Loretta - Karla Weigand - E-Book

Loretta E-Book

Karla Weigand

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Beschreibung

Nachdem ihr Ehemann 1323 und ihr Schwiegervater 1324 gestorben sind, regiert Gräfin Loretta von Sponheim ab 1324 alleine die Grafschaft Starkenburg an der Mosel. Nach territorialen Auseinandersetzungen kommt es zu einer Kraftprobe mit einem der damals mächtigsten Männer Europas, dem Kurfürsten Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Trier. Loretta nimmt den Erzbischof in Gefangenschaft, ertrotzte ein hohes Lösegeld und weitreichende politische Zugeständnisse.

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Loretta

Eine Frau kämpft um ihr Recht

Historischer Roman

Karla Weigand

Fehnland-Verlag

Erstausgabe

Alle Rechte beim Verlag

Copyright © 2019

Fehnland-Verlag

26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

Coverdesign: Tom Jay

Lektorat: Dr. Helga Jahnel

9783947220496

Gewidmet

meinem Mann Jörg Weigand, der mich erstens ermuntert hat, überhaupt mir dem Schreiben von Geschichten und Romanen zu beginnen, und der mich zweitens stets tatkräftig bei meinen Recherchen unterstützt.

Inhalt

PROLOG

Der Todesengel geht um; Frühjahr anno 1323

TEIL I

Auch die Mächtigen verschont der Tod nicht

In einem Wäldchen bei Traben-Trarbach

Es geht zu Ende – Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit

Erinnerung und Abschied

TEIL II

Neubeginn, anno 1324

Ankunft auf der Starkenburg; Loretta als gelehrige Schülerin

Ein weiterer Schicksalsschlag

Eine Seuche geht um

Ein weiteres Treffen der Verschwörer im Herbst 1324 bei Traben-Trarbach

Im erzbischöflichen Palais in Trier

Neue Aufgaben für Loretta

Der Familienrat trifft eine Entscheidung

Alltag auf der Starkenburg

Dunkle Wolken brauen sich im Sommer 1325 zusammen

Lorettas stärkster Gegner holt zum ersten Schlag aus; Loretta fällt ein Urteil

Im erzbischöflichen Palais in Trier

Unliebsame Vorfälle häufen sich im Jahr 1326

Not und Elend – und auch anno 1327 kein Ende abzusehen

Herbst 1327; in der erzbischöflichen Stadt Trier

Geschäftiges Markttreiben in der Stadt

Eine interessante Bekanntschaft

TEIL III

Loretta und Balduin begegnen sich zum ersten Mal

Ein schlimmer Vorfall stört den Alltag auf der Starkenburg

Höchste Gefahr für die Starkenburg und ihre Bewohner

Kurz danach hat Loretta eine Idee

Ein merkwürdiger Besucher durchbricht den Alltag

Ein Betrüger fällt auf die Nase

Trügerischer Friede

Ein Fest auf der Starkenburg

Feine Lebensart in der Provinz

Ein Höriger wird Vasall

Gefahr für Lorettas jüngsten Sohn; aber das Fest geht weiter

Erzbischof Balduin von Trier zu Gast beim König

Sängerwettstreit auf der Starkenburg

Es geht nicht nur um Küchengeheimnisse

Loretta gewinnt Madeleine als Vertraute

Ein wichtiges Gespräch mit Frau Gerlind

Gottfrieds Befreiung aus der Geiselhaft

TEIL IV

Loretta macht Ernst

Der Erzbischof geht in die Falle

Lorettas ‘hochgeschätzter Gast‘

Balduins ‘Wunder‘ auf der Starkenburg

Der Erzbischof arrangiert sich

Balduin erlebt Loretta als Richterin

Balduins Gefangennahme schlägt hohe Wellen

Auch der Papst erfährt von Balduins Dilemma

Balduins Abschied von der Starkenburg zeichnet sich ab

Erzbischof Balduin als Helfer in der Not

Gerlind und Balduin als Geiselbefreier

Auf der Burg feiert man ein Freudenfest

Loretta fasst sich ein Herz

Ewige Freundschaften

TEIL V

Lorettas ‘Sieg‘ über Balduin und Henris Enttäuschung

Strafe für Johanns Entführer; Abschied und Reisevorbereitungen

Abweichung von der Reiseroute

Bizarre Form der Frömmigkeit

Radegund, die Seherin aus dem Sundgau, weissagt Schlimmes

Der Aussatz – die schlimmste Geißel der Menschheit

Ludwig der Bayer im römischen Kapitol

Die Reise nach Avignon nimmt weiter ihren Lauf

Schon wieder die Gaukler!

Ein weiteres Unglück überschattet die Reise

Lorettas Sorge um Heinrich

TEIL VI

In der Papststadt Avignon

Loretta beginnt, sich mit Avignon vertraut zu machen

Loretta zu Gast bei Monsieur Arnaud

Loretta und Monsieur Arnaud kommen sich näher

Was kostet die Lösung vom Kirchenbann?

Eine ganz besondere Liebesnacht

Loretta fällt eine Entscheidung

Avignon, Sündenbabel und ‘heilige Stadt‘ zugleich?

Pater Radolfs starke Schulter bietet Loretta Halt

Lorettas Bereitschaft, sich dem Papst zu unterwerfen

EPILOG

Nachsatz

PROLOG

Der Todesengel geht um; Frühjahr anno 1323

»So helft mir doch! Haltet sie fest!«, schrie der Alt­bauer Simeon, der ver­geb­lich ver­suchte, seine Schwie­ger­toch­ter Sigrun zu bändi­gen. Das junge Weib war außer sich. Rasend vor Schmerz hatte sie sich erst über die Lei­chen ihrer drei- und fünf­jähri­gen Kinder ge­worfen, ihre Finger ins Laken kral­lend, womit Mutter Sara, die Dorf­heile­rin, die Klei­nen zu­ge­deckt hatte. Jetzt schlug Sigrun wild um sich.

»Nein, nein, nein!«, kreisch­te sie fort­wäh­rend, »nicht meine Anna! Nicht meine Berta! Dann hatte sie be­gonnen, ihren Herrn, den Grafen von Spon­heim, den sie – und nicht nur sie! – für das Elend der Dorf­leute von Hammer­stein ver­ant­wort­lich zu machen und wüst zu be­schimp­fen.

»Der hohe Herr lässt es sich wohl sein auf seiner Burg und uns Bauern lässt er seelen­ruhig ver­recken! Schan­de über ihn!« »Still! Lass’ das bloß keinen Frem­den hören«, ver­suchte Simeon sie zu brem­sen. Aber für Sigrun gab es nun, nach­dem sie kurz nach Weih­nach­ten zur Witwe ge­worden war und jetzt auch noch ihre Kinder be­graben musste, kein Halten mehr. »Ich mag nicht mehr schwei­gen!«, brüll­te sie, dass es den weni­gen An­wesen­den, die Zeugen des Dramas waren, in den Ohren gellte.

Außer Sigrun und Simeon, dem Groß­vater der Kinder, hiel­ten sich noch Erd­mu­te, seine mitt­ler­weile geis­tes­schwach ge­wor­dene Frau, sowie Sara, die Heile­rin und Heid­run, Si­meons jün­gere, un­ver­heira­tet ge­blie­bene Schwes­ter, in der Kammer auf.

»Ich ver­fluche Euch, Graf Hein­rich von Spon­heim, samt Eurem Vater Johann, die Ihr nichts ge­tan habt, um unser Elend zu lin­dern! Möge der Teufel Euch holen!«, ver­stieg sich, dro­hend die er­hobe­nen Fäuste bal­lend, die junge, sicht­lich schwan­gere Bäue­rin und warf sich er­neut mit wildem Schluch­zen über die aus­gezehr­ten, noch warmen Leiber ihrer Kinder.

Hilf­los ver­suchte Simeon, die Schwie­ger­toch­ter weg­zu­zerren. Die fauch­te wie eine Wild­katze und be­gann, ihn zu krat­zen und nach ihm zu schla­gen. Er­schro­cken wichen die älte­ren Frauen bis zur Kammer­tür zurück. Ge­fähr­lich er­schien ihnen die sich in ihrem Schmerz und ihrem Zorn wie wahn­sinnig Ge­bär­dende. Nach Si­meons Auf­forde­rung näher­ten sie sich nur zö­gernd der jungen Frau.

End­lich ge­lang es ihnen mit ver­einten Kräf­ten, die To­bende vom Bett mit den klei­nen Lei­chen fort­zu­ziehen. Mit Nach­druck setzte Simeon sie auf einen Hocker. Darauf­hin be­gann Sigrun Gott zu läs­tern. Dem ginge es droben in seinem Himmel ja gut! Was scher­ten ihn da die Kümmer­nisse der klei­nen Leute? Im Grunde waren dem Herr­gott doch bloß die edlen Herr­schaf­ten wich­tig!

»Und die wie­derum tram­peln auf uns recht­losen Leib­eige­nen herum!«, krächz­te Sigrun er­schöpft. Vor lauter Brül­len ver­sagte ihr all­mäh­lich die Stimme. »Nach dem Mann hat der Herr­gott mir jetzt auch noch meine Kinder ge­nommen! Soll ich ihm dafür viel­leicht noch ein Dank­gebet auf­sagen?«

Das Letzte brach­te sie nur noch müh­sam hervor, ehe sie ohn­mäch­tig vom Sche­mel auf den ge­stampf­ten Lehm­boden rutsch­te. Erd­mu­te, ihre Schwie­ger­mutter re­agierte über­haupt nicht; die alte Frau be­griff nicht mehr, was sich hier ab­spiel­te.

Simeon, Sara und Heid­run hatten es schwer, die kurz vor der Ent­bin­dung ste­hende junge Frau ins Bett zu schaf­fen, das­selbe, in dem be­reits ihre toten Kinder neben­einan­der lagen … Es war die ein­zige Bett­statt, die zur Ver­fügung stand. Die übri­gen Haus­be­wohner pfleg­ten ihren Stroh­sack des Nachts in irgend­einem Winkel des winzi­gen Häus­chens oder in der Scheu­ne, die zu­gleich als Hühner- und Ziegen­stall diente, aus­zu­brei­ten.

Den alten Simeon, der in kurzer Zeit seinen ein­zigen Sohn und zwei seiner Enkel ver­loren hatte, hielt es plötz­lich nicht mehr in dem elen­den Loch, in dem es nach bitte­rer Armut und jetzt auch noch nach Tod roch. Seine Pflicht vor­schüt­zend, sofort den Dorf­pries­ter von der neuer­lichen Tragö­die ver­stän­digen zu müssen, stürz­te er förm­lich durch die wacke­lige Tür nach draußen.

Für ge­wöhn­lich infor­mierte Sara, die Heil­kun­dige, die auch als Weh­mutter fun­gierte, den Geist­lichen über Todes­fälle in seinem Spren­gel. Zum Glück tat sie es dieses Mal nicht. Bald darauf, als Sigrun aus ihrer Ohn­macht er­wachte und er­kannte, wer bei ihr lag, tat sie einen wilden Auf­schrei und gleich noch einen zwei­ten: Ihre Frucht­blase war ge­platzt; sie würde nieder­kommen – und zwar direkt neben ihren toten Kin­dern. So konnte Sara der Ge­bären­den wenigs­tens Hilfe leis­ten.

Der Winter von 1322 auf 23 war un­gewöhn­lich lang und hart ge­wesen. Viele, zu­meist Alte und Kinder, hatten ihn nicht über­lebt, denn Nah­rungs­mittel waren auf­grund einer Miss­ernte Mangel­ware ge­worden, ebenso wie Brenn­holz und Vieh­futter. Be­reits vor dem Weih­nachts­fest aßen die Bauern ihr Klein­vieh auf; Kühe be­saßen nur die wenigs­ten. Eine töd­liche Krank­heit, die sich vor allem jünge­ren Män­nern, auch Si­meons Sohn, auf die Brust legte und ihnen den Atem ab­schnür­te, hatte ver­hin­dert, dass ge­nügend Nach­schub an Brenn­barem heran­ge­schafft wurde, um die Elend­ska­ten der Dörf­ler wenigs­tens not­dürf­tig zu be­heizen.

Weiber und Knaben waren zu schwach ge­wesen, bei Schnee und Eis Bäume zu fällen und Holz zu hacken. Was Krank­heiten und Hunger nicht ver­moch­ten, voll­endete die über Wochen an­dau­ernde Eises­kälte. Vor An­stren­gung keu­chend und mit Schmer­zen in Rücken und Beinen er­reich­te Simeon das Haus des Geist­lichen. Der Pfarr­herr von Hammer­stein seufz­te schwer, als er das Kir­chen­buch auf­schlug: Neuer­liche Sterbe­fälle waren zu ver­zeich­nen; und wie­derum han­delte es sich um kleine Kinder.

Die Ein­träge erfolg­ten nicht nament­lich; so hieß es bei­spiels­weise: ›Anno 1323 am drit­ten Tag des Monats Mar­tii ein Knecht, seines Alters 22 Jahre, an Lungen­sucht ge­stor­ben‹. Oder, wie an diesem Tag, an dem er die im wahrs­ten Sinne des Wortes dop­pelt trau­rigen An­gaben des leib­eige­nen Bauern Simeon ein­trug: ›Am 17.Tag des Monats Mar­tii zween Mägd­lein, drei und fünf Jahre alt, Hun­gers wegen ver­schie­den‹.

Unter der Rubrik ›Ge­burten‹ war seit ver­gange­nem Novem­ber nichts mehr ver­merkt. Wenn er von Zu­wachs im Dorf lesen wollte, musste der Geist­liche schon ziem­lich weit im Kir­chen­buch zurück­blät­tern.

»Das gilt nicht nur für Hammer­stein«, stell­te der Geist­liche be­küm­mert fest, nach­dem Simeon ihm wort­reich sein Leid ge­klagt hatte, »son­dern auch für En­kirch, Trar­bach, Reil, Rei­chen­bach, Ans­wei­ler, Nohen und Rims­berg.«

Für Simeon be­deu­tete das keinen Trost. Auch nicht die Aus­sicht, dass seine Schwie­ger­toch­ter in Kürze neues Leben hervor­bräch­te. Bei dem unter­ernähr­ten Zu­stand des jungen Weibes war die Wahr­schein­lich­keit gering, ein lebens­fähi­ges Kind zu ge­bären …

Auf dem Heim­weg musste Simeon daran denken, was Sigrun Böses über den Grafen ge­sagt hatte und über den Herr­gott, der ganz offen­sicht­lich nur auf die Rei­chen und Vor­nehmen schau­te. Es stimm­te ja! Er, Simeon, mit kaput­ten Füßen und schmer­zenden Beinen, gänz­lich ab­ge­schafft mit Mitte fünf­zig, sah es genau­so.

»Ob­wohl ich dem Ende meines irdi­schen Da­seins um vieles näher stehe, als meine junge Schwie­ger­toch­ter und daher zu Recht Angst vor dem Tod und dem ›Danach‹ habe, glaube ich ihr in diesem Punkt un­bese­hen. Im Himmel wird es nicht viel anders sein als hier auf Erden: Die Edel­leute schaf­fen an und wir Bauern ducken uns«, mur­melte er grim­mig vor sich hin. Vor­sichts­halber schau­te Simeon sich um, ob ihn wo­mög­lich jemand hören konnte, ehe er fort­fuhr: »Eigent­lich müsste man doch was da­gegen tun können!«

TEIL I

Auch die Mächtigen verschont der Tod nicht

»Alles Wei­tere liegt nun allein in Gottes Hand, Herrin.«

Die Stimme Ra­dolfs von Metz, vier­zig­jähri­ger Pries­ter­mönch eines Benedik­tiner­klos­ters in der Nähe der Stadt Colmar und Beicht­vater der jungen Gräfin Lo­ret­ta von Spon­heim, klang rau und er­schöpft.

Es war der 16. März anno 1323, genau elf Uhr nachts. Der Pater nahm das Stun­den­glas von der Truhe neben dem Bett auf. In diesem Augen­blick rie­selten die letz­ten Körn­chen in die untere Glas­kugel und er drehte den Zeit­messer um. Die Mitter­nachts­stunde be­gann.

»Ihr soll­tet Euch zur Ruhe be­geben, Madame! Es nützt keinem, wenn auch Ihr krank werden soll­tet, am wenigs­ten Euren Kin­dern. Sobald sich im Be­finden Eures Ge­mahls auch nur das Ge­ringste ändert, werde ich Euch sofort Nach­richt geben. Aber, jetzt bitte ich Euch«, redete er ihr ein­dring­lich zu, »ver­sucht, ein wenig zu schla­fen, meine Toch­ter. Die nächs­te Zeit wird Euch das Äußers­te an Kraft ab­ver­langen.«

Die über­schlan­ke, junge Dame, der­zeit Haus­herrin auf der Burg Wolf­stein, an die sich die Worte des hoch ge­wach­senen Paters rich­teten, wandte ihm ihr blas­ses Ge­sicht zu. Sie nickte zö­gernd, ehe sie sich von ihrem Sche­mel er­hob.

Seit vielen Stun­den ver­harrte die junge dunkel­blonde Frau schon am Lager ihres Ge­mahls, Hein­rich von Spon­heim-Star­ken­burg. Dem an­wesen­den Me­di­cus warf sie einen letz­ten ver­zwei­felten Blick zu. Der Mann ver­beugte sich tief vor ihr, ehe er sich an­schick­te, das Kran­ken­zimmer samt den üb­lichen Utensi­lien seines Berufs­stan­des zu ver­lassen, in der Haupt­sache Ader­presse, ver­schie­dene Nadeln und Schröpf­gläser.

Er hatte die Gräfin nicht dar­über im Un­klaren ge­lassen, dass es der letzte Ader­lass sei, den er an ihrem erst drei­und­drei­ßig Jahre alten Ge­mahl vor­genom­men habe: Die ärzt­liche Kunst war an ihr Ende ge­langt. Von nun an wäre der Platz am Bett des Ster­benden allein dem Pries­ter, sowie den nächs­ten An­gehö­rigen vor­behal­ten.

Seit Jahr­zehn­ten be­reits ver­sah Gi­ro­la­mo Cro­ce, ein in Medi­zin ver­sier­ter Magis­ter aus Bolo­gna, seine Pflicht bei der Grafen­fami­lie. Lo­ret­tas Schwie­ger­vater, Graf Johann von Spon­heim, hatte, sobald er vom be­denk­lichen Zu­stand seines ein­zigen Sohnes er­fuhr, seinen eige­nen Leib­arzt, Dot­to­re Gi­ro­la­mo, nach Wolf­stein ge­sandt. Auch Lo­ret­ta hatte alle ihre Hoff­nungen in die Fähig­keiten dieses Ge­lehr­ten ge­setzt.

Und nun ließ dieser nicht den gerings­ten Zwei­fel daran, dass nicht nur die Tage, son­dern be­reits die Stun­den ihres Gatten ge­zählt waren und dass Schloss Wolf­stein an der Lauter, un­weit Meisen­heim, Hein­richs Sterbe­ort sein werde. Das Ein­zige, was man noch zu tun ver­möge, sei, dem Tod­kran­ken die bereit­gestell­ten Drogen zu ver­abrei­chen; sie würden ihm eventu­elle Schmer­zen und Angst­ge­fühle nehmen und ihn fried­lich in die Ewig­keit hin­über däm­mern lassen.

Lo­ret­ta wollte nichts davon hören.

Hart­näckig wei­gerte sie sich, die Mög­lich­keit, ihr Gatte werde nie mehr ge­nesen, auch nur in Er­wägung zu ziehen. Sie woll­te­ein­fach, dass der Arzt sich irrte! Daran än­derte auch das sanfte Zu­reden ihres Beicht­vaters nichts. »Mich zurück­ziehen und schla­fen kann ich nicht.« Sie flüs­terte mit blas­sen Lippen. »Ich werde mich dort drüben auf die Bank setzen und ein wenig aus­ruhen. Seid so gut und leis­tet mir dabei Ge­sell­schaft, Pater Radolf.«

Leicht schwan­kend vor Schwä­che be­gab sich die junge Gräfin zu der Pols­ter­bank am Fens­ter und ließ sich schwer­fällig darauf nieder. Den Mönch be­schlich die Sorge, seine junge Herrin könne unter der Last ihrer schwe­ren Bürde zu­sammen­bre­chen. Seit dem frühen Morgen hatte sie keine Nah­rung mehr zu sich ge­nommen.

»Ich will so lange bei ihm aus­harren und für seine Ge­nesung beten«, hörte er sie mur­meln, »bis der Herr­gott end­lich ein Ein­sehen mit uns hat.« Wie der Benedik­tiner mit Un­beha­gen fest­stell­te, waren aus ihrem Ton­fall Hart­näckig­keit und eine ge­wisse Auf­leh­nung gegen den Willen Gottes heraus zu hören.

»Es kann und darf nicht sein, dass ein so junger Mann stirbt«, fuhr die Gräfin eigen­sinnig fort. »Ich, seine Frau, sowie seine drei un­mündi­gen Söhne, wir brau­chen Hein­rich noch lange Zeit. Güti­ger Gott, Johann, unser Ältes­ter, ist doch erst sieben Jahre alt«.

»Wie Ihr wünscht, Madame«, gab der lang­jäh­rige Beicht­vater der Gräfin nach und ver­ließ seinen Platz am Sterbe­lager. Er er­kannte den eigen­willi­gen Trotz in Lo­ret­tas grau­blauen Augen und wusste, dass seine Herrin sich keines­falls um­stim­men ließe. Radolf von Metz liebte die Gräfin wie eine eigene Toch­ter und emp­fand großes Mit­gefühl mit ihrem Schick­sal. Gott allein wusste, wie sie die un­abwend­bare Tragö­die ver­kraf­ten würde.

Vor acht Jahren, aus An­lass ihrer Heirat mit Hein­rich von Spon­heim, war der Benedik­tiner aus dem Elsass mit der noch nicht ganz fünf­zehn­jähri­gen Lo­ret­ta in ihre neue Heimat an der Mosel ge­zogen. Es war ihr aus­drück­licher Wunsch ge­wesen, den von Kind­heit an ver­trau­ten Pater bei sich zu haben und ihre Eltern, Johann I. von Salm und seine franzö­sische Ge­mahlin, Jeanne de Jo­in­vil­le, hatten ihr diesen Wunsch er­füllt, ob­wohl Graf Johann seinen Burg­geist­lichen sehr gerne selbst be­halten hätte.

Radolf unter­drück­te einen tiefen Seuf­zer.

Lo­ret­ta, seit ihren frühen Mäd­chen­tagen eine wahre Schön­heit mit ovalem Ge­sicht, aus­drucks­star­ken großen Augen, einer zier­lichen Nase und vollen Lippen, schlan­ker Figur und dunkel­blond-röt­lich schim­merndem Haar, wurde mit knapp fünf­zehn Jahren ver­mählt und war jetzt be­reits Mutter dreier Söhne. Mit erst drei­und­zwan­zig Jahren würde sie eine un­gewöhn­lich junge Witwe sein. Der Benedik­tiner ahnte Schlim­mes an­ge­sichts der Tat­sache, dass sein Beicht­kind jeden Ge­danken an Graf Hein­richs Tod ein­fach bei­seite­schob.

Das für jeder­mann Er­sicht­liche igno­rierte sie stand­haft, um sich die Illu­sion seiner Ge­nesung um jeden Preis zu er­halten. Wie schreck­lich müsste ihr Er­wachen sein, sobald ihr Ge­mahl seinen letz­ten Atem­zug ge­tan hatte?

Auf der nied­rigen, mit wein­rotem Samt be­zoge­nen Sitz­bank, unter einem mit grün­gelben Glas­schei­ben ver­sehe­nen Erker­fens­ter, über­ließ Lo­ret­ta sich den Er­inne­rungen an glück­li­chere Tage, wäh­rend der um zwan­zig Jahre ältere Pater, dessen brau­ner Haar­kranz sich all­mäh­lich grau ver­färbte, sich neben ihr er­neut in ein stum­mes Gebet flüch­tete.

Mit großer Sehn­sucht dachte die junge Frau an ihre wohl­behü­tete Kind­heit in den Voge­sen, an ihren ge­lieb­ten Vater Johann von Salm und an Madame Jeanne, ihre schöne Mutter, der sie es ver­dankte, neben der deut­schen auch die franzö­sische Spra­che per­fekt zu be­herr­schen.

Ihre ge­samte Kind­heit schien Lo­ret­ta eine Zeit der Liebe und des Glücks ge­wesen zu sein, voller Ge­borgen­heit und Für­sorge ihrer Eltern. Sie er­in­nerte sich an keinen ein­zigen Tag des Un­ge­machs. Ja, in ihren Er­inne­rungen an das Elsass schie­nen ihr sogar die Sonnen­tage gegen­über gars­tigem Regen­wetter weit zu über­wiegen.

Wie schön war es doch, als klei­nes Mäd­chen auf den Knien meiner Ma­man zu sitzen und sachte über ihr seide­nes Ge­wand zu strei­cheln. Und wie habe ich es ge­nossen, den wunder­baren Duft ein­zu­atmen, der ihren Klei­dern und ihrem golde­nen Haar ent­ström­te.

Bei­nahe noch mehr hatte sie es jedoch ge­liebt, wenn ihr Papa sie vor sich auf sein Pferd nahm, um mit ihr ›vite comme le vent‹ über die Felder zu reiten. Ja, schnell wie der Wind ritt sie auch heute noch gerne.

Beiden Eltern war viel daran ge­legen, ihr neben einer musi­schen Er­zie­hung, welche die Kunst des Ge­sangs, des Musi­zierens auf dem Psalte­rium und des Reigen­tanzes be­inhal­tete, und einer ge­wissen sport­lichen Er­tüchti­gung wie Reiten, Fech­ten und Bogen­schie­ßen, auch eine viel­fäl­tige Aus­bil­dung in Spra­chen und wissen­schaft­lichen Fä­chern an­gedei­hen zu lassen, ihren mannig­fachen Be­gabun­gen und Nei­gungen ent­spre­chend.

Ge­lieb­ter Papa, meine über alles ge­liebte Ma­man,wie dank­bar bin ich Euch dafür. Dank Eurer klugen Voraus­schau ist es mir mög­lich, meinem Ge­mahl eine eben­bür­tige Ge­fähr­tin zu sein, der er nicht nur Zu­nei­gung, son­dern auch Ach­tung ent­gegen zu brin­gen ver­mag, dachte sie im Stil­len.

Und damit sollte jetzt auf ein­mal Schluss sein? Oh, nein! Ge­wiss irrte sich dieses Mal der Me­di­cus. In dem ab­gedun­kelten Raum wan­derten Lo­ret­tas Ge­danken er­neut zurück in die Ver­gangen­heit.

Nie würde sie den bewuss­ten Tag ver­gessen. Ihr Haus­lehrer, der sie in Latein und Geschich­te unter­wies, war ge­gangen und sie hatte be­schlos­sen, aus­zu­reiten, als ihr im väter­lichen Schloss­hof eine alte Frau den Weg zu den Stäl­len ver­trat und An­stal­ten machte, sie an­zu­spre­chen.

Ber­told, ein neun­zehn Jahre alter Knecht, der die Zwölf­jäh­rige stets bei ihren Aus­ritten be­glei­tete, war dar­über sehr un­willig und schick­te sich an, die Alte mit dem ge­flick­ten boden­langen Rock und dem grauen Um­schlag­tuch, das sie nach­lässig über Kopf und Schul­tern ge­schlun­gen hatte, zu ver­trei­ben. Aber Lo­ret­ta fiel ihm in den Arm.

»Was ist es denn, wor­über du mit mir so drin­gend spre­chen willst, Not­burga?«, rich­tete sie das Wort an die in der Gegend süd­lich von Straß­burg all­gemein als weise Frau be­kannte Kräu­ter­samm­lerin und Sehe­rin. Wie Lo­ret­ta am Inhalt ihres Weiden­körb­chens er­kannte, wollte Not­burga jeman­dem, ver­mut­lich einer Magd oder einem Knecht, der an hart­näcki­gem Husten litt, fein ge­schnit­tene Huf­lat­tich­blät­ter brin­gen, die das Übel be­seiti­gen würden.

Not­burga, eine er­schre­ckend magere, kinder­lose Witwe mit tief­schwar­zen Augen und einem Wust grauer Haare, der auch durch das dunkle Kopf­tuch kaum zu bändi­gen war, wirkte ein wenig un­heim­lich. Aber Lo­ret­ta, die sie schon oft ge­sehen hatte, emp­fand keiner­lei Be­rüh­rungs­ängste vor der Alten. Auch als die ganz nah an sie heran­trat und es sogar wagte, ihre rechte Hand zu er­grei­fen, zuckte sie nicht ängst­lich zurück.

Ber­told dräng­te sich da­zwi­schen. Lo­ret­ta aber ver­bat sich jede Ein­mi­schung ihres Reit­knechts. »Ich will wissen, was Not­burga mir zu ver­künden hat«, be­harrte sie eigen­sinnig. Wider­stre­bend wich der junge Bur­sche zur Seite. Die weise Frau, die oft von ›Ge­sich­ten‹ heim­ge­sucht wurde, rich­tete ihren Blick starr auf Lo­ret­tas Hand­fläche, wobei sie Un­ver­ständ­liches vor sich hin mur­melte.

»Du musst schon deut­lich spre­chen, Not­burga, sonst ver­stehe ich dich nicht«, er­mahnte das zwölf­jäh­rige Edel­fräu­lein die ältere Frau.

»Es ist doch nur alles blan­ker Un­sinn, was die zu sagen hat«, misch­te sich der Knecht er­neut ein. »Ihr soll­tet gar nicht auf sie hören, Mademoi­selle!« Ein un­willi­ger Blick aus großen blau­grauen Augen ließ ihn augen­blick­lich ver­stum­men.

»In drei Jahren bist du die glück­liche Ehe­frau eines deut­schen Grafen und neun Monate später stolze Mutter eines Sohnes«, weis­sagte Not­burga schließ­lich, nach­dem sie die Linien beider Hand­flä­chen Lo­ret­tas gründ­lich stu­diert hatte. »Du wirst ins­gesamt drei gesun­den Knaben das Leben schen­ken«, fuhr sie fort, »von denen zwei eine höhere geist­liche Lauf­bahn ein­schla­gen werden.«

»Zu so einer Voraus­sage braucht es nicht viel! Das hätte ich auch noch zu­stande ge­bracht«, hatte Ber­told darauf­hin ver­drieß­lich vor sich hin ge­brummt.

Die Gräfin sah die Szene noch ganz deut­lich vor sich und trotz ihres Kum­mers musste sie lä­cheln. Ber­told hatte nicht Un­recht ge­habt; es war üb­lich, dass ade­lige Töch­ter schon mit vier­zehn, fünf­zehn Jahren ver­heira­tet und daher auch früh­zeitig Mütter wurden. Und was den Sohn an­belang­te – dass sich diese Vor­her­sage be­wahr­heitete, dafür be­stand die Wahr­schein­lich­keit ja immer­hin zur Hälfte!

Warum sollte sie auch nicht im Laufe der Jahre drei Söhne zur Welt brin­gen? Sie war jung und gesund und die Frauen in ihrer mütter­lichen Fami­lie hatten alle­samt mehr männ­liche als weib­liche Kinder ge­boren. Selbst die An­kündi­gung, zwei dieser Knaben würden hohe Geist­liche werden, war keine große Über­ra­schung, son­dern die Regel bei nach­gebo­renen Söhnen adli­ger Sippen. Damals, als Zwölf­jäh­rige, war sie aller­dings von den Worten der Sehe­rin un­ge­heuer be­ein­druckt ge­wesen.

»Es klingt ganz wunder­bar, was du mir weis­sagst, Not­burga!« Sie griff in ihre am Gürtel be­fes­tigte Börse und schenk­te der Heile­rin zum Dank zwei Kupfer­pfen­nige.

»Was kannst du mir sonst noch vor­her­sagen? Das war doch ge­wiss noch nicht alles!« In kind­licher Neu­gier be­dräng­te sie die alte Frau. Aber auf ein­mal schien Not­burga es eilig zu haben, in die Quar­tiere des Sal­mer Ge­sindes zu ge­langen.

»Weiter weiß ich nichts mehr, Gnädi­ges Fräu­lein«, wurde sie ganz förm­lich, knicks­te und wollte sich davon­machen. »Halt! Hier­geblie­ben, Not­burga!« Lo­ret­tas Stimme, nun bar jeg­licher Ver­bind­lich­keit, klang so autori­tär, dass die weise Frau, ver­legen zu Boden star­rend, ge­horsam vor dem Kind stehen ge­blie­ben war.

»Nun? Was ist, Not­burga? Auch wenn es un­an­genehm ist, musst du es mir sagen, Frau! Ich will gegen alle Ge­fahren ge­wapp­net sein. Also rede!«

Die junge Gräfin er­lebte das Ver­gan­gene, als ge­schähe es un­mittel­bar in diesem Augen­blick. Die Sehe­rin hatte den Blick er­hoben und ernst in Lo­ret­tas große Augen ge­schaut, die sie unter langen dunkel­brau­nen Wim­pern er­war­tungs­voll an­starr­ten.

Lo­ret­ta er­in­nerte sich auch, wie auf ein­mal eine un­be­stimmte Furcht sie er­fasst hatte, als sie ihrer­seits in die dunk­len, geheim­nis­vollen, einem tiefen Brun­nen glei­chenden Augen der Sehe­rin ge­taucht war. Plötz­lich hatte ihr ge­graut und am liebs­ten hätte sie ihre Frage zurück­genom­men. Allein bei der Er­inne­rung daran, fühlte die Gräfin auch heute noch, wie ein Schau­der über ihren Rücken lief.

Es war, als hätte ich ge­ahnt, dass es klüger sei, nicht alles ganz genau zu wissen, was das Leben mir be­sche­ren werde, über­legte Lo­ret­ta. Damals aber hatte ihre naive Neu­gierde ge­siegt und sie weiter insis­tieren lassen.

»Nun, wie Ihr wollt, Fräu­lein!«, hatte Not­burga schließ­lich nach­gege­ben, mit erns­ter, bei­nah grim­miger Miene. »Nach acht Ehe­jahren Ehe werdet Ihr als Witwe die Rechts­ansprü­che Eurer drei klei­nen Söhne ver­teidi­gen müssen. Unter­schätzt die Pflich­ten eines weib­lichen Vor­mundes nicht. Denn als Mum­par­sin habt Ihr Euch dann mit Fein­den herum­zu­schla­gen, die danach trach­ten, Euer Hab und Gut und das Erbe Eurer Kinder auf schur­kische Weise zu schmä­lern.«

Die Alte schien etwas ge­sprä­chiger, nach­dem sie ihre Hem­mung über­wunden hatte. »Man wird denken, Ihr seid ein dummes und hilf­loses junges Weib, das man leicht be­trügen kann. Jahre­lang werdet Ihr um Euer Recht kämp­fen müssen. Aber zu­letzt werdet Ihr Euch durch­setzen und als strah­lende Siege­rin aus allen Strei­tig­keiten hervor­gehen.«

»Nun, immer­hin: Ende gut, alles gut!« Jugend­licher Leicht­sinn hatte ihr damals eine zufrie­dene Miene be­schert.

»Eine Frage habe ich noch!« Und die Sehe­rin, die sich be­reits zum Gehen ge­wandt hatte, blieb ge­horsam stehen. »Du sagst, mein Ge­mahl werde früh ster­ben. Was be­deutet das für mich, Not­burga? Werde ich er­neut heira­ten oder muss ich für immer ein­sam blei­ben?«

Wie sie sich jetzt mit be­trächt­licher Scham ent­sann, war ihrer Stimme damals große Ver­zagt­heit an­zu­merken ge­wesen. Nun, da ihr Ge­mahl mit seiner schwe­ren Krank­heit rang, emp­fand sie es als zu­tiefst be­schä­mend, seiner­zeit so ober­fläch­lich, ja egois­tisch, ge­dacht zu haben.

Die weise Frau hatte ein Schmun­zeln unter­drückt.

»Ihr werdet zwar kein zwei­tes Mal mehr den Bund der Ehe schlie­ßen, Mademoi­selle. Aber das heißt ja nicht, dass Ihr nie mehr die Freu­den der Liebe kosten dürft! Ins­gesamt wird Euer Leben ein er­füll­tes sein; mit man­cher­lei be­deut­samen Er­eig­nissen und sogar eini­gen Aben­teuern, mit trau­rigen Be­geben­heiten, aber auch mit mannig­fachen Lust­bar­keiten und aller­lei Zer­streu­ungen. Aufs Ganze ge­rech­net werdet Ihr es nicht schlecht tref­fen, junge Herrin.«

Lo­ret­ta, der am Kran­ken­bett ihres Liebs­ten die Scham­röte in die blei­chen Wangen stieg, wusste noch ganz genau, dass sie vor Er­leich­terung auf­geat­met hatte.

In einem Wäldchen bei Traben-Trarbach

Die Sonne war be­reits hinter dem Hori­zont ver­schwun­den. Ob­wohl es tags­über noch heiß ge­wesen war, wehte nach Sonnen­unter­gang ein emp­find­lich kalter Wind, der die kleine Schar ärm­lich ge­klei­deter und mangel­haft er­nähr­ter Ge­stal­ten frös­teln ließ. Auf einer Lich­tung in einem ab­gele­genen Wald­stück der Spon­heimer Ge­mar­kung hatten sie sich ver­abre­det.

»Wo bleibt denn Frie­der bloß?«, brumm­te Hannes, ein noch junger Bur­sche, un­willig. »Die Sonne, die mir heut‹ noch ordent­lich den Buckel ge­wärmt hat, ist lang schon weg und von Frie­der ist immer noch nichts zu sehen!«

»Ich finde es auch nicht gut, dass wir uns hier die Füße in den Bauch stehen sollen«, maulte Simeon, mit Mitte fünf­zig be­reits ein alter Mann. Er strich sich fet­tige graue Zottel­haare unter die Kapuze seines faden­schei­nigen Um­hangs. Die meis­ten knurr­ten zu­stim­mend. Nein, an­genehm war die Warte­rei hier im Freien keines­wegs.

»Na, jetzt be­schwert euch doch nicht gleich«, ver­suchte ein ande­rer die Wogen zu glät­ten. »Aus­ge­macht als Zeit­punkt unse­res Tref­fens war ›nach Sonnen­unter­gang‹ und die Sonne ist grade mal fünf Vater­unser lang ver­schwun­den. Also, habt noch ein biss­chen Ge­duld, Freun­de!«

»Du hast leicht reden, dicker Georg«, kreisch­te eine Alte, die mit zwei­und­sech­zig kaum noch einen Zahn im Mund hatte und die in ihrem dünnen Ge­wand und dem weit­maschi­gen Schal, den sie nach­lässig um Kopf und Schul­tern ge­schlun­gen hatte, wie Espen­laub zit­terte.

»Du hast immer­hin Speck auf den Rippen und frierst nicht so leicht wie unser­eins, der bloß noch aus Haut und Kno­chen be­steht.«

Die meis­ten lach­ten. »Trude hat recht!«, »Stimmt genau!«, »So gut wie dir, Georg, geht es uns leider nicht!«, tönte es auf der klei­nen Lich­tung.

»Na, jetzt hört aber auf!«, glaub­te der An­gespro­chene, sich ver­teidi­gen zu müssen. »Ihr wisst genau, dass es kein Fett ist, das mich so dick aus­schau­en lässt, son­dern bloß Wasser! Ich glaube kaum, dass auch nur einer von euch mit mir tau­schen möchte!«

Das ließ die Läste­rer ver­stum­men. Es ent­sprach ja der Wahr­heit, dass der dicke Georg kaum noch laufen konnte und neuer­dings Schwie­rig­keiten beim Schnau­fen hatte, weil das Wasser nicht nur in seinen Beinen und im Bauch la­gerte, son­dern mitt­ler­weile in seinem Körper immer höher stieg.

»Horcht!« Die dürre Els­beth war es, die zur Ruhe mahnte. »Seid doch nicht so laut, ihr Narren! Ich glaube, da kommt einer«, flüs­terte die etwa vier­zig­jäh­rige ab­geschun­dene Magd, die aus­sah wie sech­zig, und reckte ihren sehni­gen Hals.

»Ver­ste­cken wir uns lieber hinter den Bäumen«, riet einer, »so­lang wir nicht wissen, wer es ist!«

»Soweit kommt’s noch«, protes­tierte Hannes. Er war Huf­schmied, vier­und­zwan­zig, kräf­tig ge­baut und ließ gleich seine Mus­keln spie­len. »Wir sind doch genug Leute, um uns not­falls gegen einen ein­zigen An­grei­fer wehren zu können, oder?«

»Kann nicht scha­den, sich zu ver­dünni­sieren«, mur­melte der un­freie Bauer Simeon. Neuer­dings hatte er zu allem Übel noch ein stei­fes Knie und war für schwe­re Feld­arbeit nur ein­ge­schränkt taug­lich. Ohne die Hilfe seiner Schwes­ter hätte er nicht ge­wusst, wie er seine kin­disch ge­wor­dene Frau und die seit der Ge­burt ihres letz­ten Kindes kränk­liche Schwie­ger­toch­ter hätte durch­brin­gen sollen. Im nächs­ten Augen­blick waren alle ver­schwun­den hinter Bü­schen oder Baum­stäm­men, nur Hannes blieb trot­zig stehen.

»He! Ihr Hosen­schei­ßer!«, schrie der gleich darauf. »Ihr könnt euch wieder her trauen! Es ist Frie­der!«

Im Nu um­ring­ten die heim­lichen ›Ver­schwö­rer‹ – so nann­ten sie sich selbst – den An­kömm­ling. Er war ihr An­führer und der Initia­tor dieses Tref­fens, bei dem sie die Lage und ihr weite­res Vor­gehen be­spre­chen woll­ten.

»Warum kommst du so spät?«, woll­ten die armen Schlu­cker als erstes wissen. Und Hannes legte nach: »Ich bin zwar stark, aber Schuhe hab ich keine! Und der Boden hier ist sau­kalt. Was ist, wenn ich mir die Zehen ab­friere?«

»So schnell er­frie­ren deine Platt­füße schon nicht«, be­schied ihn Frie­der kurz. »Auf dem Weg hier­her habe ich einen weiten Um­weg machen müssen. Ich bin näm­lich direkt auf eine Gruppe von Star­ken­burger Jägern zu­gelau­fen. Erst wollte ich mich in einem Haufen Reisig ver­ste­cken, aber die Sau­kerle hatten ver­dammte Köter dabei. Da musste ich schleu­nigst Reiß­aus nehmen. In meiner Not bin ich durch den Bach ge­watet, um den Vie­chern meine Spur zu ver­gällen. Was glaubst du wohl, wie eis­kalt meine Treter sind?«

»Seit wann gehen die Star­ken­burger Knech­te denn hier auf die Jagd? Dieses Ge­biet hat sie doch noch nie interes­siert, weil hier an­geb­lich kaum Wild ist«, er­kun­digte sich die dürre Els­beth giftig. »Ist man denn nir­gends mehr vor den Spon­heimischen Teu­feln sicher?« Der dicke Georg schnaub­te und der lahme Simeon fluch­te gottes­läster­lich.

»Um­so wich­tiger ist, dass wir uns einig sind!«, riss Frie­der er­neut die Ge­sprächs­lei­tung an sich. »Der junge Herr Graf und seine hoch­näsige Frau Ge­mahlin, die mit ihren Bäl­gern am liebs­ten nur franzö­sisch redet, sowie sein Vater, der alte Graf und die nicht minder ein­gebil­dete Gräfin, sie alle sollen ihr blaues Wunder er­leben!«

»Klingt wie Musik in meinen Ohren!« Simeon rieb sich er­freut die Hände; sein schmer­zendes Knie und die Kälte ver­gaß er dabei. Auch die übri­gen frös­telten auf ein­mal nicht mehr, als Frie­der ihnen den Plan dar­legte, den sich der wahre An­führer der Rebel­lion, der Schult­heiß Si­beln von Bu­len­berg, aus­ge­dacht hatte.

Er und seine er­wach­senen Söhne waren es leid, das ganze Leben lang für eine adlige Fami­lie zu schuf­ten, um zum Dank dafür nicht besser als ein Hund be­han­delt zu werden. Er hetzte ins­geheim die Leib­eige­nen und Höri­gen auf, in­dem er ihnen die ›paradie­sischen‹ Zu­stände in den deut­schen Städ­ten, vor allem im nahen Trier, aus­malte.

Um dieser Wohl­taten teil­haftig zu werden, be­durfte es nur des be­herz­ten Schrit­tes, die heimi­schen Äcker zu ver­lassen und hinter die schüt­zenden Mauern zu flüch­ten. Im Laufe der Zeit war es ihm durch Frie­der ge­lungen, eine ganze Reihe von Land­bewoh­nern zu über­zeugen. Die gräf­liche Fami­lie hatte jedoch noch nicht darauf re­agiert, ob­wohl die An­zahl leerer Hütten dafür sprach, end­lich Maß­nahmen zu er­grei­fen.

Frie­der, der als eben­falls höri­ger Bauer kaum das täg­liche Brot für sich, sein stän­dig schwan­geres Weib, sowie die vier über­leben­den Kinder, zu be­schaf­fen ver­mochte, musste erst noch eine wich­tige Frage der dürren Els­beth be­ant­worten. Sie wollte wissen, ob es ihm in­zwi­schen ge­lungen wäre, sich dem alten Grafen von Spon­heim zu nähern.

Das musste er zu seinem Leid­wesen ver­neinen. Nach seinen Worten hatte sich noch keine Ge­legen­heit er­geben.

»Ver­rat‹ uns doch, warum du dich un­be­dingt als Bett­ler aus­geben willst, wenn du dich dem Spon­heimer in den Weg stellst. So tief sind wir doch noch nicht ge­sunken, dass so eine Maske­rade nötig ist«, ver­langte der lahme Simeon zu er­fahren.

»Ja! Das möcht‹ ich auch gern wissen. Was ver­sprichst du dir eigent­lich von einer so de­müti­genden Aktion?«, er­kun­digte sich auch Hannes.

»Weil das ver­mut­lich die ein­zige Ge­legen­heit sein wird, über­haupt in die Nähe unse­res edlen Herrn zu ge­langen, Freun­de. Wisst ihr über­haupt, wie gut der Graf auf Schritt und Tritt be­wacht wird? Ein norma­ler Mensch kommt höchs­tens bis auf sechs Schrit­te an ihn ran, dann hält ihn auch schon einer seiner Knech­te mit einer Keule zurück. Aber einen Bett­ler halten alle für un­gefähr­lich.«

»Jawohl, das klingt ver­nünf­tig, Frie­der.« Hannes, der Schmied, grins­te ver­ste­hend. »Ein Bett­ler ist in aller Regel de­mütig und unter­würfig wie ein ge­prü­gelter Hund, der froh ist, einen Bro­cken zu­gewor­fen zu krie­gen, und wedelt noch dank­bar mit dem Schweif.«

»Ich will unse­ren Unter­drü­cker und Leute­schin­der ja nicht er­morden, son­dern ihn ein­fach ein­mal aus der Nähe sehen«, fuhr Frie­der fort. »Es ist mir sozu­sagen ein Be­dürf­nis, Auge in Auge mit dem Mann zu sein, der sich durch seine Ge­burt höher und besser dünkt als unser­einer. Vom Schult­heiß Si­beln habe ich ge­lernt, dass es immer gut ist, seinen Gegner zu kennen, wenn man ihm ernst­haft scha­den will. Und das wollen wir doch alle.«

»Und wie!«, tönte es von ver­schie­denen Seiten. »Allein soll er hocken in seiner Graf­schaft und selber seine ver­damm­ten Felder be­ackern, wenn er etwas zu fres­sen haben will«, brumm­te Simeon rach­süch­tig.

»Ich habe mir auch schon aller­hand schein­hei­lige Segens­wün­sche für den Grafen zu­recht­gelegt, wenn ich ihm als Bettel­mann gegen­über­stehe und er seine prall ge­füllte Geld­katze öffnet und lange wird suchen müssen, ehe er die kleins­te Münze heraus­rückt. Viel­leicht packe ich ihn auch noch am Arm und schütt­le ihn ein biss­chen; vor lauter Be­geiste­rung für seine Groß­zügig­keit, ver­steht sich!«

»Wie mutig von dir!«, »Re­spekt, Frie­der!«, »Du bist ja ein Teu­fels­kerl!«, klang es aus der Schar der Auf­ständi­schen.

»Warum willst du ihn denn nicht gleich an der Gurgel packen?«, fragte einer der Ver­schwö­rer giftig.

»Weil ich das wohl kaum über­leben würde, mein Freund.« Unter der ärm­lich ge­klei­deten Schar bran­dete Ge­läch­ter auf. Da hatte Frie­der wohl Recht.

Eine Weile tausch­ten sie noch Neuig­keiten aus und lausch­ten auf die Er­mah­nungen, die ihnen Frie­der vom Schult­heiß zu­kommen ließ, was die ab­solute Geheim­hal­tung an­belang­te: »Wenn die Obrig­keit mit­bekäme, dass wir uns alle in die Stadt Trier davon­machen wollen, kämen wir nicht weit. Man wäre vor­berei­tet, würde uns ab­fangen, in Ge­wahr­sam nehmen und ver­mut­lich alle mit­einan­der auf­hängen.«

»Pah! Auf­hängen!«, krächz­te die dürre Else. »Dem Spon­heimer wär’s um den Strick zu schad‹. Er tät‹ uns alle­samt wie einen Wurf junger Katzen mit Knüp­peln er­schla­gen lassen. Das wär‹ billi­ger!«

»Wich­tig ist, meine lieben Freun­de, dass keiner von euch die Nerven ver­liert, wenn es noch ein Weil­chen dauert, bis der Bu­len­berg das Kom­mando zum Ab­hauen gibt. Also: Ge­duld, ihr Lieben. Unser Tag wird kommen!«

Wenn­gleich sie alle froren und ihre eis­kalten Füße nicht mehr spür­ten, so hatten Frie­ders Worte doch ihre Herzen er­wärmt. Und diese Wärme nahm ein jeder mit in sein jewei­liges schä­biges Zu­hause.

Es geht zu Ende – Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit

Tränen ver­schlei­erten den Blick der Gräfin. Hein­rich seufz­te in un­ruhi­gem Schlum­mer und stöhn­te schmerz­voll auf. Lo­ret­tas Herz zog sich vor Mit­leid zu­sammen; immer weni­ger ver­mochte sie sich den Über­legun­gen für die nahe Zu­kunft zu ver­wei­gern.

Mein über Alles Ge­lieb­ter, warum willst du mich und unsere Söhne schon ver­lassen? Du kannst und darfst mir das nicht an­tun!, flehte sie stumm, wäh­rend sie ihre tränen­blin­den Augen auf den Tod­kran­ken rich­tete. Der wand sich un­ruhig auf der Matrat­ze. In ihrer Her­zens­not wandte sich Lo­ret­ta an den neben ihr sit­zenden Pater Radolf. »Ich kann und will ein­fach nicht glau­ben, was der Me­di­cus sagte. Ge­wiss irrt der ge­lehrte Mann sich dieses Mal!«

Ohne zu be­merken, was sie tat, um­schloss Lo­ret­ta die Hand ihres Beicht­vaters mit ihrer eige­nen, ja, drück­te sie sogar kräf­tig, wie um ihrer Aus­sage mehr Ge­wicht zu ver­leihen. »Ihr wisst doch auch, Pater, wie oft mein Ge­mahl schon auf den Tod ge­legen hat und immer hatte der Herr­gott ein Ein­sehen und ließ ihn ge­nesen. Dieses Mal wird es genau­so sein. Ich weiß es ein­fach. Was glaubt Ihr?«

Dem Benedik­tiner tat es in der Seele weh, mit­zu­erle­ben, dass seine junge Herrin offen­bar immer noch nicht bereit war, das Un­umstöß­liche an­zu­erken­nen. Für jeden Men­schen war er­sicht­lich: Diese Nacht noch würde der Todes­engel nicht mehr von Hein­richs Bett wei­chen, ohne ihn mit sich zu nehmen.

Radolf von Metz blieb Lo­ret­ta die Ant­wort schul­dig. Er wollte sie nicht be­lügen und für die trau­rige Wahr­heit schien seine Herrin noch nicht bereit zu sein.

Die Nacht­stun­den ver­gingen quä­lend lang­sam und Dut­zende von bren­nenden Kerzen, von den Mägden rund um das Bett des Grafen in sil­bernen Leuch­tern auf­ge­steckt, brann­ten nieder. Der Duft von heißem Bienen­wachs er­füllte das Ge­mach und über­la­gerte den üblen Ge­ruch von Krank­heit und baldi­gem Tod. So wie die Wachs­lich­ter all­mäh­lich er­lo­schen und der Raum mehr und mehr in Düster­nis ver­sank, so ver­hielt es sich auch mit Hein­richs Lebens­licht. Gleich etli­chen seiner Unter­tanen war es auch ihm in jener Nacht vom Schick­sal vor­gege­ben, sich für immer zu ver­abschie­den.

Kräf­tig war Lo­ret­tas Gatte nie ge­wesen. Be­reits von Kind an schwäch­lich und häufig von Krank­heiten ge­plagt, hatten die Ärzte seinen Eltern, Graf Johann und Gräfin Katha­rina, wenig Hoff­nung ge­macht, ihrem ein­zigen Sohn stünde ein langes Leben be­vor.

Ein tragi­sches Wissen, aus dem beide jedoch nie ein Hehl mach­ten. Nur seine Ge­mahlin Lo­ret­ta hatte bis­her erfolg­reich jeden Ge­danken daran aus ihrem Ge­dächt­nis ver­bannt.

Um die Spon­heimer Linie nicht aus­ster­ben zu lassen, war man schon früh­zeitig be­strebt, dem Erben eine Ge­mahlin zu suchen. Am güns­tigsten er­schien die Ver­bin­dung mit dem elsässi­schen Ge­schlecht derer von Salm aus den Voge­sen. So wurde Lo­ret­ta von Salm, wie von Not­burga voraus­gese­hen, be­reits kurz nach ihrem zwölf­ten Ge­burts­tag mit Hein­rich von Spon­heim ver­lobt. Nach drei Jahren sollte die Hoch­zeit sein.

Lo­ret­tas Eltern hatten ihre Toch­ter keines­wegs ge­zwun­gen, den um zehn Jahre älte­ren jungen Mann zu heira­ten. Aber sie fand Hein­rich sehr hübsch von An­ge­sicht und an­genehm in seiner Wesens­art. Das hatte ihr ge­nügt.

Graf Johann II. wollte seinem Sohn an­läss­lich seiner Ver­mäh­lung die Feste Herr­stein über­geben und Lo­ret­ta würde von ihren Eltern eine Mit­gift von 2200 Pfund Metzer Pfen­nigen er­halten.

Um mich jugend­liche Braut ja nicht ab­trün­nig werden zu lassen, schenk­te mir der zu­künf­tige Schwie­ger­vater bis zur Hoch­zeit sogar all­jähr­lich eine Summe von ein­hun­dert Pfund Hel­lern als Schmuck­geld, dachte Lo­ret­ta jetzt ge­rührt und blick­te hin­über zum Bett ihres Ge­mahls, der sich laut Me­di­cus an­schick­te, seinen letz­ten Kampf zu kämp­fen.

Was ver­steht Dot­to­re Gi­ro­la­mo Cro­ce schon von der Lebens­gier meines Ge­mahls, der es noch jedes Mal ge­schafft hat, sich von etli­chen Sterbe­lagern zu er­heben, wie Phönix aus der Asche, um weiter­zu­leben mit mir und seinen drei präch­tigen Söhnen, dachte sie nach wie vor un­beirrt.

Seit sie ihn das erste Mal ge­sehen hatte, war sie in den Edel­mann mit dem glat­ten brau­nen Haar, den dunk­len Augen, der kühnen Nase und dem wei­chen Mund ver­liebt.

»Als Jo­hanns Nach­folger wird er einst über die Ge­biete zwi­schen Soon­wald, Nahe und Mosel, die so ge­nannte hin­tere Graf­schaft oder die Star­ken­burger Linie, ge­bieten. Wäh­rend ein ande­rer Zweig der Spon­heimer die Lände­reien zwi­schen Rhein, Nahe und Soon­wald, die vor­dere Graf­schaft oder die Kreuz­na­cher Linie be­herrscht. Und wer weiß, wo­mög­lich er­gibt es sich in der Zu­kunft, dass beide Linien wieder zu­sammen­finden?«, hatte Lo­ret­tas Mutter sich fami­lien­politi­schen Spekula­tionen hin­gege­ben. Über­dies hätten sämt­liche Spon­heimer sich durch eigene Ver­diens­te, sowie durch Ver­wandt­schaft mit Köni­gen und Kai­sern, an­sehn­liche Be­sitz­tümer, Macht und Ein­fluss er­worben, pries sie die Vor­züge ihres Wunsch-Schwie­ger­sohnes.

Hein­rich selbst, ein mittel­großer, über­schlan­ker, stets etwas kränk­lich, den­noch sehr gut aus­sehen­der Herr, mit seelen­vollen dunkel­brau­nen Augen, er­schien Lo­ret­ta freund­lich und wohl­erzo­gen. In der Tat war unsere Ehe, trotz vieler Un­päss­lich­keiten und Krank­heiten meines Ge­mahls, sehr glück­lich, dachte Lo­ret­ta. Gott der Herr hat uns mit drei gesun­den Söhnen ge­segnet; genau, wie Not­burga es mir einst ge­weis­sagt hat.

Gleich darauf er­schrak sie: Es wurde ihr be­wusst, zum ersten Mal an Hein­rich und ihre Ehe in der Ver­gangen­heits­form ge­dacht zu haben.

Die junge Frau wisch­te sich heim­lich die Tränen ab und unter­drück­te ein Schluch­zen, als sie sich ent­sann, wie glück­lich Hein­rich stets ge­wesen war, wenn er davon erzähl­te, wie er als junger Mann von zwan­zig Jahren den rö­misch-deut­schen König Hein­rich VII. im Jahre 1310 auf seinem pracht­vollen Zug nach Ita­lien hatte be­glei­ten dürfen.

Dort war der König 1312 als erster Deut­scher – nach bei­nahe einem Jahr­hun­dert – zum Kaiser ge­krönt worden. Und er, Hein­rich von Spon­heim, war dabei ge­wesen. Ein Er­leb­nis, das un­ver­gess­lich in seinem Ge­dächt­nis und in seinem Herzen haften blieb. »Allein die Ehre, die mir damals wider­fahren ist, recht­fer­tigt es schon, über­haupt ge­boren worden zu sein«, pfleg­te er zu sagen. Sie er­in­nerte sich auch, wie stolz sie jedes Mal auf ihn ge­wesen war, sooft er davon sprach.

Die an­ge­strebte Er­neue­rung des Kaiser­tums in Ita­lien war aller­dings eine Illu­sion ge­blie­ben, denn Kaiser Hein­rich VII. er­krank­te be­reits im Jahr darauf an Mala­ria und starb am 24. August 1313 in der Nähe von Siena.

Lo­ret­ta wisch­te sich er­neut mit einem Tüch­lein über die ver­wein­ten Augen. Ihr Blick wan­derte hin­über zum Bett, auf dem ihr Gatte schwer keu­chend, allem An­schein nach aber ohne Be­wusst­sein, mit dem Tode rang.

Die Turm­uhr der Ka­pelle im Burg­hof schlug in diesem Augen­blick Mitter­nacht; die Atem­züge des Ster­benden wurden qual­voller, setz­ten zeit­weise aus. Müh­sam kämpf­te Graf Hein­rich um jedes Quänt­chen Atem­luft, das ihm eine wei­tere win­zige Zeit­spanne des Über­lebens er­lauben sollte.

Lo­ret­ta hielt es nicht mehr auf der Sitz­bank. Auch Pater Radolf er­hob sich und nä­herte sich dem Bett. Schweiß­nass kleb­ten die dunk­len Haare auf der Stirn des Grafen. Dessen Ge­mahlin zog ein Seiden­tüch­lein aus dem Ärmel ihrer langen hell­blauen Tunika und tupfte Hein­rich die Schweiß­perlen ab. Dann warf sie sich vor dem Bett auf die Knie. Schwei­gend ver­harrte der Mönch hinter ihr.

»Oh, seht doch, Pater!«, rief die junge Frau auf ein­mal und wandte sich nach dem Benedik­tiner um. »Mein Ge­mahl ist nicht mehr so blass! Seine Wangen zeigen eine rosige Fär­bung. Ob dies viel­leicht der letzte Ader­lass be­wirkt hat?«, fragte sie auf­geregt. »Aber nein!«, ver­bes­serte sie sich gleich darauf. »Die An­zei­chen der Besse­rung sind ge­wiss die Folge der Letz­ten Ölung und der heili­gen Weg­zeh­rung, die Ihr meinem Ge­mahl vor zwei Stun­den ge­spen­det habt, Pater. Nicht selten wirkt dieses Sakra­ment doch hei­lend, nicht wahr?«

Der Mönch ver­spürte ein schmerz­haftes Ziehen in der Brust. Sein Mit­leid mit der Gräfin, die er von Kind­heit an kannte und wie ein Vater liebte, war un­end­lich. Sollte er sie aus Barm­herzig­keit be­lügen – oder bei der Wahr­heit blei­ben? Er, der schon an so vielen Sterbe­lagern aus­ge­harrt hatte, er­kannte nur zu genau die Zei­chen des un­mittel­bar bevor­ste­henden Todes. Es war keines­wegs un­gewöhn­lich, dass in den letz­ten Stun­den vor ihrem Dahin­schei­den die Be­trof­fenen munter, ja, häufig sogar auf dem Wege der Ge­nesung zu sein schie­nen. Oft­mals konn­ten die An­gehö­rigen den Ein­druck gewin­nen, der aus­sichts­lose Zu­stand wende sich defi­nitiv zum Guten.

Für Pater Radolf jedoch galt es als un­trüg­liches Zei­chen für die Bereit­willig­keit der Ster­benden, Ab­schied vom irdi­schen Leben zu nehmen; ver­söhnt mit ihrem Schick­sal, freu­ten sich die meis­ten sogar darauf, bald in Gottes Nähe zu ge­langen. Nicht wenige star­ben mit einem Lä­cheln auf den Lippen.

Eine Ant­wort blieb ihm er­spart, denn Lo­ret­ta drehte sich er­neut zu ihrem Gatten um. Sie griff nach Hein­richs Hand, in die der Pater vor­hin ein klei­nes Kruzi­fix aus Pinien­holz ge­legt hatte, das aus dem Heili­gen Land stamm­te und vor Jahren von einem Kreuz­fahrer der Fami­lie Spon­heim mit­ge­bracht worden war.

»Mein Liebs­ter«, hörte der Pater die junge Frau sagen, »auch wenn Ihr mich im Augen­blick nicht hören könnt, weiß ich, dass Ihr Euch auf dem Wege der Besse­rung be­findet- Ich könnte jubeln vor Freude!«

Worte, die wie­derum den Mönch wie ein Stich ins Herz trafen. »Auch die Spon­heimer Unter­tanen werden glück­lich sein, ihren guten Herrn bald wieder zu haben«, fuhr Lo­ret­ta eupho­risch fort.

Ironie des Schick­sals, dass bei­nahe zur glei­chen Zeit eine junge un­glück­liche Mutter ihn mit­samt seinem Vater ver­fluch­te.

»Sobald Ihr ganz ge­nesen seid, Hein­rich, wollen wir ge­mein­sam über­legen, was wir der Kirche zum Dank für Eure Ret­tung spen­den. Auch die weite Pilger­fahrt zu den Heili­gen Stät­ten der Chris­ten­heit fände ich durch­aus an­gemes­sen.«

In diesem Augen­blick er­wachte der Ster­bende, öff­nete weit die tief in ihre Höhlen ge­sunke­nen Augen, um­fasste mit er­staun­lich klarem Blick seine Ge­mahlin und den Mönch – und lächel­te.

Mit großer Kraft­an­stren­gung ver­suchte Hein­rich zu spre­chen. Seine Stimme ver­sagte; aber er schien ent­schlos­sen, ein letz­tes Mal das Wort an seine Frau zu rich­ten. Nur mit Mühe waren die ganz leise ge­spro­chenen Sätze zu ver­stehen. Lo­ret­ta er­schien es ein weite­res Zei­chen der Gesun­dung. Sie ver­suchte, ihren Gatten am Spre­chen zu hin­dern.

»Strengt Euch nicht an, mein liebs­ter Herr«, bat sie ihn. »Ihr müsst erst wieder zu Kräf­ten kommen, dann könnt Ihr mir und Pater Radolf Eure Wün­sche mit­teilen. Aber jetzt soll­tet Ihr Euch nur aus­ruhen, Hein­rich, um recht bald wieder ganz oben­auf zu sein.«

Der Blick des Tod­geweih­ten ver­düs­terte sich darauf­hin und sein Mund ver­zog sich un­willig. Der Graf unter­nahm sogar die An­stren­gung, ver­nei­nend sein Haupt von einer Seite zur ande­ren zu drehen. Für Radolf von Metz An­lass, sich ein­zu­mischen.

»Madame! Ich bitte Euch, lasst Euren Ge­mahl spre­chen. Hört genau hin: Es sind seine letz­ten Worte. Ihr soll­tet sie als das Ver­mächt­nis des Grafen ge­treu­lich in Eurem Herzen be­wahren.«

Sachte zog er die fas­sungs­lose Gräfin ein Stück weit zurück, als sie An­stal­ten machte, ihren Kopf auf Hein­richs Brust zu legen. Un­ge­wollt hätte sie ihm da­durch das ohne­hin ein­ge­schränkt mög­liche Atmen zu­sätz­lich er­schwert.

»Habt Dank, Pater«, hörte Lo­ret­ta gleich darauf ihren Mann mit be­deu­tend kräfti­gerer Stimme sagen. »Du musst jetzt sehr stark sein, Frau«, fuhr der Graf müh­sam fort. »Du allein bist nun ver­ant­wort­lich für unsere Kinder – vor allem für meinen Erben Johann. Mein Vater wird dir helfen, so gut er kann und auch meine Mutter wird dich gerne als ihre Toch­ter an­nehmen und dir und unse­ren Söhnen zur Seite stehen.«

Der im Ster­ben Lie­gende musste eine Pause ein­legen. Das Spre­chen fiel ihm zu­neh­mend schwe­rer. Bei jedem Atem­zug war ein schreck­liches Ras­seln in seiner Brust zu hören. Lo­ret­ta ver­hielt sich jetzt ganz still; wie er­starrt stand sie vor Hein­richs Bett und lausch­te der Stimme des Ge­lieb­ten, als er er­neut das Wort an sie rich­tete.

»Ich habe dich über alles ge­liebt, Lo­ret­ta«, ver­sicher­te ihr der Graf, dessen Ant­litz jetzt bei­nahe so weiß war wie das Laken seines Bettes. »Du warst die beste Frau, die ich mir wün­schen konnte und da­zu die beste Mutter meiner Kinder. Dafür danke ich dir, Ge­liebte. Ich wün­sche dir für die Zu­kunft, die du ab jetzt ohne mich meis­tern wirst, Liebs­te, das Aller­beste. Da­zu ge­hört, dass du, die du noch so jung bist, einen ande­ren Ge­mahl fin­dest, der deiner würdig ist und meinen Kin­dern ein guter Vater sein wird.«

Um zu ver­hin­dern, von Lo­ret­ta unter­bro­chen zu werden, fuhr er un­mittel­bar fort: »Ver­sprich mir, Liebs­te, dass du dich nicht in Trauer ver­gräbst. Schon um unse­rer klei­nen Söhne willen, die eine starke und um­sich­tige Mutter brau­chen, musst du dich be­mühen, ihnen ein Heim zu geben, in dem sie glück­lich auf­wach­sen können. Unser Pater Radolf wird dir Stab und Stütze sein.«

Hein­rich fasste den Mönch scharf ins Auge. Als er dessen zu­stim­mendes Nicken er­kannte, ent­spann­te sich seine sorgen­volle Miene. Mit großer Mühe holte der Kranke den Atem aus seinen nahe­zu zer­stör­ten Lungen. Laut Me­di­cus waren sie be­reits voll Wasser.

»Ge­liebte Frau, bete für mich! Bitte beim Schöp­fer Him­mels und der Erde, dass er mich gnädig auf­nehmen möge in sein Reich. Bitte die Jung­frau Maria und alle Heili­gen darum, dass mir armem Sünder Barm­herzig­keit wider­fahre und mir als Strafe für meine Sünden die Ewig­keit nicht zum hölli­schen Schreck­nis ge­rate.«

Kaum hatte der Graf diese letzte Bitte aus­gespro­chen, schien seine Lebens­kraft zu Ende. Er­mattet schloss Hein­rich von Spon­heim die Augen und seine Ge­sichts­züge ver­fielen regel­recht vor Lo­ret­tas Augen.

»Alles wird so ge­sche­hen, wie Ihr es wünscht, mein Ge­bieter, so es denn wirk­lich so kommen sollte, wie Ihr glaubt!«

Er­schüt­tert wandte die Gräfin sich an ihren Beicht­vater: »Noch habe ich die Hoff­nung auf ein Wunder des Herrn nicht ganz auf­gege­ben, Pater. Ich will beten für Hein­rich und seine Ge­nesung. Und noch etwas, Pater: Nie­mals werde ich unse­ren Kin­dern einen Stief­vater zu­muten! Für mich selbst will ich schwö­ren, dass nie­mals ein ande­rer Mann als Hein­rich das ehe­liche Lager mit mir teilen wird.«

Pater Radolf hätte es vor­gezo­gen, Lo­ret­ta würde sich dieses Schwurs, der ihm vor­eilig er­schien, ent­halten und kniete sich auf der ande­ren Seite des Bettes nieder. Wie es einem Geist­lichen an­stand, dachte er dabei an die un­sterb­liche Seele des mit dem Tode Rin­genden, der kaum noch atmete, son­dern bereit schien, ein­zu­gehen in Gottes Herr­lich­keit.

Erinnerung und Abschied

Lo­ret­tas Ge­danken hin­gegen schweif­ten wäh­rend der fol­genden Stunde wie­derum ab in die Ver­gangen­heit, die sie ge­mein­sam mit Hein­rich er­lebt hatte und die für immer Teil ihres Be­wusst­seins blei­ben würde. Sie sah sich selbst als frisch an­getrau­te Ehe­frau, wie sie in der Hoch­zeits­nacht voll banger Er­war­tung der An­kunft des Gatten im Schlaf­gemach ent­gegen­gese­hen hatte.

Ge­tu­schel und merk­wür­dige An­deu­tungen der Mägde, ja, selbst eine Er­mah­nung der eige­nen Mutter, dem Ver­mähl­ten in allem will­fährig zu sein – auch wenn das ge­wisse Schmer­zen be­deuten konnte – hatten sie eher ver­wirrt, als neu­gierig ge­macht. Be­son­ders der Hin­weis, dem Ehe­mann keines­falls Un­willen oder gar Wider­willen zu be­zeigen bei dem, was er for­dern werde, hatte Lo­ret­ta stut­zig ge­macht. Güti­ger Himmel! War Heira­ten so schlimm? Wes­halb hatte ihr das vor­her keiner ge­sagt? Zu­min­dest Pater Radolf, dem sie blind ver­traute, hätte sie doch warnen müssen.

So jung sie auch ge­wesen war, wusste sie natür­lich, dass Hoch­zeiten beim Adel nicht statt­fanden, um Ver­gnügen zu haben, son­dern politi­scher Bünd­nisse wegen, um größe­ren Reich­tums, ver­mehr­ten Ein­flus­ses und höhe­ren An­sehens willen, da man im All­gemei­nen Lände­reien und Unter­tanen hinzu ge­wann. Nach einer Weile hatte aber ihr jugend­licher Opti­mis­mus ge­siegt.

Ihr frisch an­getrau­ter Ge­mahl, ein schlan­ker Herr mit brau­nem schul­ter­langem Haar, dessen dunkel­braune Augen zu­weilen etwas melan­cholisch in die Welt blick­ten, war ihr heute bei der Hoch­zeits­feier ganz be­son­ders lie­bens­wert er­schie­nen. In diese Augen, die kühn vor­sprin­gende Nase und in seinen brei­ten Mund mit den vollen roten Lippen hatte sie sich schon als Zwölf­jäh­rige ver­liebt ge­habt, als sie ihm am Hof ihres Vaters zum ersten Mal be­gegnet war.

Über­aus höf­lich war er zu ihr ge­wesen – ebenso wie die weni­gen Male, die sie ihn vor ihrer Ver­mäh­lung ge­trof­fen hatte. Und gar am heuti­gen Tag, da er sich zum Hoch­zeits­fest so feier­lich heraus­ge­putzt hatte mit einem weißen seide­nen Hemd mit weiten ge­fäl­telten Ärmeln, einem Gold be­stick­ten Wams und einem schwar­zen kurzen Über­rock mit rotem Seiden­futter und engen weißen Strumpf­hosen in spitz zu­lau­fenden Schu­hen.

Wie ein junger Gott hast du aus­gese­hen, Ge­lieb­ter, dachte sie voll Zärt­lich­keit, wäh­rend sie jetzt auf dem Boden vor seinem Lager kniete. Und außer­dem schienst auch du sehr in mich ver­liebt ge­wesen zu sein.

So war es ihr damals, als sie noch jung­fräu­lich war, eher un­wahr­schein­lich vor­gekom­men, dass er sich nach der Hoch­zeit als ein Ehe­mann er­weisen sollte, der ihr brutal zu­setzte. Sie er­in­nerte sich sogar noch an die Sprü­che einer munte­ren Stall­magd, die sie kurz vor ihrer Heirat be­lauscht hatte, als diese sich mit zwei ande­ren Mäd­chen dar­über aus­ließ, wie schön und auf­regend sie es ge­funden habe, letzte Nacht bei einem der Knech­te zu liegen.

Lo­ret­ta klang die Stimme des jungen Frauen­zim­mers heute noch im Ohr, wie es ki­chernd von dem un­ver­gleich­lichen Genuss ge­schwärmt hatte, von einem Lieb­haber ge­nommen worden zu sein, der seine Sache über­aus gut ge­macht habe. Ja, die un­keu­sche Magd hatte sich sogar zu der Aus­sage ver­stie­gen: »In den Augen­bli­cken, in denen der Schaft eines Mannes sich in meinem Bauch be­wegt, würde es mir auch nichts aus­machen, wenn ich ster­ben müsste. Im Gegen­teil! Dabei zu ster­ben, stelle ich mir als den schöns­ten Tod über­haupt vor!«

Beide Mägde hatten dann in schöns­tem Ein­ver­nehmen da­zu ge­lacht.

Der un­erfah­renen Lo­ret­ta war das Ganze selt­sam vor­gekom­men. Sicher hatte das dumme Weibs­bild maß­los über­trie­ben. Aber eines schien ihr doch als nahe­zu ge­wiss: So schreck­lich, wie manche Frauen be­haup­teten, konn­ten die Dinge, die in der ersten ge­mein­samen Nacht eines Hoch­zeits­paares ge­scha­hen, nun doch nicht sein. Immer­hin über­lebten die Frauen sie in aller Regel – auch ihre eigene Mutter hatte sie über­stan­den. Und be­kannt­lich liebte Madame Jeanne ihren Ge­mahl noch immer.

Er­neut wan­derten Lo­ret­tas Ge­danken zurück in die Ver­gangen­heit. Als Hein­rich, der ihr ge­nügend Zeit ge­geben hatte, sich auf ihn vor­zu­berei­ten im Schlaf­gemach ein­traf, war Lo­ret­ta eini­ger­maßen zu­ver­sicht­lich ge­wesen. Die nicht mehr ganz nüch­terne Schar von Ver­wand­ten und Freun­den, die das Paar vor einer halben Stunde bis zur Tür des Braut­zim­mers ge­leitet hatte, war von Hein­rich fort­ge­schickt worden. Nach altem Brauch soll­ten sie be­zeugen, dass und wie das junge Paar im Bett neben­einan­der lag; aber diese pein­liche Zere­monie hatte ihnen ihr Ehe­mann er­spart.

Bei der Er­inne­rung daran, wie liebe­voll und zart­füh­lend ihr Ge­mahl ge­wesen war, schwam­men Lo­ret­tas Augen er­neut in Tränen. Wie er ver­sucht hatte, ihr die Be­fürch­tung zu nehmen, er werde Un­mög­liches und un­säg­lich Schmerz­volles von ihr for­dern. Seine Küsse und das Strei­cheln an Stel­len ihres Kör­pers, die nur ein Ehe­mann be­rühren durfte, ge­fielen ihr aus­neh­mend gut; aber als ihr schließ­lich auf­ging, dass ein ihr riesig er­schei­nender Körper­teil ihres Gatten da­zu be­stimmt war, in ihr zartes Inne­res ein­zu­drin­gen, war sie bei­nahe vor Schreck in Ohn­macht ge­fallen.

Wie ein voll­ende­ter Lieb­haber hatte er sie lange ge­reizt und bereit ge­macht für die Ver­eini­gung, wie es nun ein­mal üb­lich war zwi­schen ehe­lich Ver­bunde­nen in der Hoch­zeits­nacht, um am nächs­ten Morgen mit­tels eini­ger Blut­fle­cken auf dem Laken all den Neu­gieri­gen zu be­weisen, dass die Ge­freite noch Jung­frau ge­wesen.

Ja, sogar Lust hatte sie emp­funden bei dieser aller­ersten Ver­eini­gung mit ihrem Ehe­mann – allen Er­mah­nungen der Kirche zum Trotz, die dies gerne auch bei Ver­heira­teten als Sünde de­kla­rieren wollte. Sie hielt sich lieber an Pater Radolf, der ihr ver­si­chert hatte, in der Ehe seien diese süßen Empfin­dungen für eine Frau durch­aus wün­schens­wert.

Mein Gott, wie lang ist das alles her!, dachte Lo­ret­ta be­drückt. Un­ver­wandt hielt sie die Hand des Ge­lieb­ten, die ihr viel zu kalt er­schien. Sie drück­te sie und er­war­tete ins­geheim, dass er den Druck – zu­min­dest an­deu­tungs­weise – er­widern möge. Als dies aus­blieb, schalt sie sich selbst als un­gedul­dig und un­dank­bar. Hein­rich – kaum dem Tode ent­ronnen – war dafür noch viel zu schwach. Dass er vor­hin so lange ge­spro­chen hatte, galt ihr als un­trüg­liches Zei­chen dafür, dass Me­di­cus und Beicht­vater sich irrten und noch ge­nügend Lebens­kraft in diesem hin­fälli­gen Körper schlum­merte.

Dass dies ein An­zei­chen aller­letz­ten Auf­bäu­mens ge­wesen sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. In ihrem Inne­ren be­schwor die junge Frau jetzt eine andere Szene herauf. Es war der Augen­blick, als er kurz nach der Ge­burt ihres ersten Sohnes Johann an ihr Schmer­zens­lager trat. Nie­mals würde sie den glück­lichen und stol­zen Aus­druck seiner strah­lenden Augen ver­gessen. Sein Mund unter dem braun­schwar­zen Ober­lippen­bart, den er neuer­dings trug und der ihm so gut zu Ge­sicht stand, hatte ge­lacht, als er sie küsste und ihr dankte, ehe er dem Kind, das in Win­deln ge­wi­ckelt in ihrem Arm ruhte, eben­falls einen Kuss auf das kahle Köpf­chen drück­te.

»Ich danke Euch für meinen Stamm­halter und Erben des Hauses Spon­heim, der den Namen seines Groß­vaters Johann er­halten soll«, hatte er ge­sagt und ihr einen kost­baren golde­nen Ring mit einem funkeln­den Sma­ragd auf einen Finger ihrer rech­ten Hand ge­steckt, den sie seit­dem nie mehr ab­gelegt hatte.

Oh, Hein­rich du bist ein ebenso guter Vater, wie du ein voll­ende­ter Ehe­mann bist, dachte Lo­ret­ta. Und ich bin noch so jung. Das ganze Leben, zu­min­dest viele ge­mein­same und glück­liche Jahre liegen noch vor uns. Spon­tan be­schloss sie, ihm noch viele wei­tere Kinder zu schen­ken.

Da ließ etwas sie aus ihren Ge­danken auf­schre­cken. Im ersten Augen­blick wusste sie nicht, was die Ursa­che war. Dann über­lief es sie aller­dings wie Eis­wasser, als ihr die plötz­liche Toten­stille im Ge­mach auf­fiel. Die müh­sam keuchen­den, zu­letzt immer schwä­cher wer­denden Atem­züge hatten gänz­lich auf­gehört. Gleich­zeitig machte sie die er­schre­ckende Ent­de­ckung, dass die Hand ihres Ge­mahls, die sie immer noch in der ihren hielt, sich auf ein­mal kalt wie Eis an­fühlte.

Wie ge­lähmt war Lo­ret­ta zu keiner­lei Regung fähig. Was sie zur Be­sin­nung brach­te, war der leise Ge­sang des Mönchs, der einen Choral an­ge­stimmt hatte, den man im Klos­ter übli­cher­weise into­nierte, um die Seele eines heim­gegan­genen Bru­ders hin­über zu ge­leiten in die Ge­filde der Ewig­keit.

Laut auf­schluch­zend ließ Lo­ret­ta die Hand Hein­richs los und warf sich über seinen Leich­nam. Lange lag sie so. Als sie end­lich in sein Ge­sicht zu bli­cken wagte, schien er mit ge­schlos­senen Augen zu lä­cheln. Ganz leise und un­spekta­kulär hatte der Graf sich davon­geschli­chen, um seine Liebs­te nicht zu er­schre­cken.

Die junge Frau weinte lange und hem­mungs­los, be­glei­tet vom leisen Ge­sang des Paters, der selbst mit den Tränen kämpf­te. Auch er hatte mit dem Tod Herrn Hein­richs einen herben Ver­lust er­litten. In seinem Herzen schwor er sich, weiter­hin nur für Lo­ret­ta da zu sein, ihr und ihren Söhnen be­din­gungs­los zu dienen, sie vor Un­gemach so gut er es ver­mochte, zu be­schüt­zen und dafür zu sorgen, dass ihr Herz nicht vor Kummer brach.

Lange vor Sonnen­auf­gang trafen zwei Nonnen des nahe lie­genden Zister­ziense­rinnen­klos­ters ein, um den Grafen zu wa­schen und her­zu­rich­ten, um ihn an­schlie­ßend in einem Eichen­sarg vor dem Altar der Burg­ka­pelle auf einem mit Blumen ge­schmück­ten Kata­falk, im Strah­len­kranz hun­derter von Kerzen, auf­zu­bahren. Drei Tage lang würden Ver­wandte, Freun­de, Dienst­mannen und Ge­sinde, sowie andere Unter­tanen Ge­legen­heit haben, von ihrem Herrn Ab­schied zu nehmen, ehe er in der Zister­zien­ser­abtei von Him­me­rod bei­ge­setzt würde.

»Auf ein Wort, edle Frau«, wagte der Pater nach einer Weile, Lo­ret­ta an­zu­spre­chen. Mitt­ler­weile hatte sie auf­gehört, laut zu weinen und zu klagen; sie schluchz­te nur noch leise vor sich hin. Der Mönch legte ihr die Hand leicht auf die Schul­ter. »Ihr habt die Ge­wiss­heit, dass Euer Ge­mahl, wohl­ver­sehen mit den Trös­tungen der heili­gen Mutter Kirche, zum Herrn ins Ewige Reich ein­gegan­gen ist. Jetzt ist es an Euch, seine Arbeit inner­halb der Fami­lie fort­zu­setzen.«

»Ihr habt recht, Pater«, er­mann­te sich die junge Gräfin und hob das Haupt. »Das Wich­tigste er­scheint mir, meinen Kin­dern den Tod ihres Vaters nahe zu brin­gen. Bei unse­rem Ältes­ten, Johann, dem künf­tigen Grafen von Spon­heim, wird es am schwers­ten sein. Er ist sieben Jahre alt und be­greift durch­aus die Trag­weite dieses herben Ver­lustes. Bei Hein­rich, der fast fünf Jahre zählt, ist es ein­facher. Er wird in seiner Kind­lich­keit glau­ben, dass sein lieber Vater nur einen länge­ren Spa­zier­gang in den Himmel ge­macht hat, um ihn von dort oben aus zu be­obach­ten, ob er seiner Ma­man ge­horsam ist. Und was Gott­fried an­be­trifft, ist es frag­lich, ob er über­haupt ver­steht, was ge­sche­hen ist. Mit seinen gerade mal zwei Jahren denkt er ge­wiss, sein Papa habe nur eine kurze Reise unter­nommen und kehre jeden Augen­blick zurück.«

Er­neut wurde Lo­ret­ta von einem Wein­krampf ge­schüt­telt. Ihr Beicht­vater ließ ihr Zeit, sich zu be­ruhi­gen. Ihr Schmerz griff ihm un­ge­heuer ans Herz; im Stil­len schwor er sich, alles in seiner Macht Ste­hende zu tun, um ihr das Ge­fühl zu nehmen, ganz allein vor einem Riesen­berg an Auf­gaben und Ver­antwor­tung zu stehen, der auf ihr las­tete.

»Wenn Ihr es wünscht, werde ich bei dem Ge­spräch mit Euren Kin­dern an­wesend sein, um ihre Fragen zu be­ant­worten, Madame«, bot er spon­tan seine Hilfe an, worauf ihn die Gräfin dank­bar, wenn auch mit Tränen in den Augen, an­blick­te.

»Jetzt aber soll­tet Ihr Euch end­lich Ruhe gönnen, mein Kind. Ich werde in der Ka­pelle Toten­wache halten bei meinem Herrn, wie ich früher schon oft bei einem meiner Mit­brüder ge­wacht habe. Bald wird der Morgen grauen und Ihr müsst dann stark sein als Herrin von Spon­heim, als Mutter Eurer Söhne und als ein Vor­bild all Euren Die­nern, Knech­ten und Hinter­sassen.«

Dieses Mal ge­horch­te die Gräfin ihrem Beicht­vater, nach­dem sie ihren Gatten ein letz­tes Mal auf die blas­sen eisi­gen Lippen ge­küsst hatte. Schlep­penden Schrit­tes, nieder­ge­drückt von Trauer, Sorgen und Gram ver­ließ sie die Burg­ka­pelle.

Der Pater war sicher, be­reits am nächs­ten Morgen werde Lo­ret­ta sich auf­recht halten, das schöne stolze Haupt er­hoben, den Blick nach vorne ge­rich­tet und ihren Schmerz vor frem­den Augen ver­bergen, wie es sich schick­te für eine Dame von hohem Adel, guter Er­zie­hung und dem Be­wusst­sein großer Ver­antwor­tung. Nie­mals würde es die Gräfin dulden, dass andere Men­schen etwas von ihrem Kummer und ihrer Ver­zagt­heit be­merk­ten. Radolf von Metz seufz­te; am meis­ten graute ihm vor der Auf­gabe, den Kin­dern den Tod ihres Vaters be­greif­lich zu machen.

Das Be­gräb­nis und die end­losen Be­suche der­jeni­gen, die ihr Mit­gefühl, ihre Be­trof­fen­heit und ihre Trauer aus­zu­drü­cken ge­dach­ten, lagen wie ein Stein auf Lo­ret­tas Seele. Pater Radolf war stolz auf seine Herrin: Sie blieb stark. Blass und ab­ge­zehrt, aber un­ge­beugt und träne­nlos, mit erns­ter Würde ließ sie das Défilé der Trauer­gäste über sich er­gehen, reich­te jedem Einzel­nen die Hand, nahm die Kondo­lenz­wün­sche mit erns­ter Miene ent­gegen und spen­dete den zahl­rei­chen Män­nern und Frauen Worte des Tros­tes. Worte, die sie selbst wohl am nötigs­ten ge­braucht hätte.

Auch ihre Söhne ver­hiel­ten sich an­gemes­sen. Wobei sie es als eine Art von Glücks­fall be­trach­tete, dass nur die beiden Älte­ren eini­ger­maßen be­grif­fen, was ge­sche­hen war, wäh­rend der Jüngs­te in der Tat davon aus­zu­gehen schien, der ge­liebte Papa werde bald wieder zu­hause sein.

Der be­deu­tendste An­kömm­ling auf Schloss Wolf­stein war Lo­ret­tas Schwie­ger­vater, Graf Johann II. von Spon­heim-Star­ken­burg. Er hatte die Frau seines Sohnes von An­fang an ge­liebt wie eine eigene Toch­ter. Jetzt brach es ihm schier das Herz, als er sie an­läss­lich der Trauer­feier sah, hoch auf­gerich­tet, in den schwar­zen Ge­wän­dern noch schma­ler und zer­brech­licher wir­kend, als sie in Wahr­heit war, das schöne blei­che Ant­litz hinter einem dich­ten Schleier ver­borgen.

Das Bild, das sich ihm bot, würde dem alten Grafen un­ver­gess­lich blei­ben: An jeder Hand führte sie einen Sohn, wäh­rend ihr Ältes­ter vor ihr im Trauer­zug allein mar­schierte und mit ge­fass­ter Miene zu der klei­nen Burg­ka­pelle schritt, in der die Toten­feier ab­gehal­ten wurde. Die Über­füh­rung des Leich­nams nach der Abtei Him­me­rod in die Fami­lien­gruft würde man erst später voll­ziehen.