Der Gewinner - Teddy Wayne - E-Book

Der Gewinner E-Book

Teddy Wayne

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein junger angehender Anwalt ergattert einen Sommerjob in einem Tennisclub am Meer – wo er in ein Netz aus kompromittiertem Ehrgeiz, Begehren und Sex gerät, aus dem es am Ende nur noch einen Ausweg gibt.  Conor O'Toole muss den Sommer über für die Anwaltsprüfung lernen. Er ist knapp bei Kasse, hat einen Kredit abzuzahlen und unterstützt seine kranke, arbeitslose Mutter. Ein Glück also, dass er einen Job als Tennislehrer in Cutters Neck, Massachusetts, ergattert hat, seine Klientel sind wohlbetuchte Anwälte, Manager mit vollen Terminkalendern. Mit Catherine, einer beeindruckenden, aber schwer fassbaren Frau mittleren Alters, beginnt Conor eine geheime Beziehung – und damit eine verhängnisvolle Abhängigkeit.  Und dann lernt er Emily kennen. Sie ist jung und enigmatisch und bewohnt ein Cottage nahe von Catherines Villa. Keine der beiden Frauen darf von der anderen wissen, aber wie lange kann er diese gefährliche Partie spielen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 456

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Teddy Wayne

Der Gewinner

Roman

Eike Schönfeld

Für Phoebe, Angus und Kate

Ein wenig Wasser reint uns von der Tat.

– Macbeth

 

 

Der wahre Defensivspieler (oder »Dinker«, wie er in Amateurkreisen wenig liebevoll genannt wird) ist bereit, pro Punkt zehn, zwanzig oder noch mehr Bälle ins Feld zurückzuschlagen … Dinker verstehen die Tatsachen des Lebens auf dem Niveau des Amateurtennis.

– Allen Fox, Think to Win: The Strategic Dimension of Tennis

I

1. Kapitel

Die Straße hinter dem weißen Sicherheitstor, umrahmt vom dichten Grün des Frühsommers, neigte sich sanft in die Ferne.

»Der Code?« Conor konnte sich nicht erinnern, dass John Price einen Torcode erwähnt hatte. »Das ist keine Sprechanlage?«

Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Um reinzukommen, brauchen Sie einen Code«, sagte er.

Conor wählte John Price an, doch die Verbindung kam gar nicht erst zustande – nur ein einsamer, winziger Balken Netz. Auch das Telefon des Fahrers fand keins.

»Vielleicht können Sie ja zu Fuß gehen«, meinte der Mann, wobei ihm sein verschlissener Mundschutz wie schon mehrmals während der Fahrt von der Nase rutschte. Conor war froh, dass seine Mutter wohlbehalten in ihrer Wohnung in Yonkers steckte, wo noch fast jeder in der Öffentlichkeit eine Maske trug.

Die Landkarte auf seinem Handy lud nicht, er wusste daher nicht, wo genau auf diesem drei Kilometer langen Zipfel, der an der Südküste von Massachusetts ins Meer ragte, Johns Haus war. Er musste einen vollgestopften Rucksack, einen Rollkoffer mit einem wackligen Rädchen, seine Tennistasche mit den drei Schlägern sowie, am unhandlichsten, seine zehn Kilo schwere Tischbesaitungsmaschine in einer weiteren Tasche transportieren. Auf jedem Abschnitt seiner Reise, den er an jenem Vormittag zu Fuß hatte bewältigen müssen – von der Wohnung seiner Mutter zu ihrem Mitsubishi, vom Auto zum Metro-North-Zug, aus dem Grand Central zum Taxi zur Port Authority, dort weiter zum Bus nach Providence, Rhode Island, dann vom dortigen Busbahnhof zu seinem Taxi –, musste er mühsam wie eine Raupe dahinkriechen.

Doch entweder ging er nun zu Fuß los, oder er musste bei laufender Uhr darauf warten, dass ein anderer Wagen das Tor öffnete. Conor bezahlte, holte seine Taschen aus dem Kofferraum und gelangte durch eine Tür für Fußgänger. Ein an einen Baum genageltes Holzschild grüßte ihn kursiv:

Privatgelände

Betreten Verboten

Vereinigung Cutters Neck

Die schmale, gewundene Cutters Neck Road, die die Halbinsel in zwei Hälften teilte, war bis auf Vogelgezwitscher und das metallische Schrillen der Insekten still. Das Geißblatt an der Straße dämpfte die scharfe Meeresluft. Zu seiner Linken dümpelte ein Segelboot in der ruhigen Bucht. Auch auf der anderen Seite des stilettartigen Neck war der Atlantik zu sehen.

Conor hatte Luftaufnahmen auf den Seiten von Immobilienmaklern gesehen, aber auf die weitgehend unberührte Schönheit, durch die er jetzt lief, hatten sie ihn nicht ganz vorbereitet. Und hier sollte er nun einen ganzen Sommer verbringen – er konnte es kaum fassen. Er machte ein Foto vom Meer, um es seiner Mutter zu schicken, sobald er wieder ein Netz hatte.

Er passierte die erste Zufahrt, einen Kiesbogen, der zu einem Haus mit Bullaugen führte, dessen schiefergraue Schindeln an manchen Stellen wie überreife Bananen gefleckt waren. Auf der Veranda verkündete beruhigend ein Schild BLACKLIVESMATTER; er hatte keine Ahnung, was er in einer geschlossenen Wohnanlage im stockkonservativen Neuengland in politischer Hinsicht zu erwarten hatte.

Die nächsten Häuser waren im selben Baustil gehalten, aber nicht weiter ausgeschmückt bis auf eine riesige amerikanische Fahne, die auf einer Veranda im Wind flatterte.

Conor stellte die Besaitungsmaschine ab und rieb sich den schmerzenden Arm. Er bereute es, sie mitgeschleppt zu haben, gut möglich, dass er während des Sommers gar keine Verwendung dafür haben würde. Ein Sportgeschäft in der Stadt besaitete noch Schläger, doch es ging ihm gegen den Strich, für etwas zu bezahlen, was er auch selbst machen konnte.

Das erste Anzeichen menschlichen Lebens in dieser Idylle kam von einem Golfwagen, der, von einem kleinen blonden Mädchen gelenkt, vorbeisauste; neben ihr saßen zwei jüngere und noch flachsblondere Kinder. Conor lächelte und winkte ihnen gutnachbarlich zu, doch das Trio starrte ihn nur mit ausdruckslosen Gesichtern an wie Kinderdarsteller in einem Horrorfilm.

Endlich erreichte er den Briefkasten vor Johns Haus, dessen Nummer er sich zum Glück gemerkt hatte. Auf halber Strecke der Rasenzufahrt, die durch eine Baumgruppe führte, zweigte ein kurzer, gerader Weg in ein Wäldchen ab. Dort stand, in eine kleine Lichtung geduckt und in Sichtweite von Johns Haus, eine kompakte Hütte, Conors kostenlose Bleibe bis zum Labor Day.

Vielmehr nicht kostenlos, sondern als Gegenleistung für Tennisstunden. Glücklos bei der Jobsuche, war er in Panik wegen des Darlehens über 144000 Dollar für sein Jurastudium, das er zurückzahlen musste, sobald die Regierung den Pandemie-bedingten Aufschub aufhob. Also hatte Conor im Mai den Upper-East-Side-Tennisclub kontaktiert, wo er während des Studiums Sommerjobs gehabt hatte. Wegen des Lockdowns hatte der Club schließen müssen, doch sein ehemaliger Chef hatte ihm ein Angebot weitergeleitet, das gerade hereingekommen war: Gegen Tennisunterricht an sechs Tagen die Woche wollte ein Mitglied jemanden über den Sommer in seinem Gästehaus am Meer wohnen lassen. Der Lehrer konnte noch etwas hinzu verdienen, indem er auch anderen Bewohnern Stunden gab.

Und nun war er da. Die Tür war angelehnt; als er nach den Schlüsseln gefragt hatte, hatte John ihm gesagt, auf dem Neck schließe niemand ab, was den gebürtigen New Yorker irritierte, war er doch ein abendliches Ritual mit Riegeln und Ketten gewohnt. Die kleine Hütte enthielt ein Einzelbett, einen Schreibtisch und eine Kochnische, dazu gab es ein kleines Duschbad. John hatte Kühlschrank und Schränke aufgefüllt und auch noch ein Fahrrad mit Korb und Helm für die zwanzigminütige Fahrt zum Markt im Dorf bereitgestellt.

Kaum Überflüssiges, aber auch kaum Ablenkungen: das ideale Hauptquartier, um sich zwischen dem Tennisunterricht acht Stunden täglich auf die Zulassung zum Anwalt vorzubereiten.

Conors Handy bekam nun ein Netz, wenn auch weiterhin nur mit einem Balken, und die sieben Jahre alte Batterie war fast leer. Er schickte seiner Mutter das Meeresfoto und John eine SMS, dass er angekommen war.

Wenige Minuten später klopfte es an der Tür. Als er aufmachte, stand ein schlanker Mann Mitte sechzig ein Dutzend Schritte von ihm entfernt. Er trug ein dunkles Jackett, Krawatte und dazu lachsfarbene Shorts und Slipper ohne Socken.

»Willkommen auf Cutters«, sagte John.

»Freut mich sehr, Mr. Price.« Obwohl sie einen Sicherheitsabstand wahrten, fischte Conor seinen Mundschutz aus der Tasche und setzte sie als Zeichen des Respekts auf.

»John, bitte. Und im Freien brauchen wir die Maske nicht.«

»Na klar«, sagte Conor. »Meine Mutter hat Diabetes, deshalb trage ich überall eine.«

Sein Blick senkte sich wieder auf Johns Unterkörper. Er hatte noch nie einen Mann in rosa Shorts gesehen.

John bemerkte es offensichtlich. »Ich war den ganzen Vormittag auf Zoom, Besprechungen, daher der Bermuda-Geschäfts-Look. Wahrscheinlich ist die Pandemie der neue Casual Friday.«

»Ich war den ganzen Tag im Bus von der Port Authority. Daher …« Conor deutete auf seinen zerknitterten Aufzug.

»Der Bahnhof in Providence ist auch nicht viel besser«, sagte John glucksend. »Jemand von hier hat mal seinen Wagen dort geparkt, am helllichten Tag – eine Viertelstunde später war er geklaut. Hatte ich Ihnen nicht Amtrak empfohlen?«

Das hatte er, aber das billigste Bahnticket kostete hundertneunzehn Dollar, der Bus dagegen vierunddreißig.

»Ich bin schon immer gern Bus gefahren«, sagte Conor.

John zählte die Eigenheiten der Hütte auf und meinte, am Morgen werde er ihm dann den Tennisplatz zeigen.

»Oh«, sagte er, nachdem er zwei Schritte gegangen war. »Heute Abend gibt’s auf dem Neck eine Party. Im Freien natürlich. Betrachten Sie sich bitte bei allen gesellschaftlichen Anlässen hier als mein Gast.«

»Vielen Dank«, sagte Conor. »Ich bin ziemlich kaputt, ich bleibe wohl erst mal hier.«

»Sicher? Ich weiß ja, mit einem Haufen steifer Wasps herumzustehen ist nicht gerade der aufregendste Abend, aber Sie könnten weitere Kunden kennenlernen. Vorausgesetzt, es stört Sie nicht, das Geschäftliche mit dem Privaten zu vermischen.«

Conor hatte neben Johns Stunden mit denen er ja die Miete zahlte, bislang nur drei weitere vereinbart. Selbst wenn aus allen etwas Wöchentliches wurde, müsste er in diesem Sommer noch viel mehr verdienen.

»Solange die Wasps nicht stechen«, sagte er.

Nach einigen quälenden Sekunden, in denen Conor Angst hatte, er habe ihn mit seinem schlechten Scherz gekränkt, lächelte John.

»Falls ja, dann spüren wir das selber gar nicht«, sagte er. »Gottes starres Volk.«

 

John hatte ihm gesagt, hinter der Hütte gebe es auch eine Außendusche, und die probierte Conor gleich mal aus. Er hatte noch nie im Freien geduscht. Der Wind strich durch das Fenster der hölzernen Kabine, was ihm einen Blick auf das blaugrüne Wasser in der Ferne gewährte. Das fensterlose Bad seiner Mutter in Yonkers war ohnehin schon ziemlich beengt, und sie hatten zu große Angst vor Covid gehabt, um jemanden kommen zu lassen, der den Abluftventilator reparierte, der im April kaputtgegangen war, sodass es nun bei jedem Duschen wie in einer klaustrophobischen Sauna war.

Er konnte sein Glück kaum fassen – nicht nur, dass er einen Job gefunden hatte, den er dringend brauchte, sondern dass dieser auch noch eine Freiluftdusche mit Meerblick einschloss.

Ein paar Minuten vor sechs stopfte er ein Button-down-Hemd in seine einzige Khakihose und machte sich auf zu der Party. Je näher er kam, desto nervöser wurde er, ob er auch angemessen gekleidet war. (Hätte er seinen Blazer einpacken sollen? Wo kaufte man überhaupt rosa Shorts?) Als Tennisspieler war er in seinem Leben schon vielen älteren begüterten Leuten begegnet und wusste, wie er sich bei ihnen zu verhalten hatte: stets äußerst höflich, gut gelaunt und ehrerbietig, wie ein Kellner in einem gehobenen Restaurant. Cutters Neck war jedoch die exklusivste Schicht, in die er bisher geraten war, zudem hatte er noch nie auf deren Terrain gelebt.

Ein paar Dutzend Gäste schlenderten hinter dem Haus an einem Infinity-Pool herum, der überflüssig wirkte, waren sie doch von einem nahezu endlosen Ozean umgeben. Das Partyvolk bestand überwiegend aus Boomern, die sich wie John vor dem Virus hierhergeflüchtet hatten, dazu eine Clique junge Leute im College- oder Highschool-Alter sowie mehrere Horden tobender Kinder und ihre Eltern.

Conor fiel gleich auf, dass nirgendwo eine Maske zu sehen war. Selbst wenn die Proteste wegen George Floyd gezeigt hatten, dass Ansammlungen im Freien sicher sein konnten, war eine gut besuchte Party so riskant, dass er überlegte umzukehren. Wenn er sich Covid holte, würde kein Mensch bei ihm Stunden nehmen, für mindestens zwei Wochen.

Aber er musste auch mehr Arbeit ranschaffen. Da er nicht als Hypochonder dastehen wollte oder als gar einer, der selbst Symptome hatte, ließ er seine Maske stecken und lief stracks zu den Häppchen. Seit dem Frühstück hatte er nichts Wesentliches gegessen. Doch als sich die beiden vor ihm russische Eier mit bloßen Händen nahmen, drehte er von dem Essen ab und holte sich einen Gin Tonic.

John trat zu ihm und führte ihn ins Getümmel. Die Männer – wovon zwei ebenfalls rosa Shorts trugen, einer eine tomatenrote Hose – gaben ihm die Hand und nannten ihm dabei Vor- und Nachnamen, worauf Conor es ihnen gleichtat. Er lernte Johns freundliche Frau kennen – die erzählte, sie halte sich nicht mit Tennis fit, sondern indem sie invasive Pflanzen auf dem Neck entfernte – und die drei Leute, die sich schon für Stunden bei ihm angemeldet hatten. Allen anderen stellte John ihn als außergewöhnlichen Tennisprofi aus Westchester (nicht Yonkers, wie Conor auffiel) vor, dessen Terminkalender sich schon rasch fülle. Die meisten meinten leider, sie spielten nicht oder hätten seit Jahren nicht mehr gespielt. Viele der Ansässigen hatten eine gewisse Familienähnlichkeit, ausgenommen ein zerzauster Exzentriker mit einer wilden Mähne, der sich lang und breit über die Gefahren von Toxinen im Wasser ausließ.

Bis auf ihn waren sie alle gesellig und herzlich, sodass sich Conor zusehends entspannte. Sehr reiche Menschen waren auch Menschen.

»Mein Gott, Sie sehen aber gut aus!«, schwärmte ihre Gastgeberin, deren graue Strähnen eine kürzliche Unterbrechung ihrer regelmäßigen Friseurtermine verrieten. »Sind Sie denn auch bestimmt Tennisspieler und kein Filmstar?«

»Meine letzte Rolle hatte ich in der zweiten Klasse«, sagte Conor und senkte befangen den Kopf. Die Verlegenheit war echt, selbst wenn verschämtes Lächeln und ablenkende Bescheidenheit inzwischen zur Gewohnheit geworden waren. Aus Erfahrung wusste er, dass dies die einzig akzeptable Reaktion war, denn das Kompliment ganz abzutun war fast noch egoistischer, als es anzunehmen.

Seine Wirkung auf Frauen war der eine Bereich in seinem Leben, bei dem er sich nie groß hatte anstrengen müssen. Sie war reines genetisches Glück, ein absoluter Vorteil, aber hin und wieder verschaffte sie ihm auch ein gewisses Verständnis für die Nachteile, die, wie er vermutete, schöne Frauen häufiger empfanden: begehrt und zugleich zum Objekt gemacht zu werden, begafft und dennoch nicht gesehen zu werden. Manche – insbesondere seine Lehrer – hielten ihn für einen Idioten, bis er ihnen das Gegenteil bewies.

Er beklagte sich auch gar nicht, aber hätte er sich einen natürlichen Vorteil aussuchen können, hätte er Geld genommen. So vieles, von der Gesundheit seiner Mutter über seine Berufsaussichten bis hin zu der elementaren Annehmlichkeit, sein Gepäck nicht durch vier Staaten mit dem Bus befördern zu müssen, wäre viel einfacher gewesen.

»Und wie ist es mit der Politik?«, fragte die Frau nun, deren Namen Conor nicht mitbekommen hatte. »Sie sehen aus, als könnten Sie der Präsident sein. Sieht er denn nicht aus wie ein Präsident, John?«

»O ja, er hat durchaus etwas von einem Kennedy«, sagte John. »Bevor ich Ihnen meine Stimme gebe, haben Sie noch irgendwelche Leichen im Keller? Jemanden von einer Brücke gefahren?«

»Bislang wurde noch niemand gefunden«, sagte Conor, dem nun unter Johns prüfendem Blick noch unbehaglicher wurde. »Sie haben übrigens einen schönen Pool«, fügte er hinzu in der Hoffnung, das Thema zu wechseln.

»Danke«, sagte sie. »Wissen Sie, Suzanne Estabrook hat an dem Wochenende von Chappaquiddick tatsächlich im selben Hotel wie Teddy Kennedy auf Martha’s Vineyard gewohnt!«

Naturgemäß wechselte das Gespräch nun auf die Präsidentschaftswahlen. »Tom Becker wählt ihn«, sagte sie vertraulich.

»Im Ernst – schon wieder?«, fragte John. »Hat er denn gar nichts gelernt?«

»Erst wollte er es nicht zugeben. Sally musste es ihm praktisch aus der Nase ziehen.«

»Keine Sorge«, sagte John zu Conor. »Auf dem ganzen Neck wählen nur fünf, sechs Leute Trump. Wir würden sie ja gern loswerden, falls Ihnen dazu was einfällt.«

Nach einer Unterhaltung über Covid (die Gastgeberin: »Ich sag’s ja nicht gern, aber das hat in erster Linie mit der Herkunft zu tun. Ich wäre absolut schockiert, würde jemand auf Cutters daran sterben. Ich glaube auch gar nicht, dass jemand hier es auch nur bekommt«; John: »Ach, das kriegen wir doch alle. Irgendwann kriegen wir’s alle. Ist nur eine Frage der Zeit«) und Klatsch über eine verschobene Hochzeit auf dem Neck und die extravagante Wunschliste des Paars (eine Tiffany-Gabel – eine einzige Gabel, verdeutlichte die Gastgeberin, kein Set – kostete dreihundertsechzig Dollar) entfernte sich John, um jemanden zu begrüßen. Auch die Gastgeberin wandte sich zum Gehen, sagte Conor aber noch, sie und ihr Mann seien ab Montag für zwei Wochen weg, er könne den Pool gern solange benutzen.

»Danke«, sagte er. »Wobei ich gar nicht besonders gut schwimme.«

Das kleine Mädchen, das den Golfwagen gefahren hatte, hüpfte, nun in einem geblümten Kleid, vorbei und gesellte sich zu einer Gruppe ähnlich gekleideter Kinder. In der Schneetundra weißer Haut fiel ihm eine einzelne schwarze Familie auf; Vater und Sohn, beide offenbar beliebt, trugen nahezu identische Polohemden.

Die Party war bislang hinsichtlich der Akquise von Kundschaft eine Pleite. Er sollte sich jetzt, solange John beschäftigt war, davonmachen, doch der Cocktail, an dem er sich festgehalten hatte, hatte die Leere in seinem Magen nur noch betont. Er kehrte zu den Häppchen zurück, als gerade niemand dort war, und verschlang, die Vorsicht von seinem Gin Tonic minimiert, vier der cremigen Eierhälften. Dann nahm er die hochpreisige Flasche Gin, um sie hinunterzuspülen, hielt sie aber, bevor er sie zu seinem Glas neigte, nachdenklich mit beiden Händen fest. Er musste den Tag, den er durch die Busfahrt für sein Lernpensum verloren hatte, nachholen, und ein Glas war die Obergrenze, damit er sich dann noch seinen Büchern widmen konnte.

Die College-Studenten standen plaudernd in einem Kreis am Pool. Obwohl nur wenige alt genug wirkten, um Alkohol trinken zu dürfen, hatten alle einen Tumbler oder ein Weinglas in der Hand, und ihre Körpersprache legte eine lebenslange Vertrautheit mit Cocktailpartys am Meer nahe. Sie ließen das sorgenfreie Lachen junger Leute erklingen, die für gar nichts lernen müssen, die keine Arbeit haben, wegen der sie morgens aufwachen müssen, die so viel trinken können, wie sie wollen, und das völlig folgenlos. Conor konnte sich nicht ansatzweise in sie hineindenken. Immer hatte es morgens Tennisstunden oder eine Arbeit gegeben, bei der er pünktlich sein musste, um Geld zu verdienen, um sich an der Miete zu beteiligen, eine anstehende Prüfung, ein Referat, das abgegeben werden musste, ein dickes Buch. Aber das fand er meistens in Ordnung. Wenn er hart arbeitete, ging es ihm am besten. Freie Zeit machte ihn nervös.

Doch seine Entfremdung von Gleichaltrigen rührte nicht ausschließlich von der Kluft der Verpflichtungen her. Und auch nicht daher, dass er sich immer ein wenig verloren fühlte, wenn sie in einem Slang quatschten, bei dem er nicht mehr mitkam, oder über eine neue Sendung im Fernsehen, ein Lied, einen Promi oder über etwas, was gerade im Internet angesagt war. Vielmehr war es die Art, wie sie über sich selbst redeten, was sie jedem ungehemmt erzählten, der ihnen zuhörte, wie sie Schwäche als Stärke, einstmals peinliche Wunden und Weichheiten stolz zur Schau trugen. Schön für sie, dachte Conor, aber seine Verletzlichkeit aller Welt mitzuteilen war für ihn undenkbar. In einem Tennismatch offenbarte man dem Gegner nie eine Verletzung, wenn es sich vermeiden ließ.

Plötzlich hatte er ein verstörendes Bild vor Augen, wie er in die Gruppe knallte wie eine Bowlingkugel in eine Schar blonder Kegel und diese reichen Jungs allesamt in den Pool stieß.

Er wollte die Ginflasche gerade wieder hinstellen und sich ein Mineralwasser nehmen, als hinter ihm eine leise, aber eindeutig weibliche Stimme fragte: »Wollen Sie sich was eingießen oder die Flasche in den Schlaf wiegen?«

Die Frau war hochgewachsen, fast wie Conor. In ihrer übergroßen Sonnenbrille spiegelte sich die untergehende Sonne, und die breite Krempe eines Strohhuts beschattete ein blutleeres, blasses Gesicht, dessen spitze Züge die Luft vor ihr wie ein Schiffsbug zerschnitten. Ihre mittellangen Haare waren fast so gelb wie die der allgegenwärtigen Kinder. Ein Netz blauer Adern lag unter der nahezu durchscheinenden Haut ihrer sehnigen Arme.

»Sorry«, sagte er. »Wollten Sie – kann ich Ihnen einen einschenken?«

Sie hielt ihm ihr viertel volles Glas hin, als gehörte er zum Service. »Nur nicht so schüchtern«, sagte sie und krümmte den Finger; er hatte ihr eher maßvoll eingeschenkt. »Ich muss nicht fahren.«

Er kam ihrer Aufforderung nach und gab noch einen Schuss Tonic dazu sowie, als sie zum Eiskübel hin nickte, mit einer Zange zwei Würfel.

»Also«, sagte sie, »ich erkenne Sie nicht. Sind Sie ein Bastard?«

»Wie bitte?«, fragte er, von dieser Obszönität so durcheinander, dass er nicht sicher war, ob er sich verhört hatte.

»Ein Bastard ist ein unehelicher Sohn. Ich frage mich, ob ich Sie deswegen nicht erkenne.«

Ihre eigenartige Frage, zudem noch ohne jeden humorigen Tonfall gestellt, ließ ihn kurzzeitig vergessen, warum er dort war. »Nein, ich … ich bin der Tennis…spieler.« Streng genommen war er nur als Freizeittrainer zertifiziert und nicht als Profispieler, doch sein ehemaliger Chef hatte ihm empfohlen, es mit der Wahrheit nicht ganz so genau zu nehmen, damit er den Job bekam.

»Der Tennis…spieler«, wiederholte sie mechanisch. »Ist das Ihre Berufung, oder haben Sie auch einen Namen?«

»Conor. O’Toole.«

»Ah ja. Da kam eine Mail wegen Unterrichtsstunden.« Sie reckte das Kinn; hinter ihrer Sonnenbrille kniff sie vermutlich argwöhnisch die Augen zusammen. »Sie versuchen doch nicht etwa, uns alle zu täuschen, Conor O’Toole? Sie sind doch kein Schwindler, der sich zwecks schändlicher Absichten als Tennisspieler ausgibt?«

Das sagte die Frau ohne jedes Lächeln und trank einen Schluck, wobei sie die ganze Zeit die Sonnenbrille auf ihn gerichtet hielt. Bei Frauen war Conor selten befangen, doch schon nach dieser kurzen Unterhaltung mit ihr fühlte er sich unruhig und verzagt, als sähe eine Gruppe Fußgänger zu, wie er rückwärts einparkte.

»Ich gebe hier nur Tennisstunden«, sagte er.

»Sehr nützlich. Tja also, wie kommt man dann wohl an eine Stunde bei dem sehr ernsten Conor O’Toole?«

»Alle Infos stehen in der Mail, die John herumgeschickt hat.« Als sie keine Reaktion zeigte, fügte er an: »Hundertfünfzig Dollar für eine volle Stunde Unterricht.« (Conor hatte zunächst hundert Dollar die Stunde vorgeschlagen, den üblichen Betrag in seinem alten Tennisclub, doch John hatte gemeint, er werde mehr Kunden bekommen, wenn er hundertfünfzig verlangte, da »hier keiner denken würde, dass Sie’s wert sind, wenn Sie nicht genügend kosten«.)

»Man spricht nicht über Geld, das ist ungehörig«, sagte die Frau.

Dieser Satz kam schneidender heraus als ihre vorherige Neckerei. Er war immer der Ansicht gewesen, Transparenz nütze der Kundschaft, nun aber war klar, dass er eine der ungenannten Verhaltensgrenzen dieser Welt weit überschritten und sich damit als genau der Schwindler entlarvt hatte, als den sie ihn bezeichnet hatte.

»Tut mir l-leid«, sagte er.

Nach wenigen Wochen in der achten Klasse hatte Conor angefangen zu stottern, praktisch über Nacht. Es hatte ganz harmlos begonnen, hier und da eine kurze Pause in den Wörtern. Aber schon zwei Monate später trat es unweigerlich auf – wenn er mehr als nur ein paar Sätze redete, dann dehnte sich die Verzögerung quälend; sein Hirn wusste, was der nächste Laut sein würde, doch Lunge und Zunge verweigerten die Mitarbeit.

Seine Mutter versicherte ihm, dass es irgendwann von selbst weggehen werde, doch er hatte schreckliche Angst, dass es das nicht tat. Er hatte gehört, dass Joe Biden, der damals bald Vizepräsident werden sollte, in der Kindheit ein Stottern überwunden hatte, indem er stundenlang vor dem Spiegel irische Gedichte aufsagte. Conor beschloss, dies ebenfalls zu tun, allerdings mit den medizinischen Zeitschriften, die seine Mutter von der gastroenterologischen Praxis mitbrachte, in der sie arbeitete. Er glaubte, wenn er diesen obskuren Jargon bewältigen könnte, dann würde er auch mit der Alltagssprache fertig.

Rückblickend mutete es fast schon komisch an, dass ein Dreizehnjähriger bis zum Schlafengehen die Aussprache von obere Endoskopie und Behandlung von Analfissuren in alten Nummern von Krankheiten von Enddarm und Rektum übte, doch es hatte funktioniert. Mit Beginn der Highschool hatte er es überwunden – beinahe vollständig. Entscheidend war, nicht darüber zu grübeln, sobald es auftrat, denn wenn man es doch tat und sich weiter ängstigte, kehrte es mit voller Kraft zurück und hatte damit die Gelegenheit, sich einzunisten.

Die Sonnenbrille der Frau war weiterhin auf ihn gerichtet, als dokumentierte sie insgeheim die Existenz eines Defekts, den Marker einer angeborenen Minderwertigkeit. Sein innerer Thermostat ging durch die Decke, sein Haaransatz kribbelte von Schweiß.

»Ich bin Dienstag, siebzehn Uhr, verfügbar.« Es klang ganz so, als setzte sie den Termin fest, nicht, als fragte sie, ob auch er da konnte.

»Schön«, sagte er, die Silben auf ein Minimum beschränkend.

»Dann bis dann, Conor O’Toole«, sagte sie und ging weg.

Erst später, als er sich in seiner Hütte die Zähne putzte, fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, wie sie hieß.

»Schwindler mit schändlichen Absichten«, sagte er zu sich im Spiegel.

In seiner ersten Woche machte er von diesen Leuten sechshundert Dollar. Wenn er denn ein Schwindler war, dann ein billiger.

2. Kapitel

Conors erster Arbeitstag auf dem Tennisplatz von Cutters begann unter einem wolkenlosen Himmel.

John war ein guter Spieler und für sein Alter in hervorragender Verfassung. Sollten sie je ein echtes Match spielen, könnte er gegen Conor sogar hin und wieder einen Punkt ergattern.

Nachdem sie eine Stunde lang gespielt hatten, erholten sie sich am Rand im Schatten eines kleinen Clubhauses, in dem eine ramponierte Tischtennisplatte stand. (»Das ist der ›Yachtclub‹«, sagte John. »Obwohl hier keine Yachten liegen.«) Dahinter war eine Anlegestelle, die in einen Holzsteg überm Wasser auslief, von wo aus, wie John ihm sagte, alle schwimmen gingen.

Conor benannte die Bereiche in Johns Spiel, die er im Lauf des Sommers verbessern wollte. Dann tranken sie schweigend Wasser.

»Sie haben das Haus hier schon länger?«, fragte Conor, um Konversation zu treiben.

John gab ihm eine Kurzfassung der Geschichte des Neck: Drei Geschwister, darunter sein Großvater, hatten das Land in den zwanziger Jahren gekauft und Häuser darauf gebaut. Im Lauf der Jahre hatten sich ihre Familien vergrößert und weitere Häuser errichtet, sodass Cutters jetzt in der vierten Generation war und über zwanzig Häuser umfasste.

»Im Lauf der Jahre haben sich auch ein paar von außerhalb eingekauft, aber mit ziemlicher Sicherheit sind auch deren Vorfahren alle mit der Mayflower rübergekommen«, sagte John. »Das heißt, nicht alle. Wesley Patterson kannte ich vom Harvard Club, dem habe ich dann Bescheid gesagt, als das Stillwell’sche Haus zum Verkauf stand. Er ist ein toller Typ, spielt eher Golf als Tennis, aber das ist eine wunderbare Familie – sollten Sie kennenlernen, wenn Sie’s nicht schon haben.« Durch Johns auffallendes Lob und wie stolz er darauf war, konnte sich Conor denken, welche Familie er meinte. »Und dann haben einige Frauen aus meiner Generation Juden geheiratet. Und den Jüngeren sind derlei Dinge nicht mehr so wichtig wie früher.

Was aber gut ist«, setzte er schnell hinzu. »Wenn Sie O’Toole heißen, müsste doch noch irisches Blut in Ihren Adern fließen.«

»Mein Dad ist noch in Irland geboren und hierher ausgewandert, um auf dem Bau zu arbeiten.«

John nickte. »Ich bin übrigens Anwalt. Weiß nicht mehr, ob ich es Ihnen gesagt habe.«

Das hatte er nicht, doch Conor hatte seine Hausaufgaben gemacht. Anfangs unschlüssig, ob er seine Mutter während des Sommers allein lassen sollte, war seine Entscheidung gefallen, als er gesehen hatte, dass John Partner in einer der angesehensten Kanzleien der Stadt war. Als sie sich im Mai über den Job unterhalten hatten, hatte er noch nicht erwähnt, dass er gerade sein Jura-Examen machte, da er seinen zukünftigen Arbeitgeber nicht mit dem Gedanken verschrecken wollte, er könnte noch abspringen, sollte er eine echte Stelle ergattern. Nachdem sie aber nun eine Stunde absolviert hatten, sah Conor keinen Grund mehr, es ihm vorzuenthalten.

»Ich habe tatsächlich gerade mein Jurastudium abgeschlossen«, sagte er.

»Ach wirklich? Wo?«

»Ähm« – Conor verschluckte die nächsten Wörter – »New York Law School?«

»Die NYU ist Spitze. Von dort haben wir eine Menge Leute.«

Conor zögerte, wollte ihn nur ungern verbessern, aber auch nicht lügen. »Nicht die NYU – die New York Law School.«

»Ah, natürlich. Auch eine gute Uni.« John tat sein Bestes, den Dämpfer in seiner Wertschätzung zu verbergen. Conor war auch an einigen höher eingestuften Unis angenommen worden, doch keine hatte ihm dieselbe Finanzierung angeboten, daher war ihm keine Wahl geblieben. Er war einer Besten aus seinem Jahrgang, doch auch das hatte ihm bei der Stellensuche nicht geholfen, zumal nach Ausbruch der Pandemie Einstellungsstopps verfügt worden waren.

»Jetzt lerne ich für die Anwaltszulassung, danach bewerbe ich mich«, sagte Conor. »Aber natürlich würde ich erst nach dem Sommer anfangen.«

»Wo liegen Ihre Interessen?«

»Ich bin für alles Mögliche offen, konzentriere mich aber auf Gesellschaftsrecht.«

»Das ist auch mein Gebiet.« John räusperte sich, wollte offenbar das Thema wechseln; seine Kanzlei würde niemals erwägen, einen mit Conors mäßiger Ausbildung einzustellen. »Und? Hat Ihr Vater Sie zum Tennis gebracht? In Irland dürfte das wohl nicht sonderlich groß gewesen sein.«

Conor schüttelte den Kopf und trank einen langen Schluck Wasser. »Alles purer Zufall«, sagte er und erzählte ihm in groben Zügen, wie es dazu kam. Eines Nachmittags im April, er war in der Achten, sah er auf seinem Heimweg von der Schule, der ihn an einem Park mit öffentlichen Tennisplätzen vorbeiführte, in einem Mülleimer einen Schläger mit einem angeknacksten Rahmen stecken. Vor ihm lag wieder ein trüber, stiller Nachmittag in ihrer leeren Wohnung, doch da entdeckte er einen halb kaputten Ball, und den schlug er dann allein gegen eine Handballwand. Er mochte die beruhigende Monotonie, das stupide Gefühl bei jedem guten Schlag, etwas erreicht zu haben. Und so ging er jeden Tag zu der Wand, beobachtete manchmal auch die Schläge der geübten Spieler auf den Plätzen, bis ein älterer Mann, der häufig dort spielte, ihn auf ein paar Ballwechsel einlud. Schließlich gab Richard Wotten Conor das restliche Frühjahr und den Sommer hindurch Tennisstunden. Keine der staatlichen Schulen in Yonkers hatte eine Tennismannschaft, aber dank Richards Bemühungen erhielt Conor eine Sonderregelung, dass er es bei der im nahegelegenen Hastings-on-Hudson probieren konnte, und in der Neunten schaffte er es dann ins Doppel des zweiten Teams.

Die ganze restliche Zeit an der Highschool blieb die Handballwand ein Fixpunkt in Conors Leben. Außerhalb der Tennissaison und nach seinen Schuljobs (an der Kasse bei CVS, im Eisladen Baskin-Robbins, Eintüten im Supermarkt C-Town), wenn er keinen Partner fand oder einfach nur angespannt war, ging er dort üben, manchmal noch, bis es zu dunkel war, um etwas zu sehen, wobei er sich trotzdem das Ziel setzte, den Ball zwanzig Mal hintereinander in einen kleinen Kreis zu schießen, den er an die Wand gemalt hatte, eine Minute lang seitwärts zu sprinten, um aus dem Lauf heraus Vor- und Rückhand zu schlagen, Reflexvolleys aus zwei Metern Entfernung abzuwehren, und das gegen einen niemals müden, unerbittlichen, unschlagbaren Gegner, der immer nur besser wurde, je härter er schlug.

Doch auch er wurde besser, und er fand es berauschend, wie er Fortschritte machte, über Nacht von einem scheinbar gleichbleibenden Niveau auf ein höheres zu springen, den Ball derart kontrolliert zu spielen, wie es ihm im übrigen Leben nie gelang. Den Stoppball, der es gerade so übers Netz schaffte, um beim Aufprall dann zu verhungern, den Slice-Aufschlag, der ins Doppellängsfeld als Ass wegzischte, den Lob, der knapp über den gereckten Schläger des Gegners hinwegflog und durch den starken Drall wie ein Stein runterfiel – das alles hatte eine Schönheit, war Geometrie plus hohe Kunst. Und anders als bei den Kontaktsportarten, die seine Freunde begeisterten und wo das Ergebnis weitgehend von der Größe der Spieler abhing, hatten geschickte und strategisch denkende Davids auf dem Tennisplatz durchaus eine Chance gegen Goliaths mit ihrer schieren Kraft. (Conor war am College mit seinen eins achtundsiebzig neben den Scharen von Einssechsundachtzigern mit ihrem Power-Aufschlag im Underdog-Team.)

Sein Einzeltraining an der Wand wappnete ihn für den Wettkampf über das Physische hinaus. Das Einzeltennis war der größte Sport, in dem man völlig allein antrat und in dem bei Profiwettkämpfen das Coachen streng verboten war (Golfer erfreuten sich immerhin der strategischen und motivierenden Gesellschaft eines Caddys). Ein einsames Spiel, wie gemacht für die einsamen Wölfe der Sportwelt, einsam sogar im Sieg; da gab es keinen, mit dem man unmittelbar jubeln konnte.

»Klingt mir nach Glück, vor allem aber nach harter Arbeit«, meinte John. »Ich hab’s hier von meinem Dad gelernt, auf dem Platz da. Damals war es aber Rasen. Den haben wir vor einiger Zeit entfernt. Nicht sehr einfach, ihn zu pflegen.« Er machte eine Pause – vielleicht war ihm die Diskrepanz zwischen einem gepflegten Rasenplatz am Meer und einem schäbigen öffentlichen Platz in Yonkers zu spät aufgefallen. »Ihr Mentor ist bestimmt ganz stolz darauf, was Sie aus sich gemacht haben.«

»Er hat mich immer sehr unterstützt«, sagte Conor und beließ es dabei. Richard war ein pensionierter Immobilienanwalt und kürzlich verwitwet, als sie sich begegneten. Zusätzlich dazu, dass er Conors Spiel verfeinerte und sich geradezu poetisch über den Sport ausließ – er zog gern Vergleiche zwischen den Best-of-Five-Sätzen eines Matchs beim Herren-Grand-Slam und der dramatischen Struktur eines Shakespeare-Stücks, nicht dass der Teenager je eins gesehen hätte –, hatte Richard zunehmend auch Conors Schläger und Turnschuhe finanziert und ihm überdies noch seine getreue Besaitungsmaschine geschenkt. (Diese hatte ihm im Lauf der Jahre Hunderte, vielleicht sogar Tausende Dollar gespart – und als ihm schon nach zehn Minuten Ballwechsel mit John eine Saite riss, war Conor froh, dass er sie dabeihatte.) Das Großzügigste aber war, dass er zehntausend Dollar für seine Ausbildung in eine steuerbegünstigte Anlage gesteckt hatte, was ihm seine Studiengebühren ein wenig reduzierte und mehr als alles andere dazu beigetragen hatte, dass Conor Anwalt werden wollte.

Bevor Richard dann in Conors letztem Jahr an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb, konnte Conor ihm noch sagen, dass er es in die erste Single-Mannschaft seines Uni-Teams geschafft hatte, nicht aber, dass sein großer Traum für seinen Schützling Wirklichkeit geworden war: die Verleihung eines vollen Sportstipendiums fürs College. (Wenngleich an einem ohne ruhmreichen akademischen Ruf, dessen Tennisteam in der II. Liga Jahr um Jahr im Keller dümpelte. Dennoch musste er, so, wie es im Jurastudium lief, die Gelegenheit beim Schopf packen.)

»Bei deinem Arbeitsethos und deinem Talent«, hatte Richard ihm mehr als einmal gesagt, »hättest du mit ein wenig mehr Starthilfe womöglich noch Profi werden können.«

An diese Bemerkung dachte Conor im Lauf der Jahre gelegentlich, wenn er sich ein Spiel im Fernsehen ansah – nicht, dass er sich wirklich mit der Fähigkeit schmeichelte, in einem anderen Leben noch mal zehn Zentimeter zu wachsen und es mit den Federers und Nadals dieser Welt aufzunehmen. Trotzdem, wenn er nun statt mit dreizehn schon mit sechs angefangen hätte, wenn er wie die meisten amerikanischen Profis im warmen Florida oder Südkalifornien mit deren Fülle an Tennisplätzen aufgewachsen wäre und nicht bloß einen kaputten Schläger und als Gegner eine Handballwand in Yonkers gehabt hätte, an der Highschool und in Tenniscamps erfahrene Trainer und nicht einen Biolehrer, dem sie den Job zugewiesen hatten?

Dann gab es natürlich noch die Starthilfe abseits des Platzes, die ihm entgangen war. Er fragte sich, ob er, hätte er sie gehabt, nicht die New York Law School, sondern die NYU absolviert hätte.

Doch immer, wenn Conor in den Treibsand des Selbstmitleids geriet, zog er sich rasch wieder heraus. Der Zufallsfund eines weggeworfenen Tennisschlägers, neben den altruistischen Bemühungen eines Rentners mit viel freier Zeit, hatte dazu geführt, dass er einen Jura-Abschluss machte. Mit begrenzten Mitteln und ohne fremde Hilfe hatte seine Mutter immer Obdach und Nahrung bereitgestellt, dafür gesorgt, dass er an die beste Grundschule von Yonkers kam und dann umzog, damit er wieder an die beste Middle- und Highschool kam, hatte ihn zu zahllosen Tennisstunden gefahren und ihm das Gefühl gegeben, nie auf sich allein gestellt zu sein, sondern dass sie Doppelpartner im wahrsten Sinn waren. Nicht alle hatten so eine Mom. Conor wusste, dass er bei den Dingen, die am wichtigsten waren, Glück gehabt hatte.

John leerte seine Wasserflasche. »Ich schwimme noch eine Runde, bevor mein großartiger Zoom-Arbeitstag anfängt. Ich hätte Ihnen sagen sollen, Sie sollen die Badehose einpacken.«

»Ich muss jetzt sowieso lernen«, sagte Conor.

 

Seine erste bezahlte Stunde an diesem Nachmittag war mit einem kantigen Siebzigjährigen mit hängenden Schultern namens Dick Garrison. Nachdem er Conor einen Scheck über hundertfünfzig Dollar ausgeschrieben hatte, verpflichtete sich Dick auf eine regelmäßige Stunde jeden Donnerstag um 17.30 Uhr, »vorausgesetzt, ich sehe eine laufende Verbesserung«.

Immerhin, ein Anfang.

In seiner Hütte widmete sich Conor bis zum Abendessen seinem Lernstoff. Während er in einem Topf Nudeln rührte, rief er seine Mutter an. Nachdem sie seit März fast jede Minute in der Wohnung zusammen gewesen waren, hatten sie nun schon länger nicht mehr gesprochen.

»Könntest du es nur sehen«, sagte er, nachdem er vergeblich versucht hatte, die pittoreske Szenerie des Neck angemessen zu beschreiben. »So schade, dass du zu Hause festhockst.«

»Mach dir um mich keine Sorgen – ich freu mich, dass es dir gefällt«, sagte sie. »Schick mir einfach mehr Fotos.«

»Was macht die Arbeitssuche?«, fragte er. Der schon ältere Gastroenterologe, für den sie nahezu vierzig Jahre lang gearbeitet hatte, hatte sich entschlossen, in Rente zu gehen, als klar wurde, dass die Pandemie so schnell nicht enden würde. Ihr monatliches Einkommen, schon vor der Pandemie schmal, lag nun im roten Bereich. Das Arbeitslosengeld seiner Mutter betrug die Hälfte ihres vorherigen Gehalts und würde nach einem Jahr auslaufen, und da ihr Diabetes unter Kontrolle war, erhielt sie keine Invalidenrente, dazu hatte sie noch rund zwanzigtausend Dollar Kreditkartenschulden, die sie regelmäßig von einer Karte auf die andere schob wie eine heiße Kartoffel.

Wenn Conor in jenen arbeitslosen Monaten einschlief, drehten sich seine letzten Gedanken meistens um ihre prekären Finanzen und den beängstigenden Umstand, dass ihr künftiger Lebensunterhalt fast ausschließlich von ihm kommen musste.

»Wie gehabt. Niemand will eine sechzigjährige Sprechstundenhilfe mit einer Vorerkrankung, die nur aus der Ferne arbeiten kann«, sagte sie. »Meinst du, John bietet dir eine Stelle an?«

Er erklärte ihr, warum das nie geschehen werde.

»Das glaube ich nicht. Du warst fast Klassenbester, du kannst unglaublich hart arbeiten, du –«

»Mom, bitte, hör auf. Das ist völlig ausgeschlossen.« Als alleinerziehende Mutter war sie in alltäglichen Belangen findig und gewieft, hatte sich clever durch bürokratische Labyrinthe gesteuert, konnte aus dem, was gerade im Kühlschrank war, ein ordentliches Essen zaubern. Doch sie war ihr ganzes Arbeitsleben lang Sprechstundenhilfe in nur einer Praxis gewesen und hatte daher schlicht keine Ahnung von den impliziten Regeln und Wertesystemen der Bürowelt, in die er nun einzubrechen versuchte. Manche Dinge konnte man eben nicht nur mit harter Arbeit und Talent erreichen.

Ihre Sprechanlage summte.

»Wer ist das?«, fragte er. »Bekommst du etwa Besuch?«

»Ganz ruhig. Das sind meine überteuerten Lebensmittel.«

So schwer erträglich es war, für angelieferte Dinge einen Aufschlag zu zahlen, hatte er seiner Mutter doch das Versprechen abgenommen, in seiner Abwesenheit nicht einkaufen zu gehen.

»Ich habe in der App geschrieben, sie sollen es vor die Tür stellen«, sagte er. »Warte ein paar Minuten, bis er gegangen ist, und setz die Maske auf, wenn du die Sachen reinholst.«

»Ein paar Minuten warten und die Maske aufsetzen, wo ich doch allein bin?«, fragte sie. »Du bist ja vollkommen paranoid, Conor«, sagte sie. »Und ich bin absolut in der Lage, selbst in den Supermarkt zu gehen und nicht jemand anderes dafür zu bezahlen. Das ist nicht anders, als wenn du für uns hingegangen bist.«

»Mom, ich bin viel vorsichtiger als du. Ich setze zwei Masken auf und halte im Laden mindestens zwei Meter Abstand von anderen, und wenn mir jemand zu nahe kommt, gehe ich weg.«

»Sag ich ja – du bist paranoid. Das ist doch lächerlich. In den zwanzig Sekunden, die ich vor meiner Haustür verbringe, setze ich jedenfalls keine Maske auf.«

Sie machte diese ärgerliche Feststellung wie ein Richter, der ein Urteil verkündet.

»Du hast Typ-1-Diabetes«, sagte er. »Nur ein achtloser Fehler, und du hast es, und was dann? Dann ist dein Leben vorbei. Willst du das? An so einer Dummheit sterben, ins Treppenhaus zu gehen und die Lebensmittel reinzuholen? Also setz die scheiß Maske auf.«

Er hatte ruhig begonnen, war aber am Ende keineswegs mehr gefasst, und nach seinem Ausbruch verstummten sie beide. Sein Gefühlsausbruch löste Monate der Frustration darüber, wie sie die Bedrohung herunterspielte und ihn als Schwarzseher beschimpfte – obwohl doch gerade sie der größten Gefahr ausgesetzt war. Wenn er im Fahrstuhl bei ihnen die Luft anhielt oder einen Bogen um einen maskenlosen Fußgänger machte, dann nur wegen ihr.

»Entschuldige bitte«, sagte er. »Wenn du sie schon nicht um deinetwillen aufsetzt, dann wenigstens mir zuliebe.«

»Ist gut«, sagte sie leise.

 

Nachdem er sich zwei Stunden lang durch eines seiner vier, jeweils mehrere Pfund schweren, Lehrbücher durchgewühlt hatte, trat Conor in die kühle Abendluft hinaus. Er machte einen weiten Bogen um das Haupthaus, falls John hinten auf der Veranda saß – er fand es noch immer seltsam, mit seinem Arbeitgeber-Vermieter Konversation zu treiben –, und schlenderte Richtung Meer.

Vom hinteren Rasen aus führte ein Pfad zu der felsigen Westküste, wo Conor sich auf einen Steinbrocken setzte, groß genug für zwei. Das Wasser plätscherte angenehm unter seinen Füßen, rotes Seegras trieb vorbei. Der Himmel war ein üppiges Spektrum aus Pfirsich, Mandarine und, am Meerhorizont, Blutorange. Was da einer der dramatischsten Sonnenuntergänge war, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, ereignete sich hier wahrscheinlich tagtäglich.

Von dem Eiergeruch in der Luft abgesehen wäre es bestimmt schön, mit einer Frau hier zu sein, sinnierte er, doch diesen Sommer war für solche Ablenkungen keine Zeit. Den Prüflingen – das Examen war wegen Corona auf September verschoben worden – war geraten worden, insgesamt fünfhundert Stunden zu arbeiten. Sicherheitshalber würde er noch mehr tun und Tennisstunden und Stellenbewerbungen dazwischenschieben, wann es eben ging. Seine Kommilitonen fürchteten sich alle vor der Lernerei, Conor dagegen machte sie nichts. Er mochte Jura aus ähnlichen Gründen wie Tennis: Beide belohnten diejenigen, die die unwahrscheinlichen Winkel fanden, einem Argument mit Logik und Rhetorik Spin und Slice geben konnten und dem Gegner immer zwei Schritte voraus waren. Conors künftige Gegenspieler mochten schickere Anzüge tragen, so wie seine Tennisgegner hübschere Schläger hatten, er aber genoss die Herausforderung.

Noch hatte er bis auf den Yachtclub nichts gesehen; um sich also einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen, bevor er sich wieder an seinen Stoff setzte, ging er den Weg zurück zur Cutters Neck Road. Niemand war in dem Dämmerlicht zu sehen, und so lief er Richtung Süden, vorbei an Häusern, die großzügig durch Wäldchen getrennt waren.

Eine Viertelstunde später hatte er das Ende der Straße erreicht. Ein weiter Rasen dehnte sich vor einem Haus, das größer war als alles, was er bis dahin gesehen hatte. Drei Kamine sprossen aus dem Dach, und weiße Säulen stützten eine Veranda, die um die ganze Fassade lief. Da das Haus am Ende der Halbinsel stand und somit als einziges mitten darauf, hatte es einen unverstellten Blick nicht nur in zwei, sondern in drei Himmelsrichtungen. In fünfzig Metern Entfernung und vermutlich zu dem Anwesen gehörig stand ein weiteres, bescheideneres Haus mit eigener Garage. In einem offenen Schuppen war ein Golfwagen abgestellt. Eine offenbar private Anlegestelle ragte aufs Meer hinaus.

Die anderen Häuser auf Cutters waren eindrucksvoll, aber immer noch im Rahmen seiner Vorstellung von einem Luxusleben. Dieses hier war grotesk, die Karikatur einer Villa mit Hubschrauberlandeplatz im Reality-TV. Er konnte kaum glauben, dass darin tatsächlich jemand wohnte.

Vielleicht wohnte da ja wirklich niemand; davor waren keine Autos geparkt, obwohl die vielleicht in der geschlossenen Garage standen, und Licht brannte auch keines. Rechter Hand führte ein Kiesweg am Rand des Grundstücks entlang. Conor war versucht, ihm zu folgen. Wahrscheinlich konnte er einen Blick auf die Rückseite riskieren und, falls angesprochen, Unkenntnis vorschützen und sagen, er habe geglaubt, es sei ein öffentlicher Weg. Doch an einem seiner ersten Abende hier konnte er sich kein Vergehen leisten, und sollte ihn der Besitzer auf seinem Grundstück erwischen, müsste er John bitten, für ihn zu bürgen, und sie beide in Verlegenheit bringen.

Ihm blieben noch zwei Stunden bis zur Schlafenszeit – zwei Stunden, in denen er doch arbeiten sollte, statt den Sonnenuntergang oder Immobilien zu begaffen. Sein Vater hatte ihn nach einem Tag auf dem Bau, wenn er auf dem Teppich im Wohnzimmer ausgestreckt lag, im Rücken einen Eisbeutel, oft daran erinnert: »Arbeite jetzt lieber mit dem Kopf, sonst lässt dich später mal einer mit dem Körper arbeiten.« Conor machte kehrt.

In der Hütte las er, bis ihm die Augen zufielen. Bevor er das Licht löschte, schaute er noch die Adresse des Riesenhauses nach. Es hatte zehn Schlafzimmer und vierzehn Bäder und umfasste unglaubliche zweitausend Quadratmeter. Über frühere Verkäufe stand nichts da, immerhin fand er den Namen des Besitzers, Thomas Remsen, und dass das Anwesen auf über sechsundzwanzig Millionen Dollar geschätzt wurde.

Kaum zu glauben, dass jemand meinte, so viel Platz brauchen zu müssen, so viele Schlafzimmer, so viele Bäder, so viele Toiletten, und das auch noch als Sommerhaus. Wieder dachte er dabei an Richard. Sein Tennislehrer hatte ihm konservative Beharrlichkeit statt Protz in allen Bereichen gepredigt. »Du brauchst keinen Winner, um zu gewinnen«, pflegte er zu sagen, wenn der Junge auf einen statistisch fast unmöglichen Schlag spekulierte, erfolgreich oder nicht. Er lehrte ihn ein Mantra, das er zwischen den Punkten aufsagen sollte: solide Schläge, keine Superschläge. Versuch nicht den Superschlag und sei auch kein »Supertyp«, für den Alten ein Schimpfname.

»Der Typ da glaubt, er ist die Nummer eins auf der Welt«, sagte Richard eines Tages im Park, als ein Porsche mit voll aufgedrehter Anlage am Tennisplatz vorbeiröhrte. »Der glaubt, Geld ist Glück.«

Als Conor an der Grundlinie daraufhin nur nickte und einen Ball aufhob, um gleich weiterzuspielen, winkte ihn Richard ans Netz.

»Hör mir mal zu – leg den Ball weg«, sagte er. »Glück ist Sicherheit. Geborgenheit, dass jemand nach einem schaut. Hat man nicht genug Geld, ist es schwierig mit der Sicherheit, weil man immer über die Schulter blickt – ›Verliere ich mein Haus, meine Arbeit?‹. Aber diese Supertypen mit ihren Sportwagen, auch die schauen über die Schulter. Die haben eine Heidenangst, das, was sie haben, zu verlieren. Also sind sie versessen auf noch schickere Autos, noch größere Häuser, noch mehr Frauen. Immer nur mehr, mehr, mehr.«

Der Wagen heulte an einer Ampel auf und schoss davon.

»Die ideale Position«, fuhr Richard fort, »ist ein, zwei Stufen unter den Supertypen und ohne den Wunsch, ganz oben zu stehen. Denn diese Leute begreifen nicht, dass es nicht darum geht, alles zu kriegen, was man will, sondern mit dem zufrieden zu sein, was man hat. Das ist wahre Sicherheit.«

Die ganzen Jahre hatte er sich an Richards Doktrin der Mäßigung gehalten. Conor hatte noch keine Arbeit, aber er musste das Spiel des Lebens nur weiter so spielen, wie er Tennis spielte – solide Schläge, keine Superschläge –, dann bestand kein Zweifel, dass er auf der Siegerstraße zur Sicherheit bleiben würde, für ihn selbst wie für seine Mom.

3. Kapitel

Dienstagnachmittag hatte er eine Stunde mit Suzanne Estabrook, der Frau, die kurz vor Chappaquiddick im selben Hotel wie Ted (»Teddy«?) Kennedy gewesen war. Als sie fertig waren, entschuldigte sie sich wegen des guten Dutzends Bällen, die sie über den Zaun geschlagen hatte, bat um eine weitere Stunde nächste Woche und ging, ohne zu bezahlen.

»Ich nehme auch einen Scheck, Bargeld oder Venmo, was Ihnen besser passt«, rief Conor ihr hinterher.

»Ach, entschuldigen Sie bitte!«, sagte Suzanne, drehte sich um und schlug sich theatralisch mit der Hand auf den Mund. »Das habe ich ja total, total vergessen. Nicht mal meine Handtasche habe ich dabei. Könnte ich Ihnen das nächste Mal das Doppelte geben?«

Sie schien ein wenig schusselig, und er vertraute auch nicht darauf, dass sie beim nächsten Mal daran dachte, außer er erinnerte sie vorher daran. Er konnte ja auch mit ihr nach Hause gehen und dort warten, solange sie das Geld holte, aber das wäre wohl gegen die guten Sitten gewesen.

»Kein Problem«, sagte er so heiter er konnte. In seinem Tennisclub wurde das Geschäftliche früher immer unsichtbar geregelt, und er war nicht so dumm, die Kunden persönlich zu bedrängen (selbst als Dick Garrison ihm nach der Stunde einen Scheck gab, wirkte das, nun ja, ungehörig). Nur die Armen waren es gewohnt, wegen ihrer Schulden gehetzt zu werden. Ihm blieb also nur die Hoffnung, dass sie bezahlte, bevor seine Kreditkartenrechnung in neun Tagen fällig war.

Diesmal hatte er Badehose und Handtuch dabei, und seine Stunde mit der Frau von der Party war noch zwei Stunden hin. Er zog sich in einer der Kabinen im Yachtclub um und tappte barfuß über Steinbrocken zur Anlegestelle, von der eine Metalltreppe mit Holzgeländer ins Wasser führte. In zwanzig Metern Entfernung wiegte sich ein hölzernes Schwimmfloß an seiner Verankerung auf den Wellen.

Als Conor der Poolbesitzerin gesagt hatte, er sei kein großer Schwimmer, war das eine drastische Untertreibung; er konnte nur paddeln wie ein Hund. Seine Eltern konnten nicht einmal das, und in Yonkers hatte es herzlich wenig Gelegenheit gegeben, es zu lernen. Ab einem gewissen Alter hatte er es dann ganz aufgegeben. Aber wenigstens konnte er sich ein paar Minuten abkühlen.

Das Floß und das Wasser darum herum waren leer, sonst hätte er gar nicht erst gewagt hineinzugehen. Er schwamm nie vor anderen, und bei Mannschaftsfahrten hatte er so manchen Nachmittag in Hotelpools im Flachen gestanden und so getan, als wollte er nicht ganz nass werden, um sich Bemerkungen zu ersparen. Niemand hätte doch geglaubt, dass sich Conor O’Toole, der Tennisstar und angehende Jurastudent, der offenbar alles schaffte, was er sich vorgenommen hatte, kaum über Wasser halten konnte.

Als er vorsichtig die Leiter in die wogenden Wellen hinabstieg, bekam er an den Waden Gänsehaut. John hatte ihm schon gesagt, dass das Meer erst Mitte Juli warm werde. Schließlich stieß er sich doch von der Leiter ab und strampelte wie wild, um sich aufzuwärmen – und weil es seinen natürlichen, chaotischen Schwimmbewegungen entsprach. Er paddelte parallel zum Ufer mit der Strömung und hatte vor, sich kurz weiter hinauszuwagen und dann gleich wieder kehrtzumachen, aber auch nur, um sich zu beweisen, dass er es konnte.

Bei der Vorstellung, dass unsichtbare Wesen mit Zähnen, Klauen oder Stacheln unter der Oberfläche lauerten, wurde er paranoid. Er ruderte mit den Armen und trat noch kräftiger, um jedwede Raubtiere zu verscheuchen.

Als er kurz einmal den Kopf drehte, klatschte ihm eine kleine Welle ins Gesicht. Von dem beißenden Salzwasser und der tiefstehenden grellen Sonne kniff er beim Schwimmen die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, um sich zu orientieren, sah er zu seiner Bestürzung, dass er viel weiter vom Ufer entfernt war als eben noch; seine chaotischen Bewegungen hatten ihn vom Kurs abgebracht.

Noch halb blind, strebte er zu dem Floß zurück, musste nun aber gegen die Strömung anschwimmen, auch hatte ihn sein aufwendiges Paddeln erschöpft. Die Muskeln, auf dem Tennisplatz unermüdlich, waren im Wasser wie die eines Kindes.

Als er sich zum Horizont hindrehte, überraschte ihn eine weitere Welle. Er würgte und spuckte von dem Salzwasser in Nase und Kehle, und ihn packte die erste echte Todesangst, vermischt mit Selbsthass: Wie erbärmlich wäre es, bei seinem ersten Mal im Meer zu ertrinken, hier in diesem Strandparadies. Irgendwann würden sie herausfinden, was mit ihm passiert war, wenn John ihn vermisste und sie sein Fahrrad und seine Kleider sahen, aber seine Leiche würden sie nie aus dem Meer bergen. Seine Mutter würde ein sargloses Zoom-Begräbnis abhalten müssen.

Er war nicht so weit gefahren, um am Grund des Ozeans einiger Reicher zu sterben.

Den Kopf gesenkt, stieß und strampelte er so stark er konnte und hielt den Atem an, damit kein Wasser in ihn drang, angetrieben weniger von seinen Gliedmaßen als von der unerbittlichen Entschlossenheit zu überleben, die ihm jahrelang auf Tennisplätzen und in Unterrichtsräumen gedient hatte, einer Willenskraft, die mit wachsendem Widerstand nur noch stärker wurde.

Solide Schläge, keine Superschläge, sagte er sich, als er merkte, dass sein Körper in Panik überreagierte.

Gerade als ihm Zweifel an seiner Ausdauer kamen, schoss ihm ein wunderschönes Blitzen in die entzündeten, halb geschlossenen Augen: die Metall-Leiter. Keuchend und japsend packte er sie, ausgelaugt wie nach einem Spiel über fünf Sätze, obwohl die ganze Tortur gerade mal ein, zwei Minuten gedauert hatte.

Hämisches Gekicher. Auf dem Floß sonnten sich vier der College-Kids wie Seelöwen. Anscheinend waren sie während der ersten Hälfte seines Bads hingeschwommen. Als Conor zu ihnen hinsah, wandten sie die Blicke ab und nahmen ihre unhörbare Unterhaltung wieder auf.

Während er hastig die Leiter hinaufstieg, seine Sachen packte und ging, ohne sich noch abzutrocknen, empfand er eher Scham über sich als Wut darüber, dass sie ihm nicht geholfen hatten. Wobei er sich noch mehr geschämt hätte, hätten sie es getan. Noch schlimmer als der Knacks in seiner Männlichkeit hatte die Unfähigkeit, wegen der er fast ertrunken wäre, eine tiefer liegende Schicht der Schande offengelegt: Jetzt hatte sich überdeutlich gezeigt, dass er keiner von ihnen war. Der tolle Tenniscrack aus Westchester war eben nichts als ein Junge aus Yonkers, der zu arm war, um schwimmen zu lernen.

 

Wie üblich war Conor schon einige Minuten vor seiner Stunde mit der Frau von der Party da. Um Viertel nach fünf hatte sie sich noch immer nicht gezeigt oder ihm geschrieben – seine Nummer dürfte sie aus Johns Einführungs-Mail haben. Er hätte eins seiner Übungsbücher mitbringen sollen, um die Zeit zu nutzen. Er gab ihr noch bis halb, dann wollte er gehen.

Wenige Minuten davor hörte er hinter sich Kies knirschen. Auf der Zufahrt kam seine Schülerin in einem Golfwagen herangebraust.

Die Frau hielt am Fuß des Hügels, ohne das Gefährt noch am Grasrand abzustellen. Sie trug wie zuvor ihre Sonnenbrille und dazu weiße Tenniskluft: Schirmmütze, Top mit V-Ausschnitt, Minirock. Kondensstreifen mineralischer Sonnencreme auf Armen und Brustbein verstärkten noch ihre blendende Aura. Es schien, als hätte sie der Sonne nie gestattet, ihren Körper zu berühren.

»Hallo, Conor O’Toole«, sagte sie beim Näherkommen, eine eigenartige Ruhe in der Stimme. Weder bat sie um Entschuldigung, noch lieferte sie eine Erklärung.

Kam jemand zu spät, fragte er normalerweise diskret nach, ob es Probleme mit dem Herkommen gegeben oder ob er den Termin falsch in Erinnerung gehabt habe – er wollte eine solche Freizügigkeit nicht Gewohnheit werden lassen –, doch die Wahrscheinlichkeit, von dieser Frau erneut eine patzige Antwort zu erhalten, ließ ihn verstummen.

»So gern ich hier stehe und schweige, hatte ich doch gehofft, dass Sie mir Tennis beibringen«, sagte sie.

»Natürlich«, sagte Conor. »Welche Vorkenntnisse haben Sie in diesem Sport?«

»Meine Vorkenntnisse in diesem Sport«, sagte sie. »Sie sind ja sehr förmlich, nicht? Mal sehen. Ich habe ein bisschen als Jugendliche gespielt, habe jetzt aber längere Zeit keinen Schläger mehr in der Hand gehabt.«

Er ging mit dem Ballkorb ans andere Ende des Netzes. »Dann fangen wir mal schön langsam an.«

»Sind Sie auch behutsam mit mir? Auch wenn es für mich nicht das erste Mal ist, sind Sie trotzdem behutsam?« Es folgte die feinste Andeutung eines Lächelns.

»Ja.«

»Ja«, äffte sie ihn, ganz wie auf der Party, mit einer comichaft gefurchten Stirn nach. »Wir müssen ja trainieren. Wir wollen hier nur keinen Spaß haben.«

Unsicher, wie er darauf reagieren sollte, dirigierte er sie auf das T der Aufschlagfelder und spielte ihr ein paar Minuten lang weiche Lobs zu. Die meisten Bälle retournierte sie nicht, sondern knallte sie ins Netz oder an den Zaun. Als der Korb leer war, sagte er, er wolle zunächst an ihrer Technik arbeiten. Er sammelte die verstreuten Bälle auf seiner Platzseite mit dem Ballkorb auf und dann die am Netz auf ihrer, wobei er die ganze Zeit ihren Blick auf sich spürte. Als er am Netzpfosten vorbeiging, erspähte er einen einzelnen Ball am Zaun, den er übersehen hatte, und lief hin.

»Ich hole ihn«, sagte sie. Sie ging vor ihm, und statt damenhaft in die Knie zu gehen, beugte sie sich vor, um den Ball aufzuheben. Der Rocksaum hob sich und gab den Blick auf ihre Kniebeuger und einen Streifen ihres scharlachroten Höschens frei.

Conor wandte sich diskret ab, dennoch musste er sich zugeben, dass sie gut aussah, unabhängig von ihrem Alter. Er schätzte sie auf ungefähr zweiundvierzig.

Statt ihm den Ball zuzuwerfen, reichte sie ihn ihm, wobei ihre Fingerspitzen über seinen Handteller scharrten. Rasch lief er auf die andere Netzseite, zeigte ihr den Semi-Western-Griff und die Grundstellung und forderte sie auf, es ihm nachzumachen. Mit dem Rücken zu ihr, damit sie ihm besser folgen konnte, demonstrierte er ihr die Beinarbeit und die Grundbewegungen für eine Vorhand. Sie versuchte es, beugte jedoch nicht die Knie und schwang auch nicht richtig aus. Conor rief ihr mehrmals Korrekturen zu, doch sie schien außerstande, ihre natürliche Mechanik zu ändern.

»Es wäre einfacher, wenn Sie’s mir hier zeigen«, sagte sie. »Durch das Netz kann ich Ihre Beine nicht sehen.«

Er ging zu ihr hinüber, stellte sich ein, zwei Meter vor ihr auf und zeigte ihr erneut den korrekten Ablauf. Noch immer schaffte sie es nicht.

»Könnten Sie nicht näher kommen und mir zeigen, was ich machen soll?«, fragte sie. »Ich stecke Sie schon nicht an. Seit ich hier auf dem Neck bin, war ich nicht ein Mal weg.«