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Stefan Wolle gelingt es auf einzigartige Weise, Alltagsgeschichte und Herrschaftsgeschichte miteinander zu verweben, ohne dabei die DDR zu verklären oder zu dämonisieren. Aus einer reichen Fülle von Quellen, die von Literatur, DEFA-Filmen und Schlagertexten über Stasi-Akten bis zu Zeitzeugenerinnerungen reichen, lässt er die ganze Vielfalt und Widersprüchlichkeit der ostdeutschen Gesellschaft differenziert sichtbar werden.
Nach seinem Erfolgstitel »Die heile Welt der Diktatur« über die Ära Honecker (1998) folgte 2011 »Aufbruch nach Utopia« über die 1960er Jahre, und nun wird mit dem Band »Der große Plan« über die Aufbauzeit in den fünfziger Jahren die Gesamtschau vollendet.
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Seitenzahl: 701
Stefan Wolle
Der große Plan
Stefan Wolle
Alltag und Herrschaft in der DDR (1949–1961)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von August 2013)
© Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus dem Wandfries am »Haus der Ministerien« von Max Lingner mit dem Titel »Aufbau der Republik« von 1952 Lektorat: Jana Fröbel, Berlin
Prolog Vom Wiegenfest zur Totenfeier
Ein Wendepunkt in der Geschichte Europas • Auf dem Gabentisch der Republik • Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen • Manifestation der Jugend • Proklamation des neuen Staates • Gelöbnis der Jugend • »Wann wir schreiten Seit an Seit« • »Fackeln, Fackeln, nichts als Fackeln« • Begeisterte Zustimmung
Erster Teil Die Geburt eines Staates
Kapitel 1 Das Orakel
Die Traumata der Geburt • Die Wünsche der guten Feen
Kapitel 2 Die Russen
Der Schritt auf den roten Teppich • Halb Menschenbild, halb wildes Tier • Die Rückkehr der Madonna • »Über die ›Russen‹ und über uns« • Ex oriente lux
Kapitel 3 Die Partei
Das Lied von der großen Mutter • »… wir müssen alles in der Hand haben« • Die Partei neuen Typus • Parteisäuberungen • Wahlen in der DDR
Kapitel 4 Das Primat der Ideologie
Der Geist aus der Flasche • Im Trödelladen der Geschichte • Die Logik der Zirkelschlüsse • Die Waffen der Dialektik
Kapitel 5 Das nationale Dilemma
Die Hymne • Ein Provisorium für ein Jahr • Deutschlandtreffen • Kuchen und Schlagsahne für die Ostjugend • Aufbruch für die Westjugend • »Herrnburger Bericht« • Eine Chance für die Einheit? • Kampf um Helgoland
Kapitel 6 Theorie und Praxis der Planwirtschaft
Der Fünfjahrplan • HO-Geschäfte • Aufschwung Ost • Markenfreie Restaurants • Die Zeit der Erfolge • Preissenkungen • Entwicklung der Verbraucherpreise bis 1955 • Schwierigkeiten der Zwangsbewirtschaftung
Zweiter Teil Signaturen der Zeit
Kapitel 1 Die Diktatur des Herzens
Die antimoderne Revolution • Schriftsteller als Ingenieure der Seele • Der große Gesang • Das Zeitalter des totalitären Kitsches • »Ich verlange die Todesstrafe für meinen Vater«
Kapitel 2 Das humanistische Erbe
Goethe ist unser • Das Abzeichen für gutes Wissen • Boogie-Woogie kontra Matthäus-Passion
Kapitel 3 Der Frieden
Kleine weiße Friedenstaube
Kapitel 4 Die Jugend
Das Pfingstwunder • Erziehung durch Kunst • »Hör zu, Jugendfreund!«
Kapitel 5 Wissen ist Macht
Im Namen der Wahrheit • Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten • Die Evolution des Rückgrats • Die FDJ an der Universität • Am Steuerrad der Geschichte
Kapitel 6 Kleinbürgertum und Bürokratismus
Der ewige Kleinbürger • Bürokratismus
Kapitel 7 Der Hass
Die Berührung der Gegensätze • Erziehung zum Hass • Der Fall Otto Krahmann
Kapitel 8 Der Verrat
Das Jahrhundert des Verrats • Entlarvung der Tito-Clique • Republikanische Union versus Großneonisches Reich
Dritter Teil Die Teilung der Welt
Kapitel 1 Die Zwei-Lager-Theorie
Kominformtagung im Riesengebirge • Die Zwei-Lager-Theorie als deutsches Wimmelbild • Antiamerikanismus • Rettung des deutschen Weihnachtsfestes
Kapitel 2 Das bessere Deutschland
Die bösen alten Männer • Entnazifizierung • Wer Nazi war, entscheiden wir
Kapitel 3 Die große Friedensoffensive
Material für die Wandzeitung • China ist jung, rote Sonne grüßt Mao Tse-tung • Der große Steuermann • Fernöstliche Produkte im Einzelhandel • Korea • Deutschland und der Krieg in Korea
Kapitel 4 Weltfestspiele
»Im August, im August blüh’n die Rosen«
Vierter Teil Unterdrückung und Aufruhr
Kapitel 1 Aufbau des Sozialismus
Die 2. Parteikonferenz der SED • Kollektivierung der Landwirtschaft • Aufbau nationaler Streitkräfte • Kirchenkampf
Kapitel 2 Der Neue Kurs
Stalins Tod • Befehlsausgabe im Kreml • Ulbricht am Ende? • Der Neue Kurs
Kapitel 3 Brennpunkt Stalinallee
»Hau ruck! Hau ruck! Wir packen zu, und die Häuser erblühn!« • Der Weltgeist im Biergarten • Der Funke im Pulverfass • Der Zug der Bauarbeiter
Kapitel 4 Der Aufstand
Flächenbrand in der DDR • Unruhe auf dem Lande • Die Partei schlägt zurück • Nachwehen und Machtkämpfe • Die SED-These vom faschistischen Putschversuch
Kapitel 5 Die DDR nach dem Aufstand
Kritische Geister dringend gesucht • »Voran im neuen Kurs« • Einzelhandel • Sozialistisches Nachtleben
Fünfter Teil Tauwetter und Kalter Krieg
Kapitel 1 Frühlingsstürme
Ehrenburgs Essay • Tauwetter • Der Nachterstedter Brief
Kapitel 2 Der XX. Parteitag der KPdSU
Störung der Nachtruhe • »Walter, so geht das nicht« • Stalinismus ohne Stalin? • »Ziegenbart wird in vierzehn Tagen nicht mehr auf seinem Posten sein«
Kapitel 3 Arbeiterproteste
Das Gespenst des 17. Juni 1953 • Streikwelle im Oktober 1956
Kapitel 4 Revolte im Hörsaal
Die Kaderschmiede • Die Ost-Berliner Studenten Anfang 1956 • Protestversammlungen der Berliner Studenten • Der 6. November 1956 • Situation an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität • Die Abrechnung
Sechster Teil Auf der Straße des Sieges
Kapitel 1 Der neue Mensch
Vorwärts im Rückwärtsgang • Verschärfung des Klassenkampfes • Die sozialistische Persönlichkeit • Reglementierung der Studenten • Das einheitliche sozialistische Bildungswesen • Halbstarke • Nietenhosen • Jazz • Klassenkampf auf dem Tanzparkett • »Opium des Volkes« • Jugendweihe • Weltliche Sakramente • Sozialistische Namensgebung • Sozialistische Eheschließung • Friedensweihnacht
Kapitel 2 Tempo – Technik – 1000 Tage
Aufbruch ins Weltall • Kleiderordnung • Gutes Benehmen im Sozialismus
Kapitel 3 Versorgungskrise
Abschaffung der Lebensmittelkarten • Neue Rationierungen • Flora und Jolanthe • Die Stunde des Fischkochs • Obst- und Gemüseversorgung
Kapitel 4 Sozialistischer Frühling auf dem Lande
Dorfgeschichten als Weltgeschichte • Kollektivierung
Kapitel 5 Der Weg zum Mauerbau
Republikflucht • Kontrolle der Reisewege • Grenzgänger • Der 13. August 1961
Epilog Ende und Anfang
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungen
Personenregister
Der Oktober in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Welche Unwetter sich am politischen Horizont auch immer zusammenbrauen – der Himmel über Berlin ist in diesen Tagen fast immer strahlend blau, der Wind treibt weiße Wolkenfetzen vor sich her, und eine freundliche Sonne lässt die Bäume der Parkanlagen und Alleen in der bunten Pracht des Herbstes erstrahlen. Ein Wetter wie geschaffen für Volksfeste mit Bierzelten, Blasmusik und Bratwurstbuden. Die DDR hätte sich für ihren Geburtstag kein besseres Datum wünschen können als jenen 7. Oktober, an dem alle Jahre wieder die Gründung der Republik gefeiert wurde.
Bereits am 21. April 1950, also nur wenige Monate nach der Staatsgründung, erhob die Volkskammer den 7. Oktober zum Tag der Republik.1 Seit 1975 war offiziell vom Nationalfeiertag die Rede, wollte doch der ostdeutsche Teilstaat so gern eine eigenständige Nation sein. Doch weder der sperrige Name noch die reichlich abgehobene Idee von der sozialistischen Nation wurden in der Bevölkerung wirklich populär.
Überhaupt liebte die DDR Gedenkjahre, Jubiläen und runde Geburtstage. Die Beschwörung der Historie verlieh dem seiner selbst unsicheren Staatswesen den Anschein von Würde und Achtbarkeit. So wie sich Hans Christian Andersens kleine Seejungfrau eine Seele wünschte oder die Holzpuppe Burattino mit der langen Lügennase ein richtiger Junge sein wollte, so dürstete die DDR nach Geschichtlichkeit. Sie sah sich als das »bessere Deutschland«, als den »ersten Friedensstaat auf deutschem Boden«,2 als »Krönung des jahrhundertelangen Kampfes der Besten des deutschen Volkes für den gesellschaftlichen Fortschritt«.3
Selbst als Josef Stalin von seinen Nachfolgern längst in den Orkus des Vergessens geschleudert worden war, zitierte die offizielle SED-Parteigeschichte immer wieder aus dem Telegramm des Generalissimus vom 13. Oktober 1949: »Die Bildung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas,«4 Das hörten die DDR-Oberen gern. Doch sie wollten noch mehr. Ohne einen Schatten von Selbstzweifel erklärte sich die SED zum Bestandteil eines säkularen Heilsprozesses von naturgesetzlicher Wirkungskraft. In der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und in dessen Nachfolge von Karl Marx postulierten Entwicklung der Menschheit vom Niederen zum Höheren sahen sie sich ganz oben und im weiteren Steigflug begriffen. Die objektive historische Gesetzmäßigkeit trat als Surrogat an die Stelle der demokratischen Zustimmung, die das eigene Volk der SED vom ersten bis zum letzten Tag verweigerte.
So rollten erbarmungslos historisierende Großinszenierungen über das Land. Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 fiel in das Goethe-Jahr, das den »demokratischen Neubeginn« in die humanistische Tradition der deutschen Klassik stellen sollte. Im selben Jahr wurde der 70. Geburtstag Stalins gefeiert. Diese seltsame Kombination von Humanismus und Terror wurde von den Weihrauchschwenkern der Parteidiktatur durchaus nicht als Gegensatz gesehen, sondern vom Staatsdichter Johannes R. Becher als »Versöhnung von Macht und Geist« gepriesen.5
Das Jahr 1953 zelebrierte die DDR als Karl-Marx-Jahr. Es bescherte den überraschten Einwohnern von Chemnitz einen neuen Namenspatron, obwohl der bärtige Prophet aus Trier mit der sächsischen Industriestadt nicht das Geringste zu tun hatte. Ein damals kursierendes Gerücht besagte, die regionalen Instanzen hätten eilig Chemnitz zur Umbenennung ausgewählt, um Leipzig dieses Schicksal zu ersparen.
In unregelmäßigen Intervallen folgten weitere Großjubiläen. 1955 wurde unter der patriotischen Losung »Wir sind ein Volk« ein Schiller-Jahr veranstaltet, nicht ahnend, dass diese Parole 34 Jahre später auf den Straßen von Leipzig skandiert werden sollte. 1967 wurde der 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution begangen. Für Monate stand jede Neueröffnung im Zeichen des Roten Oktobers. Just am Revolutionsfeiertag, dem 7. November 1967, wurde unter ausdrücklicher Berufung auf die legendären Schüsse des Panzerkreuzers »Aurora« das erste Goldbroiler-Restaurant in Ost-Berlin eröffnet.6 Niemand fand das lächerlich, weder die Politprominenz, die zu diesem Anlass aufgeboten wurde, noch die Liebhaber des leckeren Brathühnchens. 1984 folgte das Luther-Jahr, 1985 die Johann-Sebastian-Bach-Ehrung, und für 1989 war ein Thomas-Müntzer-Jubiläum in Angriff genommen worden, bei dessen Eröffnung am 19. Januar 1989 Erich Honecker die denkwürdige Prognose abgab, die Mauer werde noch fünfzig oder hundert Jahre stehen.7 Je mehr die Gesellschaft ihre Zukunftsperspektiven verlor, desto liebevoller wurde die geschichtliche Erinnerung zelebriert.
So reihte sich ein Jubiläum an das andere, doch am liebsten feierte die DDR sich selbst. Anlässlich der runden Jahrestage überschlugen sich die »gesellschaftlichen Aktivitäten«, wie dies in der Sprache der Kampfprogramme und Rechenschaftsberichte hieß. Die Werktätigen in Stadt und Land erbrachten – wollte man den Staatsmedien glauben – großartige Leistungen, die sie der Republik auf den Gabentisch legten. Die Schulkinder bastelten Papierblumen, schnitten Friedenstauben aus weißem Zeichenpapier und klebten den Festschmuck an die Fenster der Klassenzimmer. Mit Girlanden und Fähnchen schmückten sie die Wandzeitungen, an denen mit Reißzwecken die Erfolgsmeldungen und Selbstverpflichtungen befestigt waren.
Bereits zum 10. Jahrestag der DDR eröffnete Walter Ulbricht im Berliner Zeughaus eine opulente Ausstellung über die Geschichte und »das herrliche Morgen unseres großen Siebenjahrplans«.8 Damals tauchte erstmals auf den Plakaten und Losungen das große X – das römische Zahlzeichen für zehn – auf. Wie Kaiser, Könige, Päpste und kommunistische Parteitage bezeichnete man die Jahrestage der DDR mit römischen Ziffern. Das signalisierte Reputation und altes Herkommen. Zum 20. Jahrestag wurde das Land mit den zwei Kreuzen des römischen Zahlzeichens regelrecht überschwemmt. Am 7. Oktober 1969 projizierten Flakscheinwerfer die zwei Kreuze an den nächtlichen Himmel über Berlin. »Warum wird man den dreißigsten Jahrestag ausfallen lassen?«, fragten nach dem Großereignis die ewigen Witzbolde. »Weil man dann drei Kreuze machen müsste«, lautete die despektierliche Antwort. Sei es aus Furcht vor der Lächerlichkeit oder aus Sparsamkeit: Tatsächlich ging man 1979 zu der raumsparenden arabischen Bezifferung über und behielt es weitere zehn Jahre so bei.
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