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»Sie sind nun mal ein verdammter Dieb!«, schrie sie, was die Menge der Gaffer vergrößerte. Aber Aufmerksamkeit war jetzt das Letzte, was Piero Sentelli gebrauchen konnte. So packte er blitzschnell zu, fasste die junge Frau grob am Oberarm und zerrte sie weg von der St. Lucia Street, in den dunklen Torbogen eines Hauses, eines ehemaligen Kinos, das, weil den Besuchern zu unbequem und altmodisch, abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden sollte. Im Hof des leeren Gebäudes war es totenstill, bis auf das leise Getrippel und gelegentliche Gequieke von Ratten. Im schwachen Mondlicht war allerlei Gerümpel zu erahnen, das kreuz und quer herumlag; jedenfalls brachte es Jane zum Stolpern. Nur die eiserne Faust Pieros verhinderte, dass sie hinfiel. Die junge Frau bekam es jetzt mit der Angst! Selbst wenn sie schrie, würde kein Mensch sie hören; sie war mutterseelenallein mit einem Banditen, der nichts zu verlieren hatte! Erst jetzt ging ihr auf, dass sie sich auf etwas eingelassen hatte, das etliche Nummern zu groß für sie war. Nur wenige Meter abseits einer belebten Straße war es hier ruhig wie auf einem Friedhof. Trotz der immer noch warmen Temperatur begann sie, zu frösteln. So schnell konnte man gekidnappt werden! Aber dann war da dieser Malteserritter …
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Karla Weigand
DER GEHEIMNISVOLLE MALTESERRITTER
Außer der Reihe 79
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
©dieser Ausgabe: April 2025
p.machinery Michael Haitel
Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.
Gründlich überarbeitete, erweiterte und teilweise neu geschriebene Neuausgabe des unter dem Titel »Die silberne Madonna« von Carola Blackwood im Kelter-Verlag in den Reihen »Gaslicht« (Band 331) und »Irrlicht« (Band 999) erschienenen Heftromans.
Titelbild: JJ Jordan (Pixabay)
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 181 5
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 904 0
So sehr die junge Krankenschwester ihre nicht gerade leichte Arbeit auch liebte, war sie jeden Morgen immer ganz froh, den Heimweg antreten zu können. Wenn sie zur Nachtschicht eingeteilt war, war sie meistens rechtschaffen müde und würde sich gleich hinlegen.
Die Uhr von St. Catherine schlug eben die halbe Stunde; ganz automatisch warf Jane Paulsen, dreiundzwanzig Jahre alt, einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war Montagmorgen um sechs Uhr dreißig und die junge Frau war auf dem Nachhauseweg vom »Sir Paul Boffa Hospital« in Valletta. Ihr Heimweg war zum Glück nicht lang und sie freute sich schon auf ihr gemütliches Zuhause.
Dass es sie, in Hamburg geboren und in Birmingham bei ihrer englischen Mutter aufgewachsen, ausgerechnet nach Malta verschlagen hatte, lag an einem Austauschprogramm von Pflegekräften innerhalb Europas. Maltesische Krankenschwestern und -pfleger konnten sich auf die britischen Inseln verpflichten und im Gegenzug war englisches Pflegepersonal auf der zauberhaften Mittelmeerinsel eingetroffen. Als man ihr das Angebot unterbreitet hatte, hatte sie sich – aus sehr persönlichen Gründen – umgehend beworben. Und es hatte geklappt. Bisher hatte Jane noch keinen Augenblick lang ihre Entscheidung, ihre Zelte in London abzubrechen, bereut.
Bereits seit einem Jahr lebte und arbeitete Jane, die ebenso gut Deutsch wie Englisch sprach, auf Malta. Nach einigem Suchen hatte sie ein kleines Appartement auf der Zachary Street in der Altstadt von Valletta gefunden, nahe dem St. John’s Square. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag vor ihrem Dienstantritt in der Klinik der Kathedrale von St. John’s einen kurzen Besuch abzustatten.
Obwohl nicht übermäßig fromm, konnte sich die junge Frau dem faszinierenden Gegensatz zwischen dem nüchternen, schlichten Äußeren und dem reichen, verschwenderisch ausgestalteten Innenraum dieses mächtigen Bauwerks nicht entziehen. Zwar in England durchaus an imposante Sakralbauten gewöhnt, besaß diese Kirche für die junge Frau eine geradezu magische Anziehungskraft.
Jane war noch wenige Meter vom Portal der Kathedrale entfernt, als sie zwei Männern in blauen Overalls ausweichen musste, die direkt auf sie zusteuerten und gemeinsam ein ziemlich schwer aussehendes, in grobe Leinwand gehülltes, flaches, rechteckiges Paket schleppten.
Es hatte den Anschein, dass sie geradewegs aus dem Museum herausgekommen waren, das im Komplex der Kathedrale integriert war. Jane nahm an, es müsse sich um einen Kunstgegenstand, wahrscheinlich um ein großes Gemälde, handeln, das gereinigt, restauriert oder sonst wie behandelt werden musste. Sie hatte schon öfters gehört, dass den alten, auf Holztafeln gemalten Heiligenbildern oft der Befall von Holzwürmern drohte. Gut, dass man sich um die Kunstschätze so gewissenhaft kümmerte.
Erstaunlich fand die junge Frau nur, dass die Arbeiter schon zu so früher Stunde zugange waren. Für gewöhnlich kam das Leben auf dieser an sich sehr quirligen Mittelmeerinsel erst viel später so richtig auf Trab.
Jane blickte sich um; aber außer ihr und den beiden Männern war niemand zu sehen. Bloß ganz vorne, an der Republic Street, konnte sie einen Mann von der Straßenreinigung ausmachen, der lustlos seinen Besen schwang.
Die zwei Arbeiter – es handelte sich um einen etwa Dreißigjährigen und einen etwa zehn Jahre jüngeren Mann – hoben das in Tuch verpackte Brett, das ein ganz ordentliches Gewicht zu haben schien, hinten in einen kleinen, roten Lieferwagen, der, den zahllosen Rostflecken nach zu urteilen, schon bessere Zeiten gesehen hatte.
»Auch schon so früh unterwegs, schöne Dame?«, sprach der Jüngere sie an und grinste sie dabei bewundernd an. Der Ältere, der gerade die Heckklappe des verbeulten und mit Lackschäden übersäten Vehikels zuschlug, meinte: »So hübsche Ladys wie Sie sollten um diese Zeit noch im Bett liegen und vom Himmel träumen!«
Unwillkürlich musste Jane über diese Bemerkung lachen. »Warum sprechen Sie mich auf Englisch an und nicht auf Maltesisch?«, erkundigte sie sich. »Woher wissen Sie denn, dass ich keine Malteserin bin?«
»Das ist nicht schwer zu erraten, Miss«, gab ihr der Jüngere, ein recht hübscher Bengel, zur Antwort. »Ihre strohblonden Haare und die schönen blauen Augen passen eher in ein weiter nördlich gelegenes Land! Hab’ ich recht?«
Janes Müdigkeit war auf einmal wie weggewischt und im Nu waren die drei jungen Leute in ein lebhaftes Gespräch verwickelt. Jane sah auch keinen Grund, den freundlichen Männern zu verschweigen, dass sie, vorerst noch zeitlich begrenzt, als Austauschkrankenschwester in Valletta arbeitete. Auch ihren Namen und den des Hospitals verriet sie den Arbeitern. Warum sollte sie ein Geheimnis daraus machen?
Im Gegenzug erzählten ihr die Männer, sie wären angestellt bei einem Restaurator für sakrale Kunstgegenstände.
»Bilder müssen eben hin und wieder gereinigt werden vom Staub und vor allem vom Ruß der vielen brennenden Kerzen!«, erklärte der ältere der beiden. »Das Zeug schadet den Bildern ungemein!«
»Sie haben ja noch Glück«, flachste Jane, »dass es sich bei Ihrem Gemälde nicht um »Die Enthauptung des Johannes« handelt! Da hätten Sie wahrscheinlich zu viert sein müssen, um das Riesenteil zu schleppen!«
Die Männer und Jane lachten erneut. Nichts deutete darauf hin, dass dieses freundliche und nichtssagende Geplauder in Kürze den Beginn eines äußerst merkwürdigen, aber auch gefährlichen Abenteuers der jungen Krankenschwester bedeuten würde. Nach einer Weile verabschiedeten sich die Arbeiter mit südländischer, temperamentvoller Liebenswürdigkeit.
Jane war mittlerweile richtig munter geworden; ihre Müdigkeit war wie weggeblasen und sie beschloss, die Kathedrale ausnahmsweise auch einmal nach Beendigung ihres Dienstes aufzusuchen.
Die Johannes-Kathedrale war Eigentum des Ordens der »Malteserritter«, wie sich die Mitglieder dieses Krankenpflege- und ehemaligen Ritterordens später genannt hatten, und einst Hauptkirche des Johanniterordens gewesen. Daneben gab es in Valletta noch die anglikanische Pauluskathedrale und die Karmeliterkirche mit ihrer markanten, zweiundvierzig Meter hohen Kuppel. Alles eindrucksvolle Bauwerke – aber Jane hatte es nun einmal die Johannes-Kathedrale angetan.
Die zwei »fleißigen Arbeiter« diskutierten inzwischen lebhaft über ihre neue Bekanntschaft.
»Dass mir die Süße vorher noch nie aufgefallen ist? Sie ist doch schon eine Weile auf der Insel! Sie ist ein richtiger Leckerbissen!«, schwärmte Piero.
Sein älterer Kollege Tonio grinste. »Stimmt, mein Lieber! Aber mach’ dir bloß keine Hoffnungen auf sie. Eine hübsche Krankenschwester gehört längst einem der vielen notgeilen Doktores! So wie diese Jane ausschaut, stehen die Kerle Schlange bei ihr. Brauchst dich gar nicht anzustrengen, Amigo!«
»Ha! Das sagst du bloß, weil du verheiratet bist! Deine Lucia ist so was von eifersüchtig, dass du dich gar nicht trauen würdest, dich mal so ein bisschen nach anderen Weibern umzuschauen. Du könntest aber wenigstens mir einen Erfolg bei dieser Karbolmaus gönnen!«, knurrte Piero.
»Ich gönn’ dir alles, Freundchen. Ich will dich bloß warnen!«, schlug Tonio einen versöhnlichen Ton an. Wozu einen Streit wegen der kleinen Engländerin anfangen?
Wie immer war die junge Krankenschwester beinahe überwältigt vom Reichtum und der Fülle der Innendekorationen dieses Bauwerks. So oft Jane die riesige Kathedrale schon besucht hatte, jedes Mal war sie aufs Neue fasziniert von der Ausmalung des Kirchenschiffs. In einem beeindruckenden Bilderzyklus von großflächigen Gemälden erzählte sie das Leben des heiligen Johannes des Täufers.
Neben den prunkvollen Marmorgrabmälern der ehemaligen Großmeister des Ordens wurde Jane vor allem von den genau dreihundertfünfundsiebzig Grabplatten der Kathedrale angezogen. Wie ein bunter Teppich belegten diese Marmorplatten, unter denen jeweils ein Ordensritter der Johanniter seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, das Innere des gewaltigen Kirchenraums.
Fast kam es der jungen Frau wie eine ungehörige Störung der Totenruhe vor, ungeniert über diese Gräber hinweg zu laufen; aber es war nun einmal die einzige Möglichkeit, sich in der Kathedrale fortzubewegen. Überall im Innern der Kirche stieß man auf das Wappen des einst so mächtigen Ritterordens, den achtzackigen Stern.
Wie gewöhnlich suchte Jane die »Sakramentskapelle« auf, um sich für einige Minuten zu sammeln und für die baldige Genesung der von ihr betreuten Patienten zu beten. Und jedes Mal war sie aufs Neue entzückt von der Schönheit des prachtvollen Gitters, Meisterwerk eines Silberschmieds, das die Kapelle vom übrigen Gotteshaus abschloss, sowie von der herrlichen Ikone über dem Altar, der sogenannten »Silbermadonna von Carafa«.
Es handelte sich um ein Brustbild Mariens und zeigte ein auf Holz gemaltes blutjunges, liebliches Antlitz mit feinem Lächeln, umrahmt von langem, seidig blondem Haar, während Gewand, Mantel und Kapuze aus schwerem Silber getrieben waren, ebenso wie die schlanken, wie segnend erhobenen Hände der Madonna und der Heiligenschein, den zwei kleine Engel über das Haupt Mariens hielten. Teilweise war die Ikone auch vergoldet.
Wie Jane von Matteo Torreani, einem jungen Wächter des Kathedralmuseums, erfahren hatte, war die Ikone in der Kirche nur eine, wenn auch ausgezeichnete Kopie, während das wertvolle Original im Museum aufbewahrt wurde.
Das junge Mädchen war so ehrlich, insgeheim zuzugeben, dass einer der Hauptanziehungspunkte im Museum dieser Matteo war: Ein gut aussehender junger Mann, Mitte zwanzig, ziemlich groß und muskulös, dessen beinah schwarze, unternehmungslustig blitzende Augen es ihr angetan hatten.
Mit seinem südländischen Teint und dem dichten dunkelbraunen Haar war er das genaue Gegenteil von ihr selbst. Als sie nach Malta gekommen war, hatte sie sich zwar vorgenommen, sich hier auf keinen Fall zu verlieben – schon gar nicht in einen sogenannten »latin lover«.
Diese flotten Burschen waren für ihre heißen Liebesschwüre, aber auch für ihre Unbeständigkeit bekannt. Immerhin litt Jane immer noch ein wenig an ihrer letzten Enttäuschung in England. Einer der Gründe, warum sie so darauf erpicht gewesen war, ins Ausland zu gehen …
Aber wie es den Anschein hatte, war sie auf dem besten Wege, alle ihre guten Vorsätze über Bord zu werfen und ihr Herz an genau diesen attraktiven Matteo zu verlieren.
»Man erkennt den Unterschied zwischen Original und Kopie eigentlich nur, wenn man die beiden Ikonen nebeneinander hängen sieht! Die gröbere und um etliches billigere Machart der Silberarbeit – nur ein hauchdünnes Silberblech – und die längst nicht so feine und anrührende Malerei des Gesichts der Madonna fallen in einigen Metern Entfernung, wie es in der Kapelle der Fall ist, dem ungeschulten Betrachter aber gar nicht auf!«, hatte Matteo Jane bei einem ihrer Besuche im Museum erklärt. »Dazu kommt noch die gewollt schwache Beleuchtung in der Kapelle, die dem Ganzen einen geheimnisvollen Zauber verleiht!«
Jane hatte die angenehme Empfindung, dass der charmante Museumswärter gerade ihr sehr gerne sehr ausführliche Erklärungen gab. Dadurch fühlte sie sich geschmeichelt und besuchte häufig die Ausstellung sakraler Kunstgegenstände.
Obwohl Jane wusste, dass »nur« eine Kopie in der Sakramentskapelle hing, spielte das für sie keine Rolle. Die Atmosphäre des imposanten Bauwerks war insgesamt dazu angetan, sowohl an die Vergänglichkeit, wie auch an den Neubeginn alles Irdischen zu gemahnen.
Gerade das erschien Jane von großer Bedeutung. Kam sie doch beinahe täglich aufgrund ihres Berufes in der Klinik auf irgendeine Weise mit dem Tod in Berührung.
Psychisch frisch gestärkt verließ sie die Kathedrale und suchte ihre in unmittelbarer Nähe gelegene, sorgfältig durch Holzläden abgedunkelte Wohnung auf, in der sie als Single lebte. Jane würde versuchen, mindestens bis zum Nachmittag zu schlafen und so der brütenden Mittagshitze – es war Anfang August – zu entkommen.
Nach der Siesta konnte sie ihre Einkäufe erledigen. Das machte ihr für gewöhnlich ungeheuren Spaß. Auf den Märkten und in den Geschäften ging es laut und temperamentvoll zu; die Auswahl, vor allem an Gemüsesorten, Südfrüchten und Meeresgetier auf Malta war umwerfend; von den Blumen ganz zu schweigen. Sie liebte Blumen über alles und hatte stets einen frischen Strauß auf ihrem Esstisch stehen. Vielleicht würde sie nachher noch eine Eisdiele aufsuchen, danach daheim ihre Einkäufe verstauen und sich anschließend in ihrer kleinen Kochnische eine einfache Mahlzeit zubereiten. Dann bliebe ihr noch genügend die Zeit, um fernzusehen oder ihren angefangenen Kriminalroman weiter zu lesen.
Um zehn Uhr abends begann dann erneut ihre Arbeit im Krankenhaus. Die Schichten wurden monatsweise getauscht. Sie hatte noch etliche Tage Nachtdienst durchzustehen, dann war sie wieder für den Tag eingeteilt.
Den »Unteren Barracca-Gärten« schräg gegenüber befand sich der Fischmarkt von Valletta. Dort, im obersten Geschoss eines zweistöckigen, äußerlich unauffälligen, im Inneren jedoch geradezu pompös eingerichteten Gebäudes, lief Signore Galleazo Santano wie ein gereizter Tiger in seinem protzigen Arbeitszimmer herum.
Er knallte die Fenster zu, um nichts von seinem Geschrei nach außen dringen zu lassen, fegte unbeherrscht Papiere von seinem Schreibtisch und kickte im Vorbeigehen den Fressnapf seiner Lieblingskatze in die Ecke. Fremden Leuten gegenüber mimte der etwas zu kurz geratene, kahle und stark übergewichtige Vierundfünfzigjährige den biederen »Geschäftsmann für Import und Export«. In Wahrheit handelte es sich bei ihm, nach eigener Einschätzung, um einen Gangster der obersten Kategorie. Er stammte immerhin aus einer der bedeutendsten »Mafia-Familien« Palermos … Nach dem Tod ihres Vaters hatte sein älterer Bruder Carlo Santano wie selbstverständlich die Familiengeschäfte des Clans an sich gerissen. Der war nun der »Pate« und alle anderen hatten zu kuschen – vor allem der um sechs Jahre jüngere Bruder Galleazo. Das war vor zwanzig Jahren gewesen. Galleazo hatte allerdings keine Lust auf die Bevormundung des überheblichen Carlos gehabt und war nach Malta gegangen.
Er wollte »sein eigenes Ding durchziehen« und hatte klein angefangen als Taschendieb, hatte später »gearbeitet« als gewiefter Einbrecher und Räuber und schließlich als Betrüger in größerem Stil. Als er sich endlich einen Namen gemacht hatte in der Ganovenszene Maltas, konnte er sich seine Mitarbeiter nach Belieben aussuchen.
Mittlerweile war er der gefürchtete »Padrone« und brauchte nicht mehr persönlich tätig zu werden. Er konnte es sich sogar leisten, seinem Bruder, der ihm nie etwas zugetraut hatte, sündteure Geschenke zu machen und sich auf Malta als Wohltäter und Unterstützer der Armen aufzuspielen.
Mit seinen großen Händen fuchtelte Galleazo erregt in der Luft herum, wobei seine Ringe an den groben Wurstfingern funkelten und glitzerten. Im Ausschnitt seines maßgeschneiderten Seidenhemdes war unter seinem Doppelkinn eine schwere Goldkette sichtbar, die seinen Stiernacken eng umschloss.
Mit dem Raub bedeutender Kunstwerke und ihrem Verkauf ins Ausland an reiche und skrupellose Sammler aus aller Welt, die bereit waren, für gestohlenes Gut horrende Preise zu bezahlen, war Signore Santano inzwischen steinreich geworden.
Längst musste er sich selbst die Finger nicht mehr schmutzig machen; außerdem erwiesen sich mittlerweile Erpressungen von Besitzern und Versicherungen um ein Vielfaches lukrativer.
Gerade die Versicherungen waren nicht nur bereit, die in aller Regel exorbitanten Versicherungssummen auszuspucken, sie erklärten sich überdies damit einverstanden, noch einmal gut die Hälfte, quasi als »Bonbon« für den Gauner Santano, draufzulegen.
Im Weigerungsfalle drohte der nämlich eiskalt, das betreffende Objekt zu zerstören und, anonym natürlich, in kleinen Stücken zerhackt an die größte Zeitung des Landes und ans Fernsehen zu schicken.
Das enthob ihn zudem des Aufwandes, die Kunstwerke an Polizei und Zoll vorbei außer Landes zu schmuggeln – was ihm, ganz nebenbei bemerkt, auch noch einiges an Schmiergeldern ersparte …
»Ihr dämlichen Ochsen! Ihr dreimal verfluchten Idioten! Der Teufel soll euch holen! Ihr verdient es, vom Turm der Kathedrale auf die Piazza geschmissen zu werden, ihr unfähigen Kretins!
Eure Dämlichkeit kann das Ende unserer Tätigkeit auf Malta bedeuten, ihr saublöden Hunde!«
Das war nun mal eine echt »liebenswürdige Ansage« – selbst für seine Verhältnisse. Mittlerweile hatte er sich zu einem ähnlichen Schwein entwickelt wie sein älterer Bruder Carlo… Vor Erregung spritzte der Geifer aus Signore Galleazo Santanos Mund; der Süditaliener war vor Zorn dunkelrot angelaufen.
Am liebsten hätte er den beiden Unglücksraben eigenhändig die Hälse umgedreht. Diese Hornochsen könnten schuld daran sein, dass seine gesamten Geschäfte platzten!
Piero Sentelli, zweiundzwanzig, und Tonio Pugi, einunddreißig Jahre, die beiden Kunstdiebe in den blauen Overalls, standen vollkommen verdattert und wie zwei begossene Pudel vor ihrem zornsprühenden Chef.
Piero erweckte den Eindruck, als stünde er kurz davor, sich aus Angst vor dem Wütenden in die Hose zu machen, während der ältere und abgebrühtere Tonio sich krampfhaft bemühte, so etwas wie Haltung zu bewahren. Aber auch er war inzwischen wie sein Kollege blass um die Nase geworden.
Tonio Pugi war es dann auch, der eine kurze Pause im Wortschwall ihres Herrn und Meisters nützte. Indem er sich an seinen jungen, total verängstigten Kollegen wandte, warf er trocken ein: »Kapierst du jetzt, Piero, was ich vorhin gemeint habe? Ich hatte dich gewarnt, dass du dein Maul halten solltest! Jetzt haben wir den Salat und können uns den Sermon vom Boss anhören!«
»Wie bitte? Sermon? ›Sermon‹ nennst du das, du verdammter Kretin?!« Galleazo Santano schien kurz vor einem Schlaganfall.
»Ich will euch jetzt mal was sagen, ihr zwei Pfeifen! Wenn wir auffliegen, bin ich längst in Italien oder Tunesien. Und ihr beiden Idioten könnt dann hier allein in den Bau gehen! Ihr verdient es ja nicht anders!«
Tonio, der etwas Schlauere von beiden, begriff, dass ihr Auftraggeber sie im Ernstfall gnadenlos im Schlamassel sitzen ließe – und das brachte ihn schlagartig zur Besinnung.
»Nur keine Angst, Signore Santano! Piero und ich werden die Signorina schon finden!«, versprach er und schaute seinen Arbeitgeber treuherzig an.
Das besänftigte den jedoch mitnichten.
»So? Wie denn, ihr Tölpel? Ihr hättet das Weibsstück, das euch gesehen hat, gar nicht erst gehen lassen dürfen! So früh am Morgen ist normalerweise noch kein Mensch auf den Straßen. Sogar die alten Betschwestern kommen erst etwas später zur Frühmesse in die Kathedrale.
Da wäre es überhaupt keinem aufgefallen, wenn ihr das Weibsbild in euren Wagen gezerrt und hierher gebracht hättet! Ein paar vernünftige Worte mit dem Mädel und es wäre auf unserer Seite gewesen! Ein paar größere Scheine wirken bekanntlich Wunder, ihr Dummbeutel!
Und wenn nicht, dann gibt es hier an der Küste genügend Möglichkeiten, eine widerborstige Person für immer zum Schweigen zu bringen!«
Den zwei Ganoven lief es bei diesen Worten eiskalt den Rücken hinunter. Wütend begann Santano erneut, in seinem Büro wie ein gereizter, eingesperrter Tiger herumzulaufen.
»Malta, und vor allem Valletta, ist vollgestopft mit wertvollem Kulturgut! In ein paar Jahren seid ihr zwei Kerle mehrfache Millionäre und zwar Dollarmillionäre, wenn ihr euch nicht allzu dämlich anstellt!«, machte er ihnen weis. »Wollt ihr euch das kaputt machen lassen durch eine dumme Gans, die möglicherweise zur Polizei rennt und sich wichtigmacht mit der Beschreibung von euch?«
Daran hatten die zwei Kunstdiebe noch gar nicht gedacht. Betreten wie zwei Schuljungen, die der gestrenge Herr Lehrer beim Mogeln ertappt hat, blickten sie zu Boden.
Santano, der sich ein ganz klein wenig beruhigt zu haben schien, fuhr ein bisschen leiser fort: »So kleine, schäbige, rote Lieferwägen gibt’s zum Glück jede Menge auf der Insel, Piero; aber sicherheitshalber lässt du ihn von deinem Bruder umspritzen in Schwarz oder Blau!«
»Sicher, Chef, sofort!« Piero Sentelli, der noch reichlich unerfahrene Nachwuchsbandit, beeilte sich, den wütenden Galleazo Santano zu besänftigen.
»Ich erwarte von euch Kerlen, dass ihr mir, wenn ihr mir das nächste Mal unter die Augen tretet, das Verschwinden dieses Mädchens melden könnt! Capito?
Hier in meinem Büro will ich das Weibsstück allerdings gar nicht mehr sehen. Das ist jetzt ganz allein eure Angelegenheit! Und erst, wenn ihr das zu meiner Zufriedenheit erledigt habt, bekommt ihr euer Geld für den heutigen Fischzug – und keinen Moment früher! Claro?«
Auch das noch! Keine Kohle! Dabei hatten beide die jeweilige Summe längst verplant gehabt. Im Vorgriff darauf hatte Tonio Pugi leichtsinnigerweise sogar bei einem anderen zwielichtigen Zeitgenossen einen Kredit aufgenommen, dessen Rückzahlung in den nächsten Tagen fällig wurde. Und mit dem Scheißkerl war nicht zu spaßen. In gewissen Kreisen kolportierte man, allzu säumige Zahler hätten ein schlimmes Ende genommen…
»Verstanden, Chef! Alles klar!«, murmelte Tonio alles andere als zufrieden, während er seinen Kumpel diskret am Ärmel zog. Der Boss hatte bereits Anstalten gemacht, sich irgendwelchen wichtigen Geschäftspapieren zuzuwenden, die er erst wieder vom Boden aufheben musste; die Audienz war augenscheinlich beendet.
Um sich beim Alten Liebkind zu machen, konnte Piero es nicht lassen, zum Abschied noch eins drauf zu setzen: »Wir werden das Frauenzimmer bald haben, Chef! Wir wissen ja immerhin, dass sie ›Jane‹ heißt und als Krankenschwester im ›Sir Paul Boffa Hospital‹ arbeitet!«
Wie ein Schulbub, der von seinem Lehrer ein Sonderlob für eine Fleißaufgabe erwartet, schaute Piero Sentelli dabei dem momentanen Oberhaupt einer Bande von Kunstfälschern, Dieben und Einbrechern treuherzig in die Augen.
»Wie bitte?«
Wie von einer Tarantel gestochen fuhr der dicke Mann auf den jungen Trottel Piero los. »Sag’ das noch mal, du blöder Arsch!«
Tonio Pugi verdrehte die Augen gen Himmel. Es war in der Tat unfassbar! Verriet der Idiot dem »Alten« doch tatsächlich, dass sie sich mit dem Mädel sogar unterhalten hatten! Was hatte der Junge bloß in seiner Birne?
»Habt ihr Volltrottel der Tussi vielleicht auch noch brühwarm erzählt, was ihr da aus dem Kathedralmuseum habt mitgehen lassen? Euch zwei Pfeifen traue ich allmählich alles an Schwachsinn zu!«
»Aber nein, woher denn, Chef! Was denken Sie denn nur von uns!« Tonio machte jetzt ganz schnell auf beleidigt. Aber der erneut in helle Wut geratene Gangsterboss riss die Tür seines Büros auf und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Aus meinen Augen, ihr blöden Hammel! Schaltet sofort die verdammte Zeugin aus! Und wagt es ja nicht, bei mir wieder angekrochen zu kommen, ehe ihr das erledigt habt!«
Die beiden stolperten eilig die ausgetretenen Treppenstufen hinunter. Nix wie schnell weg vom »Alten«! Bei dessen miserabler Laune wusste man nie, wozu er fähig war …
»Und verändert gefälligst euer Aussehen, ihr Deppen!«, schrie der ihnen noch nach. Aber das hörten die beiden schon gar nicht mehr.
Drei Tage später war es – Jane war in der Klinik überraschend zur Nachmittagsschicht von vierzehn Uhr bis zehn Uhr abends eingeteilt – und hatte dabei gerade mal gegen vier Uhr für fünf Minuten eine kleine Verschnaufpause eingelegt. Der Personalmangel war auch hier ein großes Problem.
Jane hatte vor, die Pause in der Kantine für eine schnelle Tasse Kaffee zu nutzen und dabei einen Blick in die englischsprachigen »Malta News« zu werfen. Es handelte sich um die Morgenausgabe des heutigen Tages, die eine Kollegin im Schwesternzimmer liegen gelassen hatte.
Jane beabsichtigte, sich einen Überblick über das kulturelle Angebot in Valletta zu verschaffen. Das war geradezu üppig zu nennen. Obwohl von London her in dieser Hinsicht sehr verwöhnt, vermisste die junge Frau überhaupt nichts. Wirklich für jeden war etwas dabei; man hatte sozusagen die Qual der Wahl.
Als sie nach den »News« griff, stockte ihr beinah der Atem. Was war das denn um Himmels willen? Gleich vorne auf der ersten Seite war ein Knaller erster Güte platziert. »Dreister Kunstraub in Valletta!«, lautete die Überschrift in extra großen Lettern.
Aufgeregt begann Jane, zu lesen.
»Kunstdiebe haben vor etlichen Tagen aus dem bedeutenden Museum der Sankt-Johannes-Kathedrale die weltberühmte, sogenannte ›Silberne Madonna von Carafa‹ geraubt!
Die Geschäftsleitung erklärt, man wisse nicht einmal genau, wann das einmalige Objekt entwendet worden ist, weil die Diebe – die Polizei glaubt mit Sicherheit, es waren mindestens zwei Männer, wegen der Größe und des Gewichts des Kunstwerks – das Original der äußerst wertvollen Ikone mit einer ziemlich gut gemachten, aber wertlosen Kopie vertauscht haben.
So war der Raub auch niemandem aufgefallen, bis zufällig am gestrigen Mittwochnachmittag ein italienischer Kunstexperte aus Florenz dem Museum einen Besuch abstattete. Dieser erkannte die Fälschung sofort und schlug umgehend Alarm.
Die Kriminalpolizei, die sofort eingeschaltet wurde, glaubt, dass die Spur der Täter mit Sicherheit längst kalt geworden sein müsste. Man weiß ja nicht einmal, wie lange der Ersatz schon an der Wand des Museums hängt …
›Wahrscheinlich befindet sich das Original der Silbernen Madonna schon längst im Ausland‹, meint Commissario Bernardo Fanetti. Er bittet aber dennoch ganz dringend alle Personen, denen eventuell vor einiger Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, das möglicherweise mit dem Raub etwas zu tun haben könnte, und die irgendwelche Angaben zu diesem Delikt machen können, um ihre Mithilfe bei der Suche nach der gestohlenen Ikone, unter derRufnummer …«
Es folgten die Telefonnummer sowie die Internetverbindung der örtlichen Polizeistation. »Auf Wunsch werde man alle Mitteilungen natürlich vertraulich behandeln. Bei sachdienlichen Hinweisen winke auch ein Finderlohn. Man wolle alles unternehmen, um dieses wertvolle maltesische Kulturgut den Klauen von Verbrechern zu entreißen.«
Jane war sofort entschlossen, ihre Beobachtung vom Montagmorgen an die Polizei weiterzugeben. ›Und ich naives Ding habe geglaubt, dass die beiden Kerle brave Arbeiter sind, die ein Bild zum Restaurator bringen!‹, dachte sie betroffen. ›Dabei wirkten die zwei so nett und vertrauenswürdig. Wie sehr man sich doch täuschen kann!‹
Ihre ohnehin viel zu kurze Pause war zwar schon wieder vorbei, aber sie wollte noch ganz schnell ihren Anruf tätigen. Als sie grade ihr Handy zücken wollte, summte es und ein rotes Lämpchen leuchtete auf dem Gang über der Tür eines Patientenzimmers auf, das ihr signalisierte, dass ein Kranker ihrer Hilfe bedurfte. Ihre Arbeit und damit die Versorgung leidender Menschen hatte allemal Vorrang. Jane eilte in das betreffende Zimmer, in dem der Alarm ausgelöst worden war. Es handelte sich tatsächlich um einen ziemlich schweren Zwischenfall.
Während ihrer restlichen Dienstzeit standen Schwestern und Pfleger unter ungewöhnlichem Stress. Bis zur Beendigung ihrer Schicht hatte Jane keine einzige freie Minute mehr; weder zum Verschnaufen und noch weniger, um ein vermutlich länger andauerndes Telefonat zu führen. Ohne Pause wünschten die Patienten auf ihrer Station irgendetwas von Schwester Jane. Oberschwester Marcia Bandone hielt das gesamte, ihr unterstellte Pflegepersonal unter strenger Beobachtung …
Nicht einmal mit ihrer Lieblingskollegin, Sofia Marcantoni, einer hübschen, schwarzlockigen Schwester von der Nachbarinsel Gozo, konnte sie über ihr Erlebnis mit den zwei Arbeitern sprechen und mit dem diensthabenden Arzt, Luca Farinelli, noch viel weniger!
Er musste im OP einen schwierigen Notfall versorgen; einen vierzehnjährigen Jungen, der von einem der zahlreichen, die Insel geradezu überschwemmenden Touristenbusse schwer verletzt worden war, als dessen Fahrer beim Zurückstoßen auf dem zentralen Busparkplatz in Valletta nicht genügend aufgepasst hatte.
Der Bursche war dort herumgestanden und hatte den Fremden Ansichtskarten von Malta und den anderen Inseln zum Kauf angeboten. Er war dabei wohl in den »toten Winkel« geraten und von dem Buslenker aus Deutschland übersehen worden.
Jane musste ein Bett auf ihrer Station herrichten für das arme Bürschlein, das sich etliche Rippen, den linken Arm und das linke Schienbein gebrochen hatte. In der Klinik fehlte es auch an Personal, das sich um solche Dinge zu kümmern hatte.
»Demnächst wird uns die Krankenhausleitung noch als Putzfrauen einsetzen! Wart’s nur ab«, hatte erst neulich Schwester Sofia geunkt.
Jane befestigte gerade das Namensschildchen des Unglücksraben am metallenen Bettgestell – Enzo Torres – da meldete sich schon wieder ihr Piepser. Sie wurde dieses Mal aufgefordert, ein steriles Bett ins Untergeschoss zu fahren und dort den operierten, eingegipsten und gerade aus der Narkose aufwachenden Jungen von Operationssaal II abzuholen und ihn auf ihre Station hinaufzubringen.