag zu, dachte Rick. Auf genau diese einmalige Gelegenheit hast du gewartet. Genau das wolltest du hören.

»Und was ist mit dem Ruf der Wildnis?«, fragte er.

»Dem folge ich ein anderes Mal.«

»Ohne mich?«

Er spürte ihr Achselzucken.

»Ich komme mit. Du weißt doch, was man Menschen rät, die vom Pferd gefallen sind. Und du kennst die Redensart vom Blitz, der nie zweimal am selben Ort einschlägt.«

»Bist du sicher?«, fragte Bert.

»Vollkommen sicher.«

Sie drückte ihn fest. »Ich verspreche dir was. Solltest du dir dieses Mal da draußen ein Bein brechen, werde ich bei dir bleiben. Wir werden das zusammen durchstehen, bis jemand vorbeikommt und wir diesen Jemand losschicken können, um Hilfe zu holen. Ich werde bleiben und dich versorgen. Wenn uns die Nahrungsmittel ausgehen, gehe ich angeln und stelle Fallen auf. Und ich werde die Kojoten davonscheuchen.«

Das war das Letzte, was Rick hören wollte. »Abgemacht«, sagte er.

3

Gillian O’Neill starrte auf das klingelnde Telefon. Sie wollte nicht abheben.

Dieses Mal, dachte sie, werde ich es nicht tun.

Wenn ich nicht drangehe, wird es ihnen gut gehen.

Doch vor ihren Augen erhob sich der Hörer in die Luft.

Nein!

Sie hielt eine Schere in der Hand und schnellte vor, um das Kabel durchzuschneiden, aber es war zu spät. Wie von einem Lautsprecher verstärkt, dröhnte eine Stimme aus dem Telefon: »Rate mal, was deinen Eltern passiert ist!«

Aus der Sprechmuschel sprühte Blut. Der rote Regen spritzte Gillian ins Gesicht und ließ sie erblinden. Sie schrie auf, taumelte rückwärts, stolperte, stürzte wie in Zeitlupe zu Boden und fuhr ruckartig aus dem Schlaf hoch.

Keuchend rollte sie sich auf den Rücken.

Es klingelte erneut.

Nicht das Telefon, es kam von der Eingangstür.

Zitternd nahm Gillian das Laken und benutzte es als Handtuch, um ihr verschwitztes Gesicht zu trocknen. Dann sprang sie aus dem Bett. Am Schrank griff sie sich ihren Morgenmantel und zog ihn über, während sie aus dem Zimmer hastete. Er klebte auf ihrer Haut. Auf dem Weg hinunter zum Flur band sie den Gürtel zusammen.

»Ich komme«, rief sie, als sie das Wohnzimmer erreichte.

»Okey-dokey.« Das war die Stimme von Odie Taylor.

Sie verlangsamte ihr Tempo.

Es ist nur Odie. Gut.

Sie öffnete die Tür.

Odie lächelte nervös. Sein Kopf wippte und eierte wie immer hin und her, wie die Köpfe der Wackeldackel, die Gillian manchmal in den Heckfenstern von Autos stehen sah. Ebenso gewöhnt war Gillian daran, dass er ihr nicht in die Augen sah. Sein Blick ruhte auf Höhe ihres Halses.

»Hab ich Sie geweckt?«, fragte er ihren Hals.

»Zum Glück. Ich habe schlecht geträumt.«

»Meine Güte, tut mir leid.« Er zog seine rutschende Jeans hoch. »Sie waren weg.«

»Ich habe mir einen kleinen Urlaub gegönnt. Willst du eine Pepsi?«

»Gern.«

Er blieb auf der Veranda vor der Tür stehen, während Gillian in die Küche eilte und eine Limonadendose aus dem Kühlschrank holte. Sie hütete sich, Odie hineinzubitten. Beim einzigen Mal, als sie ihn eingeladen hatte, das Innere der Wohnung zu betreten, hatte er, bis er wieder nach draußen in die Freiheit fliehen konnte, mit panisch geweiteten Augen um sich geblickt und zu stottern begonnen, verängstigt wie ein in die Enge getriebenes Tier.

Sie gab ihm die Dose.

»Vielen Dank«, sagte er. Er hielt sie fest und glotzte auf ihren Hals. Sein Kopf schwankte und nickte.

»Gibt es ein Problem? Bin ich zu spät mit der Miete dran?«

»Hahia.«

Das war Odies Art zu lachen.

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, Miss O’Neill.«

Odie schien ebenso viel Angst davor zu haben, sie Gillian zu nennen, wie vor dem Betreten ihres Apartments.

»Sie wohnen nicht zur Miete, Ihnen gehört das Haus.«

»Oh, stimmt ja. Das hatte ich vergessen.«

»Sie haben es nicht vergessen, Sie wollen mich an der Nase herumführen.«

»Gibt es denn nun ein Problem, oder …«

»O Mann.« Er biss sich auf die Unterlippe.

»Was ist los?«

»Ich werde nach Hause zurückmüssen. Pa hat einen Satz vom Scheunendach getan.«

»Mein Gott, das tut mir leid.«

»Na ja, er ist nicht tot oder so, aber ziemlich übel zugerichtet. Ich und Grace, wir müssen zurück nach Hause. Das tut mir wirklich leid.«

»Werdet ihr wiederkommen?«

»Weiß ich nicht. Könnte sein, dass ich bleiben muss. Hab mir gedacht, wir sollten vielleicht auf der Farm bleiben, mit dem Baby, das bald kommt und allem. Die Stadt ist kein guter Ort für’n Kind.«

»Oder für sonst wen«, sagte Gillian. »Ich lasse dich und Grace sehr ungern ziehen. Ihr habt einen großartigen Hausmeisterjob gemacht.«

»Es tut mir furchtbar leid. Sie waren so was von nett zu uns. Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten …«

»Ihr seid gute Menschen, Odie. Ich werde dich und Grace vermissen. Aber ich wette, dass ihr froh sein werdet, wieder zu Hause zu sein.«

»Tja …«

»Wann fahrt ihr?«

»Freitag, nehm ich an. Die Mieten für den letzten Monat sind alle bezahlt, und alles hier ist in bestem Zustand. Wollen Sie, dass ich das Zeug rüberbringe?«

»Nein, ist schon in Ordnung. Lass einfach alles in eurer Wohnung, dann ist es für die nachfolgenden Mieter da.«

»Okey-dokey.«

»Es könnte sein, dass ich die nächsten Tage über unterwegs bin, also warte eine Sekunde, ich hole dir deinen Lohn.«

Odie blieb vor der Türöffnung stehen, während Gillian ins Schlafzimmer zurückging. Ihre Handtasche lag auf der Kommode. Sie entnahm ihr das Scheckheft und schrieb einen Scheck aus.

Als sie wieder an der Tür war, trank Odie seine Pepsi. Sie überreichte ihm den Scheck.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte er. Dann blickte er auf den Scheck. Er hob ihn ganz nah vor sein Gesicht und glotzte ihn an. Sein Kopf hörte auf, sich zu bewegen. Er sah Gillian an, direkt in die Augen.

»Sie ham hier einen Fehler gemacht, Miss O’Neill. Da ist ne Null zu viel drauf.«

»Das ist kein Fehler, Odie.«

»Hier stehen fünftausend Dollar. Wir kriegen fünfhundert, nicht fünftausend.«

»Es ist eine Prämie für dich und Grace, weil ihr so gute Hausmeister wart.«

»Heiliger Strohsack.«

»Ich wünsche euch eine gute Fahrt, falls wir uns vor eurer Abreise nicht mehr sehen sollten.« Sie hielt ihm ihre Hand hin.

Odie schob sich den Scheck zwischen die Zähne und schüttelte sie heftig.

»Schreib mir gelegentlich ein paar Zeilen, um mich wissen zu lassen, wie es bei euch läuft.«

Sein Kopf begann wieder zu wackeln. Er nahm den Scheck aus den Zähnen. »Werd ich bestimmt, Miss O’Neill. Gillian.« Seine Stimme klang schrill, und er schnitt eine Grimasse, als litte er Schmerzen. Dann wedelte er mit dem Scheck unter seinem Kinn herum. »Die Grace, die wird ein Ei legen, wenn sie das hier sieht.« Er hob die Schultern.

»Mach’s gut, Odie.«

»Jau. Heiliger Strohsack.« Er rieb sich den Handrücken an der Nase, drehte sich um und ging die Veranda Richtung Stufen entlang.

Gillian schloss die Tür und ging in die Küche, um sich eine Kanne Kaffee zu kochen.

Sie würde Odie und Grace vermissen. Gillian hatte sich selbst fast ein Jahr lang um die Verwaltung des zwanzig Wohneinheiten umfassenden Apartment-Komplexes gekümmert, bevor sie in ihrem klapprigen Pickup-Truck auf der Bildfläche erschienen waren. Odie war damals arbeitslos gewesen, aber Grace hatte sich schon einen Buchhaltungsjob besorgt, der die Miete und ein bisschen was darüber hinaus einbrachte.

Gillian mochte die beiden nicht nur auf den ersten Blick, sondern vertraute ihnen auch. Sie überließ ihnen mietfrei eine Wohnung und stellte Odie ein – überglücklich, von der Last der Immobilienverwaltungsaufgaben befreit zu sein.

Jetzt verließen sie sie.

Ich muss jemand anders finden, dachte sie, als sie sich eine Tasse Kaffee eingoss. Auf keinen Fall fange ich selbst wieder mit der Hausmeisterei an.

Sie schob die Küchentür auf, trat auf die Terrasse und nahm auf einem Polsterstuhl Platz. Sie streckte die Beine aus, stützte ihre Füße gegen einen Plastiktisch und nahm einen Schluck Kaffee.

Mist.

Sie spürte ein Stechen im Magen. Der Grund dafür war nicht nur der Verlust ihrer Hausverwalter, sondern lag auch darin, dass sie sie wirklich mochte und nach ihrer Abreise nie wiedersehen würde.

Sie waren nicht wirklich befreundet gewesen. Aber sie hatte sie gerngehabt, und nun würden sie für immer aus ihrem Leben verschwinden.

So ist das Leben, sagte sie sich. Deshalb sollte man erst gar nicht damit anfangen, jemanden gernzuhaben.

Sie trank noch etwas Kaffee, stellte die Tasse auf der Stuhllehne ab, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, um die Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren.

Wie wäre es zur Ablenkung mit einem kleinen Ausflug?, dachte sie.

Ich weiß nicht so recht.

Sie war gerade gestern erst zurückgekehrt. Für ein oder zwei Wochen würde sich das Bedürfnis in Grenzen halten.

Genau.

Doch da Odie und Grace abzogen, würde sie hier eventuell bis mindestens Freitag festsitzen – jedenfalls so lange, bis sie einen Ersatz für sie fand.

Wenn du wartest, müsstest du möglicherweise einen ganzen Monat ohne auskommen. Vielleicht sogar länger.

Du wirst die verdammten Wände hochgehen.

Besser durchstarten, solange du die Gelegenheit dazu hast.

Als Gillian ihre Entscheidung getroffen hatte, verspürte sie einen vertrauten Kitzel der Aufregung.

Mach schon, dachte sie. Wenn du heute kein Glück hast, wirst du bis Montag warten müssen.

Sie trank ihren Kaffee aus und ging wieder hinein.

Gillian fuhr in eine Gegend von Studio City, in der nette, aber einfache und schmucklose Häuser standen. Sie wagte sich selten in wirklich vornehme Bezirke – abgesehen von den Gelegenheiten, bei denen ihr nach einer kleinen Extraüberraschung zumute war. Das war dieses Mal nicht der Fall. Heute hatte sie weder Lust auf den Luxus eines millionenteuren Eigenheims noch darauf, ihre Zeit mit solchem Schnickschnack wie ausgeklügelten Alarmanlagen und privatem Wachpersonal zu vergeuden. Ein hübsches Haus in einem Mittelschichts-Viertel war alles, was sie sich wünschte. Diese Wohngegend war genau richtig.

Gillian hatte in einem Haus ganz in der Nähe eine fantastische Woche verbracht. Die Wohnstätte der Jensons. Murray und Ethel hatten Urlaub in Boston gemacht und waren so freundlich gewesen, ihre exakten Ab- und Anreisedaten akkurat in ihrem Kalender zu vermerken. Gillian war einfach einen Tag vor ihrer geplanten Rückkehr verschwunden. Das war im Februar gewesen. Jetzt war bereits Juni und dementsprechend eine Menge Zeit vergangen. Sie mochte es nicht, in dieselbe Gegend zurückzukehren, bevor nicht mindestens drei Monate ins Land gezogen waren.

Nachdem sie eine Zeit lang auf den Straßen herumgekurvt war, entdeckte sie einen dieser weißen, mit roten und blauen Streifen verzierten Jeeps, die von Postboten gefahren wurden. Er parkte an einer Ecke.

Gillian ließ ihren Wagen einen Block weiter stehen und begann auf der Suche nach dem Zusteller die Straßen abzuwandern.

Nach kaum zehn Minuten hatte sie ihn gefunden.

Langsam ging sie in seine Richtung. Aufgrund seiner Abstecher zu den Haustüren hatte sie ihn bald überholt und ließ ihn hinter sich zurück. Am Ende des Blocks überquerte sie die Straße, um ihn von der anderen Seite aus zu beobachten.

Wann immer er ein Haus ohne Zustellung passierte, schrieb Gillian die Adresse auf einen Notizblock.

Sie verbrachte fast zwei Stunden mit der Observierung des Postboten. Bis dahin umfasste ihre Liste fünf Adressen.

Sie ging zu den Häusern zurück.

Bei einem hörte sie durch die Eingangstür Stimmen. Sie entfernte sich und strich diese Adresse von ihrer Liste.

Bei einem anderen kam ein mürrischer alter Mann zur Tür, als sie klingelte. Er starrte sie zornig an. »Ich kaufe nix. Ich spende nix. Ich unterschreibe nicht irgendwelchen Scheißdreck. Hau’n Se ab und hör’n Se auf, mich zu belästigen.«

Gillian lächelte ihn an. »Sind Sie gesegnet?«, fragte sie. »Fick’n Se sich ins Knie«, sagte er und schlug die Tür zu.

Gillian strich auch diese Adresse von der Liste. Dabei zitterte ihre Hand.

Bei den anderen drei Häusern reagierte niemand auf die Türklingel.

Eins davon war mit einer Alarmanlage ausgestattet, die anderen beiden nicht. Sie strich das mit dem Alarm.

Von einer Gasse hinter einem der zwei verbleibenden Häuser aus spähte sie durch einen schmalen Spalt zwischen Zaun und Einfahrtstor. Es gab im Innenhof kein Schwimmbecken, aber eine hübsche und großzügig angelegte Terrasse sowie einen Whirlpool.

Sie ging zwei Blocks weiter bis zu dem anderen Haus. Bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass ein Swimmingpool dazugehörte. Ein klarer Pluspunkt.

Gillian kehrte zu ihrem Auto zurück.

Auf der Rückfahrt zu ihrem Apartment wägte sie die Möglichkeiten ab. Ein Schwimmbecken war besser als ein Whirlpool. Allerdings stand direkt neben der Bude mit dem Whirlpool ein leeres Haus mit Zu-Verkaufen-Schild davor. Das würde einen unmittelbaren Nachbarn weniger bedeuten, der noch dazu ihre plötzliche Anwesenheit argwöhnisch beäugen könnte.

Gillian entschied sich für das Whirlpool-Haus.

4

Mit Bert am Steuer waren sie aufgebrochen. Nach dem Kaffee und den Doughnuts nickte Rick ein und döste eine Stunde lang. Als er aufwachte, fuhren sie auf der Grapevine-Straße die Tehachapis-Berge runter. Das unter ihnen liegende Tal schien flach und grenzenlos zu sein.

In Bakersfield hielten sie an einer Tankstelle. Der Tank war zwar erst halb leer, aber ihre Blasen waren voll. Bert ging auf die Toilette, während Rick an einer der Selbstbedienungs-Zapfsäulen den Tank mit Benzin befüllte. Als sie zurückkehrte, hastete er zum Herrenklo.

Er kam wieder und bot an, das Fahren zu übernehmen, aber Bert meinte, sie sei noch nicht müde. »Lass mich doch bis Fresno fahren«, schlug sie vor. »Von da aus geht es nach Osten. Ich überlasse dir das Vergnügen, die Bergpfade zu bezwingen.«

»Prima. Und du kannst dich um die Navigation kümmern, denn schließlich bist du diejenige, die angeblich weiß, wo es langgeht.«

Als sie Fresno erreichten, war es Zeit fürs Mittagessen. Bert nahm eine Ausfahrt. An der Nebenstraße lagen etliche Restaurants. Bert hielt Burger King für völlig ausreichend, aber Rick überredete sie zu Howard Johnson’s. »Ich verspüre ein wirklich heftiges Verlangen nach frittierten Muscheln«, teilte er ihr mit, »und das ist eine Spezialität von Howard Johnson’s.«

»Bist du scharf auf die Muscheln oder auf die Bar?«, fragte Bert.

»Auf beides«, gestand er.

»Denk nur daran, dass du noch fahren musst.«

Drinnen tranken beide eine Bloody Mary, während sie auf ihr Essen warteten. Dann bestellte sich Bert zu ihren Muscheln mit Pommes frites einen Eistee, und Rick nahm ein Bier. Er nuckelte sparsam daran herum und hatte Lust auf ein zweites, hielt sich jedoch zurück, um Bert keinen Anlass zur Sorge zu geben.

Als sie zum Wagen zurückkehrten, war die Luft darin schwül und stickig. Rick schaltete die Klimaanlage ein, und nach wenigen Augenblicken blies ihnen kalte Luft entgegen.

Obwohl ihm der Alkohol für eine Weile einen schweren Kopf verpasste, sorgte er auch dafür, dass seine Sorgen gemildert wurden, als sie das Tal hinter sich ließen.

Die Landschaft veränderte sich in stetem und zügigem Wechsel. Eine Zeit lang schlängelte sich die Straße auf und ab durch braune Gebirgsausläufer, auf denen Rinder grasten. Bäume waren ähnlich selten wie hier und da versprengte Gesteinsformationen. Wenig später waren die hügeligen Felder von Steinen übersät, und Grasbüschel ragten hervor wie gebrochene Gelenksknochen, die durch das Fleisch der Erde stachen. Mit einer Granitwand zu ihrer Rechten und einer Schlucht zu ihrer Linken wand sich der Weg bergauf. Dann warfen Bäume von beiden Seiten der Straße ihre tiefen Schatten auf den Asphalt.

Bert bat Rick, die Klimaanlage des Wagens auszuschalten. Beide kurbelten ihre Seitenscheiben herunter. Warme, nach Kiefern riechende Luft strömte ins Auto. »Köstlich«, sagte Bert.

Sie ließ ihren Ellbogen entspannt aus dem Fenster hängen, und Rick warf ihr verstohlene Blicke zu, als sie um die Kurven steuerte. Ihr Unterarm glänzte glatt und war von der Sonne gebräunt. Ihr Gesicht war leicht Richtung Fahrerfenster geneigt. Das Auge, das er sehen konnte, war halb geschlossen, ihr Mund hingegen zu einem leisen Lächeln geöffnet. Der Wind zerzauste ihre Haare und ließ ihren offen stehenden Kragen flattern.

Himmel, war sie schön.

In Ricks Fantasie öffnete sie weitere Knöpfe und der Wind ihre Bluse.

Dann wanderten seine Gedanken weg von ihrer Schönheit. Er ertappte sich bei dem Wunsch, Bert zu sein, das Gesicht gegen den Wind gerichtet, die würzige Bergluft genießend. Sie schien makellos, rein und völlig frei, vergnügt und mit sich zufrieden wie ein Kind. Rick sehnte sich danach, in ihr Inneres zu gelangen und das zu empfinden, was sie augenscheinlich empfand. Es gäbe dann keine Sorgen und keinen Knoten in seinem Magen, sondern nichts als die Begeisterung darüber, sich am Beginn eines Urlaubs in den Bergen zu befinden.

Er konnte sich daran erinnern, wie es war, so zu sein und zu fühlen. Die Erinnerungen waren schmerzhaft für ihn, denn sie betrafen etwas für immer Verlorenes.

Vielleicht kann ich etwas davon zurückholen. Vielleicht wird ein bisschen was von Bert auf mich abfärben.

Nur lass bloß nichts von mir auf Bert abfärben. Gott im Himmel, versau es ihr nicht.

Bert drehte den Kopf. »Ich bin mal drei Tage lang gewandert«, sagte sie, »ohne eine Menschenseele zu treffen. Kannst du dir das vorstellen? Niemand sonst war auf den Trampelpfaden unterwegs. Wir haben an Seeufern gezeltet und hatten alles ganz für uns allein.«

»Das klingt nett«, meinte Rick. »Ich hoffe, wir finden einen See ganz für uns allein.«

»Ja, ich glaube, ich weiß, was dir im Kopf rumgeht.«

»In diesen Eiswasser-Seen kann man sich die Eier abfrieren.«

»Ich nicht.«

Rick lachte.

»Es ist nicht so schlimm«, sagte Bert, »wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat.«

»So lange war ich nie drin.«

»Für gewöhnlich neigt der Körper dabei dazu, einen wunderschönen Blauton anzunehmen.«

»Das werden wir herausfinden, schätze ich«, antwortete Rick. »Du schwimmst, und ich beobachte, wie du dich verfärbst.«

»Weichei.«

»Ich werde dein Handtuchhalter sein.«

»Man benutzt kein Handtuch. Man legt sich auf einem flachen Felsen in die Sonne.«

»Ah, so macht man das also? Trägt man einen Badeanzug?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Das klingt immer besser.«

»Allerdings braucht man dafür eine gewisse Abgeschiedenheit, also würde ich mich nicht darauf verlassen.«

»Du meinst, wir wären nicht abgeschieden? Ich dachte, genau das sei der Plan.«

»Unser Ziel liegt in einer ziemlich abgelegenen Gegend. Ich kenne die beliebten Plätze, an denen es vor Campern wimmeln wird, und um die werden wir einen großen Bogen machen, aber nicht bis in tiefste Wildnis hinein. Auch dort gibt es nämlich keine Garantie für Abgeschiedenheit, sondern einfach nur die kühnere Sorte Wanderer. Wir werden wahrscheinlich Gesellschaft haben, aber nicht viel.«

»Es wäre toll, wenn sie nur aus dir und mir bestünde.«

»Genau darauf werden wir es natürlich entschieden anlegen.« Sie tätschelte seinen Oberschenkel, streckte die Hand dann nach dem Handschuhfach aus und entnahm ihm eine Karte. Als sie sie entfaltete, ließ ein Windzug sie umknicken, und sie zog sie tiefer auf ihre Beine.

»Sind wir bald da?«

»Noch lange nicht. Der wirklich spaßige Teil fängt erst an.«

»Um welchen Spaß handelt es sich?«

»Um ungefähr fünfzig Kilometer auf einer unbefestigten Straße.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

»Eben dieser Teil hält das Gesindel fern.« Sie studierte eine Weile lang die Karte. »Sie ist nicht mal hier eingetragen.«

»Vielleicht gibt es sie gar nicht.«

»Jean vom Büro war letzten Sommer mit ihrem Mann dort. Sie stießen zufällig auf die Straße und waren von der Umgebung begeistert. Sie hat es mir beschrieben.« Bert klopfte gegen ihre Brusttasche. »Wir werden den Weg finden.«

Einige Zeit später zeigten sich auf beiden Seiten der Straße Behausungen zwischen den Bäumen. Manche sahen aus wie die kleinen Ferienimmobilien, die Rick aus seiner Kindheit kannte. Es gab ein paar Blockhütten und etliche Nurdachhäuser. Er hörte das entfernte Knattern einer Kettensäge.

Auf einem Schild stand: Bridger Creek, 63 Einwohner, Höhe 7300.

»Da geht’s hoch«, sagte Bert.

In Bridger Creek gab es eine Kreuzung. An zwei der Ecken standen Immobilienmaklerbüros. An einer anderen Ecke befand sich die B. C.-Bar, auf deren Parkplatz ein paar Pick-up-Trucks, Motorräder und Geländewagen standen. Ein Gemischtwarenladen mit Zapfsäulen davor belegte die vierte Ecke.

Rick hielt neben einer der Säulen. Ein spindeldürrer Teenager in Latzhose kam von der Veranda herübergetrottet. Er trug eine Mütze, von der hinten das Preisschild hinabbaumelte. Er grinste Rick durch die Scheibe an. Zwei seiner oberen Vorderzähne fehlten. »Kann ich helfen?«

»Bleifrei volltanken, bitte«, sagte Rick.

Der Junge ging zu den Tanksäulen hinüber.

»Hat irgendjemand Lust auf ein Banjo-Duell; ihr wisst schon, so wie in Beim Sterben ist jeder der Erste?«, fragte Rick.

Bert verpasste ihm einen leichten Schlag gegen das Bein.

Nachdem Rick für das Benzin bezahlt hatte, steuerte er den Wagen zum hinteren Ende des Parkplatzes. Sie gingen in den Laden und zu den Toiletten. Dann kauften sie eine Tüte Kartoffelchips und zwei Flaschen Vanillelimonade, bevor sie wieder aufbrachen.

Beim Fahren hielt er die Sprudelflasche zwischen die Beine geklemmt. Die Kälte drang durch seine Hose. Die aufgerissene Chipstüte lag auf dem Sitz. Beim Reingreifen wechselte er sich mit Bert ab. Hin und wieder – wenn er sich auf die Straße konzentrierte – stieß seine Hand gegen ihre.

Kurz nachdem Chips und Erfrischungsgetränke geleert waren, wurde die Straße deutlich schmaler. Sie krümmte sich um einen Berg. Jenseits der Gegenspur befand sich nichts als ein steiler Abhang, an dessen Fuß ein bewaldetes Tal lag. Ricks Hände umklammerten das Lenkrad fester, und jedes Mal, wenn ihm ein talwärts fahrendes Auto entgegenkam, bremste er ab und steuerte zum äußersten rechten Rand des Fahrstreifens. Es waren Pick-up-Trucks, Jeeps, Lastwagen und einige Campingfahrzeuge unterwegs. Die großen Wohnmobile hatten kaum genug Platz, um sich an Rick vorbeizuquetschen. Schließlich fuhr er auf den geschotterten Seitenstreifen und blieb stehen, wann immer er eins von ihnen in der Nähe einer Kurve auftauchen sah.

ENDE DER LESEPROBE