Der Traum von der Revolte - Stefan Wolle - E-Book

Der Traum von der Revolte E-Book

Stefan Wolle

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Beschreibung

Der 68er-Grundton von Provokation und Respektlosigkeit wirkte auch über die Mauer hinweg. Aus Prag wehte zudem ein belebender Frühlingshauch. Die Führung der Tschechoslowakei hatte den »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« proklamiert, der bei vielen Jugendlichen in der DDR begeistert aufgenommen wurde. Doch am 21. August starben die Reformhoffnungen unter sowjetischen Panzerketten. Es kam zu wild aufwallender Empörung in Teilen der Bevölkerung und Strafaktionen der Ost-Berliner Staatsmacht. Eine Zeit der Stagnation begann.
Mit der Präzision des gelernten Historikers und dem individuellen Erinnerungsvermögen des wachen Zeitgenossen liefert Stefan Wolle ein beeindruckendes Gesellschaftspanorama, das verständlich macht, wieso es – anders als im Westen – nicht zu einer wirklichen Revolte und zu einem Generationswechsel in der DDR kam.

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Stefan Wolle

Der Traum von der Revolte

Stefan Wolle

Der Traum von der Revolte

Die DDR 1968

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2008)

© Christoph Links Verlag GmbH, 2008

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin unter Verwendung eines Fotos von Axel Rasenberger

Inhalt

Prolog

Das Ende der großen Ferien

ERSTER TEIL

Tauwetter und Dauerfrost

Die DDR-Gesellschaft in den sechziger Jahren

Erstes Kapitel

Durch die Erde ein Riss

Zweites Kapitel

Wirtschaft als Laborversuch

Drittes Kapitel

Die sozialistische Menschengemeinschaft

ZWEITER TEIL

Der Frühling braucht Zeit

Macht und Ohnmacht der Utopie

Viertes Kapitel

Die Welt in Aufruhr

Fünftes Kapitel

Die Revolte der APO und die DDR

Sechstes Kapitel

Reform und Beharrung

DRITTER TEIL

Sommernachtsträume

Ende und Verklärung des demokratischen Sozialismus

Siebentes Kapitel

Die DDR und der Prager Reformkurs

Achtes Kapitel

Heißer Sommer

Neuntes Kapitel

Die Invasion

VIERTER TEIL

Ein endloser Herbst

Aufbruch in die Stagnation

Zehntes Kapitel

Politik als Normalität des Absurden

Elftes Kapitel

Kafka und Faust

Zwölftes Kapitel

Abschied

Epilog

Von 1968 zur friedlichen Revolution von 1989

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

PROLOG

Das Ende der Großen Ferien

Die großen Ferien des Jahres 1968 neigten sich dem Ende entgegen. Nach einem kühlen und verregneten Sommer versprachen die letzten Ferientage, doch noch hochsommerlich schön zu werden. Am 20. August 1968 meldete die Zentrale Wetterdienststelle Potsdam: »An den kommenden Tagen ist zumindest vorübergehend mit Wetterbesserung und allmählichem Temperaturanstieg zu rechnen.« So blieb noch eine gute Woche Zeit zum Badengehen, faulen Herumliegen, Bücherlesen oder Verreisen, ehe Anfang September das Schuljahr und der Universitätsbetrieb wieder losgehen würden.

Auch in der hohen Politik war nach den Aufregungen der ersten Jahreshälfte endlich die Sauregurkenzeit eingekehrt, wie man die nachrichtenarme Zeit des Hochsommers damals nannte. Die rebellischen Studenten der westdeutschen und West-Berliner Universitäten waren in die Semesterferien gefahren. Die Weltrevolution machte Pause, und der Kurfürstendamm gehörte, wie eine West-Berliner Zeitung schrieb, wieder den Spaziergängern und den Damen, die mit großen Hüten im Café Kranzler saßen und Sahnetorten verspeisten.1 In Frankreich, das im Mai vor einer Revolution zu stehen schien, war nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der Konservativen unter Präsident Charles de Gaulle am 23. Juni 1968 Ruhe eingekehrt.

Auch in der Tschechoslowakei schien sich die Situation beruhigt zu haben. Offenbar hatte sich die Sowjetunion mit dem Kurs der reformkommunistischen Führung unter Alexander Dubček abgefunden. Die Medien der DDR hatten seit Anfang August jede Polemik gegen die Partei- und Staatsführung der Tschechoslowakei eingestellt. Am 13. August 1968 berichtete das Neue Deutschland ausführlich über ein Treffen zwischen Walter Ulbricht und Alexander Dubček. Auf den Fotos schüttelten sie sich freundschaftlich die Hände, und Schulkinder überreichten Blumen. Im Anschluss an eine gemeinsame Pressekonferenz erklärte Walter Ulbricht, es sei für ihn Zeit, endlich einmal Urlaub zu machen. Die Bemerkung wurde als positives Zeichen gewertet. Ein trügerischer Friede lag über dem Land.

Am frühen Morgen des 21. August 1968 zerrissen die Radiomeldungen über den Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei jäh die sommerliche Idylle. Die Nachricht von der Militäraktion gegen die ČSSR gehört zu jenen Meldungen, die sich tief ins Gedächtnis der Zeitgenossen eingeprägt haben. Noch heute wissen viele, unter welchen Umständen sie die Nachricht erreicht hat.

Mich weckte an diesem Morgen die Stimme des RIAS-Sprechers aus der Nachbarwohnung. Jahre später konnte man in den Akten der Staatssicherheit lesen, dass viele Leute die Westnachrichten demonstrativ laut einstellten und sogar die Fenster aufrissen, so dass die Nachrichten über die Straße hallten. Wenigstens die Staatssicherheit registrierte solche subtilen Formen des Protestes. Im Radio war die Rede von sowjetischen Panzern in Prag, von Schüssen vor dem Rundfunkgebäude, von Demonstrationen in vielen Städten der Tschechoslowakei und ersten Protesten in aller Welt. Nach der damaligen Nachrichtenlage musste man davon ausgehen, dass die Nationale Volksarmee der DDR auch direkt an der Militäraktion beteiligt war. 30 Jahre nach dem Münchener Abkommen waren wieder deutsche Soldaten in die Tschechoslowakei einmarschiert. So wenigstens war die allgemeine Wahrnehmung, die auch von den Medien der DDR gestützt wurde.

Die erste spontane Reaktion auf diese Nachrichten war eine wild aufflammende Empörung. Jenseits aller späteren Analysen und nachvollziehenden Erkenntnisse hat sich dieses Gefühl über die Jahrzehnte hinweg erhalten. Intuitiv spürten damals gerade junge Menschen, dass an diesem Tag etwas zerbrochen war, das sich nicht mehr reparieren lassen würde.

Natürlich gab es auch damals schon viele kluge Zeitgenossen, die in dem Einmarsch der verbündeten Armeen nur eine neuerliche Bestätigung dafür sahen, dass die Sowjetunion auf jeden Versuch einer Veränderung mit brutaler Gewalt reagieren würde. Sie hatten den Glauben an die Reformierbarkeit des Systems schon lange verloren – oder sie hatten ihn nie besessen. Doch gerade die Erfahrungen des 17. Juni 1953, des Ungarnaufstandes von 1956 und des Mauerbaus von 1961 sprachen für eine allmähliche Entwicklung zum Besseren, für eine vorsichtige und systemimmanente Modernisierung des Sozialismus, die den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion Rechnung trug. Immerhin gab es dafür Ansätze genug, selbst in der verknöcherten DDR. Auch die Tatsache, dass junge Menschen in Paris, West-Berlin, Rom und anderswo mit roten Fahnen durch die Straßen zogen, zeigte die Faszinationskraft der sozialistischen Idee und bestärkte im Osten viele in ihrem Traum von einem modernisierten und demokratischen Sozialismus.

Die Sympathie für den Prager Reformkurs war, wie auch die Anziehungskraft der antiautoritären Revolte im Westen, nicht unbedingt von großen Theorien gespeist, sondern weit mehr von der Sehnsucht nach einem kleinen bisschen Luft zum Atmen. Endlich öffnete sich das Fenster wenigstens einen Spaltbreit, und es wehte ein leiser Hauch von Freiheit durch die Stickluft des Mauerstaates. Am 21. August 1968 wurde dieses Fenster zugeschlagen.

An diesem Tag flossen viele Tränen. Immer wieder stößt man in Erzählungen auf diese einfache und schlichte Reaktion. Es war der Tag der Wut und Trauer über die Unbelehrbarkeit der Sowjetführung. Für viele war es auch ein Tag der Angst. Gerade bei älteren Leuten wurden böse Erinnerungen wach, als sie die Sondermeldungen im Radio hörten.

In der Küche stand meine Großmutter über das Abwaschbecken gebeugt und weinte still vor sich hin. »Immer wenn die Ernte vom Halm ist, gibt es Krieg«, schluchzte sie. Zweimal hatte sie es so erlebt, im August 1914 und Anfang September 1939. Sie war voller Sorge wegen der Familienangehörigen, die noch im Urlaub waren. Sicherlich würde das Militär die Zivilzüge mit Beschlag belegen, meinte sie. Sie reagierte auf ihre Weise auf die vorgebliche Kriegsgefahr und ging einkaufen: Mehl, Zucker, Haferflocken, Nudeln, Dauerbackwaren. Die Frauen ihrer Generation wussten, was in Krisenzeiten wichtig ist.

Im RIAS war davon die Rede gewesen, dass sich im Zentrum Ost-Berlins erregte Menschengruppen gebildet hätten. Also fuhr ich mit der S-Bahn ins Zentrum. Tatsächlich standen vor einer Kaufhalle einige ältere Frauen mit Einkaufstaschen und schimpften aufgeregt. Sie verstummten erschrocken, als sich ein Fremder näherte. Vielleicht hatten sie wegen der schnell um sich greifenden Rationierung von Lebensmitteln gemeckert. Angesichts der Hamsterkäufe gaben die Geschäfte knappe Lebensmittel nur noch in bestimmter Stückzahl aus.

Die Stadt lag träge im Dunst des schwülen Sommertages. Am Nachmittag zogen Gewitterwolken auf, und Regenschauer kündigten sich an. Die bleibende Erinnerung an jenen 21. August 1968 ist der bedrückende Gegensatz zwischen der inneren Aufgewühltheit und der äußeren Ruhe. Es mag sein, dass an jenem Tag noch mehr Volkspolizisten als sonst an den Straßenecken standen. Aus den Akten wissen wir heute, dass manche Passanten, die scheinbar ziellos durchs Berliner Zentrum schlenderten, von jener geheimen, aber allgegenwärtigen Überwachungspolizei waren, über die man damals noch sehr wenig wusste. Oder es handelte sich um treue Genossen, die von der Partei als »gesellschaftliche Kräfte« eingesetzt waren. In den Berichten der Bezirksverwaltung Groß-Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit werden die Erfolge dieser Kräfte ausdrücklich gelobt. Aber ihre segensreiche Tätigkeit bei der Jagd auf »Schmierer von Hetzlosungen und Verbreiter von staatsfeindlichen Hetzflugblättern« entfaltete sich erst in den folgenden Nächten. Sichtbar war die verstärkte Präsenz der Sicherheitskräfte an jenem Sommertag nicht.

Einer jener Reisebusse aus West-Berlin, die man in der Reisezeit stets sah, fuhr im Schritttempo durch die Friedrichstraße. Neugierige Touristen starrten durch die getönten Scheiben auf die matten Lebenszeichen im Ostsektor. Sicherlich hatten auch sie morgens in ihrem West-Berliner Hotel die Rundfunkmeldungen gehört. Doch warum sollten sie deswegen die bereits gebuchte Sightseeing-Tour durch die Hauptstadt der DDR absagen? Vielleicht würde sich aus der Krise sogar ein interessantes Fotomotiv ergeben?

Auch im Espresso an der großen Kreuzung von Friedrichstraße und Unter den Linden herrschte hochsommerliche Leere. Während des Semesters ging es in dem Kaffeehaus zu wie im Taubenschlag. Am Schnittpunkt aller Wege zwischen Humboldt-Universität, Staatsbibliothek, den Akademieinstituten und den Buchhandlungen des Stadtzentrums gelegen, führte kaum ein Weg am Espresso vorbei. Das kulinarische Angebot war selbst für DDR-Verhältnisse armselig, die Innenausstattung hatte den Charme eines Bahnhofsbistros, und die Luft war gesättigt von Zigarettenqualm. Die Serviererinnen allerdings waren von mütterlicher Güte. Hier hielten es ohnehin nur Mitarbeiter aus, die ein Herz für die jungen Leute hatten, die drei Stunden diskutierten und dazu nur eine Tasse Kaffee tranken. Schön war das Espresso nicht. Dafür war man am Puls der Zeit. Hier war der Weltgeist zu Hause. Auch Westbesucher aus der linken Szene kamen gern hierher, um zufällig oder gezielt Gesprächspartner zu treffen. Sie erzählten mit leuchtenden Augen von ihrer Revolte gegen das Establishment. Einige hatten sogar im Pariser Quartier Latin auf der Barrikade gestanden. Sie waren wie kleine Kinder, die aufgeregt von ihren Spielen im Buddelkasten erzählten. Wenn sie von den prügelnden »Bullenschweinen«, gar von der »repressiven Toleranz des scheißliberalen Systems« oder vom »Konsumterror« sprachen, wirkte das damals schon wunderlich naiv. Einen leisen Stich gab es mir, als Germanistikstudenten von der revolutionären Forderung nach Abschaffung des Mittelhochdeutschen erzählten. Den »alten Säcken« der Professorenschaft hätte man es tüchtig eingetränkt. In der DDR hatten gerade jene unzeitgemäßen, als angestaubt geltenden Fächer den heimlichen Geruch des Widerständigen. Gerade weil hier mehr als ideologische Phrasendrescherei verlangt wurde, bildeten diese Bereiche die letzten Fluchtburgen solider oder, wenn man es so nennen wollte, bürgerlicher Wissenschaft. In dieser Sache war die Perspektive der Genossen aus West-Berlin eine gänzlich andere. Bürgerliche Wissenschaft war ihnen ein Hassbegriff, und sie standen damit den SED-Bürokraten gefährlich nahe. Wenn man es gewollt hätte, wäre es möglich gewesen, an diesem Fädchen den fundamentalen Widerspruch zwischen Ost- und Westoppositionellen aufzudröseln. Doch wer hätte das gewollt. Allein die grünen Parkas, die verwaschenen Bluejeans, die langen Haare und die kreisrunden Nickelbrillen, der gnadenlos intellektuelle Sprachgestus, die vielen unverständlichen Wörter, die Respektlosigkeit gegenüber allen Autoritäten – all das reichte, um die Gäste aus dem fremden Sonnensystem mit einer Aura von Sympathie zu umhüllen. Von der DDR hielten sie genau wie wir nicht sonderlich viel. Doch erklärten sie uns oft: »Streng historisch gesehen seid ihr schon einen Schritt weiter. Ihr müsst weiter vorangehen und eine neue Gesellschaft aufbauen, ohne ökonomische Zwänge und Ausbeutung, demokratisch, menschlich, freiheitlich. Dann haben die Rechten auch bei uns verspielt.« Ich weiß noch, dass ich es damals versprochen habe. Einfach so. Wie man mit 17 irgendetwas verspricht. Heimlich dachte ich: »Eines Tages werden wir euch die Show stehlen. Die eigentliche Schlacht wird im Osten geschlagen werden – in Prag, Budapest, Warschau und eben bei uns.«

Am späten Vormittag des 21. August 1968 hatte sich niemand von den Revolutionären in das Ost-Berliner Espresso verirrt. Sicherlich waren sie noch in den Semesterferien, oder sie hatten Wichtigeres zu tun. Auch sonst war im Kaffeehaus nicht viel los. Der Lyriker Hermann K. saß einsam und traurig an einem der Tische. Sonst war er von nicht zu bremsender Eloquenz. Oft saß er hier umgeben von Jüngern, die den Erzählungen lauschten, wie es die Stasi verstanden hatte, die Veröffentlichung seiner Werke zu hintertreiben. Seine Schmähreden gegen Partei und Regierung glichen elementaren Naturereignissen. An jenem Tag war er verstummt. »Aus Trauer um den Sozialismus trinke ich heute meinen Kaffee schwarz«, meinte er melancholisch und rührte verzweifelt in der trüben Brühe, die ohne das winzige Kännchen Milch und das mitgelieferte Stück Würfelzucker eigentlich ungenießbar war. So saß er noch viele Jahre dort, rührte im Kaffee und schimpfte auf das SED-Regime.

Ich suchte zwei oder drei Bekannte auf. In den Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs hatte sich die stickige Schwüle des Sommertages verfangen. Misstrauisch glotzten die alten Leute, die hier offenbar immer am Fensterbrett lehnten, dem fremden Besucher hinterher. Waren vor mir schon andere Besucher da gewesen? Hatten jene allgemein bekannten auffällig unauffälligen jungen Männer hier bereits vor der Haustür gestanden, um das Kommen und Gehen zu registrieren? Die Wohnungstüren waren verschlossen. Die Vögelchen waren schon ausgeflogen. Einige meiner Bekannten sind in der folgenden Nacht von der Stasi verhaftet worden. Sie hatten mit bunten Filzstiften Parolen auf Zettel geschrieben und diese in Hausbriefkästen geworfen. Auf den Blättern aus den kleinkarierten Rechenblocks, die vorher im Schreibwarenladen gekauft worden waren, stand: »Helft dem roten Prag!« oder »In Prag ist Pariser Kommune«. Mit solchen Losungen wollten sie die Menschen aufrütteln. Die Stasi hatte schon an der nächsten Ecke gestanden, um die Straftäter festzunehmen. »Es kann eingeschätzt werden, dass alle größeren Aktionen der Flugblattverteilung aufgeklärt wurden. Von 63 Prozent aller verbreiteten Flugblätter sind die Täter ermittelt.«2 Es folgten Gefängnisstrafen, Ausschlüsse von Oberschulen und Universitäten, Abbrüche beruflicher Laufbahnen. Eine Rückkehr in die Anpassung war von diesem Moment an kaum noch möglich.

Es gibt Tage, über denen scheint ein Fluch zu liegen. Was man an diesem Tag tut, ist man verdammt, ein Leben lang zu tun. So wie der Fliegende Holländer. Er hatte beim Teufel geschworen, es bis zum Jüngsten Tag immer wieder zu versuchen, das Kap der Guten Hoffnung zu umschiffen, und wurde vom Bösen beim Worte genommen. Oder wie die Seeleute auf Wilhelm Hauffs Gespensterschiff, die verflucht waren, jede Nacht von neuem zu meutern und ihren Capitano an den Mastbaum zu nageln, um anschließend mit wildem Geheul als Unglücksboten die tosende See zu durchmessen.

Wer an diesem Tag des Fluches feige war, sollte es sein Leben lang sein. Wer damals beschloss, klüglich auf bessere Zeiten zu warten, sollte lange warten. Wer sich an diesem Tag in stille Betrachtung zurückzog, musste lange so verharren. Wer an diesem Tag die Konfrontation mit der übermächtigen Staatsmacht wagte, fand nur selten den Weg zurück in die Normalität.

Es war ein Tag voller dramatischer Spannung, den viele als Bruch in ihrer Biografie beschreiben. Ein Abgrund tat sich auf, der sich nie wieder schließen sollte. Die sowjetischen Panzer hatten bewiesen, dass Gewalt stärker ist als Argumente. Damit war eine unausgesprochene Illusion zerstört. Natürlich wusste jeder, dass es in der Geschichte schon schlimmere Gewaltakte gegeben hatte. Aber sie waren von den reaktionären Kräften ausgegangen. Die Sowjetunion aber hatte trotz Stalins Verbrechen immer noch den Heiligenschein des Guten. So wurde dieser 21. August 1968 zu einem historischen Wendepunkt, dessen Bedeutung weit über den unmittelbaren Anlass hinausging. Gerade wer damals noch ganz jung war, hat das intuitiv und schmerzhaft empfunden.

Und doch ist damals in der DDR wenig oder nichts geschehen. Gerade dieses permanente Nichtgeschehen – wenn das widersinnige Wort erlaubt ist – prägte das Jahr 1968 wie auch die gesamte Geschichte der DDR. Der Gegensatz zwischen dem überwachen und angespannten individuellen Sensorium und der bedrückenden Friedhofsruhe in der Gesellschaft hat uns begleitet. Insofern ist dieser 21. August 1968 von großer Symbolkraft für die gesamte Geschichte wenigstens der mittleren Generation. Ein Roman über die DDR könnte an diesem Tag handeln.

Wurde in Prag der Traum von einer Gesellschaft zu Grabe getragen, die Friedrich Engels das »Reich der Freiheit« genannt hatte? Starb an jenem Tag die Utopie von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie es die tschechoslowakischen Reformkommunisten genannt hatten? Oder hat gerade die Militärintervention der Staaten des Warschauer Paktes den demokratischen Sozialismus vor einem tragischen Scheitern an den inneren Widersprüchen bewahrt? Scheiterte mit dem Prager Frühling auch im Westen die Linksbewegung, die sich seit dem Herbst 1968 zunehmend aufsplitterte und radikalisierte? Sicher ist, dass in der DDR viele die Träume von einem demokratischen Sozialismus bis in den Herbst 1989 hinein mit sich herumtrugen. Sie spielten sowohl in den intellektuellen Kreisen als auch in den Oppositionsgruppen der achtziger Jahre eine Rolle, die größer war, als es viele Beteiligte heute wahrhaben wollen. Hat die friedliche Revolution von 1989 die Ziele von 1968 verwirklicht oder widerlegt? Bleiben von 1968 nur ein Stück sentimentaler Erinnerung, ein Paar Bilder und Anekdoten, oder geht es um eine hochbrisante Zukunftsfrage angesichts eines globalisierten Wirtschaftssystems, dessen Widersinnigkeit die Welt in eine Katastrophe zu stürzen droht?

ERSTER TEIL

Tauwetter und Dauerfrost

Die DDR-Gesellschaft in den sechziger Jahren

Frierend und zitternd im eisigen Schnee, in den scharfen Stößen des heulenden Windes stapft man Schritt für Schritt. Mit klappernden Zähnen durch die klirrende Kälte. Glücklich und zufrieden verbringt man die Tage am Feuer, während der Regen draußen jeden durchweicht. Man geht auf dem Eise mit zögernden Schritten, vorsichtig geht man, ängstlich zu fallen. Wer eilt, gleitet aus und fällt nieder. Doch immer wieder geht man aufs Eis und läuft, bis das Eis krachend zersplittert und bricht.

ERSTES KAPITEL

Durch die Erde ein Riss

Die Welt des Jahres 1968 war tief gespalten. Begriffe wie bipolare Weltordnung, Blockkonfrontation oder Systemauseinandersetzung sind keineswegs unzutreffend, aber sie vermögen die Schärfe der Auseinandersetzung kaum zu erfassen. Selbst das zum Epochenbegriff gewordene Schlagwort vom Kalten Krieg sagt wenig mehr aus, als dass es zwischen den Großmächten keinen heißen Krieg, also keine direkte militärische Auseinandersetzung, gegeben hat.

Die Zeit war getränkt von Hass, Misstrauen, Verleumdung und Angst. Es standen sich in der globalen Auseinandersetzung nicht allein Staaten oder Machtblöcke gegenüber, sondern Glaubenssätze. Staaten können Kompromisse schließen, Ideologien schließen einander aus. Ihr oberster Grundsatz lautet wie das erste Gebot auf den Gesetzestafeln des Moses: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Zwischen Ost und West herrschte ein solcher ideologisch-moralischer Weltbürgerkrieg, der keine Neutralität zuließ.

Nicht, dass es zwischen den beiden Supermächten keine Verhandlungen und Kompromisse gegeben hätte – die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn durch Sowjettruppen im November 1956 wäre ohne die stillschweigende Duldung des Westens nicht möglich gewesen. Die Errichtung der Berliner Mauer im August 1961 war weltpolitisch ein Kompromiss. Die Kuba-Krise im Oktober 1962 endete mit einem Agreement. Ein Jahr später schlossen die Großmächte das Teststoppabkommen, aufgrund dessen sie die Atombombentests in der Atmosphäre einstellten. Gerade die Ultralinken jener Jahre wurden nicht müde, die beiden Supermächte der Kumpanei anzuklagen. In ihren Augen waren die USA und die UdSSR gleichermaßen hegemoniale Mächte, die es beide zu bekämpfen galt. Dennoch herrschte zwischen Ost und West ein Glaubenskrieg, der an die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts erinnerte. Auch damals vermischten sich machtpolitische Interessen mit dem unversöhnlichen Hass der kämpfenden christlichen Konfessionen. Im aufgeklärten 20. Jahrhundert ging es nicht mehr um den rechten Weg ins Himmelreich, sondern um die Glückseligkeit auf Erden. Zwei unvereinbare Systeme bestritten einander ihre historische Existenzberechtigung. Die »friedliche Koexistenz« gehörte zwar seit 1956 zum propagandistischen Inventar der sowjetischen Außenpolitik. Doch je erfolgreicher auf der weltpolitischen Bühne Entspannungspolitik zelebriert wurde, desto heftiger wurde der Kampf der Weltanschauungen gepredigt.

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