Der Hauch der Gewesenen - Hannes Stiegler - E-Book

Der Hauch der Gewesenen E-Book

Hannes Stiegler

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Beschreibung

Der Salzburger Autor Hannes Stiegler unternimmt in dieser packenden Schilderung eine Reise in die Vergangenheit seiner Familie. Er begibt sich auf eine Zeitreise durch Freude, Jubel, Leid und Pein der "Gewesenen" und zeichnet in erfrischender Offenheit, gepaart mit liebevoller Aufarbeitung, ein farbiges Sittenbild des letzten Jahrhunderts und am Beispiel seines dahinscheidenden Vater ein Charakterbild eines vom Soldatentum posttraumatisch gezeichneten Mannes.

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Paul Fussek, Freidenkender und Schreibender aus Hochburg Ach, zum Buch:

„ihn sprechen zu lassen, über weite strecken, bringt ihn näher, die unaufgeregtheit, fast lapidar, wertfrei erzählst du, gibst bericht, läßt einfühlen.

henisch ging mit der kleinen figur seines vaters nicht so subtil um, versuchte literarisch zu sein. das hast du, so mein ich, fairerweise hintangestellt.

diese hohe kulturleistung, ihn zu würdigen, nicht einfach aushauchen zu lassen, ihn der erinnerung fähig zu machen, ein dokument zu schaffen, so unzeitgeistig, so fein, so ungewöhnlich.

und dabei all die übel bekanntliche schminke verbannt.

das hohe lied der liebe?

denke schon.

mein respekt, lieber hannes, mein respekt...

paul fussek, mit hutgelüftetem gruß – September 2014

Inhalt

Vater erzählt von seiner Kindheit

Gesundheit des Vaters, Rückblenden - der Autor erzählt

Der Autor charakterisiert den Vater

Vater erzählt vom Militär (1937), Anschluss (1938) und Eingliederung in die Deutsche Wehrmacht

Der Polenfeldzug 1939 - Vater erzählt

Frankreichfeldzug, Mai 1940 - Vater erzählt

Italienfeldzug, März 1940 - Vater erzählt

Russlandfeldzug, Mai 1941 - Vater erzählt

Berlin 1942 - 1947, die Mutter, der Handschuh,die neue Familie – der Autor erzählt

Seniorenheim, Katheter & Co, Nachkriegszeit in OÖ -der Autor erzählt

Nachkriegszeit in Berlin und Oberösterreich – der Autor erzählt

Kindheit und Jugend in Oberösterreich – Erinnerungen des Autors

Vaters letzte Tage im Seniorenheim – der Autor erzählt

Weitere Publikationen des Autors

Vater erzählt von seiner Kindheit

„Wo denkst du hin? Das war ein alter Viehwagon, ein zugiger, in dem wir Mitte 1947 von Berlin nach Österreich übersiedelten! Wir hatten ein einfaches Lager aus Strohballen und Streu. Für dich konnten wir dein Gitterbett mitnehmen, das wir an gesicherter Stelle platzierten. Den größten Teil der Reise hast du da drinnen verschlafen“, sagte Vater in seinem noch immer forschen Ton. „Auch wir konnten nicht klagen, auch wenn das Stroh trotz der aufgelegten Decken ständig und unangenehm stach. „Und ging das bis Scharnstein so weiter?“ fragte ich. „Nein, der Zug fuhr nur bis Salzburg. Von dort wurden wir per PKW nach Scharnstein gebracht und wohnten dann fürs erste beim „Alten“ in relativ beengten Verhältnissen.“ „Der Alte, das war mein Urgroßvater, nehme ich an“, sagte ich mehr rhetorisch als tatsächlich fragend.

Im selben Augenblick, ein Klopfen an der Türe im Seniorenheim Großgmain. „Alles in Ordnung, mein Herr?“, rief Mario, der lange Pfleger und baute sich vor mir und dem Krankenbett auf. „Mein Sohn, das ist Mario, ein guter Mann. Der schafft es ganz alleine, mich hochzuheben und in den Stuhl zu setzen. Aber jetzt bin ich gerade beim Erzählen, Mario. Wir sehen uns beim Mittagessen, Mister Adlernase“. Mario verneigte sich und verließ schmunzelnd aber wortlos das Zimmer.

Ich kann mich noch dunkel an das schummrige Holzhaus im Tal erinnern, in dem unsere vierköpfige Familie ein halbes Jahr nach der Ankunft aus dem von den Nachkriegswirren gebeutelten Berlin mit den Großeltern auf kleinstem Raum zwischen Schlaf- und Wohnstube, dem Spucknapf und dem Hinterzimmer mit den aufgespannten Tierhäuten wohnten. „Du hast mir ja oft erklärt, wie geschickt Urgroßvater seinen Beruf ausgeübt hatte“, sagte ich. Vaters Augen leuchteten, denn er würde jetzt seine Lieblingsgeschichte vom Alten erzählen, die ich im Laufe der Zeit viele Male, wenn auch immer in leicht abgeänderter und ergänzter Form, hören musste. In stiller Andacht, versteht sich. Zwischenfragen blieben da eher ungehört.

Also hob er an: „Keiner im Tale konnte so mit Tieren umgehen wie er. So hart er oft im Umgang mit sich und den Seinen erschienen sein mag, so sanftmütig war er mit Kindern. Ich kann mich an kein Wort meines Großvaters erinnern, welches in irgendeiner Weise unangenehm auf mich gewirkt hätte. Ich habe nur gute Erinnerungen an ihn. Apropos Brutalität, habe ich dir nicht schon einmal die Geschichte von den gestohlenen Eiern erzählt? Nein? Es war erst kurz nach unserer Ankunft aus Berlin und wir wohnten immer noch bei meinen Großeltern, da beschwerte sich der Nachbar vom sogenannten Nagelschmiedhaus seit einiger Zeit, dass aus seinem Hühnerstall immer wieder Eier gestohlen wurden. Deine Mutter, die im Dorfe als zugezogene Preußin apostrophiert wurde, war bei der Nachbarschaft die Nummer Eins auf der Verdächtigen Liste. Großvater mochte das gar nicht glauben und hatte einen ganz anderen starken Verdacht, den er aber ohne Überprüfung nicht aussprechen wollte. Er legte sich deswegen am nächsten Morgen auf die Lauer und sah kurz darauf just seine Lieblingshündin Lydia, ein Spitzmischling, in den Hühnerstall des Nachbarn schleichen, mit verdotterter Schnauze wieder aus dem Stall herauskommen, die Zunge beschwingt um das Maul leckend. Großvater verhielt sich ganz still. Auch im Hause wurde es stiller als sonst. Ganz bedacht nahm er das große, scharfe Schlachtermesser, den Wetzstahl, legte ruhig den Lederschurz an und rief seinen bereits leise winselnden Hund. „Lydia, her da!“ schallte es durchs Haus. Deine Mutter ihrerseits ahnte was da kommen würde und nahm dich bei der Hand - du warst damals kaum drei Jahr alt - und lief mit dir über die hochgrasige Bauernwiese zum Mädlbauern. Beim Hinauslaufen vernahm sie noch das deutliche Wetzgeräusch, dann ein kurzes „Krüppel verdammtes!“ und ein noch kürzeres Quieken und dann wieder Stille. Zum Abendessen gab es eine kräftige Suppe, die ohne viel Reden genüsslich in der rauchigen Stube verzehrt wurde. Der weit über die unteren Wangenfalten gezogene buschige Schnurrbart Großvaters triefte voll fettiger Suppe. Sein verschmitztes Schlürfen und sein in die Runde schweifender Blick sprach mehr als man in dieser Situation hätte sagen können.“

Um Vater noch ein wenig von seinem Leiden abzulenken, gab ich ihm einen weiteren Assoziationsanstoß und sagte: „Ich erinnere mich noch dunkel an die zum Trocknen aufgehängten dünnen Lederbänder aus Tierhaut.“ Vater fuhr fort „Sie waren ein unabdingbarer Bestandteil jeden guten Bergschuhs, sehr häufig der Marke Goiserer, mit genagelten Sohlen versteht sich. Damit zwang man den Fuß in Fasson, damit er den strapaziösen Waldarbeiten und Bergwanderungen standhielt. Ja ja, aber nicht nur Hunde, das ganze Spektrum an Haustieren wurden von ihm ver- und bei Bedarf auch entsorgt. Manches Tier wurde vom „Alten“ aber auch geheilt. Jeder im Dorfe kannte die Geschichte von der dürren Sau, die man vor Jahren zu ihm gebracht hatte, um sie entfernen zu lassen. Mit kundigen Handgriffen betastete er das halb verhungerten Tier, hielt mit seinen Pratzen kurz am Hals inne und rief zu Großmutter „Einen Kochlöffel, schnell!“ Er riss dem bedauernswerten Tier das Maul weit auf und stach mit dem Stiel des Kochlöffels tief in den Schlund der Sau. Nur ein kleiner Widerstand seitens des Tieres, dann ging der Stiel ansatzlos durch. Die Sau bekam darauf einen Klaps auf den Schinken und fraß sich darauf die nächsten Tage und Wochen den Wanst so voll, dass nach kurzer Zeit daraus ein wunderbares Schlachttier wurde und die Vorratskammer Großvaters mit Speck, Schmalz und Rohwürsten aufgefüllt werden konnte. So war er halt der Großvater.

Natürlich konnte er auch ganz schön rabiat werden, hatte er doch die Kraft vom Typus eines dinarischen Karstbauern. Er war schlaksig, mit einer kühnen, krummen Nase und listigen Augen aber stets gut zu Menschen. Du weißt ja, dass er und meine Oma seit meinem zweiten Lebensjahr meine Ersatzeltern waren, nachdem meine Mutter wegen ihrer Tätigkeit als Wirtshauspächterin und wegen Ihrer Eheprobleme mich in deren Obhut gegeben hatte. Trotz der kernigen Einfachheit des Lebens bei ihnen, war es mir immer gut gegangen.

Eine Geschichte sollst Du noch wissen. Jedermann im Ort kannte den Radnerwirt an der Alm, mit dem riesigen, fast kalbsgroßen Hund. Er mag eine Mischung zwischen Dogge und Schäferhund und sonst noch einigem gewesen sein und er lag normalerweise teilnahmslos aber stets wachsam hinter der Schank. Der Wirt hatte den Hund so abgerichtet, dass er unliebsame Gäste aus der Gaststube hinaus bugsierte. Wenn der Gast stand, so verbiss sich der Köter unlösbar in den Hosenboden des Delinquenten und schob ihn vor sich durch die Türe hinaus. Meist kamen die Leute deswegen vorsorglich mit Lederhosen zum Radnerwirt und es gab bei der Amtshandlung keine Verletzten. Bei sitzenden Gästen wiederum, zog er so lange an einem Hosenbein, bis der unerwünschte Gast das Lokal freiwillig aber meist laut fluchend verließ.

Großvater saß eines Tages bei einer derartigen Vorführung gerade bei seinem vierten Glaserl Most in einer ausgelassenen Runde am Stammtisch und beobachtete das Geschehen sehr aufmerksam. Der Wirt rief den Hund gerade zu sich und belohnte ihn mit einem großen Schweineohr, hieß ihn zurück zu seinem angestammten Platz und blickte protzig in die Runde und sagte zu den Leuten am Stammtisch, „Da schaut’s gell?“ und aus einer Laune heraus wettete er mit allen in der Gaststube, dass es keiner der anwesenden Gäste wagen würde, den Hund mit bloßen Händen oder auch nur mit Worten dazu zu bringen, den Gastraum zu verlassen. Dafür stünde eine Flasche Sliwowitz oder auch „Sligo“, wie man im Orte zu sagen pflegte. Wie erwartet, rührte sich keiner der Gäste. Nur Großvater mochte da nicht klein bei geben und ging schnurstracks zur Theke, wechselte ein paar Worte mit dem Wirt und schenkte dem Hundevieh dabei keine Aufmerksamkeit. Plötzlich, aus einer halben Drehung, ergriff er mit seiner rechten Hand den Schwanz und mit seiner Linken die Nackenfalten des Hundes, hob das zappelnde Untier in die Höhe, zeigte es dem erstaunten Publikum und beförderte die winselnde Kreatur in hohem Bogen durch die offene Türe in den Gastgarten. Das übertölpelte Tier ward an diesem Abend nicht mehr gesehen und hatte sich wahrscheinlich zwischen den Holzstapeln im Hinterhof des Gasthauses verzogen. Großvater spuckte in hohem Bogen in den Gastgarten, zwirbelte an seinem Schnurrbart und ging erhobenen Hauptes zurück zum Stammtisch, in dessen Mitte bereits die Flasche Sligo mit gelockertem Korken stand, die darauf drei Mal die Runde machte.

Diese Geschichte wurde dabei ebenso oft ausgeschmückt wie belacht und bewundert und ging ab diesem Zeitpunkt noch lange die Runde im Ort. Großvater hatte damit seinen Ruf als Viecherzähmer des Tales weiter gefestigt. Für sein florierendes Geschäft konnte dies nur von Nutzen sein. Mir war es zwar nicht immer sehr angenehm einen Großvater mit einem derartig zweifelhaften Ruf zu haben, aber er war mein Ersatzvater und als solcher Instanz.

1914 Großvater und Namensgeber

Du weißt ja, mein richtiger Vater hatte mich, nachdem er 1916 auf Fronturlaub in Wels war, nicht als seinen Sohn anerkannt, Mutter bald darauf verlassen und war nach dem Krieg im Hotel seines Bruders in Eichstätt untergetaucht, ohne sich weiter um die Familie und sein Wirtshaus zu kümmern. Mutter wusste damals keinen anderen Weg, als mich vorübergehend in die Obhut der Großeltern zu geben, da sie als gestandene Wirtin selbständig bleiben wollte. Sie verdiente so viel Geld im Gastgewerbe, dass sie meine Großeltern mit Haus und auch Geld ausstatten konnte, um mir ein entsprechendes Heim bieten zu können.

1929 das Haus der Urgroßeltern in Tiessenbach