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Der Buchtitel »Die heile Welt der Diktatur« ist seit der Erstauflage von 1998 fast zum geflügelten Wort geworden. Die Formel kennzeichnet den Widerspruch zwischen dem scheinbar behüteten Normalleben in der DDR und der SED-Diktatur.
Stefan Wolle ist es gelungen, den Gegensatz von Herrschaftsgeschichte und Alltagshistorie zu überwinden. Er erzählt von der alltäglichen Diktatur und vom diktatorischen Alltag und verdeutlicht dabei den Zusammenhang zwischen Geborgenheit und Unfreiheit. Das tut er mit Witz, Ironie, Polemik und Spaß am Erzählen.
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Seitenzahl: 781
Stefan Wolle
Die heile Welt der Diktatur
Stefan Wolle
Im vorliegenden Buch wird durchgängig, außer in Zitaten, die neue Rechtschreibung verwendet. Auslassungen des Autors sind durch drei Punkte ohne Klammern gekennzeichnet.
Die Abbildungen in diesem Buch stammen vom stern-Fotoreporter Harald Schmitt. Sie entstanden in den siebziger und achtziger Jahren an verschiedenen Orten der DDR.
Wir danken der Firma Picture-Press für die Unterstützung.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage, September 2013 (entspricht der 3. Druck-Auflage, Oktober 2009)
© Christoph Links Verlag GmbH, 1998
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; [email protected]
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos aus Berlin-Prenzlauer Berg von Paul Glaser
Lektorat: Almut Otto, Berlin
Satz: typegerecht berlin
PrologEin kurzes Wort zum langen Abschied
Die Weltgeschichte als Weltgericht
Heimweh nach der Diktatur
Glücklich leben in der DDR?
Erster TeilWandel und Kontinuität
Kapitel 1Die sechziger Jahre in der Geschichte der DDR
Die DDR nach dem Mauerbau
Das Zeitalter der großen Erwartungen
NÖSPL
Aufbruch in die Stagnation
Die vier Hauptschwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus
Machtkampf hinter den Kulissen
Tod und Verklärung Walter Ulbrichts
Kapitel 2Die Ära Honecker
Der VIII. Parteitag der SED
Erich Honecker an der Spitze der Partei
Der IX. Parteitag
Die späten siebziger Jahre
Erstarrung und Krise der achtziger Jahre
Erich Honecker und der Untergang der DDR
Zweiter TeilDie DDR, Deutschland und Europa
Kapitel 1Die Entspannungspolitik der frühen siebziger Jahre
Regierungswechsel in Bonn
Verkehrsabkommen und Grundlagenvertrag
Die Vertragsunterzeichnung
Destabilisierung durch Stabilisierung
Kapitel 2Die DDR und die »nationale Frage«
Die Abschaffung der deutschen Nation
Das Ende des Hotels Deutschland
Die SED-Führung zwischen Abgrenzung und »gemeinsamer deutscher Verantwortung«
Kapitel 3Der Alltag der deutschen Teilung
Der Westen im Osten
Der geteilte Himmel über Berlin
Der Intershop – Schaufenster des Wohlstandsparadieses
Geteilte Sprache im geteilten Land?
Das DDR-Bild des Westens oder die »edlen Wilden« des Konsumzeitalters
Die Wiederkehr der deutschen Nation
Die Suche nach der verlorenen Identität
Die DDR in der deutschen Geschichte
Kapitel 4Die DDR als Teil des Sowjetimperiums
Stalinismus in den Farben der DDR
Die DDR als »Homunculus sovieticus«?
»Ex oriente lux«
Die ungeliebten Brüder
Der Alltag der deutsch-polnischen Völkerfreundschaft
Die polnische Krise 1980/81 und die DDR
Dritter TeilDie Macht
Kapitel 1Legitimationen der Macht
Historische Formen staatlicher Legitimität
Die Diktatur der Liebe
Die Ideologie als Opium der Herrschenden
Legitimation durch Geschichte
Kapitel 2Die Partei
Die Partei als Mutter der Massen
Parteitage
Das Zentralkomitee
Das Politbüro
Die Gliederungen der Partei
Parteikontrollkommissionen
Parteiinstitute
Die Nomenklatura
Die Parteimitglieder
Die Mitgliederversammlungen
Kapitel 3Blockparteien und Massenorganisationen
Heimliche Opposition oder Verbündete der SED?
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB)
Die Freie Deutsche Jugend (FDJ)
Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF)
Gesellschaft für Sport und Technik (GST)
Kapitel 4Der Staat
Einheit von Staat und Partei
Wahlen in der DDR
Vierter TeilÖffentlichkeit und Diktatur
Kapitel 1Öffentlichkeit in der geschlossenen Gesellschaft
Aufklärung und Obskurantismus
Die Grenzen der Herrschaft im geschlossenen Raum
Die gelenkte Öffentlichkeit des Staates
Die Geheimöffentlichkeit der Apparate
Die Halböffentlichkeit des »Kultur- und Geisteslebens«
Das Öffentlichkeitssurrogat des politischen Witzes
Die pervertierte Öffentlichkeit der Gerüchte und Wandersagen
Die Ersatzöffentlichkeit der Westmedien
Die Gegenöffentlichkeit der Opposition
Kapitel 2Die Kontrolle der Öffentlichkeit
Landschaften der Lüge
Der total kontrollierte Mensch
Stasi, Staat und Gesellschaft
Kapitel 3Geheimhaltung und Zensur
Der Geheimhaltungsstaat
Das Gewicht der Worte
Zensur ohne Zensor
Weltliteratur zwischen »Erbeaneignung« und Reglementierung
Klasseneinteilung
»Kalte Bücherverbrennung« in den Bibliotheken der DDR
Der Trödelladen als Refugium des freien Geistes
Die Leipziger Buchmesse als Fenster der geschlossenen Gesellschaft
Kapitel 4Die Inszenierung der Macht
Die DDR als Potemkinsches Dorf
»Aktion Banner«: Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Sommer 1973
»Aktion Vorstoß«: FC Bayern München gegen Dynamo Dresden, 7. November 1973
»Aktion Dialog«: Güstrow, 13. Dezember 1981
Historische Inszenierungen oder Die DDR als Kostümstück
Fünfter TeilGesellschaft und Wirtschaft
Kapitel 1Liebe, Ehe, Familie
Die Liebe in den Zeiten der Diktatur
Gebote der sozialistischen Moral
Der Jugend mehr Vertrauen!
Gleichberechtigung der Frau
Die heile Welt der Babys
Sozialpolitik
Die Frau und der Sozialismus
Vornamen im Sozialismus
Kapitel 2Umsorgt von der Wiege bis zu Bahre
Der Gärtnerstaat
Jugendweihe
Die Rentner
Städtebau
Zwischen Abriss und Traditionspflege
Wohnverhältnisse
Wohnungssuche
Das Wohnungsbauprogramm
Rettung der Altstädte – Beispiel 1: Mythos Prenzl’berg
Beispiel 2: Arbeitskreis Innenstadt in Halle (AKI)
Beispiel 3: Rettung des Andreasviertels in Erfurt
Kapitel 3Wirtschaftspolitik der SED
Die Geheimnisse der Planwirtschaft
Das Primat der Politik
Teufelskreis der Mangelwirtschaft
Wirtschaftliche Lage der frühen siebziger Jahre
Die Vernichtung der Privatwirtschaft – Anfang vom Ende der DDR?
Preissteigerungen auf dem Weltmarkt
Einrichtung der Exquisit- und Delikatläden
Die »Kaffeekrise«
Gestattungsproduktion
Schuldenkrise
Das »Koko-Imperium«
Kunst- und Antikhandel
Waffenhandel
Müllimporte
Umgehungsgeschäfte
Verkauf von Blutprodukten
Finanzierung der DKP
Menschenhandel
Die ökologische Krise als »geheime Verschlusssache«
Luftverschmutzung
Wasser und Abwasser
Bergbau
Abfallentsorgung
Sechster TeilAlltag und Herrschaft
Kapitel 1Alltag in der DDR
»Sie werden platziert!« oder Die heimliche Herrschaft der Verwalter des Mangels
Die Kleinanzeige als Reich der Freiheit
Das Automobil als liebstes Kind des DDR-Deutschen
Schöner wohnen
Kapitel 2Der Zeitgeist der späten Jahre
Die sozialistische Wartegemeinschaft
Warten, bis der Prinz kommt
»Es geht seinen Gang«
Der Mauerstaat als Reich der Poesie
E. T. A. Hoffmann ist unser
Kapitel 3Alternative Lebensformen
Kneipe, Kaffeehaus und Szene
Die Kultur der negativen Freiheit
Siebenter TeilElemente der Krise
Kapitel 1Die kritischen Intellektuellen und die SED
»Wenn sich Macht und Geist vereinen …«
Der Traum vom demokratischen Sozialismus oder Die Immanenz der Häresie
Kulturpolitik nach dem VIII. Parteitag der SED
Singebewegung und »Festival des politischen Liedes«
Die Biermann-Ausbürgerung und ihre Folgen
Literatur und Politik nach 1976
Verschärfung des politischen Strafrechts
Kapitel 2Kirche, Staat und Opposition
Die Kirchen in der DDR
»Kirche im Sozialismus«
Die Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz
Das Spitzengespräch vom 6. März 1978
Die Opposition im Freiraum der Kirche
Kapitel 3Der »Neue Kalte Krieg« und die DDR-Gesellschaft der achtziger Jahre
Die Weltpolitik im Schatten der atomaren Bedrohung
Die Militarisierung der DDR-Gesellschaft
Die Entstehung der Friedensgruppen
Die »Gruppen« oder Eine Begegnung der dritten Art
Reaktionen des Staates
Die Kirche im Brennpunkt der Ereignisse
Die »West«-Grünen und die Friedensbewegung der DDR
Demonstration auf dem Alexanderplatz am 12. Mai 1983
Gespräch mit Erich Honecker am 31. Oktober 1983
Die Botschaftsaktion am 4. November 1983
Resignation und Neubeginn der Menschenrechtsbewegung im Zeichen der Perestroika
Kapitel 4Die Mauer und die Ausreiseproblematik
Die Staatsgrenze
Freigang aus dem Staatsknast – Das Reisekadersystem
Die Republikflucht
Die Bewegung der Antragsteller
Botschaftsflüchtlinge
Die Antragsteller und die »Gruppen«
Achter TeilDer Weg in den Zusammenbruch
Kapitel 1Die Perestroika und die DDR
Das Ende der Breschnjew-Ära
Der Beginn der Perestroika und die DDR-Gesellschaft
Das »Sputnik«-Verbot
Perestroika und Opposition
Kapitel 2Aktionen der Opposition
Die »Zionskirch-Affäre« im November 1987
Die »Januarereignisse« von 1988
Auseinandersetzungen um die Kirchenzeitungen
Radio Glasnost
Der Januar 1989
Die Kommunalwahlen im Mai 1989
Der »Himmlische Friede«
Der Gründungsaufruf des Neuen Forums
Der Westen und die DDR-Opposition
Kapitel 3Der Machtverlust der SED-Führung
Die Partei in der Krise
Die gescheiterte »Geheim-Glasnost« der SED-Führung
Kapitel 4Das Ende der SED-Herrschaft
Der Oktober 1989
Tage der Entscheidung
Chronik des Untergangs
Der 4. November 1989
Der Fall der Mauer
Die Lehren der Geschichte
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Register
Das Urteil der Geschichte ist hart, fast möchte man es unerbittlich nennen. Die DDR entstand 1949 infolge der Aufteilung der Welt zwischen den Machtblöcken. Als in Moskau die Hoffnung schwand, dass man die Westintegration des größeren Teils Deutschlands verhindern könne, installierte die sowjetische Besatzungsmacht in ihrem Einflussbereich die DDR. Je kälter der Wind des Kalten Krieges blies, desto sicherer war die Existenz des ostdeutschen Staates.
Dennoch mag es in Deutschland viele Menschen gegeben haben, die in der DDR die antifaschistische Alternative zur Bonner Staatsgründung gesehen haben. Im »ersten Friedensstaat auf deutschem Boden« hatte man den Faschismus mit »Stumpf und Stiel ausgerottet«, wie es in der stereotypen und archaischen Ausdrucksweise der SED-Propaganda immer wieder hieß. Durch die Enteignung der Konzernherren und Junker seien die objektiven Ursachen für Kriegs- und Expansionsgelüste aller Art beseitigt worden. Nie wieder sollte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Darauf ruhte die innere Legitimation des Staates.
Jenseits der Grenze lauerten die alten und neuen Nazis. Aus den Revanchegelüsten der Imperialisten ergab sich zudem die Notwendigkeit, mit aller Härte gegen den inneren Gegner vorzugehen. Das galt auch für jene Wirrköpfe, die von einer Verbesserung des Sozialismus faselten. Sie waren der Aufweichungs- und Unterwanderungsstrategie des Gegners auf den Leim gegangen und verdienten es, als Feinde behandelt zu werden. Gern zitierte man in diesem Zusammenhang aus Bertolt Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen«: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser. Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.«1
Wer es denn glauben wollte, dass die DDR der bessere deutsche Staat sei, zog aus diesen Zeilen eine Art Universalbegründung für jede Form der Unterdrückung und Freiheitsbeschränkung. Doch wie lange konnte, wie lange durfte man an die Botschaft von Frieden und Fortschritt glauben? Bis zum 70. Geburtstag Jossif Stalins am 21. Dezember 1949, als auch in der DDR der Personenkult um den »größten Menschen aller Zeiten« Blüten trieb, die dem gerade überwundenen Führerkult um nichts nachstanden? Wie lange konnte, wie lange durfte man diese Parallelen übersehen? Bis zu Stalins Tod im März 1953, als die Verklärung zur Apotheose wurde? Bis zum 17. Juni 1953, als sich die Arbeiter gegen den angeblichen Arbeiterstaat erhoben und nur die sowjetischen Panzer das verhasste Regime der SED-Bonzen vor dem Untergang retteten? Bis zum Februar 1956, als auf Geheiß der neuen Herren im Kreml die Götzenbilder des Stalinkults stürzten, ihre Diener aber an der Macht blieben? Bis zum 13. August 1961, als der Friedensstaat sich selbst mit Stacheldraht umgab, um seine eigenen Bürger am Weglaufen zu hindern? Bis zum 21. August 1968, als die Panzerdivisionen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einfielen, um das Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« gewaltsam zu beenden? Bis zum 16. November 1976, als der Liedermacher Wolf Biermann nach altbekanntem Nazi-Muster ausgebürgert wurde, weil er und seine Freunde für einen demokratischen Sozialismus eintraten? Bis zum 13. Dezember 1981, als in Polen die Aktivisten der Arbeiterbewegung von den Militärherrschern in Internierungslager gesteckt wurden? Oder bis in die späten achtziger Jahre hinein, als die »verdorbenen Greise«2, wie sie Wolf Biermann genannt hatte, mit schlafwandlerischer Sicherheit das Land in den Untergang steuerten? Oder darf man einem gescheiterten Staat und einer gescheiterten Ideologie bis über deren Ende hinaus die Treue halten?
Die Geschichte hat den gläubigen Anhängern der sozialistischen Ideologie viel zugemutet.
Die DDR ist so gründlich gescheitert, wie man nur scheitern kann: ökonomisch, politisch und moralisch. Das Urteil der Geschichte wurde im Herbst 1989 von den eigenen Bürgern gefällt. Die demokratische Massenbewegung verwandelte sich in eine Sintflut, die den SED-Staat mitsamt der Mauer förmlich hinwegschwemmte. Das Urteil wurde bei den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 bestätigt, als die Bürger mit fast absoluter Mehrheit für jene flink zusammengezimmerte Parteienkoalition stimmten, von der sie sich einen schnellen Vollzug der Wiedervereinigung versprachen.
Wenn denn die Weltgeschichte das Weltgericht ist, wie Friedrich Schiller meinte3, so hatte die Verteidigung kaum noch gute Argumente. Von der DDR blieben ein ökonomisches Desaster, ökologisch zerstörte Landschaften, verfallene Städte und ein Haufen sozialer und mentaler Probleme. Man könnte also getrost die Akten zuschlagen und ins Archiv schicken, damit dort von Zeit zu Zeit ein Historiker den Staub von den vergilbten Papieren pustet. Ein Berufungsverfahren ist nicht in Sicht, denn das Volk als die höchste Instanz hat sein Urteil gefällt.
Und doch bleibt ein seltsamer Rest. Dieser Rest ist das Leben der Menschen, die in jenem Staat gelebt haben. Ihre Erinnerungen sind bunter, vielfältiger, differenzierter, persönlicher, fröhlicher und teilweise eben auch glücklicher als die Bilder, die Wissenschaft und Publizistik liefern. Ein Lächeln geht über alle Gesichter, wenn von den kleinen Freuden und Misshelligkeiten des DDR-Alltags die Rede ist. Dieses Lächeln, man mag es Ostalgie oder anders nennen, ist stärker als die Fotodokumente mit den Schlangen vor den Geschäften, den Schaufenstern in ihrer fast rührenden Trostlosigkeit, den monotonen Neubauvierteln und den verkommenen Altstädten. Der besonnte Blick der Erinnerung ist stärker auch als die Statistiken über Republikflucht und Ausreiseanträge, stärker sogar als die Akten über Zersetzungsmaßnahmen der Stasi, Todesschüsse an der Mauer und politische Unrechtsurteile.
Es geht vielen Menschen offenbar gar nicht mehr vorrangig um ein analytisches Urteil über politische Strukturen der DDR und um die historischen Zusammenhänge. Es geht um den Wert der eigenen Biografie. Viele Menschen sehen sich durch Negativurteile über die DDR mitbetroffen. Vor allem aber bewerten sie ihre damalige Situation vor dem Erfahrungshintergrund der folgenden Jahre. Viele haben dieses als Entwertung ihrer Lebensleistung empfunden, haben Schwierigkeiten, Zurücksetzungen, Demütigungen und Enttäuschungen erlebt, die sie zu Recht oder zu Unrecht dem Systemwechsel anlasten. Manche sehen sogar in der Vergangenheitsbewältigung und den Stasi-Überprüfungen der Nachwendejahre ein probates Mittel, überflüssige Ostdeutsche »rauszugaucken«.
Die Antwort ist eine Art »Ost-Trotz«. Eine DDR, die es nie gegeben hat, wird jetzt erst erschaffen. Der Film »Good bye, Lenin!« aus dem Jahr 2003 hat diesen psychologischen Mechanismus auf geniale Weise erahnt und den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen vorweggenommen. In der Schlussapotheose des Films wird aus der Suche nach den verlorenen Gegenständen der DDR die Suche nach der verlorenen Utopie. Am Ende der Inszenierung steht eine DDR, die sich würdevoll aus der Weltgeschichte verabschiedet. In nachgestellten Fernsehbildern fliehen die Menschen aus der imperialistischen BRD vor Arbeitslosigkeit und kapitalistischer Ausbeutung in die sozialistische DDR.
Es mag selbst in den Apparaten viele gegeben haben, die in den Jahren des real existierenden Sozialismus eine bessere und schönere DDR gewollt hatten. Die polemische Frage, wo all die Freunde des demokratischen Sozialismus waren, als 1968 junge Leute wegen ihrer Sympathien für den Prager Frühling verhaftet und reglementiert wurden, erübrigt sich. Die Antwort ist nur allzu klar. Sie saßen wie der langjährige Ehrenvorsitzende und Europa-Abgeordnete der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), Hans Modrow, in den Befehlszentralen des Unterdrückungsstaates. Sie schickten die Greiftrupps der Stasi aus, um jedes Eintreten für den demokratischen Sozialismus im Keime zu ersticken.
Es ist verständlich, dass in diesen Kreisen davon niemand mehr etwas hören will. Doch die Sehnsucht nach der heilen Welt der Diktatur geht weit über die ehemaligen Funktionäre hinaus. Endlich ist die viel beschworene Einheit von Partei und Volk verwirklicht, die es vor 1989 niemals gegeben hat. Für die grassierende Sehnsucht nach machtgeschützter Eintracht des Mauerländchens sind weder die Medien noch die Schulen verantwortlich.4 Die Ostalgieshows, Retropartys im Blauhemd oder Ostpromessen bedienen das Heimweh nach der Diktatur, haben es aber nicht erschaffen. Auch der SED-Nachfolgeverein mit dem häufig wechselnden Namen instrumentalisiert die Sehnsucht nach dem treusorgenden Staat, hat sie aber nicht erfunden. Den Schulen sollte man ebenfalls nicht den Schwarzen Peter zuschieben. Was die Schüler in Meinungsumfragen äußern, ist ein Spiegelbild der »verborgenen öffentlichen Meinung«, vor allem aber des Unwillens vieler Eltern und Lehrer, über die Dinge offen zu reden. Aus guten Gründen fürchten nur allzu viele die konkrete Frage der Nachgeborenen, wo sie denn konkret gestanden haben. Die Wurzeln für die seltsamen Wandlungen in der Erinnerungswelt liegen tiefer – in der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen vor und nach der Wende von 1989 / 90. Die Erklärung dafür, wie »das alles« funktionieren konnte, liegt im Alltag der DDR, im normalen Leben und Erleben der Menschen. Die sittliche Empörung über FDJ-Blusen und NVA-Trainingsanzüge auf dem Schulhof stärkt, was sie zu bekämpfen vorgibt. Im Seelenhaushalt vieler Menschen bilden der Stolz auf die friedliche Überwindung der DDR und die positive Erinnerung an den Alltag ein seltsames Amalgam. Ostalgie ist offenbar nicht allein Sehnsucht nach der Diktatur, sondern auch die Gewissheit, die Diktatur selbständig abgeschüttelt zu haben. Manche Zeitgenossen suchen nach guten Seiten des DDR-Lebens und stellen fest, dass das Beste an der DDR ihr Ende war. Auch dieses Ende war ein Teil ihrer Geschichte. Die oft geschmähte Ostalgie ist offenbar vielgestaltiger, als man bisher wahrgenommen hat. Sie ist nur zu widerlegen, indem man sie anerkennt. So wie in den siebziger und achtziger Jahren die Entspannungspolitik dem SED-System langfristig die Existenzgrundlage raubte, ist auch die postume Verklärung der SED-Diktatur allein im Dialog zu überwinden. Es ist also eine Art Wandel durch Annäherung unter neuen Bedingungen vonnöten.
Auch in der DDR wurde George Orwells beklemmende Zukunftsvision »1984« viel gelesen. Zerfledderte und zur Tarnung in Packpapier eingeschlagene Exemplare des Buches gingen von Hand zu Hand. Der einfache Besitz und besonders die Weitergabe dieser »bösartigen Verleumdung des Sozialismus«5 konnten erhebliche Schwierigkeiten, sogar Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Seltsamerweise haben die ideologischen Aufpasser der DDR die Beschreibungen und Begrifflichkeiten Orwells ganz selbstverständlich auf ihr System bezogen und sie dadurch in gewisser Weise bestätigt.
Und doch hatte und hat die »Orwellisierung« des SED-Systems eine bedenkliche zweite Seite. Sie reduziert die Gesellschaft auf die kurze Formel von Herrschaft und Unterwerfung. Milan Kundera bemerkte nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in seiner Heimat: »Ich weigere mich, diese Reduktion mit dem Vorwand zu entschuldigen, dass sie als Propaganda im Kampf gegen das Übel des Totalitarismus nützlich war. Denn dieses Übel ist gerade die Reduktion des Lebens auf Politik. So ist Orwells Roman entgegen seinen Absichten, selbst Teil des totalitären Geistes … Er reduziert das Leben einer verhassten Gesellschaft auf eine simple Aufzählung ihrer Verbrechen«.6 So versagte angesichts der Beschreibung der komplexeren DDR-Lebenswirklichkeit, die eben nicht nur aus Terror, Propaganda und Elend bestand, der für die Kritik des Totalitarismus angemessene Begriffsapparat, was wiederum Kundera folgendermaßen kommentierte: »Wenn ich, ein oder zwei Jahre nach dem Ende des Kommunismus, mit Tschechen spreche, höre ich in den Reden diese zum Ritual gewordene Redensart … ›nach vierzig Jahren kommunistischen Schreckens‹ oder ›die schrecklichen vierzig Jahre‹ … Wenn sie alle von vierzig schrecklichen Jahren sprechen, bedeutet dies, dass sie die Erinnerung an ihr eigenes Leben ›orwellisiert‹ haben, das auf diese Weise in ihrem Gedächtnis und ihrem Kopf a posteriori entwertet oder sogar geradezu annulliert worden ist.«7
In letzter Zeit ist gelegentlich diskutiert worden, ob man in der DDR glücklich leben konnte. Natürlich hat jeder Mensch, unter welchen Umständen auch immer, die Möglichkeit, sein kleines persönliches Glück in der Familie, auf dem Gartengrundstück oder beim Briefmarkensammeln zu suchen und zu finden. Das ist ebenso richtig wie banal. Doch darum geht es nicht allein. Die Frage lautet: Gab es ein wirkliches Lebensglück im Unrechtsstaat? Die Antwort muss wohl lauten: Ja, dieses Glück gab es. Ein »Gespräch über Bäume« schloss eben nicht, wie Brecht meinte, das »Schweigen über so viele andere Untaten« ein. Fröhlichkeit und Lebenslust, Spaß und Ironie waren die wichtigsten Waffen im Kampf gegen die diktatorische Anmaßung, das Leben des Einzelnen bestimmen zu wollen. Wolf Biermann hat dies in seiner besten Zeit und in seinen besten Liedern vorgeführt. Glück konnte auch in der inneren Befreiung von den totalitären Denkmustern bestehen. Glück fanden viele in der unsichtbaren Loge der Andersdenkenden. Glück konnte sogar im Verzicht auf Karriere und Privilegien bestehen. Wenn es so etwas wie eine retrospektive Nationalhymne der DDR geben sollte, so müsste man Wolf Biermanns »Ermutigung« dazu küren: »Du, laß dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit. / Die all zu hart sind, brechen / Die all zu spitz sind, stechen / und brechen ab sogleich«.8
Diesem Grundsatz sollte auch der Historiker in der Beschreibung der Realität folgen. Das Leben in seiner bunten Vielfalt darf nicht unter Akten begraben werden. Und doch darf nichts vergessen werden, keine der Niedrigkeiten, der Lügen, der Absurditäten und keines der Verbrechen. Es geht darum zu zeigen, dass Diktatur und Alltagsleben zwei Seiten einer Medaille waren – also ganz im Sinne von Karl Marx eine dialektische Einheit der Gegensätze. Die alltägliche Diktatur und der diktatorische Alltag sind nicht voneinander zu trennen. Geborgenheit und Unfreiheit gehörten zusammen. Die Wärme der Gemeinschaft und die kollektivistische Totalkontrolle bildeten eine untrennbare Einheit. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Staatsicherheit hingen nicht nur semantisch zusammen. Die von vielen geschätzte Ruhe und Ordnung und die Friedhofsruhe der Diktatur waren unlösbar miteinander verbunden. Diese Zusammenhänge plausibel zu machen, ist freilich, wie Brecht es im »Lob des Kommunismus« ausdrückte, das »Einfache, das schwer zu machen ist«.9
Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 meinten viele DDR-Bürger, das System sei am Ende. Zu offensichtlich war der wirtschaftliche, politische und moralische Bankrott des Regimes. Was war das für ein Staat, der nur durch Stacheldraht und Gesinnungsterror die eigenen Bürger in Schach halten konnte. Hinzu kam, dass die Zwangskollektivierung, der sogenannte sozialistische Frühling auf dem Lande, eine bedrohliche Verschlechterung der Lebensmittelversorgung zur Folge hatte. Nach der völligen Schließung der Grenze, als doch alles hätte besser werden müssen, wurden Kartoffeln, Butter und Fleisch knapp. Nur massive Lebensmittelimporte aus der Sowjetunion entschärften die Situation. Auch innenpolitisch standen die Zeichen eher auf Sturm als auf Entwarnung. Durch drakonische Strafen und Strafandrohungen unterdrückte das SED-Regime jeden Widerstand. Im zweiten Halbjahr 1961 ergingen insgesamt 18 297 politische Strafurteile gegenüber nur 4442 im ersten Halbjahr.10 Kurzzeitig wurde sogar eine Art Faustrecht propagiert. Stolz berichteten die DDR-Zeitungen, dass Arbeiter »Hetzer und Saboteure« krankenhausreif geschlagen hätten. Unter der Losung »Aktion Blitz – kontra NATO-Sender« stiegen sogenannte Ordnungsgruppen der FDJ auf die Dächer, um auf westliche Sendestationen ausgerichtete Fernsehantennen auf DDR-Sender einzustellen oder ganz abzusägen.
»Das kommt bald anders«, lautete eine der Redewendungen dieser Zeit. Doch es kam nicht anders. Die außenpolitische Großmachtstellung der Sowjetunion und damit die Macht der Partei und die Spaltung Deutschlands schienen fester gefügt denn je. Die Sperranlagen wurden immer undurchdringlicher. Und allen großen Worten im Westen zum Trotz war klar, dass die Amerikaner nichts unternehmen würden, um die Mauer abzureißen. Doch ewig im Zustand inneren Haders und moralischer Empörung zu leben, ist schwer – fast unmöglich. Die Menschen meinten zu Recht, dass sie nur dieses eine Leben hätten, und richteten sich darauf ein, es in der DDR zu verbringen. Sie hatten an das berufliche Fortkommen und an die Laufbahn der Kinder zu denken. Alltagssorgen standen im Vordergrund: die Autoanmeldung, die Wohnungssuche und vor allem die ewige Jagd nach knappen Artikeln und Dienstleistungen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit des Arrangements. Immer noch bestimmte die Mangelwirtschaft das Leben, aber irgendwie war es doch besser als früher geworden. Die Wartelisten für Fernsehapparate, Kühlschränke, Waschmaschinen und andere begehrte Konsumgüter wurden kürzer. Nachdem bereits 1958 die Lebensmittelmarken abgeschafft worden waren, verschwanden allmählich auch die Kartoffelmarken, Butternummern und Apfelscheine sowie andere Relikte der Rationierungswirtschaft.
Langsam, aber stetig ging es seit Mitte der sechziger Jahre ökonomisch bergauf. Die offizielle DDR-Statistik vermeldete von 1964 bis 1967 pro Jahr kontinuierlich zehn Prozent Steigerung im Einzelhandelsumsatz, 1968 13 und 1969 gar 17 Prozent.11 Solche Zahlen sollten nur mit größter Vorsicht verwendet werden. Dennoch steht fest, dass Fernsehapparate, elektrische Kühlschränke und Waschmaschinen in dieser Zeit Einzug in die Haushalte hielten. Immer mehr Familien konnten sich ein Auto leisten. Ein bescheidener Wohlstand breitete sich aus. Auch die Fünf-Tage-Arbeitswoche wurde Mitte der sechziger Jahre durchgesetzt. Während bisher das Grundprinzip des Acht-Stunden-Tages bei sechs Arbeitstagen galt, wurde 1966 in einem ersten Schritt die Wochenarbeitszeit auf 45 Stunden herabgesetzt. Alle zwei Wochen war ein Sonnabend frei. 1967 folgte schließlich der arbeitsfreie Sonnabend. Daher ist es kein Zufall, dass vielen damaligen DDR-Bürgern die sechziger Jahre wenn nicht gerade als »goldenes Zeitalter«, so doch als eine Zeit des Aufbruchs, des Neubeginns und vieler Hoffnungen in Erinnerung geblieben sind.
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